BERGMILCH.
Adalbert Stifter
In unserm Vaterlande steht ein Schloß, wie man in manchen Gegenden sehr viele findet, das mit einem breiten Wassergraben umgeben ist, so zwar, daß es eigentlich aussieht, als stünde es auf der Insel eines Teiches. Von solchen Verte-idigungsmitteln sind gewöhnlich diejenigen Schlösser umgeben, die auf Flächen liegen, also das Verteidigungsmittel des Wassers haben, aber dafür desjenigen entbehren, das ihre stolzen Schwestern auf hohen Bergen und sch-roffen Felsen besitzen. Sie müssen die geringere Sicherheit, die ein Wassergra-ben gibt, noch mit feuchter Luft, mit Fröschequaken und Fliegenungeziefer er-kaufen, während ihre erhabenen Schwestern zu dem größeren Schutz der hohen Felsen noch die reine Luft und die Aussicht als Zugabe erhalten. Dafür können die ersten sich gegen Winterstürme in ein ganzes Bett von Bäumen verhüllen, während die letzten dem Anfalle der Winde so hingegeben sind wie ein Kiesel im Flusse dem ewigen Glätten durch Wasser. Seit aber unsere Mitmenschen nach und nach den Harnisch abgelegt haben, seit das Pulver erfunden worden ist, gegen welches ein Wassergraben und ein hoher Fels nichts nützt, ziehen sich die Mächtigeren von den Bergen und aus den Teichen heraus und lassen die Trümmer wie ein abgelegtes, zerrissenes Kleid auf ihrem früheren Platze ste-hen. Wer aber nicht so mächtig und reich ist, der muß sein früheres Haus bewohnen und sich gegen die schlechten Einflüsse so gut als möglich zu sichern suchen. So sieht man noch manches bewohnte Schloß in seinem Teiche wie ei-nen Fehler der Zeitrechnung stehen und manches mit verwahrten Fenstern und Fensterläden von einem Felsen herniederschauen. In dem einen versumpft das Wasser immer mehr, in dem andern wird die Wetterseite preisgegeben, und die Zimmer ziehen sich tiefer zurück.
Unser zu Anfang dieser Zeilen erwähntes Wasserschloß heißt Ax. Es ist von den Besitzern in neuerer Zeit etwas getan worden, um die Lage zu erleichtern. Es ist statt der früheren Bogenbrücke, die immer ausgebessert werden mußte, und die an dem Schloßtore gar in eine Zugbrücke endete, an welcher es stets Anstände gab, ein großer fester Steindamm gebaut worden, auf dem eine mit runden Kieseln gepflasterte und mit Mauern eingefaßte Straße läuft, auf welc-her man in geräumigen Wagen oder zu Pferde lustig in gerader Richtung von dem Schlosse wegsprengen kann, während es früher not tat, daß man sogar mit einem Schubkarren sehr sachte fuhr, daß Zug- und Bogenbrücke nicht beschädigt würden. Der Großvater des letzten Besitzers hat sogar mit vielen Tausenden von Fuhren von Steinen und Erde aus seinem Anteile im Axwalde den Teich hinter dem Hause ausfüllen lassen, hat Erde aufgeführt, hat Bäume gepflanzt und hat so den Garten seiner Wohnung unmittelbar an das Gebäude angestoßen. Er hat dadurch der Festigkeit des Schlosses, wenn es einer bedür-fen sollte, nichts genommen, denn der Garten ist mit einer sehr hohen, sehr al-ten, sehr dicken und aus Steinen gebauten Mauer umgeben, die ein Gittertor aus starkem Eisen hat, das auf das Feld hinausführt.
Der Nachfolger hatte nichts getan, und der letzte Besitzer, der ein Junggeselle geblieben ist und gar keine Verwandten hatte, so daß er nicht einmal wußte, wem er sein Gut vermachen sollte, hat gar keine Neigung verspürt, das Erbe seiner Ahnen irgendwie zu verändern. Und so stand das Gebäude noch da, wie es zu Großvaters Zeiten gewesen ist; es hatte vor den Fenstern noch das Wasser aus den Ritterzeiten und aus dem Bauernkriege, und atmete noch die Sumpfluft, und erlitt noch das Froschgequake und das Mückenstechen, wie es die Ritter und Bauern gelitten haben, die hier gehaust und gekämpft hatten.
Das Schloß hatte allerlei Rundungen, Brustwehren, dicke Mauern, kleine Schießlöcher und Dinge, die wir heute nicht mehr begreifen, die aber ein solc-hes Gebäude einst sehr fest machten und heute in den Augen junger Leute ihm ein sehr geheimnisvolles und merkwürdiges Ansehen geben, besonders wenn noch eine Armschiene oder ein Helm in irgendeinem Winkel des Hauses gefun-den wird. Was aber unserm Schlosse ein besonders auffallendes Ansehen gibt, ist ein runder, sehr dicker und sehr hoher Turm, der gar kein Fenster und also im Innern nur finstere Räume hat, der statt eines Daches mit Steinen gepflastert ist, die das Regenwasser in einer Rinne an einer Stelle ablaufen lassen, und die mit einer vier bis fünf Fuß hohen Mauer als Brustwehre umgeben sind. Der Turm hat wahrscheinlich, weil das Schloß in der Ebene liegt, als Warte, als Luginsland und bei Belagerungen als Verteidigungsmittel gedient. Jetzt sind in seinen innern Räumen, die wegen der Dicke der Steinmauern sehr kühl sind, alle Gattungen von Grünwaren, Gemüsen, Kartoffeln, Rüben, selbst Wein und Bier aufbewahrt, denen man an kühlen Tagen Luft durch geöffnete Zuglöcher zulassen kann. Die Höhe des Turmes dient jetzt bloß mehr zur Aussicht, welche aber leider nur in eine große, fruchtbare Ebene geht.
Der letzte Besitzer hat, wie wir sagten, nie geheiratet. Er war der einzige Sohn seines Vaters, von der Mutter etwas verzogen und von der Natur widersprec-hend ausgestattet. Während er nämlich ein wunderschönes Angesicht und einen sehr wohlgebildeten Kopf hatte, war der übrige Körper zu klein geblieben, als gehörte er jemand anderm an. Er hieß im Hause seines Vaters der Kleine, obwohl es einen größern nicht gab, da er der einzige war. Er fuhr auch fort, der Kleine zu heißen, da er schon dreißig Jahre alt war und man nicht mehr da-ran denken konnte, daß er noch wachse. Er hieß auch auf der lateinischen Schule und auf der Universität der Kleine. Mit diesem Widerspruche der Kör-perteile war noch einer der Geistesvermögen verbunden. Er hatte ein so reines Herz, im Alter fast noch knabenhaft rein, daß er die Liebe und Verehrung der Edelsten erworben hätte; er hatte einen klaren, sicheren Verstand, der mit Schärfe das Richtige traf und den Tüchtigsten Achtung eingeflößt hätte: aber er hatte auch eine so bewegliche, lebhafte und über seine andern Geisteskräfte hi-nausragende Einbildungskraft, daß sie immer die Äußerungen seiner andern Geistestätigkeiten zuschanden und sich in struppigen, wirren und zackigen Din-gen Luft machte. Wäre sie bildend gewesen, so wäre er ein Künstler geworden; aber sie blieb nur abschweifend, zerbrochen und herumspringend, so daß er Dinge sagte, die niemand verstand, daß er witzig war, daß er lächerlich wurde und vor lauter Plänen zu keinem rechten Tun kam. Daraus folgte, daß in seinem Leben nur Anfänge ohne Fortsetzung und Fortsetzungen ohne Anfänge waren.
Er wurde einmal, da sein Vater und seine Mutter schon tot waren, der Gegens-tand großer Zuneigung eines Mädchens. Er liebte das Mädchen so sehr, daß kein Wesen auf der Erde war, dem er eine gleiche oder nur annähernde Nei-gung hätte schenken können. Es schienen also alle Bedingungen zu einer glück-lichen Vereinigung vorhanden zu sein. Aber einmal machte er sich in Gesellsc-haft vieler Menschen durch seine Reden und Wortsprünge so lächerlich, daß das Mädchen mit Glut und Scham übergossen dasaß. Er schrieb des andern Tages an seine Braut, daß er ihrer unwürdig wäre, und daß er sie nicht unglücklich machen könne. Alle Zuredungen seiner Freunde waren umsonst, das Mädchen bereute bitter seine Empfindung und beweinte den Tag: aber es war vergebens, und die Verbindung blieb getrennt.
So kam er nicht dazu, seine Gaben, besonders sein Herz zu verwerten, und leb-te vereinzelt dem Alter entgegen.
Da er einmal entschlossen war, sich nicht mehr zu verehelichen, machte er es sich zur Aufgabe, sich seinen künftigen Erben zu suchen. Das Gut, das außer dem Schlosse in liegenden Gründen, besonders Wäldern, bestand und die lande-süblichen Bezüge hatte, war einst ein landesfürstliches Lehen gewesen, war aber infolge großer Verdienste eines Ahnherrn mit Abfindung entfernter Anwärter in wirkliches Eigentum übergegangen. Der Schloßherr, wie sie ihn in der ganzen Gegend nannten, konnte also mittels Testaments über das Gut verfü-gen. Er wollte aber der gesetzlichen Erbfolge zugetan bleiben, wollte dem, der ihm, wenn er ohne Testament stürbe, gesetzlich folgen würde, auch testament-lich seine Nachlassenschaft zuwenden; nur wollte er den Erben vorher kennen-lernen, ob er der Erbschaft auch würdig wäre.
Er schlug also das Ahnenbuch auf. Abkömmlinge von ihm waren natürlich nicht da. Also zu den Geschwistern. Die waren ebenfalls nicht da. Also zu den Vorfahren. Vater und Mutter waren tot, beide hatten keine Geschwister. Also zu den Großeltern. Der einzige Großvater väterlicherseits hatte einen einzigen Bruder, dessen nachkommende Linie aber erloschen war. Also zu den Urg-roßeltern. Alle von ihnen abwärts gehenden Linien, die er in dem Buche ver-zeichnet fand und in den Ländern erforschte, reichten nicht in die Gegenwart. Ihr Erlöschen war amtlich belegt. Er ging eine Stufe höher, die Sache wurde immer schwieriger. Aber alle Linien, die von allen Stufen, sie mögen wie hoch immer sein, hinabliefen, rissen ab; ihr Abriß war beurkundet, und er kam end-lich dort an, wo nichts mehr zu wissen ist, und wo keine Abstammung mehr erhellt oder erweislich ist. Nachdem er so viele Reisen gemacht, nachdem er einen Teil seines Lebens damit zugebracht, nachdem er sogar in den Zeitungen einen Aufruf hatte ergehen lassen, wer mit ihm verwandt sei, möge sich mel-den, und nachdem manche gekommen waren, aber keinen Beweis hatten beib-ringen können, gelangte er zu der traurigen Entdeckung, daß er ganz und gar keinen Erben besitze.
Er wollte daher wenigstens für den Fall sorgen, wenn er schnell und unverse-hens von der Erde genommen würde, und setzte aus Vaterlandsliebe den Kaiser zum Erben ein. Er tat das Testament in die Lade seines Schreibtisches.
Wenn er es auch aufgegeben hatte, sein Herz noch an eine Frau zu hängen, so war dies nicht auch mit Freunden der Fall. Er hatte solche immer gehabt, und da er alt wurde, bekam er derselben noch mehr. Ja sogar die Frauen wurden ihm wieder zugetaner, freilich nicht in dem Sinne, daß sie ihn hätten ehelichen wollen; denn da er älter wurde, stachen seine Wunderlichkeiten, obwohl sie noch größer geworden waren, nicht mehr so hervor, ja sie wurden, da sie von Witz und Einbildungskraft unterstützt wurden, zur Lebhaftigkeit, die einen al-ten Mann ganz besonders zierte, und er wurde überall liebenswürdig geheißen. Auch seine körperliche Nichtstimmung verschwand, da man Schönheit und Übereinstimmung bei einem Alten nicht suchte.
Unter seinen Freunden war der erste und geliebteste sein eigener Verwalter. Schon in früher Jugend – und er ist sehr früh zum Besitze seines Vermögens gelangt – sah er ein, daß er durch seine Einbildungskraft sich zu Versuchen, steten Abänderungen, ja zu Vernachlässigungen seines Anwesens hinreißen las-se, die namentlich im Landbaue stets von schlechten Erfolgen begleitet sind. Daher sah er sich nach einem jungen Manne um, der ihm sein Vermögen verwalten könnte, und weil er mit seinem Verstande sehr gut die Eigenschaften anderer Menschen abzuschätzen wußte, so gelang es ihm auch, einen sehr tüch-tigen zu finden. Er erwarb ihn als Vorstand seiner Güter mit einem sehr anständigen Gehalte und mit der Bedingung, daß er sich von niemandem etwas einreden lasse, am allerwenigsten von ihm selber. Der Vertrag wurde unter-zeichnet, und die Männer fuhren recht gut miteinander. Der Verwalter verstand seine Sachen trefflich, machte das Gut nach und nach immer besser, verliebte sich in dasselbe, betrachtete es und behandelte es zuletzt wie sein eigenes und gewöhnte sich, zu seinem Herrn zu sagen, er solle sich nicht in fremde Sachen mischen; nur daß sie Geld und Geldsachen in einer eigenen Truhe behandelten, zu der jeder einen Schlüssel hatte, daß sie das Geld wie das eines Dritten ansa-hen und sich ihre Bezüge davon auszahlten. Der Verwalter hatte auch seine Wunderlichkeiten und ging namentlich in die Bücher und politischen Ansichten seines Herrn ein, so daß sie sich liebten, daß der Schloßherr immer auf seinem Schlosse blieb, und daß der Verwalter keine bessere Stelle verlangte. Beide schienen dasselbe Los des nicht verehelichten Lebens gezogen zu haben.
Aber wie die Schicksale der Menschen wandelbar sind: der Verwalter geriet noch in seinen vorgerückteren Jahren in die Fallstricke eines Mädchens und hei-ratete es.
Nun kam ein ganz seltsames Verhältnis über den Schloßherrn. So wie der Verwalter sich als Eigentümer des Gutes betrachtete und selbes so behandelte, so betrachtete sich der Schloßherr als verheiratet. Wenn sein Verwalter immer auf den Feldern, Wiesen, in den Wäldern war und sagte: mein Hafer, meine Bäume, mein Holz, mein neugekauftes Feld, – so war der andere immer in dem Schlosse und sagte: unser Kasten, unsere Aussicht, unsere neuen Geräte, unsere Kinder.
So wie der Verwalter und der Schloßherr früher immer an demselben Tische gespeist hatten, so blieb es auch jetzt, und der Schloßherr speiste mit der Fami-lie des Verwalters. Da einmal Kinder kamen, da zeigte es sich recht, wie sehr der Schloßherr zu dem Familienleben geeignet gewesen wäre; denn er war ein Kinderfreund, und die Kinder merkten das sehr bald, und es kam die Tatsache zum Vorscheine, daß alle vier zu dem Schloßherrn »du« sagten; es war ihnen mit aller Strenge nicht abzugewöhnen; er war froh darüber und wäre betrübt geworden, wenn es ihnen abzugewöhnen gewesen wäre. Die Schloßbewohner wohnten alle in demselben Flügel, und wenn ein Fremder gekommen wäre, der die Verhältnisse nicht gekannt hätte, so würde er geglaubt haben, der Sch-loßherr sei ein alter Verwandter, der unter seinen Angehörigen seine letzten Tage verbringe.
Das erste Kind, welches dem Verwalter geboren wurde, war ein Mädchen. Es bekam den Namen Ludmilla. Der Schloßherr wollte es nicht so nennen, er nannte es nur immer abgekürzt Lulu.
Das zweite Kind war ein Knabe, Alfred, das dritte ein Mädchen, Clara, und das vierte ein Knabe, Julius.
Damit war die Reihe abgeschlossen, es erschienen keine mehr.
Lulu wuchs heran. Sie bekam die verständigen, ruhigen braunen Augen ihres Vaters und den lieblichen Mund der Mutter. Und wie sie waren alle Kinder das eine oder andere Gemisch ihrer Eltern.
Sie begannen heranzuwachsen; der Schloßherr führte sie allerorten herum, hatte seinen Stolz über sie, nahm stets immer ihre Partei gegen die Eltern und hätte sie, wären nicht andere treffliche Eigenschaften und Umstände ins Mittel getre-ten, vollständig verzogen.
Einer dieser Umstände war die Mutter selbst. Sie war eine gelassene, vernünftige Hausfrau mit einem wohlwollenden Herzen. Sie waltete in Rein-lichkeit, Ordnung und Sittsamkeit im Hause, und diese Eigenschaften verstand sie in einem gewissen Grade auch ihrem Gesinde einzupflanzen und daher auch den Kindern. Sie zankte nie, war aber unermüdlich, dieselbe Sache so oft zu befehlen und tun zu lassen, bis sie dem damit Beauftragten zur Geläufigkeit und Gewohnheit war. Durch die Gleichheit und Heiterkeit ihres Wesens kam Gle-ichheit und Heiterkeit in die Kinder; durch Abwesenheit jedes Harten, Rohen und Unziemlichen wurden sie fein und anständig, und besonders war es die Scham, etwas Unrechtes zu tun, was ihnen ein Beistand war, und das Erröten war eine harte Strafe, weil die Mutter selbst mit großem Ernste allem aus dem Wege ging, was sich nicht schickte.
Ein zweiter Umstand war der Vater. Die größte Rechtlichkeit und Biederkeit in seinem Wesen verfehlte nicht, auf die Kinder, selbst da sie noch sehr klein waren, einen großen Eindruck zu machen. Er war ihnen das Bild der Voll-kommenheit und des Wissens, und als ihnen von dem Vater im Himmel erzählt wurde, dachten sie sich denselben so wie ihren Vater auf Erden, nur älter. Sie hatten vor dem freundlichen Vater, der nie einen Verweis, sondern höchstens einen Rat gab, mehr Furcht und Scheu als vor der oft rügenden und ermahnen-den Mutter.
Der dritte Umstand war der Lehrer der Kinder. So wie der Schloßherr sich mit Umsicht einen Verwalter ausgesucht hatte, so suchte sich der Verwalter mit Umsicht einen Lehrer aus. Er brachte einen Mann in das Haus, der in den Jah-ren schon etwas vorgerückt, ruhig und ernst war, und von dem der Verwalter wußte, daß er die Kinder sehr bald lieben würde. Er hatte ein kleines Gehalt von seiner früheren Erziehung her, von dem er, da er unverehelicht war, hätte leben können; aber das Erziehen war ihm so zur Natur geworden, daß es ihm eine große Freude gewährte, daß ihm der Verwalter den Antrag machte, und daß er die Last wie ein Geschenk hinnahm.
Der Mann stimmte zu den beiden andern Männern in Gutem und Törichtem so, daß die Leute halb im Ernste, halb im Scherze sagten: »Nun, der hat ihnen noch gefehlt.«
Er sagte nach kurzer Zeit gleichfalls wie die zwei andern Männer: »Mein Ha-uswesen, meine Kinder.«
Die Kinder liebten ihn sehr, aber sie neckten ihn nie, was sie mit dem Sch-loßherrn öfter taten. In verschiedenen Abstufungen hatten alle drei Männer etwas Sonderbares, was die Kinder aber nur bei dem Ausgezeichnetsten, bei dem Schloßherrn, merkten. Die Mutter allein war die immer klare und einfac-he.
Als Lulu heranwuchs, als sie sehr schön und lieb zu werden versprach, als sie die großen Augen demütig niederschlug, die Wimpern darüber hinabzielten und nicht mehr so oft wie früher sich vorlaut erhoben, als endlich auch noch das Letzte eintrat, nämlich ein oftmaliges heißes Erröten ohne Grund und Ursache: da schlich der Schloßherr einmal leise auf sein Zimmer, riegelte hinter sich die Tür zu, ging heimlich zu der Lade seines Schreibtisches, tat sie auf, nahm das Testament heraus, in welchem er den Kaiser zum Erben eingesetzt hatte, und durchstrich es ganz und gar. Dann schrieb er emsig ein neues und setzte Lulus Namen hinein. Er warf den andern drei Kindern Vermächtnisse aus, die Lulu auszuzahlen hatte, wodurch sie Lulu zwar näherkamen, aber sie doch nicht er-reichten. Als er das getan hatte, ging er mit einem glänzenden Angesichte in den Garten, als hätte er einen Schabernack verübt und freue sich auf dessen Be-kanntwerden. Um gar kein Aufhebens zu machen und keine Vermutungen und kein Gerede zu veranlassen, ließ er keine Zeugen unterfertigen, sondern tat un-serm Gesetze, das er gut kannte, damit Genüge, daß er am Eingange schrieb: »Mit meiner eigenhändigen Schrift und Unterschrift.«
Dennoch hätte Lulu einmal seine Gunst und wahrscheinlich auch die Erbschaft, von der sie nichts wußte, vom Grunde aus verscherzt, hätte sie ihn nicht ohne ihr Wissen bereits so unterjocht gehabt, daß er sich nicht mehr aus der Sklave-rei zu befreien vermochte.
Es waren jene traurigen Tage eingetreten, in denen ein auswärtiger Feind den Boden unseres Vaterlandes betrat, lange und wiederholt da verweilte und durch Schlachten ihn verwüstete, bis er durch jene ruhmwürdigen Anstrengungen großer Männer, an denen unser Vaterland einen glänzenden Anteil nahm, aus allen Fluren, wo man die deutsche Sprache spricht, wieder verjagt wurde.
Schon bei dem Beginne der französischen Kriege kamen die drei Männer in die größte Aufregung. Sie waren insgesamt sehr eifrige Vaterlandsfreunde, ließen an den Franzosen nichts Gutes gelten, wünschten sie nur bald geschlagen, auf-gerieben, vernichtet und zugrunde gerichtet. Am weitesten ging hierin der Sch-loßherr, der in dem Angriffe gegen unser Land geradezu die unverzeihlichste Schandtat erblickte, was sich schon aus seiner Anhänglichkeit an den väterlic-hen Boden und aus der Tatsache erklären ließ, daß er, ehe ihn sein Herz anders verleitete, für seine Erbschaft keinen würdigeren Erben zu finden gewußt hatte als den Kaiser. Er meinte, die Franzosen seien bloß Räuber und Mörder, man müsse sie ausrotten wie Ungeziefer und jeden und alle, wo sie sich blicken ließen, erschlagen, wie man einen Wolf erschlage, wenn er durch die Felder in den Hof hereingerannt komme. Nicht einmal in dem Himmel gab er ihnen ei-nen Platz, sondern jeder mußte in die Hölle. Ob er mit dem Erschlagen, wenn es dazu gekommen wäre, rechten Ernst gemacht hätte, weiß man nicht, da bis-her keine Gelegenheit war, sein Wesen bis zu tätigem Ingrimme emporzustei-gern.
Als die Franzosen Fortschritte machten, wurde es noch ärger, die Männer rede-ten von nichts als Zeitungen, Nachrichten und dergleichen und führten grausa-me Worte in dem Munde. Die Kinder wußten von nichts, sie hatten damals nur die Obliegenheit zu wachsen, und waren die einzigen, die von den Ereignissen unberührt blieben.
Die Mutter war in einer schmerzlichen Lage. Sie konnte jene hohe Freude nicht teilen, die die Männer über jeden Vorteil hatten, den die unsrigen errangen, sie fühlte nur die Wunden, die geschlagen wurden, ob sie auch dem Feinde galten, und wenn sie auch wünschte, daß Friede würde, und unsere Fluren von dem Feinde befreit wären, so wünschte sie das nicht durch Erschlagen aller Feinde, sondern nur durch ihr Vertreiben, und sie konnte es nicht verhehlen, daß es ihr sehr widrig sei, daß vernünftige Wesen ihren Streit nicht in Vernunft und nach Gerechtigkeit austragen können, sondern daß sie sich gegenseitig dabei töteten, und sie schalt die Wildheit der drei Männer, welche auch nicht mehr die Tat-sachen rechts und links sähen, sondern nur den Feind im Auge hätten, auf den sie blind losrennen wollten.
So waren die Sachen endlich zu jenem Stande gediehen, da unsere Truppen, auf unserm Boden geschlagen, sich nach Norden zogen, um dort noch tiefere und schmerzlichere Wunden zu empfangen, bis das Maß voll war, bis das Gericht eintrat, und der Übermut und die Willkür wieder in ihre Grenzen zurückgewor-fen, ja dort hart gestraft werden sollten.
Als unsere Truppen sich damals vor dem Sieger zurückzogen, geschah es zum ersten Male, daß auch eine Abteilung unserer Kriegsmacht, und zwar eine Ha-uptabteilung, in die Gegend kam, in welcher das Schloß lag. Den ganzen Tag waren Truppen gezogen, Richter, Geschworene, Gemeindemänner hatten zu tun, Vorspann und Wegezeigung mußte geleistet werden, und jedes Haus gab, was es vermochte. Die Bewohner der Umgebung hatten herbeigebracht, was sie konnten, und hatten es auf dem Platz des Dorfes aufgehäuft.
Gegen Abend kam eine Abteilung Russen. Sie schienen nicht mehr weiter-gehen, sondern hier Nachtruhe halten zu wollen. Sie schienen aber ihrer Sache nicht sehr gewiß zu sein und schickten sich an, große Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Sie zerstreuten sich nicht, wurden nicht in die Häuser verlegt und brac-hen ihre kriegerisch eingeteilten Glieder nicht ab. Von der Umgebung mußte Stroh herbeigebracht werden, das an jener Stelle zum Bette diente, an welcher der Schlummernde aufspringen und sogleich auf seinem Platze stehen konnte. Die Wachenden waren zur Übersicht und Warnung versendet und ausgestellt. Manche Abteilungen lagen weiter zurück in den Feldern, und alle waren nach gewissen Anordnungen verteilt. Die Bewohner mußten Lebensmittel, Brennbe-darf und andere Dinge herbeischaffen und an bestimmte Stellen abliefern. Sie durften aber nicht zwischen den Gliedern herumgehen, sich nicht in die krie-gerischen Anordnungen eindrängen und etwa da Unordnung anrichten. Sie hat-ten Befehl, wenn die Dämmerung eingetreten wäre, ihre Wohnungen nicht mehr zu verlassen.
Daß das alles die größte Aufregung unter den Bewohnern hervorbrachte, läßt sich denken. Sie gaben ihre Beiträge gern, sie hätten alles gegeben, wenn sie den Sieg hätten auf unsere Seite bringen können; aber sie waren unruhig, was die Nacht, was der kommende Tag bringen könnte. Daß kein einziger an Ruhe dachte, ist begreiflich.
Der Schloßherr hatte seine Vorratskammer, seine Speicher, seine Küche und seinen Keller geöffnet, er gab mehr als gefordert wurde, und er sandte unter Tags Knechte mit Wägen an entfernte Stellen seines Gutes, wo er Scheunen und Getreideböden hatte, um Vorrat herbeizuführen, wenn etwa der folgende Tag noch etwas in Anspruch nehmen sollte.
So war die Nacht hereingebrochen. Sie war dunkel, weil es später Herbst war und weil tiefe Wolken den Himmel bedeckten.
In den Häusern des Dorfes waren Lichter, weil die Leute nicht schlafen gingen. Es war stille, nur daß ein gedämpfter Ruf der Wachen oder das Klirren und der Stoß einer Waffe die Ruhe zuweilen unterbrach.
Die ganze Familie des Schlosses, selbst Gesinde eingerechnet, war in der soge-nannten Gartenhalle untergebracht. Die Gartenhalle ist ein großes Gemach und heißt deshalb so, weil es rückwärts gegen den Garten liegt. Es ist gewölbt, hat sehr starke, dicke Steinmauern, die Fenster sind mit eisernen Stäben versehen, und die Geräte sind sehr alt und sehr stark. Man kam gern im Sommer dahin, weil das Gemach kühl war, und weil die grünen Zweige sehr anmutig an den Fenstern spielten. Im Winter war es häufig an den langen Abenden der Aufent-halt der Mägde, die da spannen oder andere Arbeiten verrichteten, weil es sich gut heizen ließ, und nicht selten geschah es, daß die Verwalterfamilie, der Sch-loßherr und der Lehrer herabkamen, man versammelte sich um den Ofen und geriet öfter in das Erzählen von Märchen und Geschichten.
Daß man gerade heute dieses Gemach zum Aufenthalte gewählt hatte, war das Werk des Vaters. Wenn es doch zu etwas kommen sollte und Kugeln fliegen würden, war man hier für die ersten Augenblicke am sichersten. Gegen das Dorf und den Teich hin war man durch die ganze Dicke des Schlosses gedeckt, gegen die Seiten schützte die halbe Schloßlänge, weil das Gemach in der Mitte lag, und gegen den Garten der Garten, der sehr lang war und daher den Lauf einer Kugel schwächte, und der in der Nähe der Fenster des Gemaches seine dicksten und dichtstehendsten Bäume hatte, die sie auffangen konnten. Man hat-te beschlossen, die ganze Nacht da zuzubringen. In keinem andern Teile des Schlosses war ein Licht. Nur ein paar Knechte, die in dem Meierhofe waren, hatten eines in ihrer Stube, das aber bald erlosch, da sie schlafen gingen. Die Mägde aber waren alle in der Gartenhalle und spannen.
Als man sich in die Lage gesetzt hatte, die jedem zusagte, als die zwei kleineren Kinder eingeschlafen waren, die zwei größeren in der Nähe der Mutter bei dem Ofen sich zusammengekauert hatten, und die Spinnräder schnurrten, kam man wieder ins Erzählen, aber heute mit Eifer in das der Kriegsereignisse, und zwar noch dazu in die Färbung, wie sie der Leidenschaft eines jeden zusagte.
Als der Lehrer eine vergleichende Tatsache aus der alten Geschichte erzählt hat-te, sagte der Schloßherr: »Da machten es die Tiroler noch besser und heißer; als die Franzmänner durch das Tal der Gleres herunterzogen, war kein Mensch in dem Dorfe. Die Männer waren mit ihren Stutzen in die Steine hinaufgegangen, die zu beiden Seiten der Straße emporragen, und die Weiber und Kinder waren noch viel höher in den Wald und gar bis gegen den Schnee hinangebracht wor-den. Nur ein achtzigjähriger Zimmermann, der keinen Freund und keinen Feind hatte, war im Dorfe zurückgeblieben. Er stand hinter seiner Scheuer und hatte den Stutzen geladen. Als die schneeweißen Mäntel kamen – denn die Reiterei der Franzosen hatte weiße Mäntel und war in der Vorhut – hielt er den Atem an und gebrauchte die Augen. Der beste Federbusch, der in der Mitte wehte, schien dem Vornehmsten anzugehören, weil die andern ihm Ehrfurcht erwie-sen. Der Zimmermann sprang hinter der Scheuer hervor, legte an, ein Rauch – ein Blitz – ein Krach – der Federbusch war verschwunden, und der Reiter lag tot unter dem Pferde. Sie hieben im nächsten Augenblicke den Zimmermann zusammen, er lachte in sich und ließ es geschehen. Jetzt sprengten sie in das Dorf, durchsuchten alles, fanden keinen Menschen, fanden keine Schätze, und da ihre Kameraden, die Fußgänger, nachgekommen waren, zündeten sie das Dorf an allen Ecken an und zogen weiter. Es ging ganz gut, sie zogen in der Stille der Berge fort, bis das Tal enger wurde, und die Gleres an der Straße rann. Da wurden die Klippen lebendig, lauter Rauch und lauter Blitzen und Krachen, und auf jeden Schuß fiel ein Mann, und es wurde immer geladen, und es krachte immer wieder, als ob ihrer viele Tausende oben wären; und wenn die Soldaten hinaufschossen, so trafen sie niemand, weil sie niemand sahen, und wenn sie hinauf wollten, so konnten sie nicht, weil die Felsen zu steil waren, und weil sie erschossen wurden. Und als sie sich beeilten und im Laufe fort wollten, um aus dem entsetzlichen Wege zu kommen, und als sie gegen den Ausgang gelangten, wo die Straße durch die engsten Schluchten läuft, da sprangen unzählige Felsstücke von den Bergen nieder, aufgehängte Bäume roll-ten herab, schmetterten alles nieder, machten in der Enge einen Verhau, die Franzosen konnten nicht vor, sie mußten zurück, sie flogen, sie rannten – da hatten sie aber das brennende Dorf, das sie selbst angezündet hatten, unter den Füßen, die hölzernen Häuser waren alle in Glut, daß man nicht zwischen ihnen durch konnte. Da waren sie in der Not, da war mancher schneeweiße Mantel ein roter, mancher schwamm in der Gleres, mancher lag auf der Decke des Pferdes, ohne daß der Reiter dabei war, viele Männer lagen auf der Straße, vie-le verbrannten, und wenige kamen auf einsamen Pfaden nur durch, um draußen zu sagen, was ihnen begegnet sei, oder um auf ihren Irrwegen von den Land-leuten gefangen und erschlagen zu werden.«
Da es nach dieser Erzählung eine Weile still war, sagte er: »So sollten wir es auch machen; wir haben zwar keine Berge und keine engen Täler, in denen wir auf sie warten könnten wie die Tiroler; aber wir sollten uns zusammentun wie sie, wir sollten Waffen tragen, uns üben, uns verabreden, Kundschaft einziehen, und wenn wir erfahren, daß ein Trupp, dem wir gewachsen sind, durch einen Wald oder Busch oder Hohlweg zieht, sollten wir ihm auflauern und alle, die er enthält, erschießen. In den obern Ländern sind in ein Seitendorf, ich weiß nur seinen Namen nicht zu nennen, ich habe mir die Sache erzählen lassen, zwölf französische Reiter gekommen, um zu plündern. Die Bauern verstanden aber die Sache schlecht und überfielen sie, da sie in einem einsamen Wirtshause zechten, und schlugen sie bei einem einzigen tot. Die Pferde, welche im Hofe angebunden waren, trieben sie weit nach Ungarn und verkauften sie, die Sättel, die Kleider, die weißen Mäntel und die Waffen verbrannten sie im Feuer. So mögen manche Feinde von ihrer Hauptabteilung weggekommen, nicht mehr zurückgelangt sein, und niemand weiß, wohin sie geraten sind.«
»Aber,« sagte die Mutter, »wenn es schon unter den Völkern festgesetzt ist, daß die Kriege durch die Armeen ausgefochten werden, so sollten die Bevölkerun-gen sich ruhig verhalten und die Sache in die Hände des Heeres legen. Einen einzelnen Feind, der sich harmlos nähert, zu erschlagen, scheint mir ein sündlicher Mord zu sein.«
»Sie nahen sich aber nicht harmlos,« sagte der Schloßherr, »wie haben sie nur in ihrem eigenen Lande gewirtschaftet, sie haben ihre Landsleute erwürgt, er-säuft, erschossen, enthauptet, weil sie ihnen verdächtig waren oder den König liebten, und dann sind sie herausgegangen und wollten es bei uns auch so mac-hen. Wir sollten gegeneinander sein und das Land in Zerwürfnis bringen, da-raus es kaum entrinnen könnte. Darum sollen wir sie verfolgen, ausrotten, ver-tilgen, wie wir nur können; und wenn sie darüber zornig werden und wüten, so ist es nur desto besser, damit die Menschen es nicht mehr ertragen können, sich zusammentun und sie aus dem Lande jagen, daß kein Huf und kein Helmbusch von ihnen mehr bei uns ist. Wenn morgen die Franzosen nachkommen, können Dinge geschehen – wer weiß, was geschieht.«
Während er so sprach, hörten die Dienstleute zu, die Mägde hatten das Spinnrad stillstehen lassen, die Knechte, die da waren, sahen ihn an, und der Verwalter und der Lehrer blickten vor sich. Es war mittlerweile so finster geworden, daß es schien, als wären die Fenster des Gemaches nur schwarze Tafeln, von dra-ußen hörte man nicht das Geringste herein, und nur die Uhr pickte eintönig an der Wand. Die zwei jüngsten Kinder schliefen fest, Alfred kauerte neben der Mutter und fürchtete sich, Lulu stand neben ihm und half fürchten.
In diesem Augenblicke regte sich ein leises Geräusch an der Klinke der Tür, die Tür öffnete sich, und es trat ein Mann herein, der einen glänzenden Helm auf hatte und in einen langen, weißen Mantel gewickelt war.
Alle schauten auf ihn.
»Ich habe Licht durch diese Fenster scheinen gesehen,« sagte er in guter deutsc-her Sprache, »und bin hereingekommen, eine Bitte vorzubringen.«
»Und welche?« fragten der Verwalter und der Schloßherr zugleich.
»Sie werden mir gefälligst auf die Spitze des dicken Turmes folgen,« sagte der Fremde, indem er auf den Verwalter zeigte.
Er hatte hierbei den einen Arm erhoben, den Mantel gelüftet, und man sah, daß er in der Hand des andern Armes eine doppelläufige Pistole hatte.
»Wer kann das fordern, ich bin hier der Gebieter,« rief der Schloßherr.
»So, Sie sind der Gebieter?« sagte der fremde Mann, »Sie gehen auch mit hi-nauf.«
Hiebei griff er mit der freien Hand auf die Pistole und spannte beide Hähne, daß man sie knacken hörte.
»Sie werden eine Laterne auf die Treppe mitnehmen und vor mir gehen,« fuhr er fort, »es wird keinem ein Haar gekrümmt, solange alles ruhig ausgeführt wird. Wenn ich aber Verrat merke, muß ich von den Waffen Gebrauch mac-hen, es geschehe dann, was wolle. Bleibt hier ruhig sitzen, ihr andern, bis sie wieder zurückkehren.«
Er war mit dem Rücken gegen den Türpfosten stehengeblieben, hatte die Pisto-le in der Hand und sah alle an.
»Es ist nichts, seid nur ruhig, und Ihr folgt uns,« sagte der Verwalter, indem er den Schloßherrn bei der Hand nahm, »und ihr verlaßt keines das Gemach, bis wir wiederkommen.«
Er langte bei diesen Worten mit der Hand nach der Laterne, die neben dem Weihbrunnenkessel hing, machte sie auf, zündete das Stümpfchen Kerze in der-selben an, schloß sie wieder gut zu, schritt in die Stube vor und sagte: »Wenn es gefällig ist.«
Der fremde Mann ließ, indem er sich seitwärts stellte, den Verwalter und den Schloßherrn bei der Tür hinaus und folgte ihnen dann, mit dem Körper seitwärts gewendet, daß er die in der Stube und die Vorangehenden zugleich überblicken konnte.
Die Zurückgebliebenen hatten kein Wort gesagt, die Sache war einesteils so schnell vor sich gegangen, und die Ruhe des Verwalters hatte ihnen andernteils Vertrauen eingeflößt.
Die zwei Männer gingen mit der Laterne den Gang entlang, der zu dem Turme führte, der Fremde folgte ihnen, daß sie die Sporen, die er an den Füßen hatte, stets hinter sich klirren hörten.
Sie kamen an die Treppe und stiegen hinan. Als der Fremde merkte, daß sie bald oben seien, befahl er ihnen, stille zu stehen, die Laterne auf eine Stufe zu stellen, zu öffnen und mehrere Stufen aufwärts zu gehen.
Als sie das getan hatten, näherte er sich der Laterne, zog aus seiner Manteltasc-he ein sehr kleines Laternchen heraus, zündete ein fast unscheinbares Lichtchen in demselben an, ließ die andere Laterne auf der Treppe stehen, stieg gegen die Männer, die indessen gewartet hatten, hinan und befahl ihnen, weiterzugehen.
Als man auf das Steinpflaster des Turmes hinausgekommen war, welches, wie oben gesagt wurde, die Stelle des Daches vertritt, hieß er die Männer an einem Platze der Brustwehr, wo er sie sehen konnte, stehenbleiben, er selber ging an eine andere Stelle der Brustwehr, stellte sein sehr kleines Laternchen darauf, legte die Pistole daneben, zog eine Brieftasche heraus und fing an, bei dem Scheine seines Lichtchens in dieselbe zu schreiben oder zu zeichnen. Die Nacht war so finster, daß man von der Gegend nichts sah als einen einzigen schwar-zen Raum, in welchem die Lichter und Wachtfeuer wie rote Sternchen sich zeichneten. Von dem Dorfe sah man nichts als den Umriß mancher Dächer und der Kirche. Von dem Platze war ein Teil durch die Feuer der Truppen beleuch-tet.
Als der Fremde eine Weile gezeichnet oder geschrieben hatte, steckte er seine Brieftasche wieder ein, nahm sein Laternchen in die eine, seine Pistole in die andere Hand und hieß die Männer vor sich hinabgehen.
Als man zu der Stelle gekommen war, wo die Laterne stand, mußten sie diesel-be nehmen und den Mann in der Weise, wie man heraufgekommen war, wieder zurückführen.
Da man an der Tür der Gartenhalle angekommen war, sagte der Fremde, daß ihn nun die zwei Männer auch durch den Garten bis zu dem Gitter, das auf das Feld hinausführt, begleiten müßten. Wenn er außerhalb des Gitters wäre, könn-ten sie zurückkehren. Die Laterne müßten sie in dem Torwege, der an der Halle vorbeiführt, stehen lassen.
Der Schloßherr und der Verwalter gingen also in dem finstern Garten vor dem Fremden her.
Nicht weit von dem Schlosse fand man ein Pferd an einem Baume angebunden. Der Fremde löste es los, schlang den Zügel um den Arm und führte es hinter sich her. Er führte es nicht auf dem Gartenwege, auf dem die zwei Wegweiser gingen, sondern auf dem Rasen daneben, damit die Hufschläge nicht gehört würden.
Als man in die Nähe des Gitters kam, zeigten sich dunkle Gestalten an demsel-ben. Der Fremde näherte sich den beiden Vorgängern und flüsterte ihnen zu: »Halt.«
Dann schaute er sehr lange und, wie es schien, anstrengend auf die Gestalten.
Endlich sagte er sehr leise, sie sollten ihn wieder zu der Halle zurückführen.
Sie taten es, er zog sein Pferd hinter sich her.
Da sie bei der Halle angekommen waren, befahl er ihnen, das Tor, welches den an der Halle vorbeiführenden Torweg schloß und überhaupt das Haupttor des Schlosses war, zu öffnen.
Der Verwalter ging nach dem Schlüssel, während der Schloßherr in der Gewalt des Fremden bleiben mußte, und da der Verwalter aus der Gartenhalle, in welcher sich der Schlüssel befunden hatte, heraustrat, folgten ihm auch neugie-rig die Leute, die in der Halle gewesen waren. Der Fremde hielt sich an sein Pferd, hatte den Schloßherrn immer im Auge und die Pistole in der Hand. Der Verwalter und ein Knecht sperrten das Tor auf, taten im Laternenscheine den großen eichenen Querbalken weg, öffneten die beiden Flügel, daß man in den schwarzen Raum hinaussah.
»Tut die Laterne zurück,« sagte der Fremde.
Als man das getan hatte, schaute er eine Weile scharf bei dem Tore hinaus, den Blick aber jeden Augenblick kurz auf den Schloßherrn richtend, daß derselbe sich nicht entfernen konnte. Dann, soweit man bei dem Scheine der Laterne beurteilen konnte, richtete er etwas an dem Pferde, prüfte anderes, und da es gut befunden war, schwang er sich hinauf. Da er einmal oben saß, war es nur ein Augenblick, in welchem er sich gleichsam festzusetzen suchte, dann gab er die Sporen, tat einen Ruf, und mit einer so fürchterlichen Schnelligkeit, daß man kaum mit den Augen blicken konnte, daß die Funken in Schwärmen sprühten, flog er über den Steindamm hinaus. Als er jenseits war, wie man aus dem schwächeren Hufschlage schließen konnte, schoß er rechts und links einen Pistolenschuß ab, worauf sogleich Blitze hinter ihm sichtbar wurden, Schüsse krachten, Geschrei sich erhob und sich ferner zog.
»Das ist ein Mann,« rief Lulu jubelnd.
»Du Scheusal, du kleine Ausgeburt,« schrie der Schloßherr, »du fällst in Bewunderung unseren Feinden zu.«
»Er ist ja kein Franzose,« antwortete Lulu, »er spricht so schön deutsch.«
»Um so schlechter, um so tausendmal schlechter ist er,« sagte der Schloßherr, »als ein Deutscher sollte er lieber in die fernsten Gegenden ziehen und betteln, ehe er mit dem Erzfeinde sich verbindet, ja er sollte lieber den Tod leiden. So aber nimmt er von unserm Turme die Stellung der Verbündeten auf, verrät sie, und wir werden es morgen früh schon sehen, wenn sie ihn nicht niedergeschos-sen oder erwischt haben.«
»Er rennt mit seinem Pferde an ein Haus an und zerschmettert sich und das Tier,« sagte eine Magd.
»Der rennt nicht an,« erwiderte ein Knecht, »er sieht sich die Sache gut zusammen und versteht sein Ding.«
»Er ist doch ein Mann, wenn er auch ein Feind ist«, sagte Lulu.
»Warum hast du ihn denn nicht umgebracht, da er einen weißen Mantel hat?« fragte Alfred den Schloßherrn.
Dieser schaute den Fragenden an und antwortete nicht.
»Kinder, Leute, wir werden hier bald ein anderes Schauspiel haben,« sagte der Verwalter, »dieser kühne Mann mag nun umgekommen sein oder nicht, er ist ein Feind, wie sich aus seinem Tun gezeigt hat, er ist aus unserm Schlosse in unsere Verbündeten gesprengt, bald werden sie da sein und werden Rechensc-haft fordern. Sehe jeder, daß er sich genau merke, wie die Sache, bei der er war, hergegangen ist, damit er die Wahrheit bekennen könne, daß sich keine Widersprüche finden, die uns arge Dinge bereiten könnten. Die Soldaten im Dorfe draußen sind auf dem Rückzuge begriffen und sind erbittert. Laßt uns das Tor wieder schließen, aber bei dem ersten Stoße an dasselbe es gern und schnell öffnen. Bis dahin gehen wir wieder in die Gartenhalle.«
Die Knechte schlossen das Tor, taten den Eichenbalken vor, gaben dem Verwalter den Schlüssel, und man ging mit der Laterne wieder in die Halle.
Man war noch nicht lange dort, als sich Schläge an das Tor vernehmen ließen.
Die Mutter tat einen schwachen Schrei und bewegte sich gegen den Vater hin. Dieser beruhigte sie, ließ das Tor öffnen und ging selber den Eintretenden mit einem Lichte entgegen. Es waren zwei Vorgesetzte mit Begleitung von Solda-ten. Der Steindamm war mit Soldaten bedeckt.
»Sind noch mehrere Feinde hier?« fragte einer der Vorgesetzten in ziemlich verständlicher Sprache.
»Es war der einzige, der eben hinausgeritten ist,« antwortete der Verwalter.
Sofort ließ der Krieger alle Ausgänge, alle Türen und die Ausgänge in den Gar-ten mit Mannschaft besetzen. Die Schloßleute wurden in der Halle bewacht, und der Schloßherr und der Verwalter mußten unter Bedeckung von Soldaten in alle Räume des Schlosses gehen, daß man dieselben untersuchte. Der Sch-loßherr war viel geselliger, gesprächiger und freundlicher gegen die jetzigen vielen, bewaffneten Soldaten, die ihn begleiteten, als er es früher gegen den einzigen gewesen war. Als man nirgends etwas Verdächtiges fand, kehrte man zu der Gartenhalle zurück. Den Garten untersuchte man nicht, nur wurden die Ausgänge aus dem Schlosse zu ihm sehr verrammelt, daß ein Feind, wenn einer im Garten wäre, schon dadurch gefangen war.
Dann schritt man zum Verhöre. Der Verwalter erzählte die Sache, wie sie sich begeben hatte. Er stellte die Vermutung auf, daß der Fremde durch den Garten gekommen sein müsse, weil das Tor gegen das Dorf geschlossen gewesen sei, und in dem Dorfe sich ja die Verbündeten befunden hätten. Wenigstens habe der Fremde durch den Garten fortgewollt, dies werde sich deutlich in den Fußstapfen und namentlich in den Hufspuren im Grase zeigen, wenn man sie morgen bei Tage untersuchen wolle.
»Man wird die Sache untersuchen,« sagte der Krieger.
Hierauf wurde der Schloßherr abgesondert vernommen, und dann alle andern, selbst die Kinder.
Als dieses vorüber war, wurden die Männer in ein Gewölbe des Turmes ab-geführt, dort eingesperrt und bewacht. Die Weiber und die Kinder wurden in der Gartenhalle gelassen, wurden aber dort ebenfalls eingesperrt und bewacht.
Von da an verging die Zeit, die Ängstlichkeit und die Besorgnis abgerechnet, ruhig. Nicht ein Laut war zu vernehmen, als zuweilen der Schritt einer Wache vor der Tür, das Rasseln eines Gewehres oder ein Kolbenstoß. An dem Himmel war kein Lüftchen, die Wolken schienen unbeweglich dort zu stehen, und die Wipfel der Bäume im Garten regten sich nicht. Unter diesen Betrachtungen brachten die Gefangenen der Gartenhalle die Nacht zu. Daß kein Schlaf in ihre Augen kam, ist begreiflich. Wohin man die Männer gebracht hatte, wußten sie nicht.
Als endlich das Morgengrauen anbrach, hörte man verworrenes Getöse, wie Fahren, Reiten, Gehen, Rufen, man hörte endlich Hörnerklänge, Trompeten und Trommeln, aber alles gedämpft, da es von der entgegengesetzten Seite des Schlosses herkam. Sehen konnte man nichts, da die Tür verschlossen war, und vor den Fenstern nur die Bäume des Gartens standen, deren dunkle Wipfel sich immer deutlicher gegen den grauen, lichter werdenden Himmel zeichneten.
Endlich geschah ein dumpfer, ferner Schlag, der aber so schwer war, daß die Luft beinahe erzitterte. Gleich darauf ein zweiter. Sie folgten nun schneller, und es war beinahe wie ein entfernter Donner, der so tief ging, daß manchmal die Fenster leise klirrten. Die Trompetenklänge, das Blasen der Hörner, das Wirbeln der Trommeln nahm in der Nähe zu.
Der Tag wuchs immer mehr dem Morgen entgegen.
Das Rollen des Donners kam näher, es ging in ein Krachen über, und hinter den Gipfeln der Bäume stieg ein weißer Rauch auf. Endlich krachte es auch ganz nahe an dem Schlosse, man konnte nicht erkennen, woher es kam, bald war es rechts, bald links, bald vorn, bald hinten, bald mehr, bald weniger, aber furcht-bar war es, daß das Gemach sich zu rühren schien; und wenn der kleinste Zwischenraum eintrat, so hörte man einen Ton, wie wenn unzählige Hölzlein aneinandergeschlagen würden, es waren die Schüsse der kleinen Gewehre. So-gar die Trommeln konnte man zuweilen vernehmen.
Der Rauch war endlich so in den Garten gedrungen, daß er wie ein Nebel in den Bäumen war. Er vermehrte und verdichtete sich stets, daß kaum die nächs-ten Stämme zu sehen waren. Im Zimmer entstand übler Geruch.
Als dieses lange gedauert hatte, zog sich der Donner auf der entgegengesetzten Seite in die Ferne, das Rollen wurde dumpfer, einzelne Schläge waren in der Nähe noch zu vernehmen, aber man hörte Geschrei, Brausen und verworrenes Getöse. Zuletzt wurde auch das immer schwächer, man hörte nichts mehr, der Rauch zog sich langsam aus den Bäumen, die Wolken waren auch gleichsam durch den Schall verjagt worden, und die Sonne, die anfangs als eine rote Scheibe in dem Rauch gestanden war, glänzte endlich freundlich in den Garten hinunter.
Die Frauen in der Halle warteten lange. Als aber gar kein Ton sich vernehmen ließ, als sie auch gar kein Geräusch von der Wache vernahmen, die außer der Tür war, so riefen sie auf dieselbe. Sie erhielten keine Antwort. Sie riefen noch einmal und stärker, aber erhielten wieder keine Antwort. Da versuchten sie, an der Tür und an dem Schlosse zu rütteln. Von außen erfolgte kein Zeichen und kein Widerstand. Nun rissen sie wirklich mittels Beilen und Stemmeisen, die in der Gartenhalle als brauchbare Werkzeuge immer vorrätig waren, das Schloß herunter und öffneten die Tür. Kein Mensch war vor derselben. Die Torflügel standen weit offen. Im Dorfe rauchte noch kohlendes Stroh und von einer ent-fernten Hütte, die brannte, ging Rauch auf. Sonst sah man keine Beschädigung, aber man sah auch keinen Menschen im Dorfe. Unter dem Schwibbogen des Tores lag eine eiserne Kugel, und eine andere stak in der Mauer des Schlosses.
Als man noch so schaute, hörte man plötzlich Gerassel und Getrappe rennender Pferde, und in dem Augenblicke kam um eine Ecke der Häuser ein Schwarm weißer Reiter, bog gegen das Schloß und ritt über den Steindamm herein. Lulu rief beinahe vor Freude auf, als sie an ihrer Spitze den Mann im weißen Mantel erblickte, der in der Nacht im Schlosse gewesen war. Man hoffte, daß man wenigstens von der Ungewißheit, vielleicht auch von der Angst und Bangigkeit befreit werden würde.
Der Mann ritt auf die Versammelten zu. Bei der Beleuchtung des Tages sahen sie erst jetzt, daß er noch sehr jung sei und ein blühendes Angesicht habe. Er stieg sogleich von dem Pferde und sagte: »Ich habe nur kurze Zeit; ich mußte Ihnen gestern Schrecken und Gewalt antun, damit wir heute die Früchte ernten. Wir haben sie geerntet und sind im Vorrücken begriffen. Ich aber bin auf einen Augenblick gekommen, um mir Verzeihung einzuholen, daß ich von einer har-ten Kriegsregel Gebrauch gemacht habe, und ich bin auch gekommen, um die Bewohner ebenfalls von einer Unannehmlichkeit, die ihnen mein Verfahren könnte zugezogen haben, zu befreien. Wo sind die Männer?«
»Wir wissen es nicht, wir haben uns in diesem Augenblicke aus unserm Gefängnisse in der Gartenhalle befreit, sie sind in der Nacht gefangen abgeführt worden,« sagte die Mutter.
»So müssen wir sie suchen,« erwiderte der Fremde, »vielleicht sind sie im Ha-use.«
Er nahm aus Vorsicht mehrere bewaffnete Reiter mit, und aus Kenntnis der Kriegsgebräuche schlug er gleich den Weg zu dem Turme ein. Alle Frauen folgten ihm. Der Schlüssel stak an der Tür des Gewölbes, in welchem sich die Männer befanden. Man drehte ihn um, traf da die Gefangenen und ließ sie he-raus.
Als die Angehörigen sich gegenseitig überzeugt hatten, daß keines einen Scha-den genommen habe, und als sich die Unruhe von Fragen und Antworten ein wenig gelegt hatte, trat der Fremde gegen die Männer heran und sagte: »Wir haben, und ich hege die Hoffnung, nicht ganz ohne Zutun meiner gestrigen Be-obachtungen, den Sieg errungen. Ich bin gekommen, verehrte Herren, um den Augenblick, der mir vergönnt ist, zu benützen, Sie um Verzeihung wegen mei-nes Verfahrens gegen Sie in dieser Nacht zu bitten. Hier ist eine Karte mit mei-nem Namen und Stande, Sie können an meiner Person und meinem Vermögen Genugtuung fordern, wenn Sie eine zu fordern für gut befinden sollten.« Bei diesen Worten reichte er dem Schloßherrn ein Blatt Papier.
»Den Frauen,« fuhr er fort, »kann ich freilich keine Genugtuung für die Angst und den Schrecken geben, um so inniger bedarf ich ihrer Verzeihung, und um so mehr bitte ich sie darum.«
»Die beste Genugtuung würde sein,« sagte der Schloßherr, »wenn Sie nicht auf jener Seite ständen, auf der Sie stehen.«
»Mein Herr,« erwiderte der Fremde, »wenn Sie diese Ansicht bei meinem Kö-nige durchsetzen können, so werde ich eine Tat wie die von heute Nacht mit leichterem Herzen verrichten, als ich sie heute verrichtet habe. Aber bei dem Krieger heißt es gehorchen. Nun lebt wohl, meine Zeit ist sehr gemessen.«
Er reichte dem Schloßherrn die Hand, der sie nahm.
»Haben Sie doch keine Verletzung erlitten?« fragte der Verwalter.
»Keine einzige,« antworte der junge Mann.
»Nun, so leben Sie wohl,« sagte der Verwalter, »und mögen Ihre Taten bald von leichten Gefühlen begleitet sein.«
»Amen,« sagte der junge Mann.
Er beugte sich vor den Männern, aber noch tiefer vor den Frauen, selbst vor den Mägden, seine Begleiter schwenkten sich, und er ging mit ihnen davon.
Man sah ihnen nach, sah sie unter dem Torbogen zu Pferde sitzen und über den Steindamm hinausreiten.
Jetzt war nichts mehr von Kriegern zu sehen.
Nachdem der Verwalter und der Schloßherr die Unordnung im eigenen Hause, soweit es möglich war, besichtigt hatten, wobei einige schöne, von Kugeln arg verletzte Gartenbäume zu bedauern waren, verfügten sie sich in das Dorf, um dort und in der Umgegend den Bewohnern in den Maßregeln beizustehen, die infolge des stattgehabten Gefechtes notwendig geworden waren. Unterbringung der noch aufgefundenen oder nach und nach eintreffenden Verwundeten von Freund und Feind war das erste. Der Arzt richtete im Schlosse ein Hospital ein, und die Verwalterin kochte für Freunde und Feinde. Das zweite war die Beer-digung der Toten. Endlich ging man an das Einsammeln und Aufbewahren von Waffen und Kriegsgeräten und an das allmählige Ausbessern der Verletzungen an eigenen Häusern und Gebäuden.
Es pflegte in diesen Tagen mancher Verwundete seinen Nachbar, der noch är-ger verwundet war. Mancher trug einen Feind zur Verpflegung herbei, und am dritten Tage verbreitete sich die Nachricht, daß ein Pferd regungslos bei seinem toten Reiter in den Kohlgärten auf der Anhöhe stehe, und daß ein Spitz nicht von dem Grabe seines Herrn wegzubringen sei.
Anfangs zogen noch viele feindliche Abteilungen den Fliehenden nach, dann aber hörte dies auf, es kam nichts mehr, und Schloß und Dorf hat bis zum Frie-den weder feindliche noch freundliche Krieger mehr gesehen. – – –
Es waren zehn Jahre nach diesem Ereignisse vergangen. Die Feinde, die damals gesiegt hatten, waren nun vollkommen geschlagen, ihre Hauptstadt erobert, ihr weltberühmter Führer auf Elba und endlich nach seinem Hervorbruche gar auf St. Helena verbannt, und der Friede ruhte segnend auf allen Ländern, die so lange verwüstet worden waren. Die Menschen, welche den Krieg noch gesehen hatten, erkannten vollkommen dessen Entsetzliches, und daß ein solcher, der ihn mutwillig entzündet, wie sehr ihn spätere, verblendete Zeiten auch als Hel-den und Halbgott verehren, doch ein verabscheuungswürdiger Mörder und Ver-folger der Menschheit ist, und sie meinten, daß nun die Zeiten aus seien, wo man solches beginne, weil man zur Einsicht gekommen: aber sie bedachten nicht, daß andere Zeiten und andere Menschen kommen würden, die den Krieg nicht kennen, die ihre Leidenschaften walten lassen und im Übermute wieder das Ding, das so entsetzlich ist, hervorrufen würden.
Es war in unserm Schlosse abermals der Herbst gekommen, aber ein so lieblic-her, daß man die meiste Zeit im Freien zubringen konnte, und daß die Bewoh-ner des Schlosses täglich große Spaziergänge machten, um noch das letzte ruhi-ge Lächeln der Natur vor den Stürmen und Frösten zu genießen.
So saßen sie auch einmal alle an einem Nachmittage auf einem Hügel, der in dem Garten nahe an dem Gittertore, das auf das Feld führt, entstanden war. Alfred und Julius hatten nämlich alle Ferien aller ihrer Studienjahre dazu verwendet, mit eigenen Händen und kleinen Schubkarren einen Hügel aufzu-führen und darauf ein Säulenhäuschen aufzurichten, in dem die ganze Bewoh-nerschaft des Schlosses Platz hatte. Der Schloßherr und der Verwalter hatten die Knaben walten lassen, weil sie es für besser hielten, daß sie da bauten, wenn auch etwas so Ungeschlachtetes als einen Hügel, als daß sie durch Vogel-fangen oder Jagen zerstörten. Weil die Sonne gar so lieblich schien, wollte man in dem Säulenhäuschen den Nachmittagskaffee verzehren. Man hatte die ganze Gerätschaft auf dem Tische, wollte aufgießen, und spielte mit den gelben Blät-tern, die herumlagen, oder mit den Herbstfäden, die heuer besonders reichlich flogen und an den Säulen des Häuschens und an den Gewändern der Gesellsc-haft hingen.
Plötzlich tat Lulu, die eine erwachsene und, wir müssen es sagen, sehr schöne Jungfrau geworden war, einen Schrei.
»Hat dich eine Spinne geschreckt?« fragte man.
»Nein, ein weißer Mantel,« antwortete sie, und zeigte nach der Stelle, nach welcher sie bei Ausstoßung ihres Schreies geblickt hatte.
Alle schauten hin.
Außerhalb des Gitters stand auf dem Feldwege, der um den Garten ging, ein Wagen, in demselben saß ein einzelner Mann, der einen weißen Mantel um die Schultern hängen hatte und unverwandt auf die Gesellschaft hineinsah.
»Lauf, Julius,« sagte der Vater, »und frage, ob er etwas wünscht.«
Der Knabe lief hin, redete mit dem Manne, kam zurück und sagte: »Eingelassen wünscht er zu werden, er sagt, er sei nicht ganz fremd.«
Der Knabe erhielt den Schlüssel, den man zur Bequemlichkeit bei Spaziergän-gen immer mit sich führte, er schloß das Tor auf, der Fremde ging herein, stieg den Hügel hinan und stellte sich der Gesellschaft vor.
Man erkannte ihn augenblicklich. Es war der junge Mann aus jener schrecklic-hen Kriegsnacht. Aber er war nun kein Jüngling mehr, sondern ein freundlicher Mann, der so gütig blickte, daß man unmöglich hätte glauben können, daß er derselbe sei, der damals das fürchterliche Spiel auf Leben und Sterben getrie-ben habe.
»Verzeihen Sie, meine Herren und Frauen,« sagte er, »daß ich zu Ihnen kom-me, ich bin Ihnen nicht fremd, Sie haben nicht Ursache, mir irgend gut zu sein; aber Sie werden mich doch auch nicht hassen, was ich daraus schließen muß, daß seit den vielen Jahren her keine Genugtuung von mir wegen jener Nacht gefordert worden ist.«
»Nein, nein, es wird auch keine mehr gefordert werden,« rief man und nötigte ihn zum Sitzen.
Er tat es und sagte: »Lassen Sie mich nur noch einen Augenblick fortfahren. Jeder Mensch hat einen Punkt der Sehnsucht in seinem Leben, nach dem es ihn immer hinzieht und den er erreichen muß, wenn er ruhig sein will. Meine Sehnsucht ist jenes Gitter dort. Seit ich damals in der Nacht sein Schloß erb-rach, um auf den Turm zu gehen und die Lichterstellung des Feindes zu zeich-nen, seit jenem Augenblicke, wo ich es, da ich zurückkehrte, von dem Feinde besetzt fand und nun nur noch die Aussicht vor mir hatte, entweder als Spion gefangen und schimpflich aufgehängt zu werden, oder durch einen tollkühnen Ritt von vorn heraus in die überraschten Feinde zu sprengen, um entweder ehr-lich zu fallen oder eben durch die Unglaublichkeit des Wagstückes durch-zukommen – nach rückwärts hätte ich wegen des geackerten Bodens und der andern Hindernisse nicht hinaussprengen können – seit jenem Augenblicke zog es mich immer zu dem Gitter, und ich dachte, ich müsse es doch einmal sehen. Darum kam ich her und fuhr auf dem Feldwege um den Garten zu dem Gitter. Und lassen Sie mich es offenherzig sagen, einen nicht minderen Anteil an mei-nem Kommen hat der Gedanke, Sie alle zu sehen, mir wegen des Übels, das ich Ihnen zufügte und das mir immer Unruhe machte, Ihre vollkommene Verzei-hung zu holen und Ihre Achtung zu erwerben; denn ich habe seither in vielen Schlachten mit jenem leichten Herzen gekämpft, das mir dieser Herr damals gewünscht hat.«
Er zeigte mit diesen Worten auf den Verwalter.
»So gefallen Sie mir viel besser, junger Mann, als in jener Nacht,« sagte der mit rotem Angesichte und schneeweißen Haaren prangende Schloßherr.
»Ja, lieber Herr,« erwiderte der Fremde, »ich kenne kein fröhlicheres Gefühl, als mit entlasteter Brust an der Seite seiner Stammes- und Sprachgenossen ei-nem übermütigen und anmaßenden Feinde des schönen Vaterlandes entgegen zu reiten. Mir ist dies Gefühl zuteil geworden, ich habe gesucht, die Scharte, die meine Dienstpflicht in jener Nacht der gemeinschaftlichen Sache vielleicht geschlagen hat, wieder gut zu machen, und mögen alle Himmel geben, daß das so tieffühlende, denkende, edelherzige Volk der Deutschen nie wieder in seinen altersgrauen Fehler zurückfalle und gegen sich selber kämpfe.«
»Ja, gebe es Gott, gebe es Gott,« sagten die Männer.
Es war indessen der Kaffee eingeschenkt worden, und die Hausfrau gab dem Fremden die erste Tasse. Der Verwalter ließ den Wagen um die Gartenmauer herum in das Schloß bringen, und der Schloßherr und alle luden den Fremden ein, nun in Ruhe und Muße in dem Schlosse zu bleiben, um das Gartengitter so oft anzuschauen, als er wolle.
Die Einladung wurde angenommen.
Der Fremde blieb nun in dem Schlosse. Er konnte das Gitter, den Turm, den Garten und die Gegend betrachten, soviel er nur immer wollte. Aber das Schicksal hatte auch noch ganz andere Zwecke mit seiner Reise verbunden. Al-le gewannen ihn sehr lieb. Zwischen Lulu und ihm hatte sich das Verhältnis vollständig umgekehrt. So wie sie ihn in jener Nacht bewundert hatte, so konnte nun er von seiner Seite aus nicht aufhören und kein Ziel finden, das Mädchen zu bewundern. Und da er es dem Kinde schon in jener Nacht angetan hatte, und da er jetzt gar so gut und freundlich war, so konnte es nicht fehlen, daß auch ihn die Jungfrau bald außerordentlich liebte und die Verehrung eine vollkommen gegenseitige war.
Da er wegen des guten Verhältnisses, das sich mit allen angeknüpft hatte, und wegen des Wunsches aller immer länger im Schlosse blieb, da er sich über Stand und Vermögen auswies, ja sogar endlich ein benachbartes, feilgeworde-nes Gut kaufte, um in der Gegend ansässig zu werden, so stand einem Bündnis-se nichts entgegen, und die zwei Leutchen wurden in der Pfarrkirche des Dor-fes ehelich eingesegnet.
Und von nun an begann ein ruhiges, friedliches und glückliches Leben. Oft, wenn die Ehegatten in der Zukunft allein beieinander saßen, wenn er Lulu sei-ne Freude und sein höchstes Glück auf dieser Welt nannte, sagte sie: »Wie hast du durch dein Herz die schönste Genugtuung gegeben, die du geben konntest.«
»Es ist doch gut, daß ich ihn damals nicht erschlagen habe,« sagte noch lange und öfter der uralte, gleichsam immer kleiner werdende Schloßherr.
Lulu lächelte jedesmal bei dieser Rede, später lächelten auch Alfred und Julius und endlich alle, selbst der graue Lehrer, obgleich er der Schach- und Spazier-genosse des Schloßherrn geworden war.
Die weißen Mäntel spielten noch lange eine Rolle in der Familie. Nicht nur trugen Alfred und Julius, die in dem kaiserlichen Heere dienten, weiße Mäntel, sondern auch der kleinere Alfred und der kleinere Julius, die Buben Lulus, hat-ten im Winter, wenn sie im Schlitten über die Ebene gefahren wurden, weiße Mäntel an, die aus jenem weißen Mantel entstanden waren, den der Vater an-gehabt hatte, als er auf seinem Zuge begriffen war, das alte, eiserne Gitter zu suchen. Der Vater hatte mit den Waffen die weißen Mäntel abgelegt und trug jetzt im Winter dunkle und ausgezeichnete Pelze.