DER WANDERER
Eine Erzählung von
Adalbert Stifter
Ich verfuhr mit der Rente, welche mir der Vater ausgesetzt hatte, gut. Daher wurde nach einiger Zeit mein Kreis erweitert, wie es der Vater versprochen hatte. Ich sollte von nun an nicht bloß nur einen Teil meiner Bedürfnisse von dem zugewiesenen Einkommen decken, sondern alle. Deshalb wurde meine Rente vergrößert. Der Vater zahlte sie mir von nun an auch nicht mehr monatlich, sondern vierteljährlich aus, um mich an größere Zeitabschnitte zu gewöhnen. Sie mir halbjährlich oder gar nach ganzen Jahren einzuhändigen wollte er nicht wagen, damit ich doch nicht etwa in Unordnungen geriete. Er gab mir nicht die ganzen Zinsen von der Erbschaft des Großoheims, sondern nur einen Teil, den andern Teil legte er zu der Hauptsumme, so daß mein Eigentum wuchs, wenn ich auch von meiner Rente nichts erübrigte. Als Beschränkung blieb die Einrichtung, daß ich in dem Hause meiner Eltern wohnen und an ihrem Tische speisen mußte. Es ward dafür ein Preis festgesetzt, den ich alle Vierteljahre zu entrichten hatte. Jedes andere Bedürfnis, Kleider, Bücher, Geräte oder was es immer war, durfte ich nach meinem Ermessen und nach meiner Einsicht befriedigen.
Die Schwester erhielt auch Befugnisse in Hinsicht ihres Teiles der Erbschaft des Großoheims, in so weit sie sich für ein Mädchen schickten.
Wir waren über diese Einrichtung sehr erfreut und beschlossen, nach dem Wunsche und dem Willen der Eltern zu verfahren, um ihnen Freude zu machen.
Ich ging, nachdem ich in den verschiedenen Zweigen der Kenntnisse, die ich zuletzt mit meinen Lehrern betrieben hatte und welche als allgemein notwendige Kenntnisse für einen gebildeten Menschen gelten, nach mehreren Richtungen gearbeitet hatte, auf die Mathematik über. Man hatte mir immer gesagt, sie sei die schwerste und herrlichste Wissenschaft, sie sei die Grundlage zu allen übrigen, in ihr sei alles wahr, und was man aus ihr habe, sei ein bleibendes Besitztum für das ganze Leben. Ich kaufte mir die Bücher, die man mir riet, um von den Vorkenntnissen, die ich bereits hatte, ausgehen und zu dem Höheren immer weiter streben zu können. Ich kaufte mir eine sehr große Schiefertafel, um auf ihr meine Arbeiten ausführen zu können. So saß ich nun in manchen Stunden, die zum Erlernen von Kenntnissen bestimmt waren, an meinem Tische und rechnete. Ich ging den Gängen der Männer nach, welche die Gestaltungen dieser Wissenschaft nach und nach erfunden hatten und von diesen Gestaltungen zu immer weiteren geführt worden waren. Ich setzte mir bestimmte Zeiträume fest, in welchen ich vom Weitergehen abließ, um das bis dahin Errungene wiederholen und meinem Gedächtnisse einprägen zu können, ehe ich zu ferneren Teilen vorwärts schritt. Die Bücher, welche ich nach und nach durchnehmen wollte, hatte ich in der Ordnung auf einem Bücherbrett aufgestellt. Ich war nach einer verhältnismäßigen Zeit in ziemlich schwierige Abteilungen des höheren Gebietes dieser Wissenschaft vorgerückt.
Der Vater erlaubte mir endlich, zuweilen im Sommer eine Zeit hindurch entfernt von den Eltern auf irgend einem Punkte des Landes zu wohnen. Zum ersten Aufenthalte dieser Art wurde das Landhaus eines Freundes meines Vaters nicht gar ferne von der Stadt erwählt. Ich erhielt ein Zimmerchen in dem obersten Teile des Hauses, dessen Fenster auf die nahen Weinberge und zwischen ihren Senkungen durch auf die entfernten Gebirge gingen. Die Frau des Hauses gab mir in sehr kurzen Zwischenzeiten immer erneuerte schneeweiße Fenstervorhänge. Sehr oft kamen die Eltern heraus, besuchten mich und brachten den Tag auf dem Lande zu. Sehr oft ging ich auch zu ihnen in die Stadt und blieb manchmal sogar über Nacht in ihrem Hause.
Der zweite Aufenthalt im nächst darauf folgenden Sommer war viel weiter von der Stadt entfernt in dem Hause eines Landmanns. Man hat häufig in den Häusern unserer Landleute, in welchen alle Wohnstuben und andere Räumlichkeiten ebenerdig sind, doch noch ein Geschoß über diesen Räumlichkeiten, in welchem sich ein oder mehrere Gemächer befinden. Unter diesen Gemächern ist auch die sogenannte obere Stube. Häufig ist sie bloß das einzige Gemach des ersten Geschosses. Die obere Stube ist gewissermaßen das Prunkzimmer. In ihr stehen die schöneren Betten des Hauses, gewöhnlich zwei, in ihr stehen die Schreine mit den schönen Kleidern, in ihr hängen die Scheiben- und Jagdgewehre des Mannes, wenn er dergleichen hat, so wie die Preise, die er im Schießen etwa schon gewonnen, in ihr sind die schöneren Geschirre der Frau, besonders wenn sie Krüge aus Zinn oder etwas aus Porzellan hat, und in ihr sind auch die besseren Bilder des Hauses und sonstige Zierden, zum Beispiel ein schönes Jesuskindlein aus Wachs, welches in weißem feinem Flaume liegt. In einer solchen oberen Stube des Hauses eines Landmanns wohnte ich. Das Haus war so weit von der Stadt entfernt, daß ich die Eltern nur ein einziges Mal mit Benutzung des Postwagens besuchen konnte, sie aber gar nie zu mir kamen.
Dieser Aufenthalt brachte Veränderungen in mir hervor.
Weil ich mit den Meinigen nicht zusammen kommen konnte, so lebte die Sehnsucht nach Mitteilung viel stärker in mir, als wenn ich zu Hause gewesen wäre und sie jeden Augenblick hätte befriedigen können. Ich schritt also zu ausführlichen Briefen und Berichten. Ich hatte bisher immer aus Büchern gelernt, deren ich mir bereits eine ziemliche Menge in meine Bücherkästen von meinem Gelde gekauft hatte; aber ich hatte mich nie geübt, etwas selber in größerem Zusammenhange zusammen zu stellen. Jetzt mußte ich es tun, ich tat es gerne, und freute mich, nach und nach die Gabe der Darstellung und Erzählung in mir wachsen zu fühlen. Ich schritt zu immer zusammengesetzteren und geordneteren Schilderungen.
Auch eine andere Veränderung trat ein.
Ich war schon als Knabe ein großer Freund der Wirklichkeit der Dinge gewesen, wie sie sich so in der Schöpfung oder in dem geregelten Gange des menschlichen Lebens darstellte. Dies war oft eine große Unannehmlichkeit für meine Umgebung gewesen. Ich fragte unaufhörlich um die Namen der Dinge, um ihr Herkommen und ihren Gebrauch und konnte mich nicht beruhigen, wenn die Antwort eine hinausschiebende war. Auch konnte ich es nicht leiden, wenn man einen Gegenstand zu etwas Anderem machte, als er war. Besonders kränkte es mich, wenn er, wie ich meinte, durch seine Veränderung schlechter wurde. Es machte mir Kummer, als man einmal einen alten Baum des Gartens fällte und ihn in lauter Klötze zerlegte. Die Klötze waren nun kein Baum mehr, und da sie morsch waren, konnte man keinen Schemel, keinen Tisch, kein Kreuz, kein Pferd daraus schnitzen. Als ich einmal das offene Land kennen gelernt und Fichten und Tannen auf den Bergen stehen gesehen hatte, taten mir jederzeit die Bretter leid, aus denen etwas in unserem Hause verfertigt wurde, weil sie einmal solche Fichten und Tannen gewesen waren. Ich fragte den Vater, wenn wir durch die Stadt gingen, wer die große Kirche des heiligen Stephan gebaut habe, warum sie nur einen Turm habe, warum dieser so spitzig sei, warum die Kirche so schwarz sei, wem dieses oder jenes Haus gehöre, warum es so groß sei, weshalb sich an einem andern Hause immer zwei Fenster neben einander befänden und in einem weiteren Hause zwei steinerne Männer das Sims des Haustores tragen.
Der Vater beantwortete solche Fragen je nach seinem Wissen. Bei einigen äußerte er nur Mutmaßungen, bei anderen sagte er, er wisse es nicht. Wenn wir auf das Land kamen, wollte ich alle Gewächse und Steine kennen und fragte um die Namen der Landleute und der Hunde. Der Vater pflegte zu sagen, ich müßte einmal ein Beschreiber der Dinge werden oder ein Künstler, welcher aus Stoffen Gegenstände fertigt, an denen er so Anteil nimmt, oder wenigstens ein Gelehrter, der die Merkmale und Beschaffenheiten der Sachen erforscht.
Diese Eigenschaft nun führte mich, da ich auf dem Lande wohnte, in eine besondere Richtung. Ich legte die Mathematik weg und widmete mich der Betrachtung meiner Umgebungen. Ich fing an, bei allen Vorkommnissen des Hauses, in dem ich wohnte, zuzusehen. Ich lernte nach und nach alle Werkzeuge und ihre Bestimmungen kennen. Ich ging mit den Arbeitern auf die Felder, auf die Wiesen und in die Wälder und arbeitete gelegentlich selber mit. Ich lernte in kurzer Zeit auf diese Weise die Behandlung und Gewinnung aller Bodenerzeugnisse des Landstriches, auf dem ich wohnte, kennen. Auch ihre erste ländliche Verarbeitung zu Kunsterzeugnissen suchte ich in Erfahrung zu bringen. Ich lernte die Bereitung des Weines aus Trauben kennen, des Garnes und der Leinwand aus Flachs, der Butter und des Käses aus der Milch, des Mehles und Brotes aus dem Getreide. Ich merkte mir die Namen, womit die Landleute ihre Dinge benannten, und lernte bald die Merkmale kennen, aus denen man die Güte oder den geringeren Wert der Bodenerzeugnisse oder ihre nächsten Umwandlungen beurteilen konnte. Selbst in Gespräche, wie man dieses oder jenes auf eine vielleicht zweckmäßigere Weise hervorbringen könnte, ließ ich mich ein, fand aber da einen hartnäckigen Widerstand.
Als ich diese Hervorbringung der ersten Erzeugnisse in jenem Striche des Landes, in welchem ich mich aufhielt, kennen gelernt hatte, ging ich zu den Gegenständen des Gewerbfleißes über. Nicht weit von meiner Wohnung war ein weites flaches Tal, das von einem Wasser durchströmt war, welches sich durch seine gleichbleibende Reichhaltigkeit und dadurch, daß es im Winter nicht leicht zufror, besonders zum Treiben von Werken eignete. In dem Tale waren daher mehrere Fabriken zerstreut. Sie gehörten meistens zu ansehnlichen Handelshäusern. Die Eigentümer lebten in der Stadt und besuchten zuweilen ihre Werke, die von einem Verwalter oder Geschäftsleiter versehen wurden.
Ich besuchte nach und nach alle diese Fabriken und unterrichtete mich über die Erzeugnisse, welche da hervorgebracht wurden. Ich suchte den Hergang kennen zu lernen, durch welchen der Stoff in die Fabrik geliefert wurde, durch welchen er in die erste Umwandlung, von dieser in die zweite und so durch alle Stufen geführt wurde, bis er als letztes Erzeugnis der Fabrik hervorging. Ich lernte hier die Güte der einlangenden Rohstoffe kennen und wurde auf die Merkmale aufmerksam gemacht, aus denen auf eine vorzügliche Beschaffenheit der endlich in der Fabrik fertig gewordenen Erzeugnisse geschlossen werden konnte. Ich lernte auch die Mittel und Wege kennen, durch welche die Umwandlungen, die die Stoffe nach und nach zu erleiden hatten, bewirkt wurden.
Die Maschinen, welche hiezu größtenteils verwendet wurden, waren mir durch meine bereits erworbenen Vorkenntnisse in ihren allgemeinen Einrichtungen schon bekannt. Es war mir daher nicht schwer, ihre besonderen Wirkungen zu den einzelnen Zwecken, die hier erreicht werden sollten, einsehen zu lernen. Ich ging durch die Gefälligkeit der dabei Angestellten alle Teile durch, bis ich das Ganze so vor mir hatte und zusammen begreifen konnte, als hätte ich es als Zeichnung auf dem Papier liegen, wie ich ja bisher alle Einrichtungen solcher Art nur aus Zeichnungen kennen zu lernen Gelegenheit hatte.
In späterer Zeit begann ich, die Naturgeschichte zu betreiben. Ich fing bei der Pflanzenkunde an. Ich suchte zuerst zu ergründen, welche Pflanzen sich in der Gegend befänden, in welcher ich mich aufhielt. Zu diesem Zwecke ging ich nach allen Richtungen aus und bestrebte mich, die Standorte und die Lebensweise der verschiedenen Gewächse kennen zu lernen und alle Gattungen zu sammeln. Welche ich mit mir tragen konnte und welche nur einiger Maßen aufzubewahren waren, nahm ich mit in meine Wohnung. Von solchen, die ich nicht von dem Orte bringen konnte, wozu besonders die Bäume gehörten, machte ich mir Beschreibungen, welche ich zu der Sammlung einlegte. Bei diesen Beschreibungen, die ich immer nach allen sich mir darbietenden Eigenschaften der Pflanzen machte, zeigte sich mir die Erfahrung, daß nach meiner Beschreibung andere Pflanzen in eine Gruppe zusammen gehörten, als welche von den Pflanzenkundigen als zusammengehörig aufgeführt wurden. Ich bemerkte, daß von den Pflanzenlehrern die Einteilungen der Pflanzen nur nach einem oder einigen Merkmalen, zum Beispiele nach den Samenblättern oder nach den Blütenteilen, gemacht wurden, und daß da Pflanzen in einer Gruppe beisammen stehen, welche in ihrer ganzen Gestalt und in ihren meisten Eigenschaften sehr verschieden sind. Ich behielt die herkömmlichen Einteilungen bei und hatte aber auch meine Beschreibungen daneben. In diesen Beschreibungen standen die Pflanzen nach sinnfälligen Linien und, wenn ich mich so ausdrücken dürfte, nach ihrer Bauführung beisammen.
Bei den Mineralien, welche ich mir sammelte, geriet ich beinahe in dieselbe Lage. Ich hatte mir schon seit meiner Kinderzeit manche Stücke zu erwerben gesucht. Fast immer waren dieselben aus anderen Sammlungen gekauft oder geschenkt worden. Sie waren schon Sammlungsstücke, hatten meistens das Papierstückchen mit ihrem Namen auf sich aufgeklebt.
Auch waren sie wo möglich immer im Kristallzustande. Das System von Mohs hatte einmal großes Aufsehen gemacht; ich war durch meine mathematischen Arbeiten darauf geführt worden, hatte es kennen und lieben gelernt. Allein da ich jetzt meine Mineralien in der Gegend meines Aufenthaltes suchte und zusammen trug, fand ich sie weit öfter in unkristallisirtem Zustande als in kristallisirtem, und sie zeigten da allerlei Eigenschaften für die Sinne, die sie dort nicht haben. Das Kristallisiren der Stoffe, welches das System von Mohs voraussetzt, kam mir wieder wie ein Blühen vor, und die Stoffe standen nach diesen Blüten beisammen. Ich konnte nicht lassen, auch hier neben den Einteilungen, die gebräuchlich waren, mir ebenfalls meine Beschreibungen zu machen.
Ungefähr eine Meile von unserer Stadt liegt gegen Sonnenuntergang hin eine Reihe von schönen Hügeln. Diese Hügel setzen sich in Stufenfolgen und nur hie und da von etwas größeren Ebenen unterbrochen immer weiter nach Sonnenuntergang fort, bis sie endlich in höher gelegenes, noch hügligeres Land, das sogenannte Oberland, übergehen. In der Nähe der Stadt sind die Hügel mehrfach von Landhäusern besetzt und mit Gärten und Anlagen geschmückt, in weiterer Entfernung werden sie ländlicher. Sie tragen Weinreben oder Felder auf ihren Seiten, auch Wiesen sind zu treffen, und die Gipfel oder auch manche Rückenstrecken sind mit laubigen, mehr busch- als baumartigen Wäldern besetzt. Die Bäche und sonstigen Gewässer sind nicht gar häufig, und oft traf ich im Sommer zwischen den Hügeln, wenn mich Durst oder Zufall hinab führte, das ausgetrocknete, mit weißen Steinen gefüllte Bett eines Baches. In diesem Hügellande war mein Aufenthalt, und in demselben rückte ich immer weiter gegen Sonnenuntergang vor. Ich streifte weit und breit herum und war oft mehrere Tage von meiner Wohnung abwesend. Ich ging die einsamen Pfade, welche zwischen den Feldern oder Weingeländen hinliefen und sich von Dorf zu Dorf, von Ort zu Ort zogen und manche Meilen, ja Tagereisen in sich begriffen. Ich ging auf den abgelegenen Waldpfaden, die in Stammholz oder Gebüschen verborgen waren und nicht selten im Laubwerk, Gras oder Gestrippe spurlos endeten. Ich durchwanderte oft auch ohne Pfad Wiesen, Wald und sonstige Landflächen, um die Gegenstände zu finden, welche ich suchte. Daß wenige von unseren Stadtbewohnern auf solche Wege kommen, ist begreiflich, da sie nur kurze Zeit zu dem Genusse des Landlebens sich gönnen können und in derselben auf den breiten herkömmlichen Straßen des Landvergnügens bleiben und von anderen Pfaden nichts wissen. An der Mittagseite war das ganze Hügelland viele Meilen lang von Hochgebirge gesäumt. Auf einer Stelle der Basteien unserer Stadt kann man zwischen Häusern und Bäumen ein Fleckchen Blau von diesem Gebirge sehen. Ich ging oft auf jene Bastei, sah oft dieses kleine blaue Fleckchen und dachte nichts weiter als: das ist das Gebirge. Selbst da ich von dem Hause meines ersten Sommeraufenthaltes einen Teil des Hochgebirges erblickte, achtete ich nicht weiter darauf. Jetzt sah ich zuweilen mit Vergnügen von einer Anhöhe oder von dem Gipfel eines Hügels ganze Strecken der blauen Kette, welche in immer undeutlicheren Gliedern ferner und ferner dahin lief. Oft, wenn ich durch wildes Gestrippe plötzlich auf einen freien Abriß kam und mir die Abendröte entgegen schlug, weithin das Land in Duft und roten Rauch legend, so setzte ich mich nieder, ließ das Feuerwerk vor mir verglimmen, und es kamen allerlei Gefühle in mein Herz.
Wenn ich wieder in das Haus der Meinigen zurückkehrte, wurde ich recht freudig empfangen, und die Mutter gewöhnte sich an meine Abwesenheiten, da ich stets gereifter von ihnen zurück kam. Sie und die Schwester halfen mir nicht selten, die Sachen, die ich mitbrachte, aus ihren Behältnissen auspacken, damit ich sie in den Räumen, die hiezu bestimmt waren, ordnen konnte.
So war endlich die Zeit gekommen, in welcher es der Vater für geraten fand, mir die ganze Rente der Erbschaft des Großoheims zu freier Verfügung zu übertragen. Er sagte, ich könne mit diesem Einkommen verfahren, wie es mir beliebe, nur müßte ich damit ausreichen. Er werde mir auf keine Weise aus dem Seinigen etwas beitragen, noch mir je Vorschüsse machen, da meine Jahreseinnahme so reichlich sei, daß sie meine jetzigen Bedürfnisse, selbst wenn sie noch um Vieles größer würden, nicht nur hinlänglich decke, sondern daß sie selbst auch manche Vergnügungen bestreiten könne, und daß doch noch etwas übrig bleiben dürfte. Es liege somit in meiner Hand, für die Zukunft, die etwa größere Ausgaben bringen könnte, mir auch eine größere Einnahme zu sichern. Meine Wohnung und meinen Tisch dürfe ich nicht mehr, wenn ich nicht wolle, in dem Hause der Eltern nehmen, sondern wo ich immer wollte. Das Stammvermögen selber werde er an dem Orte, an welchem es sich bisher befand, liegen lassen. Er fügte bei, er werde mir dasselbe, sobald ich das vierundzwanzigste Jahr erreicht habe, einhändigen. Dann könne ich es nach meinem eigenen Ermessen verwalten. »Ich rate dir aber«, fuhr er fort, »dann nicht nach einer größeren Rente zu geizen, weil eine solche meistens nur mit einer größeren Unsicherheit des Stammvermögens zu erzielen ist. Sei immer deines Grundvermögens sicher und mache die dadurch entstehende kleinere Rente durch Mäßigkeit größer. Solltest du den Rat deines Vaters einholen wollen, so wird dir derselbe nie entzogen werden. Wenn ich sterbe oder freiwillig aus den Geschäften zurück trete, so werdet ihr beide auch noch von mir eine Vermehrung eures Eigentums erhalten. Wie groß dieselbe sein wird, kann ich noch nicht sagen, ich bemühe mich, durch Vorsicht und durch gut gegründete Geschäftsführung sie so groß als möglich und auch so sicher als möglich zu machen; aber alle stehen wir in der Hand des Herrn, und er kann durch Ereignisse, welche kein Menschenauge vorher sehen kann, meine Vermögensumstände bedeutend verändern. Darum sei weise und gebare mit dem Deinigen, wie du bisher zu meiner und zur Befriedigung deiner Mutter getan hast.« Ich war gerührt über die Handlungsweise meines Vaters und dankte ihm von ganzem Herzen. Ich sagte, daß ich mich stets bestreben werde, seinem Vertrauen zu entsprechen, daß ich ihn inständig um seinen Rat bitte, und daß ich in Vermögensangelegenheiten wie in anderen nie gegen ihn handeln, und daß ich auch nicht den kleinsten Schritt tun wolle, ohne nach diesem Rat zu verlangen. Eine Wohnung außer dem Hause zu beziehen, solange ich in unserer Stadt lebe, wäre mir sehr schmerzlich, und ich bitte, in dem Hause meiner Eltern und an ihrem Tische bleiben zu dürfen, solange Gott nicht selber durch irgend eine Schickung eine Änderung herbei führe.
Der Vater und die Mutter waren über diese Worte erfreut. Die Mutter sagte, daß sie mir zu meiner bisherigen Wohnung, die mir doch als einem nunmehr selbständigen Manne besonders bei meinen jetzigen Verhältnissen zu klein werden dürfte, noch einige Räumlichkeiten zugeben wolle, ohne daß darum der Preis unverhältnismäßig wachse. Ich war natürlicher Weise mit Allem einverstanden. Ich mußte gleich mit der Mutter gehen und die mir zugedachte Vergrößerung der Wohnung besehen. Ich dankte ihr für ihre Sorgfalt. Schon in den nächsten Tagen richtete ich mich in der neuen Wohnung ein.
Den Winter benutzte ich zum Teile mit Vorbereitungen, um im nächsten Sommer wieder große Wanderungen machen zu können. Ich hatte mir vorgenommen, nun endlich einmal das Hochgebirge zu besuchen, und in ihm so weit herum zu gehen, als es mir zusagen würde.
Als der Sommer gekommen war, fuhr ich von der Stadt auf dem kürzesten Wege in das Gebirge. Von dem Orte meiner Ankunft aus wollte ich dann in ihm längs seiner Richtung von Sonnenaufgang nach Sonnenuntergang zu Fuße fort wandern. Ich begab mich sofort auf meinen Weg. Ich ging den Tälern entlang, selbst wenn sie von meiner Richtung abwichen und allerlei Windungen verfolgten. Ich suchte nach solchen Abschweifungen immer meinen Hauptweg wieder zu gewinnen. Ich stieg auch auf Bergjoche und ging auf der entgegengesetzten Seite wieder in das Tal hinab.
Ich erklomm manchen Gipfel und suchte von ihm die Gegend zu sehen und auch schon die Richtung zu erspähen, in welcher ich in nächster Zeit vordringen würde. Im Ganzen hielt ich mich stets, soweit es anging, nach dem Hauptzuge des Gebirges und wich von der Wasserscheide so wenig als möglich ab.
In einem Tale an einem sehr klaren Wasser sah ich einmal einen toten Hirsch. Er war gejagt worden, eine Kugel hatte seine Seite getroffen, und er mochte das frische Wasser gesucht haben, um seinen Schmerz zu kühlen. Er war aber an dem Wasser gestorben. Jetzt lag er an demselben so, daß sein Haupt in den Sand gebettet war und seine Vorderfüße in die reine Flut ragten. Ringsum war kein lebendiges Wesen zu sehen. Das Tier gefiel mir so, daß ich seine Schönheit bewunderte und mit ihm großes Mitleid empfand. Sein Auge war noch kaum gebrochen, es glänzte noch in einem schmerzlichen Glanze, und dasselbe, so wie das Antlitz, das mir fast sprechend erschien, war gleichsam ein Vorwurf gegen seine Mörder. Ich griff den Hirsch an, er war noch nicht kalt. Als ich eine Weile bei dem toten Tiere gestanden war, hörte ich Laute in den Wäldern des Gebirges, die wie Jauchzen und wie Heulen von Hunden klangen. Diese Laute kamen näher, waren deutlich zu erkennen, und bald sprang ein Paar schöner Hunde über den Bach, denen noch einige folgten. Sie näherten sich mir. Als sie aber den fremden Mann bei dem Wilde sahen, blieben einige in der Entfernung stehen und bellten heftig gegen mich, während andere heulend weite Kreise um mich zogen, in ihnen dahin flogen und in Eilfertigkeit sich an Steinen überschlugen und überstürzten. Nach geraumer Zeit kamen auch Männer mit Schießgewehren. Als sich diese dem Hirsche genähert hatten und neben mir standen, kamen auch die Hunde herzu, hatten vor mir keine Scheu mehr, beschnupperten mich und bewegten sich und zitterten um das Wild herum. Ich entfernte mich, nachdem die Jäger auf dem Schauplatze erschienen waren, sehr bald von ihm.
Bisher hatte ich keine Tiere zu meinen Bestrebungen in der Naturgeschichte aufgesucht, obwohl ich die Beschreibungen derselben eifrig gelesen und gelernt hatte. Diese Vernachlässigung der leiblichen wirklichen Gestalt war bei mir so weit gegangen, daß ich, selbst da ich einen Teil des Sommers schon auf dem Lande zubrachte, noch immer die Merkmale von Ziegen, Schafen, Kühen aus meinen Abbildungen nicht nach den Gestalten suchte, die vor mir wandelten.
Ich schlug jetzt einen andern Weg ein. Der Hirsch, den ich gesehen hatte, schwebte mir immer vor den Augen. Er war ein edler gefallner Held und war ein reines Wesen. Auch die Hunde, seine Feinde, erschienen mir berechtigt wie in ihrem Berufe. Die schlanken springenden und gleichsam geschnellten Gestalten blieben mir ebenfalls vor den Augen. Nur die Menschen, welche das Tier geschossen hatten, waren mir widerwärtig, da sie daraus gleichsam ein Fest gemacht hatten. Ich fing von der Stunde an, Tiere so aufzusuchen und zu betrachten, wie ich bisher Steine und Pflanzen aufgesucht und betrachtet hatte. Sowohl jetzt, da ich noch in dem Gebirge war, als auch später zu Hause und bei meinen weiteren Wanderungen betrachtete ich Tiere und suchte ihre wesentlichen Merkmale sowohl an ihrem Leibe als auch an ihrer Lebensart und Bestimmung zu ergründen. Ich schrieb das, was ich gesehen hatte, auf und verglich es mit den Beschreibungen und Einteilungen, die ich in meinen Büchern fand. Da geschah es wieder, daß ich mit diesen Büchern in Zwiespalt geriet, weil es meinen Augen widerstrebte, Tiere nach Zehen oder anderen Dingen in einer Abteilung beisammen zu sehen, die in ihrem Baue nach meiner Meinung ganz verschieden waren. Ich stellte daher nicht wissenschaftlich, aber zu meinem Gebrauche eine andere Einteilung zusammen.
Einen besonderen Zweck, den ich bei dem Besuche des Gebirges befolgen wollte, hatte ich dieses erste Mal nicht, außer was sich zufällig fand. Ich war nur im Allgemeinen in das Gebirge gegangen, um es zu sehen. Als daher dieser erste Drang etwas gesättigt war, begab ich mich auf dem nächsten Wege in das flache Land hinaus und fuhr auf diesem wieder nach Hause.
Allein der kommende Sommer lockte mich abermals in das Gebirge. Hatte ich das erste Mal nur im Allgemeinen geschaut, und waren die Eindrücke wirkend auf mich heran gekommen, so ging ich jetzt schon mehr in das Einzelne, ich war meiner schon mehr Herr und richtete die Betrachtung auf besondere Dinge. Viele von ihnen drängten sich an meine Seele. Ich saß auf einem Steine und sah die breiten Schattenflächen und die scharfen, oft gleichsam mit einem Messer in sie geschnittenen Lichter. Ich dachte nach, weshalb die Schatten hier so blau seien und die Lichter so kräftig und das Grün so feurig und die Wässer so blitzend. Mir fielen die Bilder meines Vaters ein, auf denen Berge gemalt waren, und mir wurde es, als hätte ich sie mitnehmen sollen, um vergleichen zu können. Ich blieb in kleinen Ortschaften zuweilen länger und betrachtete die Menschen, ihr tägliches Gewerbe, ihr Fühlen, ihr Reden, Denken und Singen. Ich lernte die Zither kennen, betrachtete sie, untersuchte sie und hörte auf ihr spielen und zu ihr singen. Sie erschien mir als ein Gegenstand, der nur allein in die Berge gehört und mit den Bergen Eins ist. Die Wolken, ihre Bildung, ihr Anhängen an die Bergwände, ihr Suchen der Bergspitzen so wie die Verhältnisse des Nebels und seine Neigung zu den Bergen waren mir wunderbare Erscheinungen.
Ich bestieg in diesem Sommer auch einige hohe Stellen, ich ließ mich von den Führern nicht bloß auf das Eis der Gletscher geleiten, welches mich sehr anregte und zur Betrachtung aufforderte, sondern bestieg auch mit ihrer Hilfe die höchsten Zinnen der Berge. Ich sah die Überreste einer alten, untergegangenen Welt in den Marmoren, die in dem Gebirge vorkommen und die man in manchen Tälern zu schleifen versteht. Ich suchte besondere Arten aufzufinden und sendete sie nach Hause. Den schönen Enzian hatte ich im früheren Sommer schon der Schwester in meinen Pflanzenbüchern gebracht, jetzt brachte ich ihr auch Alpenrosen und Edelweiß. Von der Zirbelkiefer und dem Knieholze nahm ich die zierlichen Früchte. So verging die Zeit, und so kam ich bereichert nach Hause.
Ich ging von nun an jeden Sommer in das Gebirge.
Wenn ich von den Zimmern meiner Wohnung in dem Hause meiner Eltern nach einem dort verbrachten Winter gegen den Himmel blickte und nicht mehr so oft an demselben die grauen Wolken und den Nebel sah, sondern öfter schon die blauen und heiteren Lüfte, wenn diese durch ihre Farbe schon gleichsam ihre größere Weichheit ankündigten, wenn auf den Mauern und Schornsteinen und Ziegeldächern, die ich nach vielen Richtungen übersehen konnte, schon immer kräftigere Tafeln von Sonnenschein lagen, kein Schnee sich mehr blicken ließ und an den Bäumen unseres Gartens die Knospen schwollen: so mahnte es mich bereits in das Freie. Um diesem Drange nur vorläufig zu genügen, ging ich gerne aus der Stadt und erquickte mich an der offenen Weite der Wiesen, der Felder, der Weinberge. Wenn aber die Bäume blühten und das erste Laub sich entwickelte, ging ich schon dem Blau der Berge zu, wenngleich ihre Wände noch von mannigfaltigem Schnee erglänzten. Ich erwählte mir nach und nach verschiedene Gegenden, an denen ich mich aufhielt, um sie genau kennen zu lernen und zu genießen.
Mein Vater hatte gegen diese Reisen nichts, auch war er mit der Art, wie ich mit meinem Einkommen gebarte, sehr zufrieden. Es blieb nehmlich in jedem Jahre ein Erkleckliches über, was zu dem Grundvermögen getan werden konnte. Ich spürte desohngeachtet in meiner Lebensweise keinen Abgang. Ich strebte nach Dingen, die meine Freude waren und wenig kosteten, weit weniger als die Vergnügungen, denen meine Bekannten sich hingaben. Ich hatte in Kleidern, Speise und Trank die größte Einfachheit, weil es meiner Natur so zusagte, weil wir zur Mäßigkeit erzogen waren und weil diese Gegenstände, wenn ich ihnen große Aufmerksamkeit hätte schenken sollen, mich von meinen Lieblingsbestrebungen abgelenkt hätten. So ging alles gut, Vater und Mutter freuten sich über meine Ordnung, und ich freute mich über ihre Freude.
Da verfiel ich eines Tages auf das Zeichnen. Ich könnte mir ja meine Naturgegenstände, dachte ich, eben so gut zeichnen als beschreiben, und die Zeichnung sei am Ende noch sogar besser als die Beschreibung. Ich erstaunte, weshalb ich denn nicht sogleich auf den Gedanken geraten sei. Ich hatte wohl früher immer gezeichnet, aber mit mathematischen Linien, welche nach Rechnungsgesetzen entstanden, Flächen und Körper in der Meßkunst darstellten und mit Zirkel und Richtscheit gemacht worden waren. Ich wußte wohl recht gut, daß man mit Linien alle möglichen Körper darstellen könne, und hatte es an den Bildern meines Vaters vollführt gesehen: aber ich hatte nicht weiter darüber gedacht, da ich in einer andern Richtung beschäftigt war. Es mußte diese Vernachlässigung von einer Eigenschaft in mir herrühren, die ich in einem hohen Grade besaß und die man mir zum Vorwurfe machte. Wenn ich nehmlich mit einem Gegenstande eifrig beschäftigt war, so vergaß ich darüber manchen andern, der vielleicht größere Bedeutung hatte. Sie sagten, das sei einseitig, ja es sei sogar Mangel an Gefühl.
Ich fing mein Zeichnen mit Pflanzen an, mit Blättern, mit Stielen, mit Zweigen. Es war Anfangs die Ähnlichkeit nicht sehr groß, und die Vollkommenheit der Zeichnung ließ viel zu wünschen übrig, wie ich später erkannte. Aber es wurde immer besser, da ich eifrig war und vom Versuchen nicht abließ. Die früher in meine Pflanzenbücher eingelegten Pflanzen, wie sorgsam sie auch vorbereitet waren, verloren nach und nach nicht bloß die Farbe, sondern auch die Gestalt, und erinnerten nicht mehr entfernt an ihre ursprüngliche Beschaffenheit.
Die gezeichneten Pflanzen dagegen bewahrten wenigstens die Gestalt, nicht zu gedenken, daß es Pflanzen gibt, die wegen ihrer Beschaffenheit, und selbst solche, die wegen ihrer Größe in ein Pflanzenbuch nicht gelegt werden können, wie zum Beispiele Pilze oder Bäume. Diese konnten in einer Zeichnung sehr wohl aufbewahrt werden. Die bloßen Zeichnungen aber genügten mir nach und nach auch nicht mehr, weil die Farbe fehlte, die bei den Pflanzen, besonders bei den Blüten, eine Hauptsache ist. Ich begann daher, meine Abbildungen mit Farben zu versehen und nicht eher zu ruhen, als bis die Ähnlichkeit mit den Urbildern erschien und immer größer zu werden versprach.
Nach den Pflanzen nahm ich auch andere Gegenstände vor, deren Farbe etwas Auffallendes und Faßliches hatte. Ich geriet auf die Falter und suchte mehrere nachzubilden. Die Farben von minder hervorragenden Gegenständen, die zwar unscheinbar, aber doch bedeutsam sind, wie die der Gesteine im unkristallischen Zustande, kamen später an die Reihe, und ich lernte ihre Reize nach und nach würdigen.
Da ich nun einmal zeichnete und die Dinge deshalb doch viel genauer betrachten mußte, und da das Zeichnen und meine jetzigen Bestrebungen mich doch nicht ganz ausfüllten, kam ich auch noch auf eine andere, viel weiter gehende Richtung.
Ich habe schon gesagt, daß ich gerne auf hohe Berge stieg und von ihnen aus die Gegenden betrachtete. Da stellten sich nun dem geübteren Auge die bildsamen Gestalten der Erde in viel eindringlicheren Merkmalen dar und faßten sich übersichtlicher in großen Teilen zusammen. Da öffnete sich dem Gemüte und der Seele der Reiz des Entstehens dieser Gebilde, ihrer Falten und ihrer Erhebungen, ihres Dahinstreichens und Abweichens von einer Richtung, ihres Zusammenstrebens gegen einen Hauptpunkt und ihrer Zerstreuungen in die Fläche. Es kam ein altes Bild, das ich einmal in einem Buche gelesen und wieder vergessen hatte, in meine Erinnerung. Wenn das Wasser in unendlich kleinen Tröpfchen, die kaum durch ein Vergrößerungsglas ersichtlich sind, aus dem Dunste der Luft sich auf die Tafeln unserer Fenster absetzt, und die Kälte dazu kömmt, die nötig ist, so entsteht die Decke von Fäden, Sternen, Wedeln, Palmen und Blumen, die wir gefrorene Fenster heißen. Alle diese Dinge stellen sich zu einem Ganzen zusammen, und die Strahlen, die Täler, die Rücken, die Knoten des Eises sind durch ein Vergrößerungsglas angesehen bewunderungswürdig. Eben so stellt sich von sehr hohen Bergen aus gesehen die niedriger liegende Gestaltung der Erde dar. Sie muß aus einem erstarrenden Stoffe entstanden sein und streckt ihre Fächer und Palmen in großartigem Maßstabe aus. Der Berg selber, auf dem ich stehe, ist der weiße, helle und sehr glänzende Punkt, den wir in der Mitte der zarten Gewebe unserer gefrorenen Fenster sehen. Die Palmenränder der gefrorenen Fenstertafeln werden durch Abbröcklung wegen des Luftzuges oder durch Schmelzung wegen der Wärme lückenhaft und unterbrochen. An den Gebirgszügen geschehen Zerstörungen durch Verwitterung in Folge des Einflusses des Wassers, der Luft, der Wärme und der Kälte. Nur braucht die Zerstörung der Eisnadeln an den Fenstern kürzere Zeit als der Nadeln der Gebirge. Die Betrachtung der unter mir liegenden Erde, der ich oft mehrere Stunden widmete, erhob mein Herz zu höherer Bewegung, und es erschien mir als ein würdiges Bestreben, ja als ein Bestreben, zu dem alle meine bisherigen Bemühungen nur Vorarbeiten gewesen waren, dem Entstehen dieser Erdoberfläche nachzuspüren und durch Sammlung vieler kleiner Tatsachen an den verschiedensten Stellen sich in das große und erhabene Ganze auszubreiten, das sich unsern Blicken darstellt, wenn wir von Hochpunkt zu Hochpunkt auf unserer Erde reisen und sie endlich alle erfüllt haben und keine Bildung dem Auge mehr zu untersuchen bleibt als die Weite und die Wölbung des Meeres.
Ich begann, durch diese Gefühle und Betrachtungen angeregt, gleichsam als Schlußstein oder Zusammenfassung aller meiner bisherigen Arbeiten die Wissenschaft der Bildung der Erdoberfläche und dadurch vielleicht der Bildung der Erde selber zu betreiben. Nebstdem, daß ich gelegentlich von hohen Stellen aus die Gestaltung der Erdoberfläche genau zeichnete, gleichsam als wäre sie durch einen Spiegel gesehen worden, schaffte ich mir die vorzüglichsten Werke an, welche über diese Wissenschaft handeln, machte mich mit den Vorrichtungen, die man braucht, bekannt, so wie mit der Art ihrer Benützung.
Ich betrieb nun diesen Gegenstand mit fortgesetztem Eifer und mit einer strengen Ordnung.
Dabei lernte ich auch nach und nach den Himmel kennen, die Gestaltung seiner Erscheinungen und die Verhältnisse seines Wetters.
Meine Besuche der Berge hatten nun fast ausschließlich diesen Zweck zu ihrem Inhalte.