KALKSTEIN.
Adalbert Stifter
Ich erzähle hier eine Geschichte, die uns einmal ein Freund erzählt hat, in der nichts Ungewöhnliches vorkömmt, und die ich doch nicht habe vergessen kön-nen. Unter zehn Zuhörern werden neun den Mann, der in der Geschichte vor-kommt, tadeln, der zehnte wird oft an ihn denken. Die Gelegenheit zu der Geschichte kam von einem Streite, der sich in der Gesellschaft von uns Freun-den darüber entspann, wie die Geistesgaben an einem Menschen verteilt sein können. Einige behaupteten, es könne ein Mensch mit einer gewissen Gabe außerordentlich bedacht sein und die andern doch nur in einem geringen Maße besitzen. Man wies dabei auf die sogenannten Virtuosen hin. Andere sagten, die Gaben der Seele seien immer im gleichen Maße vorhanden, entweder alle gle-ich groß oder gleich mittelmäßig oder gleich klein, nur hänge es von dem Geschicke ab, welche Gabe vorzüglich ausgebildet wurde, und dies rufe den Anschein einer Ungleichheit hervor. Raphael hätte unter andern Jugendeindrüc-ken und Zeitverhältnissen statt eines großen Malers ein großer Feldherr werden können. Wieder andere meinten, wo die Vernunft als das übersinnliche Vermögen und als das höchste Vermögen des Menschen überhaupt in großer Fülle vorhanden sei, da seien es auch die übrigen, untergeordneten Fähigkeiten. Das Umgekehrte gelte jedoch nicht; es könne eine niedere Fähigkeit besonders hervorragen, die höhern aber nicht. Wohl aber, wenn was immer für eine Be-gabung, sie sei selber hoch oder niedrig, bedeutend ist, müssen es auch die ihr untergeordneten sein. Als Grund gaben sie an, daß die niedere Fähigkeit immer die Dienerin der höheren sei, und daß es ein Widersinn wäre, die höhere gebie-tende Gabe zu besitzen und die niedere dienende nicht. Endlich waren noch ei-nige, die sagten, Gott habe die Menschen erschaffen, wie er sie erschaffen habe, man könnte nicht wissen, wie er die Gaben verteilt habe und könne darüber nicht hadern, weil es ungewiß sei, was in der Zukunft in dieser Beziehung noch zum Vorscheine kommen könne. Da erzählte mein Freund seine Geschichte.
Ihr wißt alle, sagte er, daß ich mich schon seit vielen Jahren mit der Meßkunst beschäftige, daß ich in Staatsdiensten bin, und daß ich mit Aufträgen dieser Art von der Regierung bald hierhin, bald dorthin gesendet wurde. Da habe ich verschiedene Landesteile und verschiedene Menschen kennengelernt. Einmal war ich in der kleinen Stadt Wengen und hatte die Aussicht, noch recht lange dort bleiben zu müssen, weil sich die Geschäfte in die Länge zogen und noch dazu mehrten. Da kam ich öfter in das nahegelegene Dorf Schauendorf und lernte dessen Pfarrer kennen, einen vortrefflichen Mann, der die Obstbaum-zucht eingeführt und gemacht hatte, daß das Dorf, das früher mit Hecken, Dic-kicht und Geniste umgeben war, jetzt einem Garten glich und in einer Fülle freundlicher Obstbäume dalag. Einmal war ich von ihm zu einer Kirchenfe-ierlichkeit geladen, und ich sagte, daß ich später kommen würde, da ich einige notwendige Arbeiten abzutun hätte. Als ich mit meinen Arbeiten fertig war, begab ich mich auf den Weg nach Schauendorf. Ich ging über die Feldhöhen hin, ich ging durch die Obstbäume, und da ich mich dem Pfarrhofe näherte, sah ich, daß das Mittagsmahl bereits begonnen haben müsse. In dem Garten, der, wie bei vielen katholischen Pfarrhöfen, vor dem Hause lag, war kein Mensch, die gegen den Garten gehenden Fenster waren offen, in der Küche, in die mir ein Einblick gegönnt war, waren die Mägde um das Feuer vollauf beschäftigt, und aus der Stube drang einzelnes Klappern der Teller und Klirren der Eßgeräte. Da ich eintrat, sah ich die Gäste um den Tisch sitzen und ein un-berührtes Gedeck für mich aufbewahrt. Der Pfarrer führte mich zu demselben hin und nötigte mich zum Sitzen. Er sagte, er wolle mir die anwesenden Mitglieder nicht vorstellen und ihren Namen nicht nennen, einige seien mir oh-nehin bekannt, andere würde ich im Verlaufe des Essens schon kennenlernen, und die übrigen würde er mir, wenn wir aufgestanden wären, nennen. Ich setz-te mich also nieder, und was der Pfarrer vorausgesagt hatte, geschah. Ich wurde mit manchem Anwesenden bekannt, von manchem erfuhr ich Namen und Verhältnisse, und da die Gerichte sich ablösten, und der Wein die Zungen öff-nete, war manche junge Bekanntschaft schon wie eine alte. Nur ein einziger Gast war nicht zu erkennen. Lächelnd und freundlich saß er da, er hörte auf-merksam alles an, er wandte immer das Angesicht der Gegend, wo eifrig gesp-rochen wurde, zu, als ob ihn eine Pflicht dazu antriebe, seine Mienen gaben allen Redenden recht, und wenn an einem andern Orte das Gespräch wieder lebhafter wurde, wandte er sich dorthin und hörte zu. Selber aber sprach er kein Wort. Er saß ziemlich weit unten, und seine schwarze Gestalt ragte über das weiße Linnengedecke der Tafel empor, und obwohl er nicht groß war, so richtete er sich nie vollends auf, als hielte er das für unschicklich. Er hatte den Anzug eines armen Landgeistlichen. Sein Rock war sehr abgetragen, die Fäden waren daran sichtbar, er glänzte an manchen Stellen und an andern hatte er die schwarze Farbe verloren und war rötlich oder fahl. Die Knöpfe daran waren von starkem Bein. Die schwarze Weste war sehr lang und hatte ebenfalls be-inerne Knöpfe. Die zwei winzig kleinen Läppchen von weißer Farbe – das ein-zige Weiße, das er an sich hatte –, die über sein schwarzes Halstuch herabhin-gen, bezeugten seine Würde. Bei den Ärmeln gingen, wie er so saß, manchmal ein ganz klein wenig eine Art Handkrausen hervor, die er immer bemüht war wieder heimlich zurückzuschieben. Vielleicht waren sie in einem Zustande, daß er sich ihrer ein wenig hätte schämen müssen. Ich sah, daß er von keiner Speise viel nahm, und dem Aufwärter, der sie darreichte, immer höflich dankte. Als der Nachtisch kam, nippte er kaum von dem besseren Weine, nahm von dem Zuckerwerke nur kleine Stückchen und legte nichts auf seinen Teller heraus, wie doch die andern taten, um nach der Sitte ihren Angehörigen eine kleine Erinnerung zu bringen.
Dieser Eigenheiten willen fiel mir der Mann auf.
Als das Mahl vorüber war und die Gäste sich erhoben hatten, konnte ich auch den übrigen Teil seines Körpers betrachten. Die Beinkleider waren von demsel-ben Stoffe und in demselben Zustande wie der Rock, sie reichten bis unter die Knie und waren dort durch Schnallen zusammengehalten. Dann folgten schwarze Strümpfe, die aber fast grau waren. Die Füße standen in weiten Schuhen, die große Schnallen hatten. Sie waren von starkem Leder und hatten dicke Sohlen. So angezogen stand der Mann, als sich Gruppen zu Gesprächen gebildet hatten, fast allein da, und sein Rücken berührte beinahe den Fens-terpfeiler. Sein körperliches Aussehen stimmte zu seinem Anzuge. Er hatte ein längliches, sanftes, fast eingeschüchtertes Angesicht mit sehr schönen, klaren, blauen Augen. Die braunen Haare gingen schlicht gegen hinten zusammen, es zogen sich schon weiße Fäden durch sie, die anzeigten, daß er sich bereits den fünfzig Jahren nähere, oder daß er Sorge und Kummer gehabt haben müsse.
Nach kurzer Zeit suchte er aus einem Winkel ein spanisches Rohr hervor, das einen schwarzen Beinknopf hatte, wie die an seinen Kleidern waren, näherte sich dem Hausherrn und begann Abschied zu nehmen. Der Hausherr fragte ihn, ob er denn schon gehen wolle, worauf er antwortete, es sei für ihn schon Zeit, er habe vier Stunden nach seinem Pfarrhofe zu gehen, und seine Füße seien nicht mehr so gut wie in jüngeren Jahren. Der Pfarrer hielt ihn nicht auf. Er empfahl sich allseitig, ging zur Tür hinaus, und gleich darauf sahen wir ihn durch die Kornfelder dahinwandeln, den Hügel, der das Dorf gegen Sonne-nuntergang begrenzte, hinansteigen und dort gleichsam in die glänzende Nach-mittagsluft verschwinden.
Ich fragte, wer der Mann wäre, und erfuhr, daß er in einer armen Gegend Pfar-rer sei, daß er schon sehr lange dort sei, daß er nicht weg verlange und daß er selten das Haus verlasse, außer bei einer sehr dringenden Veranlassung. –
Es waren seit jenem Gastmahle viele Jahre vergangen, und ich hatte den Mann vollständig vergessen, als mich mein Beruf einmal in eine fürchterliche Gegend rief. Nicht daß Wildnisse, Schlünde, Abgründe, Felsen und stürzende Wässer dort gewesen wären – das alles zieht mich eigentlich an –, sondern es waren nur sehr viele kleine Hügel da, jeder Hügel bestand aus nacktem, grauem Kalksteine, der aber nicht, wie es oft bei diesem Gesteine der Fall ist, zerrissen war oder steil abfiel, sondern in rundlichen, breiten Gestalten auseinanderging und an seinem Fuße eine lange, gestreckte Sandbank um sich herum hatte. Durch diese Hügel ging in großen Windungen ein kleiner Fluß namens Zirder. Das Wasser des Flusses, das in der grauen und gelben Farbe des Steines und Sandes durch den Widerschein des Himmels oft dunkelblau erschien, dann die schmalen grünen Streifen, die oft am Saume des Wassers hingingen, und die andern einzelnen Rasenflecke, die in dem Gesteine hier und da lagen, bildeten die ganze Abwechslung und Erquickung in dieser Gegend.
Ich wohnte in einem Gasthofe, der in einem etwas besseren und darum sehr entfernten Teile der Gegend lag. Es ging dort eine Straße über eine Anhöhe und führte, wie das in manchen Gegenden der Fall ist, den Namen Hochstraße, welchen Namen auch der Gasthof hatte. Um nicht durch Hin- und Hergehen zu viele Zeit zu verlieren, nahm ich mir immer kalte Speisen und Wein auf mei-nen Arbeitsplatz mit und aß erst am Abende mein Mittagsmahl. Einige meiner Leute wohnten auch in dem Gasthofe, die andern richteten sich ein, wie es ging, und bauten sich kleine hölzerne Hüttchen in dem Steinlande.
Die Gegend namens Steinkar, obwohl sie im Grunde nicht außerordentlich ab-gelegen ist, wird doch wenigen Menschen bekannt sein, weil keine Veranlas-sung ist, dorthin zu reisen.
Eines Abends, als ich von meinen Arbeiten allein nach Hause ging, weil ich meine Leute vorausgeschickt hatte, sah ich meinen armen Pfarrer auf einem Sandhaufen sitzen. Er hatte seine großen Schuhe fast in den Sand vergraben, und auf den Schößen seines Rockes lag Sand. Ich erkannte ihn in dem Augenb-licke. Er war ungefähr so gekleidet wie damals, als ich ihn zum ersten Male gesehen hatte. Seine Haare waren jetzt viel grauer, als hätten sie sich beeilt, di-ese Farbe anzunehmen, sein längliches Angesicht hatte deutliche Falten be-kommen, und nur die Augen waren blau und klar wie früher. An seiner Seite lehnte das Rohr mit dem schwarzen Beinknopfe.
Ich hielt in meinem Gange inne, trat näher zu ihm und grüßte ihn.
Er hatte keinen Gruß erwartet, daher stand er eilfertig auf und bedankte sich. In seinen Mienen war keine Spur vorhanden, daß er mich erkenne; es konnte auch nicht sein; denn bei jenem Gastmahle hat er mich gewiß viel weniger betrach-tet, als ich ihn. Er blieb nun so vor mir stehen und sah mich an. Ich sagte daher, um ein Gespräch einzuleiten: »Euer Ehrwürden werden mich nicht mehr ken-nen.«
»Ich bin nicht der Ehre teilhaftig,« antwortete er.
»Aber ich habe die Ehre gehabt,« sagte ich, auf den Ton seiner Höflichkeit ein-gehend, »mit Euer Ehrwürden an ein und derselben Tafel zu speisen.«
»Ich kann mich nicht mehr erinnern,« erwiderte er.
»Euer Ehrwürden sind doch derselbe Mann,« sagte ich, »der einmal vor mehre-ren Jahren auf einem Kirchenfeste bei dem Pfarrer zu Schauendorf war und nach dem Speisen der erste fortging, weil er, wie er sagte, vier Stunden bis zu seinem Pfarrhofe zu gehen hätte?«
»Ja, ich bin derselbe Mann,« antwortete er, »ich bin vor acht Jahren zu der hundertjährigen Jubelfeier der Kircheneinweihung nach Schauendorf gegangen, weil es sich gebührt hat, ich bin bei dem Mittagsessen geblieben, weil mich der Pfarrer eingeladen hat, und bin der erste nach dem Essen fortgegangen, weil ich vier Stunden nach Hause zurückzulegen hatte. Ich bin seither nicht mehr nach Schauendorf gekommen.«
»Nun, an jener Tafel bin ich auch gesessen,« sagte ich, »und habe Euer Ehrwürden heute sogleich erkannt.«
»Das ist zu verwundern – nach so vielen Jahren,« sagte er.
»Mein Beruf bringt es mit sich,« erwiderte ich, »daß ich mit vielen Menschen verkehre und sie mir merke, und da habe ich denn im Merken eine solche Fer-tigkeit erlangt, daß ich auch Menschen wiedererkenne, die ich vor Jahren und auch nur ein einziges Mal gesehen habe. Und in dieser abscheulichen Gegend haben wir uns wiedergefunden.«
»Sie ist, wie sie Gott erschaffen hat,« antwortete er, »es wachsen hier nicht so viele Bäume wie in Schauendorf, aber manches Mal ist sie auch so schön, und zuweilen ist sie schöner als alle andern in der Welt.«
Ich fragte ihn, ob er in der Gegend ansässig sei, und er antwortete, daß er sie-benundzwanzig Jahre Pfarrer in dem Kar sei. Ich erzählte ihm, daß ich hierher gesendet worden sei, um die Gegend zu vermessen, daß ich die Hügel und Täler aufnehme, um sie auf dem Papier verkleinert darzustellen, und daß ich in der Hochstraße draußen wohne. Als ich ihn fragte, ob er oft hierherkomme, erwiderte er: »Ich gehe gern heraus, um meine Füße zu üben, und sitze dann auf einem Steine, um die Dinge zu betrachten.«
Wir waren während dieses Gespräches ins Gehen gekommen, er ging an meiner Seite, und wir redeten noch von manchen gleichgültigen Dingen, vom Wetter, von der Jahreszeit, wie diese Steine besonders geeignet seien, die Sonnenstrah-len einzusaugen, und von anderm.
Waren seine Kleider schon bei jenem Gastmahle schlecht gewesen, so waren sie jetzt womöglich noch schlechter. Ich konnte mich nicht erinnern, seinen Hut damals gesehen zu haben; jetzt aber mußte ich wiederholt auf ihn hinblicken; denn es war nicht ein einziges Härchen auf ihm.
Als wir an die Stelle gelangt waren, wo sein Weg sich von dem meinigen trennte und zu seinem Pfarrhofe in das Kar hinabführte, nahmen wir Abschied und sprachen die Hoffnung aus, daß wir uns nun öfter treffen würden.
Ich ging auf meinem Wege nach der Hochstraße dahin und dachte immer an den Pfarrer. Die ungemeine Armut, wie ich sie noch niemals bei einem Mensc-hen oberhalb des Bettlerstandes angetroffen habe, namentlich nicht bei solchen, die andern als Muster der Reinlichkeit und Ordnung vorzuleuchten haben, schwebte mir beständig vor. Zwar war der Pfarrer beinahe ängstlich reinlich, aber gerade diese Reinlichkeit hob die Armut noch peinlicher hervor und zeigte die Lockerheit der Fäden, das Unhaltbare und Wesenlose dieser Kleidung. Ich sah noch auf die Hügel, welche nur mit Stein bedeckt waren, ich sah noch auf die Täler, in welchen sich nur die langen Sandbänke dahinzogen, und ging dann in meinen Gasthof, um den Ziegenbraten zu verzehren, den sie mir dort öfter vorsetzten.
Ich fragte nicht um den Pfarrer, um keine rohe Antwort zu bekommen.
Von nun an kam ich öfter mit dem Pfarrer zusammen. Da ich den ganzen Tag in dem Steinkar war und abends noch öfter in demselben herumschlenderte, um verschiedene Richtungen und Abteilungen kennenzulernen, da er auch zuweilen herauskam, so konnte es nicht fehlen, daß wir uns trafen. Wir kamen auch eini-ge Male zu Gesprächen. Er schien nicht ungern mit mir zusammenzutreffen, und ich sah es auch gerne, wenn ich mit ihm zusammenkam. Wir gingen später öfter miteinander in den Steinen herum oder saßen auf einem und betrachteten die andern. Er zeigte mir manches Tierchen, manche Pflanze, die der Gegend eigentümlich waren, er zeigte mir die Besonderheiten der Gegend und machte mich auf die Verschiedenheiten mancher Steinhügel aufmerksam, die der sorgfältigste Beobachter für ganz gleichgebildet angesehen haben würde. Ich erzählte ihm von meinen Reisen, zeigte ihm unsere Werkzeuge und erklärte ihm bei Gelegenheit unserer Arbeiten manchmal deren Gebrauch.
Ich kam nach der Zeit auch einige Male mit ihm in seinen Pfarrhof hinunter. Wo das stärkste Gestein sich ein wenig auflöst, gingen wir über eine sanftere Abdachung gegen das Kar hinab. An dem Rande der Gesteine lag eine Wiese, es standen mehrere Bäume darauf, unter ihnen eine schöne, große Linde, und hinter der Linde stand der Pfarrhof. Er war damals ein weißes Gebäude mit einem Stockwerke, das sich von dem freundlicheren Grün der Wiese, von den Bäumen und von dem Grau der Steine schön abhob. Das Dach war mit Schin-deln gedeckt. Die Dachfenster waren mit Türchen versehen, und die Fenster des Hauses waren mit grünen Flügelbalken zu schließen. Weiter zurück, wo die Landschaft einen Winkel macht, stand gleichsam in die Felsen versteckt die Kirche mit dem rot angestrichenen Kirchturmdache. In einem andern Teile des Kar stand in einem dürftigen Garten die Schule. Diese drei einzigen Gebäude waren das ganze Kar. Die übrigen Behausungen waren in der Gegend zerstreut. An manchem Stein gleichsam angeklebt lag eine Hütte mit einem Gärtchen mit Kartoffeln ober Ziegenfutter. Weit draußen gegen das Land hin lag auch ein fruchtbarerer Teil, der zu der Gemeinde gehörte und der auch Acker-, Wiesen- und Kleegrund hatte.
Im Angesichte der Fenster des Pfarrhofes ging am Rande der Wiese die Zirder vorüber, und über den Fluß führte ein hoher Steg, der sich gegen die Wiese he-rabsenkte. Die Wiesenfläche war nicht viel höher als das Flußbett. Dieses Bild des hohen Steges über den einsamen Fluß war nebst der Steingegend das einzi-ge, das man von dem Pfarrhofe sehen konnte.
Wenn ich mit dem Pfarrer in sein Haus ging, führte er mich nie in das obere Stockwerk, sondern er geleitete mich stets durch ein geräumiges Vorhaus in ein kleines Stüblein. Das Vorhaus war ganz leer; nur in einer Mauervertiefung, die sehr breit, aber seicht war, stand eine lange hölzerne Bank. Auf der Bank lag immer, so oft ich den Vorhof besuchte, eine Bibel, ein großes, in starkes Leder gebundenes Buch. In dem Stüblein war nur ein weicher, unangestrichener Tisch, um ihn einige Sessel derselben Art, dann an der Wand eine hölzerne Bank und zwei gelb angestrichene Schreine. Sonst war nichts vorhanden, man müßte nur ein kleines, sehr schön aus Birnholz geschnitztes mittelalterliches Kruzifix hierher rechnen, das über dem ebenfalls kleinen Weihbrunnenkessel an dem Türpfosten hing.
Bei diesen Besuchen machte ich eine seltsame Entdeckung. Ich hatte schon in Schauendorf bemerkt, daß der arme Pfarrer immer heimlich die Handkrausen seines Hemdes in die Rockärmel zurückschiebe, als hätte er sich ihrer zu schämen. Dasselbe tat er auch jetzt immer. Ich machte daher genauere Beobach-tungen und kam darauf, daß er sich seiner Handkrausen keineswegs zu schämen habe, sondern daß er, wie mich auch andere Einblicke in seine Kleidung be-lehrten, die feinste und schönste Wäsche trug, welche ich jemals auf Erden ge-sehen hatte. Diese Wäsche war auch immer in der untadelhaftesten Weiße und Reinheit, wie man es nach dem Zustande seiner Kleider nie vermutet hätte. Er mußte also auf die Besorgung dieses Teiles die größte Sorgfalt verwenden. Da er nie davon sprach, schwieg ich auch darüber, wie sich wohl von selber vers-teht.
Unter diesem Verkehre ging ein Teil des Sommers dahin.
Eines Tages war in den Steinen eine besondere Hitze. Die Sonne hatte zwar den ganzen Tag nicht ausgeschienen, aber dennoch hatte sie den matten Schleier, der den ganzen Himmel bedeckte, so weit durchdrungen, daß man ihr blasses Bild immer sehen konnte, daß um alle Gegenstände des Steinlandes ein wesen-loses Licht lag, dem kein Schatten beigegeben war, und daß die Blätter der wenigen Gewächse, die zu sehen waren, herabhingen; denn obgleich kaum ein halbes Sonnenlicht durch die Nebelschichte der Kuppel drang, war doch eine Hitze, als wären drei Tropensonnen am heitern Himmel und brennten alle drei nieder. Wir hatten sehr viel gelitten, so daß ich meine Leute kurz nach zwei Uhr entließ. Ich setzte mich unter einen Steinüberhang, der eine Art Höhle bil-dete, in welcher es bedeutend kühler war als draußen in der freien Luft. Ich verzehrte dort mein Mittagsmahl, trank meinen eingekühlten Wein und las dann. Gegen Abend wurde die Wolkenschicht nicht zerrissen, wie es doch an solchen Tagen sehr häufig geschieht, sie wurde auch nicht dichter, sondern lag in derselben gleichmäßigen Art wie den ganzen Tag über dem Himmel. Ich ging daher spät aus der Höhle; denn so wie die Schleierdecke am Himmel sich nicht geändert hatte, so war die Hitze auch kaum minder geworden, und man hatte in der Nacht keinen Tau zu erwarten. Ich wandelte sehr langsam durch die Hügel dahin, da sah ich den Pfarrer in den Sandlehnen daherkommen und den Himmel betrachten. Wir näherten uns und grüßten uns. Er fragte mich, wo wir heute gearbeitet hätten, und ich sagte es ihm. Ich erzählte ihm auch, daß ich in der Höhle gelesen habe, und zeigte ihm das Buch. Hierauf gingen wir mitei-nander in dem Sande weiter.
Nach einer Weile sagte er: »Es wird nicht mehr möglich sein, daß Sie die Hochstraße erreichen.«
»Wieso?« fragte ich.
»Weil das Gewitter ausbrechen wird,« antwortete er.
Ich sah nach dem Himmel. Die Wolkendecke war eher dichter geworden, und auf allen kahlen Steinflächen, die wir sehen konnten, lag ein sehr sonderbares, bleifarbenes Licht.
»Daß ein Gewitter kommen wird,« sagte ich, »war wohl den ganzen Tag zu erwarten, allein wie bald die Dunstschicht sich verdichten, erkühlen, den Wind und die Elektrizität erzeugen und sich herabschütteln wird, kann man, glaube ich, nicht ermessen.«
»Man kann es wohl nicht genau sagen,« antwortete er, »allein ich habe sie-benundzwanzig Jahre in der Gegend gelebt, habe Erfahrungen gesammelt und nach ihnen wird das Gewitter eher ausbrechen als man denkt, und wird sehr stark sein. Ich glaube daher, daß es das beste wäre, wenn Sie mit mir in meinen Pfarrhof gingen und die Nacht heute dort zubrächten. Der Pfarrhof ist so nahe, daß wir ihn noch leicht erreichen, wenn wir auch das Gewitter schon deutlich an dem Himmel sehen; dort sind Sie sicher und können morgen an Ihre Geschäfte gehen, sobald es Ihnen beliebt.«
Ich erwiderte, daß es desungeachtet nicht unmöglich sei, daß aus der Dunstsc-hicht sich auch nur ein Landregen entwickle. In diesem Falle sei ich geborgen; ich habe ein Mäntelchen aus Wachstaffet bei mir, das dürfe ich nur aus der Tasche ziehen und umhängen, und der Regen könnte mir nichts anhaben. Ja, wenn ich auch ohne diesen Schutz wäre, so sei ich in meinem Amte schon so oft vom Regen durchnäßt worden, daß ich, um ein derartiges Ereignis zu ver-meiden, nicht jemandem zur Last sein und Unordnung in sein Hauswesen brin-gen möchte. Sollte aber wirklich ein Gewitter bevorstehen, das Platzregen oder Hagel oder gar einen Wolkenbruch bringen könnte, dann nähme ich sein Aner-bieten dankbar an und bitte um einen Unterstand für die Nacht, aber ich mache die Bedingung, daß es wirklich nichts weiter sei als ein Unterstand, daß er sich in seinem Hause nicht beirren lasse und sich weiter keine Last auferlege, als daß er mir ein Plätzchen unter Dach und Fach gäbe; denn ich bedürfe nichts als eines solches Plätzchen. Übrigens führe unser Weg noch ein gutes Stück auf demselben gemeinschaftlichen Pfade fort, da könnten wir die Frage verschie-ben, indessen den Himmel betrachten und zuletzt nach der Gestalt der Sache entscheiden.
Er willigte ein und sagte, daß, wenn ich bei ihm bliebe, ich nicht zu fürchten hätte, daß er sich eine Last auflege; ich wisse, daß es bei ihm einfach sei, und es werde keine andere Anstalt gemacht werden, als die notwendig sei, daß ich die Nacht bei ihm zubringen könnte.
Nachdem wir diesen Vertrag geschlossen hatten, gingen wir auf unserm Wege weiter. Wir gingen sehr langsam, teils der Hitze wegen, teils weil es von jeher schon so unsere Gewohnheit war.
Plötzlich flog ein schwacher Schein um uns, unter dem die Felsen erröteten.
Es war der erste Blitz gewesen, der aber stumm war und dem kein Donner folgte.
Wir gingen weiter. Nach einer Weile folgten mehrere Blitze, und da der Abend bereits ziemlich dunkel geworden war, und da die Wolkenschicht auch einen dämmernden Einfluß ausübte, stand unter jedem Blitze der Kalkstein in rosen-roter Farbe vor uns.
Als wir zu der Stelle gelangt waren, an welcher unsere Wege sich teilten, blieb der Pfarrer stehen und sah mich an. Ich gab zu, daß ein Gewitter komme, und sagte, daß ich mit ihm in seinen Pfarrhof gehen wolle.
Wir schlugen also den Weg in das Kar ein und gingen über den sanften Stei-nabhang in die Wiese hinunter.
Als wir bei dem Pfarrhofe angelangt waren, setzten wir uns noch ein wenig auf das hölzerne Bänklein, das vor dem Hause stand. Das Gewitter hatte sich nun vollständig entwickelt und stand als dunkle Mauer an dem Himmel. Nach einer Weile entstanden auf der gleichmäßigen, dunkelfarbigen Gewitterwand weiße, laufende Nebel, die in langen, wulstigen Streifen die untern Teile der Wol-kenwand säumten. Dort war also vielleicht schon Sturm, während bei uns sich noch kein Gräschen und kein Laub rührte. Solche laufende, gedunsene Nebel sind bei Gewittern oft schlimme Anzeichen; sie verkünden immer Winda-usbrüche, oft Hagel und Wasserstürze. Den Blitzen folgten nun auch schon de-utliche Donner.
Endlich gingen wir in das Haus.
Der Pfarrer sagte, daß es seine Gewohnheit sei, bei nächtlichen Gewittern ein Kerzenlicht auf den Tisch zu stellen und bei dem Lichte ruhig sitzen zu bleiben, solange das Gewitter dauere. Bei Tage sitze er ohne Licht bei dem Tische. Er fragte mich, ob er auch heute seiner Sitte treu bleiben dürfe. Ich erinnerte ihn an sein Versprechen, sich meinetwegen nicht die geringste Last aufzulegen. Er führte mich also durch das Vorhaus in das bekannte Stüblein und sagte, daß ich meine Sachen ablegen möchte.
Ich trug gewöhnlich an einem ledernen Riemen ein Fach über der Schulter, in welchem Werkzeuge zum Zeichnen, Zeichnungen und zum Teil auch Meßwerkzeuge waren. Neben dem Fache war eine Tasche befestigt, in der sich meine kalten Speisen, mein Wein, mein Trinkglas und meine Vorrichtung zum Einkühlen des Weines befanden. Diese Dinge legte ich ab und hing sie über die Lehne eines in einer Ecke stehenden Stuhles. Meinen langen Meßstab lehnte ich an einen der gelben Schreine.
Der Pfarrer war indessen hinausgegangen und kam nun mit einem Lichte in der Hand herein. Es war ein Talglicht, welches in einem messingenen Leuchter stak. Er stellte den Leuchter auf den Tisch und legte eine messingene Lichtsche-re dazu. Dann setzten wir uns beide an den Tisch, blieben sitzen und erwarteten das Gewitter.
Dasselbe schien nicht mehr lange ausbleiben zu wollen. Als der Pfarrer das Licht gebracht hatte, war die wenige Helle, die von draußen noch durch die Fenster hereingekommen war, verschwunden, die Fenster standen wie schwar-ze Tafeln da, und die völlige Nacht war hereingebrochen. Die Blitze waren schärfer und erleuchteten trotz des Kerzenlichts bei jedem Aufflammen die Winkel des Stübleins. Die Donner wurden ernster und dringender. So blieb es eine lange Weile. Endlich kam der erste Stoß des Gewitterwindes. Der Baum, welcher vor dem Hause stand, schauerte einen Augenblick leise, wie von einem kurz abgebrochenen Lüftchen getroffen, dann war es wieder still. Über ein Kleines kam das Schauern abermals, jedoch länger und tiefer. Nach einem kur-zen Zeitraume geschah ein starker Stoß, alle Blätter rauschten, die Äste moch-ten zittern, nach der Art zu urteilen, wie wir den Schall herein vernahmen, und nun hörte das Tönen gar nicht mehr auf. Der Baum des Hauses, die Hecken um dasselbe und alle Gebüsche und Bäume der Nachbarschaft waren in einem ein-zigen Brausen befangen, das nur abwechselnd abnahm und schwoll. Dazwisc-hen schallten die Donner. Sie schallten immer schneller und immer heller. Doch war das Gewitter noch nicht da. Zwischen Blitz und Donner war noch eine Zeit, und die Blitze, so hell sie waren, waren doch keine Schlangen, son-dern nur ein ausgebreitetes, allgemeines Aufleuchten.
Endlich schlugen die ersten Tropfen an die Fenster. Sie schlugen stark und ein-zeln gegen das Glas, aber bald kamen Genossen, und in kurzem strömte der Re-gen in Fülle herunter. Er wuchs schnell, gleichsam rauschend und jagend, und wurde endlich dergestalt, daß man meinte, ganze zusammenhängende Wasser-mengen fielen auf das Haus hernieder, das Haus dröhne unter dem Gewichte, und man empfinde das Dröhnen und Ächzen herein. Kaum das Rollen des Don-ners konnte man vor dem Strömen des Wassers hören, das Strömen des Wassers wurde ein zweites Donnern. Das Gewitter war endlich über unserm Haupte. Die Blitze fuhren wie feurige Schnüre hernieder, und den Blitzen folgten sch-nell und heiser die Donner, die jetzt alles andere Brüllen besiegten und in ihren tieferen Enden und Ausläufen das Fensterglas erzittern und klirren machten.
Ich war nun froh, daß ich dem Rate des Pfarrers gefolgt hatte. Ich hatte selten ein solches Gewitter erlebt. Der Pfarrer saß ruhig und einfach an dem Tische des Stübleins, und das Licht der Talgkerze beleuchtete seine Gestalt.
Zuletzt geschah ein Schlag, als ob er das ganze Haus aus seinen Fugen heben und niederstürzen wollte, und gleich darauf wieder einer. Dann war ein Weilc-hen Anhalten, wie es oft bei solchen Erscheinungen der Fall ist, der Regen zuckte einen Augenblick ab, als ob er erschrocken wäre, selbst der Wind hielt inne. Aber es wurde bald wieder wie früher; allein die Hauptmacht war doch gebrochen, und alles ging gleichmäßiger fort. Nach und nach milderte sich das Gewitter, der Sturm war nurmehr ein gleichartiger Wind, der Regen war schwächer, die Blitze leuchteten blässer und der Donner rollte matter, gle-ichsam landauswärts gehend.
Als endlich das Regnen nur ein einfaches Niederrinnen war und das Blitzen ein Nachleuchten, stand der Pfarrer auf und sagte: »Es ist vorüber.«
Er zündete sich ein Stümpfchen Licht an und ging hinaus. Nach einer Weile kam er wieder herein und trug auf einem Eßbrette mehrere Dinge, die zu dem Abendmahle bestimmt waren. Er setzte von dem Eßbrett ein Krüglein mit Milch auf den Tisch und goß aus demselben zwei Gläser voll. Dann setzte er auf einem grünglasierten Schüsselchen Erdbeeren auf, und auf einem Teller mehrere Stücke schwarzen Brotes. Als Bestecke legte er auf jeden Platz ein Messer und ein kleines Löffelchen; dann trug er das Eßbrett wieder hinaus.
Als er hereingekommen war, sagte er: »Das ist unser Abendmahl, lassen Sie es sich genügen.«
Er trat zu dem Tisch, faltete die Hände und sprach bei sich einen Segen, ich tat desgleichen, und nun setzten wir uns zu unserm Abendessen nieder. Die Milch tranken wir aus den Gläsern, von dem schwarzen Brote schnitten wir uns Stückchen mit dem Messer und aßen die Erdbeeren mit dem Löffelchen. Da wir fertig waren, sprach er wieder mit gefalteten Händen ein Dankgebet, holte das Eßbrett und trug die Reste wieder fort.
Ich hatte in meiner Tasche noch Teile von meinem Mittagsmahle und in meiner Flasche noch Wein. Ich sagte daher: »Wenn Euer Ehrwürden erlauben, so neh-me ich die Überbleibsel meines heutigen Mittagessens aus meinem Ränzchen heraus, weil sie sonst verderben würden.«
»Tun Sie nur nach Ihrem Gefallen,« antwortete er.
Ich nahm daher meine Tasche und sagte: »Da sehen Euer Ehrwürden auch zugleich, wie ich bei meinem Wanderleben Tafel halte, und wie mein Trink- und Eßgeschirr beschaffen ist.«
»Sie müssen wissen,« fuhr ich fort, »daß, so sehr man das Wasser und insbe-sondere das Gebirgswasser lobt, und so nützlich und herrlich dieser Stoff auch in dem großen Haushalte der Natur ist, dennoch, wenn man tagelang auf offe-nem Felde im Sonnenscheine arbeitet, oder in heißen Steinen und heißem San-de herumgeht oder in Klippen klettert, ein Trunk Wein mit Wasser ungleich mehr labt und Kraft gibt, als das lautere, auserlesenste Wasser der Welt. Das lernte ich bei meinem Amte bald kennen und versah mich daher stets bei allen meinen Reisen mit Wein. Aber nur guter Wein ist es, der gute Dienste leistet. Ich hatte mir daher auch auf die Hochstraße einen reinen guten Wein kommen lassen und nehme täglich einen Teil mit in meine Steinhügel.«
Der arme Pfarrer sah mir zu, wie ich meine Vorrichtungen auseinanderpackte. Er betrachtete die kleinen blechernen Tellerchen, deren mehrere in eine unbe-deutende flache Scheibe zusammenzupacken waren. Ich stellte die Tellerchen auf den Tisch. Dazu tat ich von meinem Fache Messer und Gabeln. Dann sch-nitt ich Scheibchen von feinem, weißem Weizenbrote, das ich wöchentlich zweimal kommen ließ, dann Scheibchen von Schinken, von kaltem Braten und Käse. Das breitete ich auf den Tellern aus. Hierauf bat ich um eine Flasche Wasser; denn das allein, sagte ich, führe ich nicht mit mir, da ich es in der Na-tur überall finden müsse. Als er in einem Kruge Wasser gebracht hatte, legte ich meine Trinkvorrichtungen auseinander. Ich tat die Flasche, die noch halb voll Wein war, heraus, ich stellte die zwei Gläser – eines habe ich immer zum Vorrate – auf den Tisch, und dann zeigte ich ihm, wie ich den Wein kühle. Das Glas wird in ein Fach von sehr lockerem Stoffe gestellt, der Stoff mit einer sehr dünnen Flüssigkeit, die Äther heißt, und die ich in einem Fläschchen im-mer mitführe, befeuchtet, welche Flüssigkeit sehr schnell und heftig verdünstet und dabei eine Kälte erzeugt, daß der Wein frischer wird, als wenn er eben von dem Keller käme, ja als ob er sogar in Eis stünde. Da ich auf diese Weise zwei Gläser Wein aufgefrischt, mit Wasser vermischt und eins auf seinen Platz ges-tellt hatte, lud ich ihn ein, mit mir zu speisen.
Er nahm, gleichsam um meiner Einladung die Ehre anzutun, ein winziges bißchen von den Dingen, nippte an dem Glase und war nicht mehr zu bewegen, etwas weiteres zu nehmen.
Ich aß von den aufgestellten Speisen nun auch nur sehr weniges und packte dann alles wieder zusammen, indem ich mich der Unhöflichkeit, die ich eigent-lich in der Übereilung begangen hatte, schämte.
Ich tat schnell einen Blick in das Angesicht des Pfarrers; aber es sprach nicht der kleinste Zug von Unfreundlichkeit aus.
Da der Tisch leer war, saßen wir noch eine Zeit bei der Talgkerze und sprac-hen. Dann schritt der Pfarrer daran, mein Bett zu bereiten. Er trug eine große wollene Decke herein, legte sie vierfach zusammen und tat sie auf die Bank, die an der Mauer stand. Aus einer ähnlichen Decke machte er ein Kissen. Dann öffnete er einen der gelben Schreine, nahm ein Leintuch von außerordentlicher Schönheit, Feinheit und Weiße heraus, tat es auseinander und breitete es über mein Lager. Als ich bei dem schwachen Scheine der Kerze die ungemeine Trefflichkeit des Linnenstückes gesehen und dann unwillkürlich meine Augen auf ihn gewendet hatte, errötete er in seinem Angesichte.
Als Hülle für meinen Körper legte er eine dritte Wolldecke auf das Lager.
»Das ist Ihr Bett, so gut ich es machen kann,« sagte er, »Sie dürfen nur sagen, wenn Sie bereit sind, die Ruhe zu suchen.«
»Das überlasse ich Euer Ehrwürden,« antwortete ich, »wann Sie zum Schlafen Ihre Zeit haben, richten Sie sich nach derselben. Ich bin an keine Stunde ge-bunden, meine Lebensweise bringt es mit sich, daß ich bald kurz, bald lang schlafe, bald früher, bald später mein Lager suche.«
»Auch ich bin keiner Zeit untertan,« erwiderte er, »und kann den Schlummer nach meinen Pflichten einrichten; aber da es wegen des Gewitters heute später geworden ist als sonst, da Sie morgen gewiß sehr bald aufstehen und wahrsche-inlich in die Hochstraße gehen werden, um manches zu holen, so dächte ich, wäre Ruhe das beste, und wir sollten sie suchen.«
»Ich stimme Ihnen vollständig bei, Herr Pfarrer,« sagte ich.
Nach diesem Gespräche verließ er das Stüblein und ich dachte, er habe sich nach seiner Schlafkammer begeben. Ich entkleidete mich daher, soweit ich es immer gewohnt bin, und legte mich auf mein Bett. Eben wollte ich das Licht, das ich auf einen Stuhl neben meinem Bette gestellt hatte, auslöschen, als der Pfarrer wieder hereintrat. Er hatte sich umgekleidet und trug jetzt grauwollene Strümpfe, grauwollene Beinkleider und eine grauwollene Jacke. Schuhe hatte er nicht, sondern er ging auf den Strümpfen. So trat er in das Stüblein.
»Sie haben sich schon zur Ruhe gelegt,« sagte er; »ich bin gekommen, Ihnen eine gute Nacht zu sagen und dann auch den Schlaf zu suchen. Also schlum-mern Sie wohl, wie es auf dem Bette möglich ist.«
»Ich werde gut schlafen,« erwiderte ich; »und wünsche Ihnen ein Gleiches.«
Nach diesen Worten ging er zu dem Weihbrunnenkessel, der unter dem kleinen, schön geschnitzten Kruzifixe hing, besprengte sich mit Tropfen des Wassers und verließ das Stüblein.
Ich sah bei dem Lichte meiner Kerze, wie er in dem geräumigen Vorhause sich auf die hölzerne Bank, die in der Nische stand, legte und die Bibel sich als Kis-sen unter das Haupt tat.
Als ich dieses gesehen hatte, sprang ich von meinem Lager auf, ging in den Nachtkleidern in das Vorhaus hinaus und sagte: »Mit nichten, Euer Ehrwürden, so ist es nicht gemeint, Sie dürfen nicht auf dieser nackten Bank schlafen, wäh-rend Sie mir das bessere Bett einräumen. Ich bin gewohnt, auf allen Lagern zu schlafen, selbst im Freien unter einem Baume; lassen Sie mich diese Bank be-nützen und begeben Sie sich in das Bett, das Sie mir abtreten wollten.«
»Nein, lieber Herr,« antwortete er, »ich habe Ihnen kein Bett abgetreten; wo das Ihrige ist, wird sonst nie eines gemacht, und wo ich jetzt liege, schlafe ich alle Nächte.«
»Auf dieser harten Bank und mit diesem Buche als Kissen schlafen Sie alle Nächte?« fragte ich.
»Wie Sie durch Ihren Stand an alle Lager gewöhnt sind, selbst an eines im Freien,« erwiderte er, »so bin ich auch durch meinen Stand gewohnt, auf dieser Bank zu schlafen und dieses Buch als Kissen zu haben.«
»Ist das wirklich möglich?« fragte ich.
»Ja, es ist so,« antwortete er, »ich sage keine Lüge. Ich hätte mir ja auch auf dieser Bank ein Bett machen können, wie ich Ihnen eines auf der Ihrigen ge-macht habe; allein ich habe schon seit sehr langer Zeit her angefangen, in die-sen Kleidern und auf dieser Bank hier, wie Sie mich sehen, zu schlafen, und tue es auch heute.« Da ich noch immer mißtrauisch zögerte, sagte er: »Sie können in Ihrem Herzen ganz beruhigt sein, ganz beruhigt.«
Ich wendete gegen dieses nichts mehr ein; namentlich war der Grund, daß er sich ja auch ein Bett hätte machen können, überzeugend.
Nach einer Weile, während welcher ich noch immer dagestanden war, sagte ich: »Wenn es eine alte Gewohnheit ist, hochwürdiger Herr, so habe ich frei-lich nichts mehr einzuwenden; aber Sie werden es auch begreifen, daß ich an-fänglich dagegen sprach, weil man gewöhnlich überall ein gebettetes Lager hat.«
»Ja, man hat es,« sagte er, »und gewöhnt sich daran, und meint, es müsse so sein. Aber es kann auch anders sein. An alles gewöhnt sich der Mensch, und die Gewohnheit wird dann sehr leicht, sehr leicht.«
Nach diesen Worten ging ich wieder, nachdem ich ihm zum zweiten Male eine gute Nacht gewünscht hatte, in mein Stüblein und legte mich wieder in mein Bett. Ich erinnerte mich nun auch, daß ich wirklich nie ein Bett gesehen habe, sooft ich früher in der Behausung des Pfarrers gewesen war. Ich dachte noch eine Zeitlang an die Sache und konnte nicht umhin, die äußerste Feinheit des Linnens des Pfarrers sehr wohltätig an meinem Körper zu empfinden. Nach einer kurzen Zeit lieferte der Pfarrer den tatsächlichen Beweis, daß er an sein Lager gewohnt sei; denn ich hörte aus dem sanften, regelmäßigen Atmen, daß er bereits in tiefen Schlummer gesunken sei.
Da ich nun auch ruhig war, da alles in dem Pfarrhause totenstille war, da der Wind aufgehört hatte, der Regen kaum nur leise zu vernehmen war und die Blitze wie verloren nur mehr selten mit mattem Scheine das Fenster berührten, senkte sich auf meine Augen der Schlummer, und nachdem ich die Kerze aus-gelöscht hatte, vernahm ich noch einige Male das Fallen eines Tropfens an das Fenster, dann war mir’s, als ob daran der schwache Aufblick eines Leuchtens geschähe, und dann war nichts mehr.
Ich schlief sehr gut, erwachte spät, und es war schon völliger Tag, als ich die Augen öffnete. Es war, als ob es ein zartes Geräusch gewesen wäre, das mein völliges Aufwachen veranlaßt hatte. Als ich die Augen vollkommen öffnete und herumsah, erblickte ich in dem Vorhause den Pfarrer in seinen grauen Nachtkleidern, wie er eben beschäftigt war, meine Kleider mit einer Bürste vom Staube zu reinigen. Ich erhob mich schnell von meinem Lager, ging hi-naus und störte ihn in seinem Beginnen, indem ich sagte, das dürfe nicht sein, so etwas könne ich von ihm nicht annehmen, es liege nicht in seinem Stande, es mache der Staub nichts, und wenn ich ihn fortwollte, so könnte ich ihn ja sel-ber mit einer Bürste schnell abstreifen.
»Es liegt nicht in meinem Stande als Priester, aber es liegt in meinem Stande als Gastfreund,« sagte er; »ich habe nur eine einzige alte Dienerin, die nicht in dem Hause wohnt: sie kommt zu gewissen Stunden, um meine kleinen Dienste zu verrichten, und ist heute noch nicht da.«
»Nein, nein, das tut nichts,« antwortete ich, »ich erinnere Sie an Ihr Versprec-hen, sich keine Last aufzulegen.«
»Ich lege mir keine Last auf,« erwiderte er, »und es ist schon bald gut.«
Mit diesen Worten tat er noch ein paar Striche mit der Bürste auf dem Rocke und ließ sich dann beides, Bürste und Kleider, nehmen. Er ging aus dem Vor-hause in ein anderes, mir bis dahin unbekanntes Gemach. Ich kleidete mich in-dessen an. Nach einer Zeit kam auch er vollständig angekleidet herein. Er hatte die alten, schwarzen Kleider an, die er am Tage und alle vorhergehenden Tage angehabt hatte. Wir traten an das Fenster. Der Schauplatz hatte sich vollkom-men geändert. Es war ein durchaus schöner Tag, und die Sonne erhob sich strahlend in einem unermeßlichen Blau. Was doch so ein Gewitter ist! Das Zar-teste, das Weichste der Natur ist es, wodurch ein solcher Aufruhr veranlaßt wird. Die feinen, unsichtbaren Dünste des Himmels, die in der Hitze des Tages oder in der Hitze mehrerer Tage unschädlich in dem unermeßlichen Raume aufgehängt sind, mehren sich immer, bis die Luft an der Erde so erhitzt und verdünnt ist, daß die oberen Lasten derselben niedersinken, daß die tieferen Dünste durch sie erkühlt werden, oder daß sie auch von einem andern kalten Hauch angeweht werden, wodurch sie sich sogleich zu Nebelballen bilden, das elektrische Feuer erzeugen und den Sturm wachrufen, neue Kälte bewirken, neue Nebel erregen, sodann mit dem Sturme daherfahren und ihre Mengen, die zusammenschießen, sei es in Eis, sei es in geschlossenen Tropfen, auf die Erde niederschütten. Und haben sie sie niedergeschüttet und hat die Luft sich ge-mischt, so steht sie bald wieder in ihrer Reinheit und Klarheit oft schon am an-dern Tage da, um wieder die Dünste aufzunehmen, die in der Hitze erzeugt werden, wieder allmählich dasselbe Spiel zu beginnen und so die Abwechslung von Regen und Sonnenschein zu bewirken, welche die Freude und das Gedei-hen von Menschen, Tieren und Gewächsen ist.
Der unermeßliche Regen der Nacht hatte die Kalksteinhügel glatt gewaschen, und sie standen weiß und glänzend unter dem Blau des Himmels und unter den Strahlen der Sonne da. Wie sie hintereinander zurückwichen, wiesen sie in zar-ten Abstufungen ihre gebrochenen Glanzfarben in Grau, Gelblich, Rötlich, Ro-senfarbig, und dazwischen lagen die länglichen, nach rückwärts immer schöne-ren, luftblauen Schatten. Die Wiese vor dem Pfarrhofe war frisch und grün, die Linde, die ihre älteren und schwächeren Blätter durch den Sturm verloren hat-te, stand neugeboren da, und die andern Bäume und die Büsche um den Pfarr-hof hoben ihre nassen glänzenden Äste und Zweige gegen die Sonne. Nur in der Nähe des Steges war auch ein anderes, minder angenehmes Schauspiel des Gewitters. Die Zirder war ausgetreten und setzte einen Teil der Wiese, von der ich gesagt habe, daß sie um ein wenig höher liegt als das Flußbett, unter Was-ser. Der hohe Steg senkte sich mit seinem abwärtsgehenden Teile unmittelbar in dieses Wasser. Allein, wenn man von dem Schaden absieht, den die Überschwemmung durch Anführung von Sand auf der Wiese verursacht haben mochte, so war auch diese Erscheinung schön. Die große Wasserfläche glänzte unter den Strahlen der Sonne, sie machte zu dem Grün der Wiese und dem Grau der Steine den dritten stimmenden und schimmernden Klang, und der Steg stand abenteuerlich wie eine dunkle Linie über dem silbernen Spiegel.
Der Pfarrer zeigte mir mehrere Stellen sehr entfernter Gegenden, die man sonst nicht sehen konnte, die aber heute deutlich in der gereinigten Luft wie klare Bilder zu erblicken waren.
Nachdem wir eine kleine Zeit das Morgenschauspiel, das die Augen unwillkür-lich auf sich gezogen hatte, betrachtet hatten, brachte der Pfarrer kalte Milch und schwarzes Brot zum Frühmahle. Wir verzehrten beides, und ich schickte mich dann zum Fortgehen an. Ich nahm mein Fach und meine Tasche mit den Lederriemen über die Schulter, nahm meinen Stab von der Ecke neben dem gelben Schreine, nahm meinen weißen Wanderhut und sagte dem Pfarrer herz-lichen Dank für meine Beherbergung während des starken Gewitters.
»Wenn es nur nicht zu schlecht gewesen ist,« sagte er.
»Nein, nein, Euer Ehrwürden,« erwiderte ich, »es war alles lieb und gut von Ihnen; ich bedaure nur, daß ich Ihnen Störung und Unruhe verursacht habe; ich werde künftig genau auf das Wetter und den Himmel sehen, daß meine Unvor-sichtigkeit nicht wieder ein andrer büßen muß.«
»Ich habe gegeben, was ich gehabt habe,« sagte er.
»Und ich wünsche sehr, einen Gegendienst leisten zu können,« erwiderte ich.
»Menschen leben nebeneinander und können sich manchen Gefallen tun,« sagte er.
Mit diesen Worten waren wir in das Vorhaus hinausgelangt.
»Ich muß Ihnen noch meine dritte Stube zeigen,« sagte er; »hier habe ich ein Gemach, in welchem ich mich aus- und ankleide, daß mich niemand sieht, und in welchem ich noch mancherlei Sachen bewahrt habe.«
Mit diesen Worten führte er mich aus dem Vorhause in ein Seitenzimmer oder eigentlich in ein Gewölbe, dessen Tür ich früher nicht beachtet hatte. In dem Gewölbe waren wieder sehr schlechte Geräte. Ein großer, weicher, stehender Schrein, in dem Kleider und andere solche Dinge, wahrscheinlich auch die Wolldecken meines Lagers, aufbewahrt wurden, ein paar Stühle und ein Brett, auf dem schwarze Brote lagen und ein Topf mit Milch stand: das war die ganze Gerätschaft. Als wir wieder aus dem Zimmer herausgetreten waren, schloß er es zu, wir nahmen Abschied und versprachen, uns bald wiederzusehen.
Ich trat in die kühle, reine Luft und auf die nasse Wiese hinaus. Ich hatte wohl noch den Gedanken, wie es sonderbar sei, daß wir immer nur in dem Erdgeschosse gewesen seien und daß ich doch in der Nacht und am Morgen de-utlich Tritte oberhalb unser in dem Pfarrhof vernommen hatte; allein ich ließ mich den Gedanken nicht weiter anfechten und schritt vorwärts.
Ich ging nicht auf meinem eigentlichen Wege, sondern ich schlug die Richtung gegen die Zirder ein. Wenn man ein Land vermißt, wenn man viele Jahre lang Länder und ihre Gestalten auf Papier zeichnet, so nimmt man auch Anteil an der Beschaffenheit der Länder und gewinnt sie lieb. Ich ging gegen die Zirder, weil ich sehen wollte, welche Wirkungen ihr Austritt hervorgebracht hatte und welche Veränderungen er in der unmittelbaren Nähe eingeleitet haben möge. Als ich eine Weile vor dem Wasser stand und sein Walten betrachtete, ohne daß ich eben andre Wirkungen als den bloßen Austritt wahrnehmen konnte, so er-lebte ich plötzlich ein Schauspiel, welches ich bisher noch nicht gehabt hatte, und bekam eine Gesellschaft, die mir bisher in dem Steinlande nicht zuteil geworden war. Außer meinen Arbeitern, mit denen ich so bekannt war, und die mit mir so bekannt waren, daß wir uns wechselweise wie Werkzeuge vorkom-men mußten, hatte ich nur einige Menschen in meinem Gasthause, manchen Wanderer auf dem Wege und den armen Pfarrer in den Gesteinen gesehen. Jetzt sollte es anders werden. Als ich hinblickte, sah ich von dem jenseitigen Ufer, welches höher und nicht überschwemmt war, einen lustigen, fröhlichen Knaben über den Steg daherlaufen. Als er gegen das Ende des Steges kam, welches sich in das Überschwemmungswasser der Zirder hinabsenkte, kauerte er sich nieder, und soviel ich durch mein Handfernrohr wahrnehmen konnte, nestelte er sich die Schuhriemen auf und zog Schuhe und Strümpfe aus. Allein nachdem er beides ausgezogen hatte, ging er nicht in das Wasser herab, wie ich vermutet hatte, sondern blieb an der Stelle. Gleich darauf kam ein zweiter Knabe und tat dasselbe. Dann kam ein barfüßiger, der auch stehen blieb, dann mehrere andre. Endlich kam ein ganzer Schwarm Kinder über den Steg gelaufen, und als sie gegen das Ende desselben gekommen waren, duckten sie sich nieder, gleichsam wie ein Schwarm Vögel, der durch die Luft geflogen kommt und an einer klei-nen Stelle einfällt, und ich konnte unschwer wahrnehmen, daß sie sämtlich da-mit beschäftigt waren, Schuhe und Strümpfe auszuziehen.
Als sie damit fertig waren, ging ein Knabe über den Steg herab und behutsam in das Wasser. Ihm folgten die andern. Sie nahmen auf ihre Höschen keine Rücksicht, sondern gingen damit tief in das Wasser, und die Röckchen der Mädchen schwammen um ihre Füße herum. Zu meinem Erstaunen erblickte ich jetzt auch mitten im Wasser eine größere schwarze Gestalt, die niemand anders als der arme Pfarrer im Kar war. Er stand bis an die Hüften im Wasser. Ich hat-te ihn früher nicht gesehen und auch nicht wahrgenommen, wie er hinein-gekommen war, weil ich mit meinen Augen immer weiter hin gegen den Steg geblickt hatte und sie erst jetzt mehr nach vorn richtete, wie die Kinder gegen meinen Standpunkt heranschritten. Alle Kinder gingen gegen den Pfarrer zu, und nachdem sie eine Weile bei ihm verweilt und mit ihm gesprochen hatten, traten sie den Weg gegen das Ufer an, an dem ich stand. Da sie ungleich vor-sichtig auftraten, so zerstreuten sie sich im Hergehen durch das Wasser, erschi-enen wie schwarze Punkte auf der glänzenden Fläche und kamen einzeln bei mir an. Da ich sah, daß keine Gefahr in dem überall seichten Überschwem-mungswasser vorhanden sei, blieb ich auf meiner Stelle stehen und ließ sie an-kommen. Die Kinder kamen heran und blieben bei mir stehen. Sie sahen mich anfangs mit trotzigen und scheuen Angesichtern an; aber da ich von Jugend auf ein Kinderfreund gewesen bin, da ich stets die Kinder als Knospen der Mensch-heit außerordentlich geliebt habe und seit meiner Verehelichung selbst mit einer Anzahl davon gesegnet worden bin, da zuletzt auch keine Art von Geschöpfen so schnell erkennt, wer ihnen gut ist, und auf diesem Boden ebenso schnell Vertrauen gewinnt als Kinder: so war ich bald von einem Kreise plaudernder und rühriger Kinder umringt, die sich bemühten, Fragen zu geben und Fragen zu beantworten. Es war leicht zu erraten, auf welchem Wege sie sich befanden, da sie sämtlich an ledernen oder leinenen Bändern ihre Schultaschen um die Schultern gehängt hatten. Weil aber auch ich meine Tasche und mein Fach an einem ledernen Riemen um meine Schultern trug, so mochte es ein lächerlicher Anblick gewesen sein, mich gleichsam wie ein großes Schulkind unter den kle-inen stehen zu sehen. Einige bückten sich und waren bemüht, ihre Schuhe und Strümpfe wieder anzuziehen, andere hielten sie noch in den Händen, sahen zu mir auf und redeten mit mir.
Ich fragte sie, woher sie kämen, und erhielt zur Antwort, daß sie aus den Karhäusern und Steinhäusern seien und daß sie in die Schule in das Kar gehen.
Als ich sie fragte, warum sie auf dem Stege zusammen gewartet hätten und nicht einzeln, wie sie gekommen wären, in das Wasser gestiegen seien, sagten sie, weil die Eltern befohlen hätten, sie sollten sehr vorsichtig sein und nicht allein, sondern alle zusammen in das Wasser gehen, wenn ein solches jenseits des Steges der Zirderwiese sei.
»Wenn aber das Wasser auf der Wiese so tief wäre, daß es über das Haupt eines großen Menschen hinausginge?« fragte ich.
»So kehren wir wieder um,« antworteten sie.
»Wenn aber erst das Wasser mit Gewalt daherkäme, wenn ihr bereits über den Steg gegangen wäret und euch auf der Wiese befändet, was tätet ihr dann?«
»Das wissen wir nicht.«
Ich fragte sie, wie lange sie von den Steinhäusern und Karhäusern hierher bra-uchten, und erhielt die Antwort: eine Stunde. So weit mochten auch die ge-nannten Häuser wirklich entfernt sein. Sie liegen jenseits der Zirder in einem ebenso unfruchtbaren Boden wie das Kar, aber ihre Bewohner treiben viele Geschäfte, namentlich brennen sie Kalk aus ihren Steinen und verführen ihn weit.
Ich fragte sie, ob ihnen die Eltern auch aufgetragen hätten, die Schuhe und Strümpfe zu schonen, erhielt die Antwort Ja, und bewunderte die Unfolgerich-tigkeit, indem sie die trockenen Schuhe und Strümpfe in den Händen hielten und mit bitterlich nassen Höschen und Röckchen vor mir standen.
Ich fragte, was sie in dem Winter täten.
»Da gehen wir auch herüber,« sagten sie.
»Wenn aber Schneewasser auf der Wiese ist?«
»Da ziehen wir die Schuhe nicht aus, sondern gehen mit ihnen durch.«
»Und wenn der Steg eisig ist?«
»Da müssen wir achtgeben.«
»Und wenn außerordentliches Schneegestöber ist?«
»Das macht nichts.«
»Und wenn ungeheuer viel Schnee liegt und kein Weg ist?«
»Dann bleiben wir zu Hause.«
In diesem Augenblicke kam der Pfarrer mit den letzten Kindern gegen mich heran. Es war auch Zeit, denn die Kinder waren bereits so zutraulich gewor-den, daß mir ein winzig kleiner Knabe, der den Grund und Anfang aller Wis-senschaften auf einem kleinen Papptäfelchen trug, seine Buchstaben aufsagen wollte.
Da mich der Pfarrer in der Mitte der Kinder ansichtig wurde, grüßte er sehr freundlich und sagte, das sei schön von mir, daß ich auch zur Hilfe herbeigeeilt wäre.
Ich erschrak über diese Zumutung, sagte aber gleich, ich sei eben nicht zur Hil-fe herbeigeeilt, da ich nicht gewußt hätte, daß Kinder über den Steg kommen würden, aber wenn Hilfe nötig geworden wäre, so würde ich sie auch gewiß geleistet haben.
Bei dieser Gelegenheit, als ich ihn so unter den Kindern stehen sah, bemerkte ich, daß er bei weitem tiefer im Wasser gewesen sein müsse als die Kinder; denn er war bis über die Hüften naß, und dies hätte bei manchem Kinde beina-he an den Hals gereicht. Ich begriff den Widerspruch nicht und fragte ihn des-halb. Er sagte, das sei leicht zu erklären. Der Wennerbauer, dem das überschwemmte Stück Wiese gehöre, auf dem er eben im Wasser gestanden sei, habe vorgestern Steine aus der Wiese graben und wegführen lassen. Die Grube sei geblieben. Da er nun heute die Wiese gegen die Zirder mit Wasser über-deckt gesehen hätte, habe er geglaubt, daß der Weg der Kinder etwa nahe an dieser Grube vorbeigehen und daß eines in derselben verunglücken könnte. Deshalb habe er sich zu der Grube stellen wollen, um alle Gefahr zu verhin-dern. Da sie aber abschüssig war, sei er selber in die Grube geglitten, und ein-mal darin stehend, sei er auch darin stehen geblieben. Eines der kleineren Kin-der hätte in der Grube sogar ertrinken können, so tief sei sie gegraben worden. Man müsse Sorge tragen, daß die Wiese wieder abgeebnet werde; denn das Wasser bei Überschwemmungen sei trüb und lasse die Tiefe und Ungleichheit des Bodens unter sich nicht bemerken.
Die nassen Kinder drängten sich um den nassen Pfarrer, sie küßten ihm die Hand, sie redeten mit ihm, er redete mit ihnen, oder sie standen da und sahen zutraulich zu ihm hinauf.
Er aber sagte endlich, sie sollten jetzt die nassen Röckchen auswinden, das Wasser aus allen Kleidern drücken oder abstreifen, und wer Schuhe und Strümpfe habe, solle sie anziehen, dann sollen sie gehen, daß sie sich nicht er-kühlen, sie sollen sich in die Sonne stellen, daß sie eher trocken würden, und sollen dann in die Schule gehen und dort sehr sittsam sein.
»Ja, das werden wir tun,« sagten sie.
Sie folgten der Weisung auch sogleich, sie duckten oder kauerten sich nieder, sie wanden die Röckchen aus, sie drückten das Wasser aus den Füßen der Hösc-hen oder sie drängten und streiften es aus Falten und Läppchen, und ich sah, daß sie darin eine große Geschicklichkeit hatten. Auch war die Sache nicht so bedeutend, denn sie hatten alle entweder ungebleichte oder rot- oder blaugestre-ifte leinene Kleidchen an, die bald trocken werden würden und denen man kaum ansehen würde, daß sie naß gewesen seien; und in Hinsicht der Gesund-heit, dachte ich, würde der jugendliche Körper leicht die Feuchtigkeit überwin-den. Da sie mit dem Auspressen des Wassers fertig waren, gingen sie an das Anziehen der Schuhe und Strümpfe. Als sie auch dieses Geschäft beendigt hat-ten, nahm der Pfarrer wieder von mir Abschied, dankte mir noch einmal, daß ich hierhergekommen sei, und begab sich mit den Kindern auf den Weg in das Kar.
Ich rief den Kindern zu, sie sollten recht fleißig sein, sie riefen zurück: »Ja, ja!« und gingen mit dem Pfarrer davon.
Ich sah die Gestalt des Pfarrers unter dem Kinderhaufen über die nasse Wiese der Karschule zugehen, wendete mich dann auch und schlug den Weg in meine Steine ein. Ich wollte nicht mehr in die Hochstraße gehen, sondern gleich mei-ne Leute und meinen Arbeitsplatz aufsuchen, teils weil ich keine Zeit zu verlie-ren hatte, teils weil ich ohnedem noch mit den Resten von Lebensmitteln verse-hen war, die der Pfarrer gestern abend verschmäht hatte. Auch wollte ich mei-ne Leute beruhigen, die gewiß erfahren haben würden, daß ich in der Nacht nicht in der Hochstraße gewesen sei, und deshalb meinetwillen besorgt sein könnten.
Als ich in die Höhe der Kalksteinhügel hinaufstieg, dachte ich an die Kinder. Wie groß doch die Unerfahrenheit und Unschuld ist! Sie gehen auf das Ansehen der Eltern dahin, wo sie den Tod haben können; denn die Gefahr ist bei den Überschwemmungen der Zirder sehr groß und kann bei der Unwissenheit der Kinder unberechenbar groß werden. Aber sie kennen den Tod nicht. Wenn sie auch seinen Namen auf den Lippen führen, so kennen sie seine Wesenheit nicht, und ihr emporstrebendes Leben hat keine Empfindung von Vernichtung. Wenn sie selbst in den Tod gerieten, würden sie es nicht wissen, und sie würden eher sterben, ehe sie es erführen.
Als ich so dachte, hörte ich das Glöcklein von dem Turme der Karkirche in me-ine Steine hineinklingen, das eben zu der Morgenmesse rief, die der Pfarrer ab-halten und der die Kinder beiwohnen würden.
Ich ging tiefer in die Steine hinein und fand meine Leute, die sich freuten, mich zu sehen, und die mir Lebensmittel gebracht hatten. –
Da ich lange in der Gegend verweilte, konnte ich es nicht vermeiden, auch aus dem Munde der Menschen manches über den Pfarrer zu hören. Da erfuhr ich, daß es wirklich wahr sei, woran ich vermöge seiner Aussage ohnehin nicht mehr gezweifelt hatte, daß er schon seit vielen Jahren in seinem Vorhause auf der hölzernen Bank schlafe und die Bibel unter dem Kopfe habe; daß er hierbei im Sommer nur die grauen Wollkleider anhabe und im Winter sich auch einer Decke bediene. Seine Kleider trage er so lange und erhalte sie so beisammen, daß sich niemand erinnern könne, wann er sich einmal neue angeschafft hätte. Das obere Stockwerk seines Pfarrhofes habe er vermietet. Es sei ein Mann gekommen, der in einem Amte gestanden, dann in den Ruhestand versetzt wor-den war, und der sein Gehalt nun in der Gegend verzehre, in welcher er gebo-ren worden sei. Er habe den Umstand, daß der Pfarrer seine Zimmer vermiete, benützt, um sich mit seiner Tochter da einzumieten, daß er immer den Scha-uplatz vor Augen habe, in dem er seine Kindheit zugebracht hatte. Es war mir diese Tatsache wieder ein Beweis, wie süß uns nach den Worten des Dichters der Geburtsboden zieht und seiner nicht vergessen läßt, daß hier ein Mann eine Gegend als ein Labsal und als eine Erheiterung seines Alters aufsucht, aus der jeder andere fortzukommen trachten würde. Der Pfarrer, sagte man, esse zum Frühmahle und am Abend nur ein Stück schwarzen Brotes und sein Mittagessen bereite ihm seine Dienerin Sabine, welche es in ihrer Wohnung koche und es ihm in den Pfarrhof bringe. Es bestehe häufig aus warmer Milch oder einer Suppe oder im Sommer selbst aus kalten Dingen. Wenn er krank sei, lasse er keinen Arzt und keine Arznei kommen, sondern liege und enthalte sich der Speisen, bis er gesund werde. Von den Einkünften seiner Miete und seines Am-tes tue er Gutes, und zwar an Leuten, die er sorgsam aussuche. Er habe keine Verwandten und Bekannten. Seit den Jahren, seit denen er da sei, sei niemand bei ihm auf Besuch gewesen. Alle seine Vorgänger seien nur kurze Zeit Pfarrer in dem Kar gewesen und seien dann fortgekommen; er aber sei schon lange da, und es habe den Anschein, daß er bis zu seinem Lebensende dableiben werde. Er gehe auch nicht auf Besuche in die Nachbarschaft, ja, er gehe nicht viel mit Menschen um, und wenn er nicht in seinen Amtsgeschäften oder in der Schule sei, so lese er in seinem Stüblein oder er gehe über die Wiese in das Steinkar, gehe dort im Sande herum oder sitze dort einsam mit seinen Gedanken.
Es hatte sich in der Gegend der Ruf verbreitet, daß er wegen seiner Lebenswei-se Geld habe, und er ist deshalb schon dreimal beraubt worden.
Ich konnte von diesen Dingen weder wissen, was wahr sei, noch was nicht wahr sei. Sooft ich zu ihm kam, sah ich die ruhigen, klaren blauen Augen, das einfache Wesen und die bittere, ungeheuchelte Armut. Was seine Vergangenheit gewesen sei, in das drang ich nicht ein und mochte nicht eindringen.
Ich hatte auch mehrere Predigten von ihm gehört. Sie waren einfach christlich, und wenn auch von seiten der Beredsamkeit manches einzuwenden gewesen wäre, so waren sie doch klar und ruhig, und es war eine solche Güte in ihnen, daß sie in das Herz gingen.
Die Zeit meiner Arbeiten in jener Gegend zog sich in die Länge. Die Steinnes-ter jener unwirtlichen Landschaften setzten uns solche Hindernisse entgegen, daß wir Aussicht hatten, doppelt so viel Zeit zu brauchen, als auf einem gleic-hen Flächenraum einer gezähmten und fruchtbaren Gegend. Dazu kam noch, daß uns von den Behörden gleichsam eine Frist gesetzt wurde, in der wir fertig sein sollten, indem wir die Bestimmung bekamen, zu einer gewissen Zeit in einem andern Teile des Reiches beschäftigt zu werden. Ich wollte mir die Schande nicht antun, mich saumselig finden zu lassen. Ich bot daher alles auf, das Geschäft in einen lebhaften Gang zu bringen. Ich verließ die Hochstraße, ich ließ mir in dem Teile des Steinkars, in dem wir arbeiteten, eine Bretterhütte als Wohnung aufschlagen, ich wohnte dort und ließ mir mit meinen Leuten gemeinschaftlich an einem Feuer kochen. Ich zog auch alle Leute zu mir, daß sie auf dem Arbeitsschauplatze oder in der Nähe in errichteten Hüttchen wohn-ten, und ich nahm noch mehrere fremde Menschen als Handlanger auf, um nun alles recht tüchtig und lebendig zu fördern.
Da ging es nun an ein Hämmern, Messen, Pflöckeschlagen, Kettenziehen, an ein Aufstellen der Meßtische, an ein Absehen durch die Gläser, an ein Bestim-men der Linien, Winkelmessen, Rechnen und dergleichen. Wir rückten durch die Steinhügel vor, und unsere Zeichen verbreiteten sich auf dem Kalkgebiete. Da es eine Auszeichnung war, diesen schwierigen Erdwinkel aufzunehmen, so war ich stolz darauf, es recht schön und ansehnlich zu tun, und arbeitete oft noch bis tief in die Nacht hinein in meiner Hütte. Ich zeichnete manche Blätter doppelt und verwarf die minder gelungenen. Der Stoff wurde sachgemäß ein-gereiht.
Daß mir bei diesen Arbeiten der Pfarrer in den Hintergrund trat, ist begreiflich. Allein da ich ihn einmal schon längere Zeit nicht im Steinkar sah, wurde ich unruhig. Ich war gewöhnt, seine schwarze Gestalt in den Steinen zu sehen, von weitem sichtbar, weil er der einzige dunkle Punkt in der graulich dämmernden oder unter dem Strahle der hinabsinkenden Sonne rötlich beleuchteten Kalkflur war. Ich fragte deshalb nach ihm und erfuhr, daß er krank sei. Sogleich besch-loß ich, ihn zu besuchen. Ich benützte die erste freie Zeit dazu, oder vielmehr, ich machte mir den ersten Abend frei und ging zu ihm.
Ich fand ihn nicht auf seinem gewöhnlichen Lager in dem Vorhause, sondern in dem Stüblein auf der hölzernen Bank, auf welcher er mir in der Gewitternacht ein Bett gemacht hatte. Man hatte ihm die Wolldecken unter den Leib gegeben, die ich damals gehabt hatte, und er hatte es zugelassen, weil er krank war. Man hatte ihm auch eine Hülle gegeben, um seinen Körper zudecken zu können, und man hatte den fichtenen Tisch an sein Bett gerückt, daß er Bücher darauf legen und andere Dinge darauf stellen konnte.
So fand ich ihn.
Er lag ruhig dahin und war auch jetzt nicht zu bewegen gewesen, einen Arzt oder eine Arznei anzunehmen, selbst nicht die einfachsten Mittel zuzulassen, die man ihm in sein Zimmer brachte. Er hatte den seltsamen Grund, daß es eher eine Versuchung Gottes sei, eingreifen zu wollen, da Gott die Krankheit sende, da Gott sie entferne oder den beschlossenen Tod folgen lasse. Endlich glaubte er auch nicht so sehr an die gute Wirkung der Arzneien und an das Geschick der Ärzte.
Da er mich sah, zeigte er eine sehr heitere Miene, es war offenbar, daß er darü-ber erfreut war, daß ich gekommen sei. Ich sagte ihm, daß er verzeihen möge, daß ich erst jetzt komme, ich hätte es nicht gewußt, daß er krank sei, ich wäre wegen der vielen Arbeiten nicht von meiner Hütte in dem Steinkar heraus-gekommen, ich hätte ihn aber vermißt, hätte ihm nachgefragt und sei nun gekommen.
»Das ist schön, das ist recht schön,« sagte er.
Ich versprach, daß ich nun schon öfter kommen werde.
Ich erkannte bei näheren Fragen über seinen Zustand, daß seine Krankheit weniger eine bedenkliche als vielmehr eine längere sein dürfte, und ging daher mit Beruhigung weg. Desungeachtet fuhr ich eines Tages mit hereinbestellten Postpferden in die Stadt hinaus und beriet mich mit einem mir bekannten Arzte daselbst, indem ich ihm alle Zustände, die ich dem Pfarrer in mehreren Besuc-hen abgefragt hatte, darlegte. Er gab mir die Versicherung, daß ich recht gese-hen hätte, daß das Übel kein gefährliches sei, daß die Natur da mehr tun könne als der Mensch und daß der Pfarrer in etwas längerer Zeit schon genesen wer-de.
Da ich nun öfter zu dem Pfarrer kam, so wurde ich es so gewöhnt, abends ein wenig auf dem Stuhle neben seinem Bette zu sitzen und mit ihm zu plaudern, daß ich es nach und nach alle Tage tat. Ich ging nach meiner Tagesarbeit aus dem Steinkar über die Wiese in den Pfarrhof und verrichtete meine Hausarbeit später bei Licht in meiner Hütte. Ich konnte es um so leichter tun, da ich jetzt ziemlich nahe an dem Pfarrhofe wohnte, was in der Hochstraße bei weitem nicht der Fall gewesen war. Ich war aber nicht der einzige, der sich des Pfar-rers annahm. Die alte Sabine, seine Aushelferin, kam nicht nur öfter in die Wohnung des Pfarrers herüber, als es eigentlich ihre Schuldigkeit gewesen wäre, sondern sie brachte die meiste Zeit, die sie von ihrem eigenen Ha-uswesen, das nur ihre einzige Person betraf, absparen konnte, in dem Pfarrhofe zu und verrichtete die kleinen Dienste, die bei einem Kranken notwendig waren. Außer dieser alten Frau kam auch noch ein junges Mädchen, die Tochter des Mannes, welcher in dem ersten Stockwerke des Pfarrhofes zur Miete war. Das Mädchen war bedeutend schön, es brachte dem Pfarrer entweder eine Sup-pe oder irgend etwas anderes, oder es erkundigte sich um sein Befinden, oder es hinterbrachte die Frage des Vaters, ob er dem Pfarrer in irgendeinem Stücke beistehen könne. Der Pfarrer hielt sich immer sehr stille, wenn das Mädchen in das Zimmer trat, er regte sich unter seiner Hülle nicht und zog die Decke bis an sein Kinn empor.
Auch der Schullehrer kam oft herüber, und auch ein paar Amtsbrüder aus der Nachbarschaft waren eingetroffen, um sich nach dem Befinden des Pfarrers zu erkundigen.
War es nun die Krankheit, welche den Mann weicher stimmte, oder war es der tägliche Umgang, der uns näher brachte: wir wurden seit der Krankheit des Pfarrers viel besser miteinander bekannt. Er sprach mehr und teilte sich mehr mit. Ich saß an dem fichtenen Tische, der an seinem Bette stand, und kam pünktlich alle Tage an die Stelle. Da er nicht ausgehen konnte und nicht in das Steinkar kam, so mußte ich die Veränderungen, die dort vorkamen, berichten. Er fragte mich, ob die Brombeeren an dem Kulterloche schon zu reifen begän-nen, ob der Rasen gegen die Zirderhöhe, welchen der Frühling immer sehr schön grün färbe, schon im Vergelben und Ausdorren begriffen sei, ob die Ha-gebutten schon reiften, ob das Verwittern des Kalksteins vorwärts gehe, ob die in die Zirder gefallenen Stücke sich vermehrten und der Sand sich vervielfältig-te, und dergleichen mehr. Ich sagte es ihm, ich erzählte ihm auch andere Dinge, ich sagte ihm, wo wir gearbeitet hätten, wie weit wir vorgerückt wären und wo wir morgen beginnen würden. Ich erklärte ihm hierbei manches, was ihm in unsern Arbeiten dunkel war. Auch las ich ihm zuweilen etwas vor, nament-lich aus den Zeitungen, die ich mir wöchentlich zweimal durch einen Boten in das Steinkar hereinbringen ließ.
Eines Tages, da die Krankheit sich schon bedeutend zum Bessern wendete, sag-te er, er hätte eine Bitte an mich.
Als ich ihm erwiderte, daß ich ihm gerne jeden Dienst erweise, der nur immer in meiner Macht stehe, daß er nur sagen solle, was er wolle, ich würde es gewiß tun, antwortete er: »Ich muß Ihnen, ehe ich meine Bitte ausspreche, erst etwas erzählen. Bemerken Sie wohl, ich erzähle es nicht, weil es wichtig ist, sondern damit Sie sehen, wie alles so gekommen ist, was jetzt ist, und damit Sie vielleicht geneigter werden, meine Bitte zu erfüllen. Sie sind immer sehr gut gegen mich gewesen, und Sie sind sogar neulich, wie ich erfahren habe, in die Stadt hinausgefahren, um einen Arzt über meine Zustände zu befragen. Dies gibt mir nun den Mut, mich an Sie zu wenden.
»Ich bin der Sohn eines wohlhabenden Gerbers in unserer Hauptstadt. Mein Urgroßvater war ein Findling aus Schwaben und wanderte mit dem Stabe in der Hand in unsere Stadt ein. Er lernte das Gerbergewerbe aus Güte mildtätiger Menschen, er besuchte dann mehrere Werkstätten, um in ihnen zu arbeiten, er ging in verschiedene Länder, um sich mit seinen Händen sein Brot zu verdienen und dann die Art kennenzulernen, wie überall das Geschäft betrieben wird. Un-terrichtet kehrte er wieder in unsere Stadt zurück und arbeitete in einer ansehn-lichen Lederei. Dort zeichnete er sich durch seine Kenntnisse aus, er ward end-lich Werkführer, und der Herr des Gewerbes vertraute ihm mehrere Geschäfte an und übertrug ihm die Ausführung mancher Versuche zu neuen Bereitungen. Dabei versuchte sich der Urgroßvater in kleinen Handelsgeschäften, er kaufte mit geringen Mitteln Rohstoffe und verkaufte sie wieder. So erwarb er sich ein kleines Vermögen. Da er schon an Jahren zunahm, kaufte er sich in der entfern-ten Vorstadt einen großen Garten, an den noch unbenützte Gründe stießen. Er baute auf diesem Grunde eine Werkstätte und ein Häuschen, heiratete ein armes Mädchen und trieb nun als eigener Herr sein Gewerbe und seine Handelschaft. Er brachte es vorwärts und starb als ein geachteter, bei den Geschäftsleuten an-gesehener Mann. Er hatte einen einzigen Sohn, meinen Großvater.
»Der Großvater trieb das Geschäft seines Vaters fort. Er dehnte es noch weiter aus. Er baute ein großes Haus am Rande des Gartens, daß die Fenster dahin gingen, wo in Zukunft eine Straße mit Häusern sein würde. Rückwärts des Ha-uses baute er die Werkstätten und Aufbewahrungsplätze. Der Großvater war überhaupt ein Freund des Bauens. Er baute außer dem Hause noch einen großen Hof, der zu weiteren Werkstätten und zu verschiedenen Teilen unseres Geschäftes benützt wurde. Die öden Gründe neben unserm Garten verkaufte er, und weil die Stadt einen großen Aufschwung nahm, so waren diese Gründe sehr teuer. Den Garten umgab er mit einer Mauer, die wieder regelmäßige Un-terbrechungen mit Eisengittern hatte. Er brachte das Geschäft sehr empor und legte die großen Kaufgewölbe an, in welchen die Waren, die wir selbst er-zeugten, und die, mit welchen wir Handelschaft trieben, niedergelegt wurden. Der Großvater hatte wieder nur einen Sohn, der das Gewerbe weiterführte, me-inen und meines Bruders Vater.
»Der Vater baute nun noch die Trockenböden auf das Stockwerk der Werkstätte, er baute an das Haus einen kleinen Flügel gegen den Garten und baute ein Gewächshaus. Zu seiner Zeit war schon vor den Fenstern des Ha-uptgebäudes eine Straße entstanden, welche mit Häusern gesäumt, mit Steinen gepflastert und von Gehenden und Fahrenden besetzt war. Ich erinnere mich noch aus meiner Kindheit, daß unser Haus sehr groß und geräumig war, daß es viele Höfe und Fächer hatte, die zur Betreibung des Gewerbes dienten. Am li-ebsten erinnere ich mich noch des schönen Gartens, in dem Bäume und Blu-men, Kräuter und Gemüse standen. In den Räumen der Gebäude und der Höfe gingen die von ihrer Arbeit in ihren Leinenkleidern fast gelbbraun gefärbten Gesellen herum, in dem großen Gewölbe zu ebener Erde und in den zwei klei-nen daranstoßenden lagen Lederballen aufgetürmt, auf den Stangen des Troc-kenbodens hingen Häute, und in den großen Austeilzimmern wurden sie geson-dert und geordnet. In dem Verkaufsgewölbe lagen sie zierlich in den Fächern. Im Rinderstalle standen Kühe, im Pferdestalle waren sechs Pferde und in dem Wagenbehältnis Kutschen und Wagen; ich erinnere mich sogar noch auf den großen, schwarzen Hund Hassan, der im großen Hofe war und bei dem Tore desselben jedermann hineinließ, aber niemand hinaus.
»Unser Vater war ein großer, starker Mann, der in den weitläufigen Räumen des Hauses herumging, alles besah und alles anordnete. Er ging fast nie aus dem Hause, außer wenn er Geschäfte hatte oder in die Kirche ging; und wenn er zu Hause war und nicht eben bei der Arbeit nachsah, so saß er an dem Schreibtisc-he und schrieb. Öfter wurde er auch in dem Garten gesehen, wie er mit den Händen auf dem Rücken dahinging, oder wie er so dastand und auf einen Baum hinaufsah, oder wie er die Wolken betrachtete. Er hatte eine Freude an der Obstzucht, hatte einen eigenen Gärtner hierfür genommen und hatte Pfropfrei-ser aus allen Gegenden Europas verschrieben. Er war gegen seine Leute sehr gut, er hielt sie ausreichend, sah, daß einem jeden sein Teil werde, daß er aber auch tue, was ihm obliege. Wenn einer krank war, ging er selber zu seinem Bette, fragte ihn, wie er sich befinde, und reichte ihm oft selber die Arznei. Er hatte im Hause nur den allgemeinen Namen Vater. Dem Prunke war er abge-neigt, daß er eher zu schlicht und unscheinbar daherging als zu ansehnlich, sei-ne Wohnung war einfach, und wenn er in einem Wagen ausfuhr, so mußte es ein sehr bürgerlich aussehender sein.
»Wir waren zwei Brüder, Zwillinge, und die Mutter hatte bei unserer Geburt ihr Leben verloren. Der Vater hatte sie sehr hoch geehrt und daher keine Frau mehr genommen; denn er hat sie nie vergessen können. Weil auf der Gasse zu-viel Lärm war, wurden wir in den hintern Flügel gegen den Garten getan, den der Vater an das Haus angebaut hatte. Es war eine große Stube, in der wir waren, die Fenster gingen gegen den Garten hinaus, die Stube war durch einen langen Gang von der übrigen Wohnung getrennt, und damit wir nicht bei je-dem Ausgange durch den vordern Teil des Hauses gehen mußten, ließ der Vater in dem Gartenflügel eine Treppe bauen, auf welcher man unmittelbar in den Garten und von ihm ins Freie gelangen konnte.
»Nach dem Tode der Mutter hatte der Vater die Leitung des Hauswesens einer Dienerin anvertraut, welche schon bei der Mutter, ehe sie Braut wurde, in Di-ensten gestanden und gleichsam ihre Erzieherin gewesen war. Die Mutter hatte sie auf ihrem Totenbette dem Vater empfohlen. Sie hieß Luise. Sie führte über alles die Leitung und Aufsicht, was die Speise und den Trank betraf, was sich auf die Wäsche, auf die Geschirre, auf die Geräte des Hauses, auf Reinigung der Treppen und Stuben, auf Beheizung und Lüftung bezog, kurz über alles, was das innere Hauswesen anbelangt. Sie stand an der Spitze der Mägde. Sie besorgte auch die Bedürfnisse von uns beiden Knaben.
»Da wir größer geworden waren, bekamen wir einen Lehrer, der bei uns in dem Hause wohnte. Es wurden ihm zwei schöne Zimmer hergerichtet, die sich neben unserer Stube befanden und mit dieser Stube den ganzen hinteren Teil des Flügels ausmachten, der den Namen Gartenflügel führte. Wir lernten von ihm, was alle Kinder zu Anfang ihres Lernens vornehmen müssen: Buchstaben kennen, Lesen, Rechnen, Schreiben. Der Bruder war viel geschickter als ich, er konnte sich die Buchstaben merken, er konnte sie zu Silben verbinden, er konnte deutlich und in Absätzen lesen, ihm kam in der Rechnung immer die rechte Zahl, und seine Buchstaben standen in der Schrift gleich und auf der nämlichen Linie. Bei mir war das anders. Die Buchstabennamen wollten mir nicht einfallen, dann konnte ich die Silbe nicht sagen, die sie mir vorstellten, und beim Lesen waren die großen Wörter sehr schwer, und es war eine Pein, wenn sehr lange kein Beistrich erschien. In der Rechnung befolgte ich die Re-geln, aber es standen am Ende meistens ganz andere Zahlen da, als herauskom-men mußten. Bei dem Schreiben hielt ich die Feder sehr genau, sah fest auf die Linie, fuhr gleichmäßig auf und nieder, und doch standen die Buchstaben nicht gleich, sie senkten sich unter die Linie, sie sahen nach verschiedenen Richtun-gen, und die Feder konnte keinen Haarstrich machen. Der Lehrer war sehr eif-rig, der Bruder zeigte mir auch vieles, bis ich die Sache machen konnte. Wir hatten in der Stube einen großen eichenen Tisch, auf welchem wir lernten. An jeder der zwei Langseiten des Tisches waren mehrere Fächer angebracht, die herauszuziehen waren, wovon die eine Reihe dem Bruder diente, seine Schul-sachen hineinzulegen, die andere mir. In jeder der hintern Ecke der Stube stand ein Bett und neben dem Bette ein Nachttischchen. Die Tür unseres Zimmers stand nachts in das Schlafzimmer des Lehrers offen.
»Wir gingen sehr häufig in den Garten und beschäftigten uns dort. Wir fuhren oft mit unseren Schimmeln durch die Stadt, wir fuhren auch auf das Land oder sonst irgendwo herum, und der Lehrer saß immer bei uns in dem Wagen. Wir gingen mit ihm auch aus, wir gingen entweder auf einer Bastei der Stadtmauer oder in einer Allee spazieren, und wenn etwas Besonderes in der Stadt ankam, das sehenswürdig war, und es der Vater erlaubte, so gingen wir mit ihm hin, es zu sehen.
»Als wir in den Gegenständen der unteren Schulen gut unterrichtet waren, ka-men die Gegenstände der lateinischen Schule an die Reihe, und der Lehrer sagte uns, daß wir aus ihnen vor dem Direktor und vor den Professoren werden Prü-fungen ablegen müssen. Wir lernten die lateinische und griechische Sprache, wir lernten die Naturgeschichte und Erdbeschreibung, das Rechnen, die schrift-lichen Aufsätze und andere Dinge. In der Religion wurden wir von dem würdi-gen Kaplane unserer Pfarrkirche in unserm Hause unterrichtet, und der Vater ging uns in religiösen und sittlichen Dingen mit einem guten Beispiel voran. Aber wie es in dem früheren Unterrichte gewesen war, so war es hier auch wieder. Der Bruder lernte alles recht gut, er machte seine Aufgaben gut, er konnte das Lateinische und Griechische deutsch sagen, er konnte die Buchsta-benrechnungen machen, und seine Briefe und Aufsätze waren, als hätte sie ein erwachsener Mensch geschrieben. Ich konnte das nicht. Ich war zwar auch recht fleißig, und im Anfange eines jeden Dinges ging es nicht übel, ich verstand es und konnte es sagen und machen; aber wenn wir weiter vorrückten, entstand eine Verwirrung, die Sachen kreuzten sich, ich konnte mich nicht zurechtfinden und hatte keine Einsicht. In den Übertragungen aus der deutschen Sprache befolgte ich alle Regeln sehr genau, aber da waren immer bei einem Worte mehrere Regeln, die sich widersprachen, und wenn die Arbeit fertig war, so war sie voll Fehler. Ebenso ging es bei den Übertragungen in das Deutsche. Es standen in dem lateinischen oder griechischen Buche immer so fremde Worte, die sich nicht fügen wollten, und wenn ich sie in dem Wörterbuche aufschlug, waren sie nicht darin, und die Regeln, die wir in unserer Sprachlehre lernten, waren in den griechischen und lateinischen Büchern nicht befolgt. Am besten ging es noch in zwei Nebengegenständen, die der Vater zu lernen befohlen hat-te, weil wir sie in unserer Zukunft brauchen könnten, in der französischen und italienischen Sprache, für welche in jeder Woche zweimal ein Lehrer in das Haus kam. Der Bruder und unser Lehrer nahmen sich meiner sehr an und such-ten mir beizustehen. Aber da die Prüfungen kamen, genügte ich nicht, und me-ine Zeugnisse waren nicht gut.
»So vergingen mehrere Jahre. Da die Zeit vorüber war, welche der Vater zur Erlernung dieser Dinge bestimmt hatte, sagte er, daß wir jetzt unser Gewerbe lernen müßten, das er uns nach seinem Tode übergeben würde, und das wir gemeinsam so ehrenwert und ansehnlich fortzuführen hätten, wie es unsere Vorfahren getan hätten. Er sagte, wir müßten auf die nämliche Weise unter-richtet werden wie unsere Voreltern, damit wir auf die nämliche Weise zu han-deln verstünden wie sie. Wir müßten alle Handgriffe und Kenntnisse unseres Geschäftes von unten hinauf lernen, wir müßten zuerst arbeiten können wie jeder gute und der beste Arbeiter in unserm Handwerke, damit wir den Arbei-ter und die Arbeit beurteilen könnten, damit wir wüßten, wie die Arbeiter be-handelt werden sollen, und damit wir von den Arbeitern geachtet würden. Dann erst sollten wir zur Erlernung der weiteren in der Handelschaft nötigen Dinge übergehen.
»Der Vater wollte, daß wir auch so leben sollten, wie unsere Arbeiter lebten, daß wir ihre Lage verstünden und ihnen nicht fremd wären. Er wollte daher, daß wir mit ihnen essen, wohnen und schlafen sollten. Unser bisheriger Lehrer verließ uns, indem er jedem von uns ein Buch zum Andenken hinterließ, wir zogen aus der Studierstube fort und gingen in die Arbeiterwohnung hinüber.
»Der Vater hatte den besten Gesellen unseres Geschäftes, der zugleich Werkführer war, zu unserm Lehrmeister bestimmt und uns überhaupt seiner Aufsicht übergeben. Wir bekamen jeder unsern Platz in seiner Werkstätte, waren mit dem Handwerkzeuge versehen und mußten beginnen, wie jeder Lehrling. Zum Speisen kamen wir an den nämlichen Tisch, an dem alle unsere Arbeiter saßen, aber wir kamen an die untersten Plätze, wo sich die Lehrlinge befanden. Als Schlafgemach hatten wir auch das der Lehrlinge, an welches das Schlafzimmer des Werkführers stieß, der der einzige war, welcher ein eigenes Zimmer zum Schlafen hatte. Deshalb mußte er immer nicht nur ein sehr gesc-hickter Arbeiter sein, sondern auch durch Rechtlichkeit, Sitte und Lebenswan-del sich auszeichnen. Ein anderer wurde in unserm Hause zu dieser Stelle gar nicht genommen. Er hatte die besondere Aufsicht über die Lehrlinge, weil die-se noch einer Erziehung bedurften. Zum Lager erhielten wir ein Bett wie die Lehrlinge und zur Bekleidung hatten wir das Kleid aller unserer Arbeiter.
»So begann die Sache. Aber auch hier war es genau wieder so, wie es in allen vorhergegangenen Dingen gewesen war. Der Bruder arbeitete schnell und seine Arbeitsstücke waren schön. Ich machte es genau so, wie der Lehrmeister es an-gab, aber meine Stücke wurden nicht so, wie sie sein mußten und wurden nicht so schön wie die meines Bruders. Ich war aber außerordentlich fleißig. Des Abends saßen wir oft in der großen Gesprächstube der Arbeiter und hörten ih-ren Reden zu. Es kamen auch böse Beispiele von Arbeitern vor, aber sie sollten uns nicht verlocken, sondern sie sollten uns befestigen und einen Abscheu einflößen. Der Vater sagte, wer leben soll, muß das Leben kennen, das Gute und das Böse davon, muß aber von dem letzteren nicht angegriffen, sondern gestärkt werden. An solchen Abenden holte ich den Arbeitern gern Dinge, um welche sie mich schickten, Wein, Käse und andere Gegenstände. Sie hatten mich deshalb auch sehr lieb.
»Wenn wir in einer Werkstätte unterrichtet waren und die Sachen machen konnten, kamen wir in eine andere, bis wir endlich freigesprochen wurden und als Lehrlinge in die Handelschaft traten. Als wir auch da fertig waren, kamen wir in die Schreibstube zu den Schreibereien unseres Geschäftes.
»Da endlich nach geraumer Zeit unsere Lehrjahre vorüber waren, kamen wir in das Zimmer der Söhne vom Hause und erhielten die einfachen Kleider, wie sie unser Vater zu tragen pflegte.
»Nicht lange nach der Zeit der Vollendung der Lehre, und da der Bruder schon überall zu den Geschäften beigezogen wurde, erkrankte der Vater. Er erkrankte nicht so ernstlich, daß eine Gefahr zu befürchten gewesen wäre, so wie er auch nicht in dem Bette liegen mußte, aber seine starke Gestalt nahm ab, sie wurde leichter, er ging viel in dem Hause und in dem Garten herum und nahm sich nicht mehr so um die Geschäfte an, wie es früher seine Gewohnheit und seine Freude gewesen war.
»Der Bruder nahm sich um die Führung des Gewerbes an, ich brauchte mich nicht einzumischen, und der Vater blieb endlich den größten Teil des Tages, wenn er nicht eben in dem Garten war, in seinem Wohnzimmer.
»Um jene Zeit tat ich die Bitte, daß man erlauben möge, daß ich wieder unsere alte Studierstube beziehen und dort wohnen dürfe. Man gewährte die Bitte, und ich schaffte meine Habseligkeiten durch den langen Gang in die Stube. Weil der Vater in dem Geschäfte keine Anordnungen und keine Befehle erteilte, und weil mir der Bruder keine Arbeit auftrug, hatte ich Muße, zu tun, was ich wollte. Da man mir damals, als ich in unsern Lehrgegenständen keine genügen-den Zeugnisse erhalten hatte, keinen Vorwurf gemacht hatte, so beschloß ich, jetzt alles nachzuholen und alles so zu lernen, wie es sich gebührte. Ich nahm ein Buch aus der Lade, setzte mich dazu und las den Anfang. Ich verstand alles und lernte es und merkte es mir. Am andern Tage wiederholte ich das, was ich an den vorigen Tagen gelernt hatte, versuchte, ob ich es noch wisse, und lernte ein neues Stück dazu. Ich gab mir nur weniges zur Aufgabe, aber ich suchte es zu verstehen und es gründlich in meinem Gedächtnisse aufzubewahren. Ich gab mir auch Aufgaben zur Ausarbeitung und sie gelangen. Ich suchte die Aufgaben hervor, welche uns damals von unserm Lehrer gegeben worden waren, machte sie noch einmal und machte jetzt keinen Fehler. Wie ich es mit dem einen Buc-he gemacht hatte, machte ich es auch mit den andern. Ich lernte sehr fleißig, und nach und nach war ich schier den ganzen Tag in der Stube beschäftigt. Wenn ich eine freie Zeit hatte, so saß ich gern nieder, nahm das Buch in die Hand, welches mir mein Lehrer zum Angedenken gegeben hatte, und dachte an den Mann, der damals bei uns gewesen war.
»In der Stube war alles geblieben, wie es einst gewesen war. Der große eichene Tisch stand noch in der Mitte, er hatte noch die Male, die wir entweder absicht-lich mit dem Messer oder zufällig mit andern Werkzeugen in sein Holz geb-racht hatten, er zeigte noch die vertrockneten Tintenbäche, welche entstanden waren, wenn mit dem Tintengefäß ein Unglück geschehen war und wenn mit allem Waschen und Reiben keine Abhilfe mehr gebracht werden konnte. Ich zog die Fächer heraus. Da lagen noch in den meinigen meine Lehrbücher mit dem Rötel- oder Bleifederzeichen in ihrem Innern, wie weit wir zu lernen hät-ten; es lagen noch die Papierhefte darinnen, in welchen die Ausarbeitungen un-serer Aufgaben geschrieben waren, und es leuchteten die mit roter Tinte ge-machten Striche des Lehrers hervor, die unsere Fehler bedeuteten; es lagen noch die veralteten, bestaubten Federn und Bleistifte darinnen. Ebenso war es in den Fächern des Bruders. Auch in ihnen lagen seine alten Lerngeräte in bes-ter Ordnung beisammen. Ich lernte jetzt an demselben Tische meine Aufgaben, an welchem ich sie vor ziemlich vielen Jahren gelernt hatte. Ich schlief in dem nämlichen Bette und hatte das Nachttischchen mit dem Licht daneben. Das Bett des Bruders aber blieb leer und war immer zugedeckt. In den zwei Zimmern, in welchen damals der Lehrer gewohnt hatte, hatte ich einige Kästen mit Kleidern und andern Sachen; sonst waren sie auch unbewohnt und hatten nur noch die alten Geräte. So war ich der einzige Bewohner des hintern Gartenflügels, und dieser Zustand dauerte mehrere Jahre.
»Plötzlich starb unser Vater. Mein Schreck war fürchterlich. Kein Mensch hatte geglaubt, daß es so nahe sei und daß es überhaupt eine Gefahr geben könnte. Er hatte sich zwar in der letzten Zeit immer mehr zurückgezogen, seine Gestalt war etwas verfallen, auch brachte er oft mehrere Tage in dem Bette zu; allein wir hatten uns an diesen Zustand so gewöhnt, daß er uns zuletzt auch als ein regelmäßiger erschien. Jeder Hausbewohner sah ihn als den Vater an; der Vater gehörte so notwendig zu dem Hause, daß man sich seinen Abgang nicht denken konnte, und ich habe mir wirklich nie gedacht, daß er sterben könnte und daß er so krank sei. In dem ersten Augenblick war alles in Verwirrung, dann aber wurden die Leichenvorbereitungen gemacht. Mit seinem Leichenzuge gingen alle Armen des Stadtbezirkes, es gingen die Männer seines Geschäftes mit, seine Freunde, viele Fremde, die Arbeiter seines Hauses und seine zwei Söhne. Es wurden sehr viele Tränen geweint, wie man um wenige Menschen des Landes weint, und die Leute sagten, daß ein vortrefflicher Mann, ein auserlesener Bür-ger und ein ehrenvoller Geschäftsmann begraben worden sei. Nach einigen Ta-gen wurde das Testament eröffnet und in demselben stand, daß wir beiden Brü-der als Erben eingesetzt seien und uns das Geschäft gemeinschaftlich zugefallen sei.
»Der Bruder sagte mir nach einiger Zeit, daß die ganze Last des Geschäftes nun auf unsern Schultern liege, und ich eröffnete ihm nun hierbei, daß ich das Late-inische, Griechische, die Naturgeschichte, die Erdbeschreibung und die Rec-henkunst, worin ich damals, als wir unterrichtet wurden, geringe Fortschritte gemacht hatte, nachgelernt hätte, und daß ich jetzt beinahe vollkommen in die-sen Dingen bewandert wäre. Er aber antwortete mir, daß Lateinisch, Griec-hisch und die übrigen Fächer zu unserm Berufe nicht geradehin notwendig seien, und daß ich zu spät diese Mühe verwendet hätte. Ich erwiderte ihm, daß ich, so wie ich diese Lernfächer nachgelernt hätte, ich auch alle die Arbeiten und Kenntnisse, die zu unserm Geschäfte unmittelbar notwendig wären, allmählich nachlernen würde. Hierauf sagte er wieder, daß, wenn das Geschäft auf mich warten müßte, ich zu einer Zeit fertig werden würde, wenn es bereits zugrunde gegangen wäre. Er versprach aber, daß er sich so annehmen werde, wie es in seinen Kräften möglich sei, und daß er mir überlasse zu tun, wie es mir gefalle, daß ich Einsicht nehmen könne, daß ich mithelfen könne, daß ich noch lernen könne, und daß mein Teil mir aber in jedem Falle unverkümmert bewahrt werden solle.
»Ich ging wieder in die Studierstube zurück, mischte mich in die Geschäfte nicht, weil ich sie wohl nicht verstand, und er ließ mich dort. Ja, er schickte mir sogar bessere Geräte und versah mich mit mehreren Bequemlichkeiten, daß der Aufenthalt in der Stube mir nicht unangenehm würde. Nach einiger Zeit erschien er mit dem Rechtsanwalte unseres Hauses, mit Personen des Gerichtes und mit Zeugen, welche Freunde unsers Vaters gewesen waren, und gab mir ein gerichtliches Papier, auf welchem verzeichnet war, was ich für Ansprüche an die Erbschaft habe, welcher mein Teil sei, und was mir in der Zukunft gebühre. Der Bruder, die Zeugen und ich unterschrieben die Schrift.
»Ich fuhr nun mit dem Lernen fort; der Bruder leitete den ganzen Umfang des Geschäftes. Nach einem Vierteljahre brachte er mir eine Summe Geldes und sagte, das seien die Zinsen, welche mir von meinem Anteile an der Erbschaft, der in dem Gewerbe tätig sei, gebühren. Er sagte, daß er mir alle Vierteljahre diese Summe einhändigen werde. Er fragte mich, ob ich zufrieden sei, und ich antwortete, daß ich sehr zufrieden sei.
»Nachdem so wieder eine Zeit vergangen war, stellte er mir einmal vor, daß mein Lernen doch zu etwas führen müsse, und er fragte mich, ob ich nicht ge-neigt wäre, zu einem der gelehrten Stände hinzuarbeiten, zu denen die Dinge, mit welchen ich mich jetzt beschäftige, die Vorarbeit seien. Als ich ihm antwortete, daß ich nie darüber nachgedacht habe und daß ich nicht wisse, welcher Stand sich für mich ziemen könnte, sagte er, das sei jetzt auch nicht notwendig, ich möchte nur aus den Kenntnissen, die ich mir jetzt erworben hätte, nach und nach die Prüfungen ablegen, damit ich beglaubigte Schriften über meine Anwartschaft in den Händen hätte, ich möchte mir die fehlenden Wissenschaften noch zu erwerben trachten und mich über sie gleichfalls Prü-fungen unterziehen, und wenn dann der Zeitpunkt gekommen wäre, mich für einen besonderen Stand zu entscheiden, hätte ich wieder mehr Erfahrungen ge-sammelt und sei dann leichter in der Lage, mich zu bestimmen, wohin ich mich zu wenden hätte.
»Mir gefiel der Vorschlag recht gut, und ich sagte zu. Nach einiger Zeit machte ich die ersten Prüfungen aus den unteren Fächern, und sie fielen außerordent-lich gut aus. Dies machte mir Mut, und ich ging mit Eifer an die Erlernung der weiteren Kenntnisse. Mir zitterte innerlich das Herz vor Freude, daß ich einmal einem jener Stände, die ich immer mit so vieler Ehrfurcht betrachtet hatte, die der Welt mit ihren Wissenschaften und mit ihrer Geschicklichkeit dienen, ange-hören sollte. Ich arbeitete sehr fleißig, ich kargte mir die Zeit ab, ich kam wenig in die andern Räume des Hauses hinüber, und nachdem wieder eine Zeit vergangen war, konnte ich abermals eine Prüfung mit gutem Erfolge ablegen.
»So war ich vollständig ein Bewohner des hinteren Gartenflügels geworden, durfte es bleiben und konnte mich mit gutem Gewissen meinen Bestrebungen hingeben.
»An unsern hinteren Gartenteil stieß ein zweiter Garten, der aber eigentlich kein Garten war, sondern mehr ein Anger, auf dem hie und da ein Baum stand, den niemand pflegte. Hart an einem Eisengitter unseres Gartens ging der Weg vorüber, der in dem fremden Garten war. Ich sah in jenem Garten immer sehr schöne, weiße Tücher und andere Wäsche auf langen Schnüren aufgehängt. Ich blickte oft teils aus meinen Fenstern, teils durch das Eisengitter, wenn ich eben in dem Garten war, darauf hin. Wenn sie trocken waren, wurden sie in einen Korb gesammelt, während eine Frau dabeistand und es anordnete. Dann wur-den wieder nasse aufgehängt, nachdem die Frau die zwischen Pflöcken ges-pannten Schnüre mit einem Tuche abgewischt hatte. Diese Frau war eine Witwe. Ihr Gatte hatte ein Amt gehabt, das ihn gut nährte. Kurz nach seinem Tode war auch sein alter, gütiger Herr gestorben, und der Sohn desselben hatte ein so hartes Herz, daß er der Witwe nur so viel gab, daß sie nicht gerade ver-hungerte. Sie mietete daher das Gärtchen, das an unsern Garten stieß, sie miete-te auch das kleine Häuschen, welches in dem Garten stand. Mit dem Gelde, das ihr ihr Gatte hinterlassen hatte, richtete sie nun das Häuschen und den Garten dazu ein, daß sie für die Leute, welche ihr das Vertrauen schenken würden, Wäsche besorgte, feine und jede andere. Sie ließ in dem Häuschen Kessel ein-mauern und andere Vorrichtungen machen, um die Wäsche zu sieden und die Laugen zu bereiten. Sie ließ Waschstuben herrichten, sie bereitete Orte, wo geglättet und gefaltet wurde, und für Zeiten des schlechten Wetters und des Winters ließ sie einen Trockenboden aufführen. In dem Garten ließ sie Pflöcke in gleichen Entfernungen voneinander einschlagen, an den Pflöcken Ringe befestigen und durch die Ringe Schnüre ziehen, welche oft gewechselt wurden. Hinter dem Häuschen ging ein Bach vorüber, welcher die Witwe verleitet hatte, hier ihre Waschanstalt zu errichten. Von dem Bache führten Pumprinnen in die Kessel, und über dem Wasser des Baches war eine Waschhütte erbaut. Die Frau hatte viele Mägde genommen, welche arbeiten und die Sache gehörig bereiten mußten, sie stand dabei, ordnete an, zeigte, wie alles richtig zu tun sei, und da sie die Wäsche nicht mit Bürsten und groben Dingen behandeln ließ und darauf sah, daß sie sehr weiß sei und daß das Schlechte ausgebessert wurde, so bekam sie sehr viele Kundschaften, sie mußte ihre Anstalt erweitern und mehr Arbeite-rinnen nehmen, und nicht selten kam manche vornehme Frau und saß mit ihr unter dem großen Birnbaume des Gartens.
»Diese Frau hatte auch ein Töchterlein, ein Kind, nein, es war doch kein Kind mehr – ich wußte eigentlich damals nicht, ob es noch ein Kind sei oder nicht. Das Töchterlein hatte sehr feine rote Wangen, es hatte feine rote Lippen, unsc-huldige Augen, die braun waren und freundlich um sich schauten. Über den Augen hatte es Lider, die groß und sanft waren, und von denen lange Wimpern niedergingen, die zart und sittsam aussahen. Die dunkeln Haare waren von der Mutter glatt und rein gescheitelt und lagen schön an dem Haupte. Das Mädchen trug manchmal ein längliches Körbchen von feinem Rohre; über dem Körbchen war ein weißes, sehr feines Tuch gespannt, und in dem Körbchen mochte ganz auserlesene Wäsche liegen, welche das Kind zu einer oder der andern Frau zu tragen hatte.
»Ich sah es gar so gern an. Manchmal stand ich an dem Fenster und sah auf den Garten hinüber, in welchem immer ohne Unterbrechung, außer wenn es Nacht wurde oder schlechtes Wetter kam, Wäsche an den Schnüren hing, und ich hat-te die weißen Dinge sehr lieb. Da kam zuweilen das Mädchen heraus, ging auf dem Anger hin und wieder und hatte mancherlei zu tun, oder ich sah es, obwohl das Häuschen sehr unter Zweigen versteckt war, an dem Fenster stehen und lernen. Ich wußte bald auch die Zeit, an welcher es die Wäsche forttrug, und da ging ich manchmal in den Garten hinunter und stand an dem eisernen Gitter. Da der Weg an dem Gitter vorüberging, mußte das Mädchen an mir vorbeikommen. Es wußte recht wohl, daß ich dastehe; denn es schämte sich immer und nahm sich im Gange zusammen.
»Eines Tages, da ich die Wäscheträgerin von ferne kommen sah, legte ich sch-nell einen sehr schönen Pfirsich, den ich zu diesem Zwecke schon vorher gep-flückt hatte, durch die Öffnung der Gitterstäbe hinaus auf ihren Weg und ging in das Gebüsch. Ich ging so tief hinein, daß ich sie nicht sehen konnte. Als schon so viele Zeit vergangen war, daß sie lange vorüber gekommen sein mußte, ging ich wieder hervor; allein der Pfirsich lag noch auf dem Wege. Ich wartete nun die Zeit ab, wann sie wieder zurückkommen würde. Aber da sie schon zurückgekommen war und ich nachsah, lag der Pfirsich noch auf dem Wege. Ich nahm ihn wieder herein. Das nämliche geschah nach einer Zeit noch einmal. Beim dritten Male blieb ich stehen, als der Pfirsich mit seiner sanften, roten Wange auf dem Sande lag, und sagte, da sie in die Nähe kam: ›Nimm ihn.‹ Sie blickte mich an, zögerte ein Weilchen, bückte sich dann und nahm die Frucht. Ich weiß nicht mehr, wo sie dieselbe hingesteckt hatte, aber das weiß ich gewiß, daß sie sie genommen hatte. Nach Verlauf von einiger Zeit tat ich dasselbe wieder, und sie nahm wieder die Frucht. So geschah es mehrere Male, und endlich reichte ich ihr den Pfirsich mit der Hand durch das Gitter.
»Zuletzt kamen wir auch zum Sprechen. Was wir gesprochen haben, weiß ich nicht mehr. Es muß gewöhnliches Ding gewesen sein. Wir nahmen uns auch bei den Händen.
»Mit der Zeit konnte ich nicht mehr erwarten, wenn sie mit dem Körbchen kam. Ich stand allemal an dem Gitter. Sie blieb stehen, wenn sie zu mir gekommen war, und wir redeten miteinander. Einmal bat ich sie, mir die Din-ge in dem Körbchen zu zeigen. Sie zog den linnenen Deckel mit kleinen Sch-nürchen auseinander und zeigte mir die Sachen. Da lagen Krausen, feine Ärmel und andere geglättete Dinge. Sie nannte mir die Namen, und als ich sagte, wie schön das sei, erwiderte sie: ›Die Wäsche gehört einer alten Gräfin, einer vor-nehmen Frau, ich muß sie ihr immer selber hintragen, daß ihr nichts geschieht, weil sie so schön ist.‹ Da ich wieder sagte: ›Ja, das ist schön, das ist außeror-dentlich schön,‹ antwortete sie: ›Freilich ist es schön; meine Mutter sagt: die Wäsche ist nach dem Silber das erste Gut in einem Hause, sie ist auch feines weißes Silber und kann, wenn sie unrein ist, immer wieder zu feinem weißen Silber gereinigt werden. Sie gibt unser vornehmstes und nächstes Kleid. Darum hat die Mutter auch so viele Wäsche gesammelt, daß wir nach dem Tode des Vaters genug hatten, und darum hat sie auch die Reinigung der Wäsche für an-dere Leute übernommen und läßt nicht zu, daß sie mit rauhen und unrechten Dingen angefaßt werde. Das Gold ist zwar auch kostbar, aber es ist kein Haus-gerät mehr, sondern nur ein Schmuck.‹ Ich erinnerte mich bei diesen Worten wirklich, daß ich an dem Körper der Sprechenden immer am Rande des Halses oder an den Ärmeln die feinste weiße Wäsche gesehen hatte, und daß ihre Mut-ter immer eine schneeweiße Haube mit feiner Krause um das Angesicht trug.
»Von diesem Augenblicke an begann ich von dem Gelde, welches mir der Bru-der alle Vierteljahre zustellte, sehr schöne Wäsche, wie die der vornehmen Gräfin war, anzuschaffen und mir alle Arten silberne Hausgeräte zu kaufen.
»Einmal, da wir so beieinander standen, kam die Mutter in der Nähe vorüber und rief: ›Johanna, schäme dich.‹ Wir schämten uns wirklich und liefen ausei-nander. Mir brannten die Wangen vor Scham, und ich wäre erschrocken, wenn mir jemand im Garten begegnet wäre.
»Von der Zeit an sahen wir uns nicht mehr an dem Gitter. Ich ging jedesmal in den Garten, wenn sie vorüberkam, aber ich blieb in dem Gebüsche, daß sie mich nicht sehen konnte. Sie ging mit geröteten Wangen und niedergeschlage-nen Augen vorüber.
»Ich ließ nun in die zwei Zimmer, die an meine Wohnstube stießen, Kästen stellen, von denen ich die oberen Fächer hatte schmal machen lassen, in welche ich das Silber hineinlegte, die unteren aber breit, in welche ich die Wäsche tat. Ich legte das Zusammengehörige zusammen und umwand es mit rotseidenen Bändern.
»Nach geraumer Zeit sah ich das Mädchen lange nicht an dem eisernen Gitter vorübergehen, ich getraute mir nicht zu fragen, und als ich endlich doch fragte, erfuhr ich, daß es in eine andere Stadt gegeben worden sei, und daß es die Braut eines fernen Anverwandten werden würde.
»Ich meinte damals, daß ich mir die Seele aus dem Körper weinen müsse.
»Aber nach einer Zeit ereignete sich etwas Furchtbares. Mein Bruder hatte ei-nen großen Wechsler, der ihm stets auf Treu und Glauben das Geld für laufende Ausgaben bis zu einer festgesetzten Summe lieferte, um sich nach Umständen immer wieder auszugleichen. Ich weiß es nicht, haben andere Leute meinem Bruder den Glauben untergraben oder hat der Wechsler selber, weil zwei Han-delschaften, die uns bedeutend schuldeten, gefallen waren und uns um unsern Reichtum brachten, Mißtrauen geschöpft: er weigerte sich fortan die Wechsel unseres Hauses zu zahlen. Der Bruder sollte mehrere mit Summen decken, und es fehlte hinlängliches bares Geld dazu. Die Freunde, an welche er sich wende-te, schöpften selber Mißtrauen, und so kam es, daß die Wechselgläubiger Klage anstellten, daß unser Haus, unsere andern Besitzungen und unsere Waren ab-geschätzt wurden, ob sie hinreichten, ohne daß man an unsere ausstehenden Forderungen zu greifen hätte. Da nun dies bekannt wurde, kamen alle, welche eine Forderung hatten, und wollten sie erfüllt haben; aber die, welche uns schuldeten, kamen nicht. Der Bruder wollte mir nichts entdecken, damit ich mich nicht kränkte, er gedachte es noch vorüberzuführen. Allein da der Ver-kauf unseres Hauses zu sofortiger Deckung der Wechselschulden angeordnet wurde, konnte er es mir nicht mehr verbergen. Er kam auf meine Stube und sagte mir alles. Ich gab ihm das Geld, das ich hatte; denn meine Bedürfnisse waren sehr gering gewesen, und ich hatte einen großen Teil meiner Einkünfte ersparen können. Ich öffnete die schmalen oberen Fächer meiner Kästen und legte alles mein Silber auf unsern eichenen Lerntisch heraus und bot es ihm an. Er sagte, daß das nicht reiche, um das Haus und das Geschäft zu retten, und er weigerte sich, es anzunehmen. Auch das Gericht machte keine Forderung an mich, aber ich konnte es nicht leiden, daß mein Bruder etwas unerfüllt ließe und sein Gewissen belastete, ich tat daher alles zu den andern Werten. Es reich-te zusammen hin, daß allen Gläubigern ihre Forderungen ausgezahlt und sie bis auf das genaueste befriedigt werden konnten. Allein unser schönes Haus mit seinem hinteren Flügel und unser schöner Garten waren verloren.
»Ich weiß nicht, welche andere Schläge noch kamen; aber auch die Aussicht, mit dem ausstehenden Gelde noch ein kleines Geschäft einzuleiten und uns nach und nach wieder emporzuschwingen, war in kurzer Zeit vereitelt.
»Mein Bruder, welcher unverheiratet war, grämte sich so, daß er in ein Fieber verfiel und starb. Ich allein und mehrere Menschen, denen er Gutes getan hatte, gingen mit der Leiche. Da vom Urgroßvater her immer nur ein Sohn als ein einziges Kind und Nachfolger bis auf uns beide Brüder gewesen war, da auch die Haushälterin Luise schon länger vorher mit Tod abgegangen war, so hatte ich keinen Verwandten und keinen Bekannten mehr.
»Ich hatte den Gedanken gefaßt, ein Verkünder des Wortes des Herrn, ein Pri-ester, zu werden. Wenn ich auch unwürdig wäre, dachte ich, so könnte mir doch Gott seine Gnade verleihen, zu erringen, daß ich nicht ein ganz verwerf-licher Diener und Vertreter seines Wortes und seiner Werke sein könnte.
»Ich nahm meine Zeugnisse und Schriften zusammen, ich ging in die Priester-bildungsanstalt und bat beklemmt um Aufnahme. Sie wurde mir gewährt. Ich zog zur festgesetzten Zeit in die Räume ein und begann meine Lernzeit. Sie ging gut vorüber, und als ich fertig war, wurde ich zum Diener Gottes gewei-het. Ich tat meine ersten Dienste bei älteren Pfarrern als Mitarbeiter in der Seel-sorge, die ihnen anvertraut war. Da kam ich in verschiedene Lagen und lernte Menschen kennen. Von den Pfarrern lernte ich in geistlichen und weltlichen Eigenschaften. Als eine solche Reihe von Jahren vergangen war, daß man es mir nicht mehr zu arg deuten konnte, wenn ich um eine Pfarre einkäme, bat ich um die jetzige und erhielt sie. Ich bin nun über siebenundzwanzig Jahre hier und werde auch nicht mehr weggehen. Die Leute sagen, die Pfarre sei schlecht, aber sie trägt schon, wovon ein Verkünder des Evangeliums leben kann. Sie sagen, die Gegend sei häßlich, aber auch das ist nicht wahr, man muß sie nur gehörig anschauen. Meine Vorgänger sind von hier auf andere Pfarrhöfe ver-setzt worden. Da aber meine jetzt lebenden Mitbrüder, die in meinen Jahren und etwas jünger sind, sich während ihrer Vorbereitungszeit sehr auszeichneten und mir in allen Eigenschaften überlegen sind, so werde ich nie bitten, von hier auf einen andern Platz befördert zu werden. Meine Pfarrkinder sind gut, sie haben sich manchem meiner lehrenden Worte nicht verschlossen und werden sich auch ferner nicht verschließen.
»Dann habe ich noch einen anderen weltlicheren und einzelneren Grund, wes-halb ich an dieser Stelle bleibe. Sie werden denselben schon einmal später er-fahren, wenn Sie nämlich die Bitte, die ich an Sie stellen will, erhören. Ich komme nun zu dieser Bitte, aber ich muß noch etwas sagen, ehe ich sie aussp-reche. Ich habe zu einem Zwecke in diesem Pfarrhofe zu sparen angefangen, der Zweck ist kein schlechter, er betrifft nicht bloß ein zeitliches Wohl, son-dern auch ein anderes. Ich sage ihn jetzt nicht, er wird schon einmal kund wer-den; aber ich habe um seinetwillen zu sparen begonnen. Von dem Vaterhause habe ich kein Vermögen mitgebracht; was noch an Gelde eingegangen ist, wur-de zu verschiedenen Dingen verwendet, und seit Jahren ist nichts mehr einge-gangen. Ich habe von dem väterlichen Erbe nur das einzige Kruzifix, welches an meiner Tür dort über dem Weihbrunngefäße hängt. Der Großvater hat es einmal in Nürnberg gekauft, und der Vater hat es mir, weil es mir stets gefiel, geschenkt. So fing ich also an, von den Mitteln meines Pfarrhofes zu sparen. Ich legte einfache Kleider an und suche sie lange zu erhalten, ich verabschiedete das Bett und legte mich auf die Bank in dem Vorhause und tat die Bibel zum Zeugen und zur Hilfe unter mein Haupt. Ich hielt keine Bedienung mehr und mietete mir die Dienste der alten Sabine, die für mich hinreichen. Ich esse, was für den menschlichen Körper gut und zuträglich ist. Den oberen Teil des Pfarr-hofes habe ich vermietet. Ich habe schon zweimal darüber einen Verweis von dem hochwürdigen bischöflichen Konsistorium erhalten, aber jetzt lassen sie es geschehen. Weil die Leute bei mir bares Geld vermuteten, was auch wahr gewesen ist, so bin ich dreimal desselben beraubt worden, aber ich habe wieder von vorn angefangen. Da die Diebe nur das Geld genommen hatten, so suchte ich es ihnen zu entrücken. Ich habe es gegen Waisensicherheit angelegt, und wenn kleine Zinsen anwachsen, so tue ich sie stets zu dem Kapitale. So bin ich nun seit vielen Jahren nicht behelligt worden. In der langen Zeit ist mir mein Zustand zur Gewohnheit geworden, und ich liebe ihn. Nur habe ich eine Sünde gegen dieses Sparen auf dem Gewissen: ich habe nämlich noch immer das schöne Linnen, das ich mir in der Stube in unserm Gartenflügel angeschafft hatte. Es ist ein sehr großer Fehler, aber ich habe versucht, ihn durch noch größeres Sparen an meinem Körper und an andern Dingen gutzumachen. Ich bin so schwach, ihn mir nicht abgewöhnen zu können. Es wäre gar zu traurig, wenn ich die Wäsche weggeben müßte. Nach meinem Tode wird sie ja auch etwas eintragen, und den ansehnlicheren Teil gebrauche ich ja gar nicht.«
Ich wußte nun, weshalb er sich seiner herrlichen Wäsche schämte.
»Es ist mir nicht lieb,« fuhr er fort, »daß ich hier den Menschen nicht so helfen kann, wie ich möchte; aber ich kann es dem Zwecke nicht entziehen, und es können ja nicht alle Menschen im ganzen Umfange wohltun, wie sie wünsch-ten; dazu wäre der größte Reichtum nicht groß genug.
»Sehen Sie, nun habe ich Ihnen alles gesagt, wie es mit mir gewesen ist und wie es noch mit mir ist. Jetzt kommt meine Bitte; Sie werden sie mir vielleicht, wenn Sie an alles denken, was ich Ihnen erzählt habe, gewähren. Sie ist aber beschwerlich zu erfüllen, und nur Ihre Freundlichkeit und Güte erlaubt mir, sie vorzubringen. Ich habe mein Testament bei dem Gerichte zu Karsberg in dem Schlosse niedergelegt. Ich vermute, daß es dort sicher ist, und ich habe den Empfangschein hier in meinem Hause. Aber alle menschlichen Dinge sind wandelbar; es kann Feuer, Verwüstung, Feindeseinbruch oder sonst ein Unglück kommen und das Testament gefährden. Ich habe daher noch zwei gle-ichlautende Abschriften verfaßt, um sie so sicher als möglich niederzulegen, daß sie nach meinem Tode zum Vorschein kommen mögen und ihr Zweck er-füllt werde. Da wäre nun meine Bitte, daß Sie eine Abschrift in Ihre Hände nehmen und aufbewahrten. Die andere behalte ich entweder hier oder ich gebe sie auch jemandem, daß er sie ebenfalls zu ihrem Zwecke aufbewahre. Freilich müßten Sie da erlauben, daß ich Ihnen, wenn Sie von dieser Gegend scheiden, von Zeit zu Zeit einen kleinen Brief schreibe, worin ich Ihnen sage, daß ich noch lebe. Wenn die Briefe ausbleiben, so wissen Sie, daß ich gestorben bin. Dann müßten Sie das Testament durch ganz sichere Hände und gegen Beschei-nigung nach Karsberg gelangen lassen oder überhaupt dorthin, wo die Ämter sind, die es in Erfüllung bringen können. Es ist das alles nur zur Vorsicht, wenn das gerichtlich Niedergelegte verlorengehen sollte. Das Testament ist zugesiegelt und den Inhalt werden Sie nach meinem Tode erfahren, wenn Sie nämlich nicht abgeneigt sind, meine Bitte zu erfüllen.«
Ich sagte dem Pfarrer, daß ich mit Freuden in seinen Wunsch eingehe, daß ich das Papier sorgfältig bewahren wolle, wie meine eigenen besten Sachen, deren Vernichtung mir unersetzlich wäre, und daß ich allen seinen Weisungen gern nachkommen wolle. Übrigens hoffe ich, daß der Zeitpunkt noch sehr fern sei, wo das Testament und seine zwei andern Genossen entsiegelt werden würden.
»Wir stehen alle in Gottes Hand,« sagte er, »es kann heute sein, es kann morgen sein, es kann noch viele Jahre dauern. Zum Zwecke, den ich neben meinen Se-elsorgerpflichten verfolge, wünsche ich, daß es nicht so bald sei; aber Gott weiß, wie es gut ist, und er bedarf zuletzt auch zur Krönung dieses Werkes me-iner nicht.«
»Da aber auch ich vor Ihnen sterben könnte,« erwiderte ich, »so werde ich zur Sicherheit eine geschriebene Verfügung zu dem Testament legen, wodurch me-ine Verpflichtung in andere Hände übergehen soll.«
»Sie sind sehr gut,« antwortete er, »ich habe gewußt, daß Sie so freundschaft-lich sein werden, ich habe es gewiß gewußt. Hier wäre das Papier.«
Mit diesen Worten zog er unter seinem Hauptkissen ein Papier hervor. Dasselbe war gefaltet und mit drei Siegeln gesiegelt. Er reichte es in meine Hand. Ich betrachtete die Siegel, sie waren rein und unverletzt und trugen ein einfaches Kreuz. Auf der obern Seite des Papiers standen die Worte: Letzter Wille des Pfarrers im Kar. Ich ging an den Tisch, nahm ein Blatt aus meiner Brieftasche, schrieb darauf, daß ich von dem Pfarrer im Kar an dem bezeichneten Tage ein mit drei Siegeln, die ein Kreuz enthalten, versiegeltes Papier empfangen habe, das die Aufschrift »Letzter Wille des Pfarrers im Kar« trage. Die Bescheini-gung reichte ich ihm dar und er schob sie ebenfalls unter das Kissen seines Ha-uptes. Das Testament tat ich einstweilen in die Tasche, in welcher ich meine Zeichnungen und Arbeiten hatte.
Nach dieser Unterredung blieb ich noch eine geraume Zeit bei dem Pfarrer, und das Gespräch wendete sich auf andre, gleichgültigere Gegenstände. Es kam Sa-bine herein, um ihm Speise zu bringen, es kam das Mädchen aus dem ersten Stockwerk herunter, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Da die Sterne an dem hohen Himmel standen, ging ich durch das bleiche Gestein und den weichen Sand in meine Hütte und dachte an den Pfarrer. Ich tat das Testa-ment vorerst in meinen Koffer, wo ich meine besten Sachen hatte, um es später in meinem Hause gut zu verwahren.
Die Zeit nach der Erzählung des Pfarrers ging mir in meinem Steingewirre da-hin, wie sie mir vorher dahingegangen war. Wir maßen und arbeiteten und zeichneten; ich sammelte mir unter Tags Stoff, besuchte gegen Abend den Pfar-rer, saß ein paar Stunden an seinem Bette und arbeitete dann in der Nacht in meiner Hütte, während mir einer meiner Leute auf einem Notherde derselben einen schmalen Braten briet.
Nach und nach wurde der Pfarrer besser, endlich stand er auf, wie es der Arzt in der Stadt vorausgesagt hatte, dann ging er vor sein Haus, er ging wieder in die Kirche und zuletzt kam er auch wieder in das Steinkar, wandelte in den Hügeln herum oder stand bei uns und schaute unsern Arbeiten zu.
Wie aber endlich alles ein Ende nimmt, so war es auch mit unserm langen Au-fenthalte im Steinkar. Wir waren immer weiter vorgerückt, wir näherten uns der Grenzlinie unseres angewiesenen Bezirks immer mehr und mehr, endlich waren die Pflöcke auf ihr aufgestellt, es war bis dahin gemessen, und nach ge-ringen schriftlichen Arbeiten war das Steinkar in seinem ganzen Abbilde in vie-len Blättern in unserer Mappe. Die Stangen, die Pflöcke, die Werke wurden sofort weggeschafft, die Hütten abgebrochen, meine Leute gingen nach ihren Bestimmungen auseinander, und das Steinkar war wieder von diesen Bewoh-nern frei und leer.
Ich packte meinen Koffer, nahm von dem Pfarrer, von dem Schullehrer, von Sabine, von dem Mietsmann und seiner Tochter und von andern Leuten Absc-hied, ließ den Koffer in die Hochstraße bringen, ging zu Fuß dahin, bestellte mir Postpferde, und da diese angelangt waren, fuhr ich von dem Schauplatz meiner bisherigen Tätigkeit fort.
Eines sehr seltsamen Gefühles muß ich Erwähnung tun, das ich damals hatte. Es ergriff mich nämlich beinahe eine tiefe Wehmut, als ich von der Gegend schied, welche mir, da ich sie zum ersten Male betreten hatte, abscheulich ersc-hienen war. Wie ich immer mehr und mehr in die bewohnteren Teile hinaus-kam, mußte ich mich in meinem Wagen umkehren und nach den Steinen zu-rückschauen, deren Lichter so sanft und matt schimmerten, und in deren Vertie-fungen die schönen blauen Schatten waren, wo ich so lange verweilt hatte, während ich jetzt zu grünenden Wiesen, zu geteilten Feldern und unter hohe, strebende Bäume hinausfuhr.
Nach fünf Jahren ergriff ich eine Gelegenheit, die mich in die Nähe brachte, das Steinkar wieder zu besuchen. Ich fand den Pfarrer in demselben zuweilen herumgehen, wie früher, oder gelegentlich auf einem der Steine sitzen und he-rumschauen. Seine klaren, blauen Augen waren die nämlichen geblieben.
Ich zeigte ihm die Briefe, die ich von ihm empfangen und die ich aufbewahrt hatte. Er bedankte sich sehr schön, daß ich auf jeden der Briefe ihm eine Antwort gesendet hätte, er freue sich der Briefe und lese oft in denselben. Er zeigte sie mir, da wir in seinem Stübchen wieder an dem fichtenen Tische bei-sammen saßen.
Die Zirder floß mit ihrem himmelblauen Bande durch die Steine, diese hatten die graue Farbe, und der Sand lagerte zu ihren Füßen. Die grünen Streifen und die wenigen Gesträuche waren wie immer. In der Hochstraße war der Wirt, die Wirtin und fast auch ihre Kinder wie früher, ja die alten Gäste schienen an den Tischen zu sitzen, so sehr bleiben die Menschen die nämlichen, die in jenen Ge-genden den Verkehr über die Anhöhe treiben.
Nach diesem Besuche in jener Gegend führte mich weder ein Geschäft mehr dahin, noch fand ich Zeit, aus freiem Antriebe wieder einmal das Kar zu be-suchen. Viele Jahre gingen vorüber, und der Wunsch des Pfarrers, daß ihn Gott seines Zweckes willen lange leben lassen möchte, schien in Erfüllung gehen zu wollen. Alle Jahre bekam ich mehrere Briefe von ihm, die ich regelmäßig be-antwortete, und die regelmäßig im nächsten Jahre wieder anlangten. Nur eins glaubte ich zu bemerken, daß die Buchstaben nämlich etwas zeigten, als zittere die Hand.
Nach langen Jahren kam einmal ein Brief von dem Schullehrer. In demselben schrieb er, daß der Pfarrer erkrankt sei, daß er von mir rede, und daß er gesagt habe: »Wenn er es wüßte, daß ich krank bin!« Er nehme sich daher die Erlaub-nis, mir dieses zu melden, weil er doch nicht erkennen könne, ob es nicht zu etwas gut sei, und er bitte mich deshalb um Verzeihung, daß er so zudringlich gewesen.
Ich antwortete ihm, daß ich seinen Brief als keine Zudringlichkeit ansehen kön-ne, sondern daß er mir einen Dienst damit erwiesen habe, indem ich an dem Pfarrer im Kar großen Anteil nehme. Ich bitte ihn, er möge mir öfter über das Befinden des Pfarrers schreiben, und wenn es schlechter würde, mir dieses sogleich anzeigen. Und sollte Gott wider Vermuten schnell etwas Menschliches über ihn verhängen, so solle er mir auch dieses ohne geringstes Versäumen melden.
An den Pfarrer schrieb ich auch zu seiner Beruhigung, daß ich von seiner Erkrankung gehört habe, daß ich den Schullehrer gebeten habe, er möge mir über sein Befinden öfter schreiben; ich ersuchte ihn, daß er sich nicht selber anstrengen möchte, an mich zu schreiben, daß er sich ein Bett in das Stübchen machen lassen solle, und daß sich, wie es ja auch in früheren Jahren geschehen sei, sein Unwohlsein in kurzer Zeit wieder heben könnte. Mein Beruf gestatte für den Augenblick keinen Besuch.
Er antwortete mir desungeachtet in einigen Zeilen, daß er sehr, sehr alt sei, daß er geduldig harre und sich nicht fürchte.
Da der Schullehrer zwei Briefe geschrieben hatte, in denen er sagte, daß mit dem Pfarrer keine Veränderung vorgegangen sei, kam ein dritter, der meldete, daß derselbe nach Empfang der heiligen Sterbesakramente verschieden sei.
Ich machte mir Vorwürfe, setzte jetzt alles beiseite und machte mich reisefertig. Ich zog das versiegelte Papier aus meinem Schreine hervor, ich nahm auch die Briefe des Pfarrers mit, die zur Erweisung der Handschrift dienen könnten, und begab mich auf den Weg nach Karsberg.
Als ich daselbst angekommen war, erhielt ich die Auskunft, daß ein Testament des Pfarrers in dem Schlosse gerichtlich niedergelegt worden sei, daß man ein zweites in seiner Verlassenschaft gefunden habe, und daß ich mich in zwei Ta-gen in dem Schlosse einfinden solle, um mein Testament vorzuzeigen, worauf die Öffnung und Prüfung der Testamente statthaben würde.
Ich begab mich während dieser zwei Tage in das Kar. Der Schullehrer erzählte mir über die letzten Tage des Pfarrers. Er sei ruhig in seiner Krankheit gelegen, wie in jener, da ich ihn so oft besucht habe. Er habe wieder keine Arznei ge-nommen, bis der Pfarrer aus der Wenn, ein Nachbar des Pfarrers im Kar, welc-her ihm die Sterbesakramente gereicht hatte, ihm dargetan hätte, daß er auch irdische Mittel gebrauchen und es Gott überlassen müsse, ob sie wirkten oder nicht. Von dem Augenblicke an nahm er alles, was man ihm gab, und ließ alles mit sich tun, was man tun wollte. Er lag wieder in seinem Stübchen, wo man ihm wieder aus den Wolldecken ein Bett gemacht hatte. Sabine war immer bei ihm. Als es zum Sterben kam, machte er keine besondere Vorbereitung, son-dern er lag wie alle Tage. Man konnte nicht annehmen, ob er es wisse, daß er jetzt sterbe oder nicht. Er war wie gewöhnlich und redete gewöhnliche Worte. Endlich schlief er sanft ein, und es war vorüber.
Man entkleidete ihn, um ihn für die Bahre anzuziehen. Man legte ihm die schönste seiner Wäsche an. Dann zog man ihm sein fadenscheiniges Kleid an und über das Kleid den Priesterchorrock. So wurde er auf der Bahre ausgestellt. Die Leute kamen sehr zahlreich, um ihn anzuschauen; denn sie hatten so etwas nie gesehen; er war der erste Pfarrer gewesen, der in dem Kar gestorben war. Er lag mit seinen weißen Haaren da, sein Angesicht war mild, nur viel blässer als sonst, und die blauen Augen waren von den Lidern gedeckt. Mehrere seiner Amtsbrüder kamen, ihn zur Erde zu bestatten. Bei der Einsenkung haben viele der herbeigekommenen Menschen geweint.
Ich erkundigte mich nun auch um den Mietmann im ersten Stockwerke. Er kam selbst in das Vorhaus des Pfarrhofes herunter, in dem ich mich befand, und sprach mit mir. Er hatte fast keine Haare mehr und trug daher ein schwarzes Käppchen auf seinem Haupte. Ich fragte nach seiner schönen Tochter, die da-mals, als sie in meiner Gegenwart öfter in das Krankenzimmer des Pfarrers gekommen war, ein junges, rasches Mädchen gewesen war. Sie war in der Ha-uptstadt verheiratet und war Mutter von beinahe erwachsenen Kindern. Auch diese war in den letzten Tagen des Pfarrers nicht um ihn gewesen. Der Miet-mann sagte mir, daß er jetzt wohl zu seiner Tochter werde ziehen müssen, da er bei der Wiederbesetzung der Pfarre gewiß seine Wohnung verlieren und im Kar keine andere finden werde.
Die alte Sabine war die einzige, die sich nicht geändert hatte; sie sah gerade so aus wie damals, als sie bei meiner ersten Anwesenheit den Pfarrer in seiner Krankheit gepflegt hatte. Niemand wußte, wie alt sie sei, und sie wußte es selbst nicht. Ich mußte deshalb in dem Vorhause des Pfarrhofes stehen bleiben, weil das Stüblein und das neben dem Vorhause befindliche Gewölbe versiegelt waren. Die einzige hölzerne Bank, die Schlafstätte des Pfarrers, stand an ihrer Stelle, und niemand hatte an sie gedacht. Die Bibel aber lag nicht mehr auf der Bank; man sagte, sie sei in das Stüblein gebracht worden.
Als die zwei Tage vorüber waren, die man als Frist zur Eröffnung des Testa-ments anberaumt hatte, begab ich mich nach Karsberg und verfügte mich zur festgesetzten Stunde in den Gerichtssaal. Es waren mehrere Menschen zusam-mengekommen, und es waren die Vorstände der Pfarrgemeinde und die Zeugen geladen worden. Die zwei Testamente und das Verzeichnis der Verlassenschaft des Pfarrers lagen auf dem Tische. Man wies mir meine Bescheinigung über den Empfang des Testamentes des Pfarrers vor, die in der Verlassenschaft ge-funden worden war, und forderte mich zur Vorzeigung des Testamentes auf. Ich überreichte es. Man untersuchte Schrift und Siegel und erkannte die Rich-tigkeit des Testamentes an.
Nach herkömmlicher Art wurde nun das gerichtlich niedergelegte Testament zuerst eröffnet und gelesen. Dann folgte das von mir übergebene. Es lautete Wort für Wort wie das erste. Endlich wurde das in der Wohnung des Pfarrers vorgefundene eröffnet, und es lautete ebenfalls Wort für Wort wie die beiden ersten. Die Zeitangabe und die Unterschrift war in allen drei Urkunden diesel-be. Sofort wurden alle drei Testamente als ein einziges, in drei Abschriften vorhandenes Testament erklärt.
Der Inhalt des Testamentes aber überraschte alle.
Die Worte des Pfarrers, wenn man den Eingang hinwegläßt, in dem er die Hil-fe Gottes anruft, die Verfügung unter seinen Schutz stellt und erklärt, daß er bei vollkommnem Gebrauche seines Verstandes und Willens sei, lauten so:
»Wie ein jeder Mensch außer seinem Amte und Berufe noch etwas finden oder suchen soll, das er zu verrichten hat, damit er alles tue, was er in seinem Leben zu tun hat, so habe auch ich etwas gefunden, was ich neben meiner Seelsorge verrichten muß: ich muß die Gefahr der Kinder der Steinhäuser und Karhäuser aufheben. Die Zirder schwillt oft an und kann dann ein reißendes Wasser sein, das in Schnelle daherkommt, wie es ja in den ersten Jahren meiner Pfarre zwe-imal durch Wolkenbrüche alle Stege und Brücken weggenommen hat. Die Ufer sind niedrig, und das am Kar ist noch niedriger als das Steinhäuser Ufer. Da sind drei Fälle möglich: entweder ist das Karufer überschwemmt, oder es ist auch das Steinhäuser Ufer überschwemmt, oder es wird sogar der Steg hinweggetragen. Die Kinder aus den Steinhäusern und Karhäusern müssen aber über den Steg ins Kar in die Schule gehen. Wenn nun das Karufer überschwemmt ist und sie von dem Stege in das Wasser gehen, so können manche in eine Grube oder in eine Vertiefung geraten und dort verunglücken; denn das kotige Wasser der Überschwemmung läßt den Boden nicht sehen; oder es kann das Wasser, während die Kinder in ihm waten, so schnell steigen, daß sie das Trockene nicht mehr erreichen können und alle verloren sind; oder sie können noch von dem Steinhäuser Ufer auf den Steg kommen, können das Wasser auf dem Karufer zu tief finden, können sich durch Beratschlagen oder Zaudern so lange aufhalten, daß indessen auch das Steinhäuser Ufer mit zu tie-fem Wasser bedeckt wird; dann ist der Steg eine Insel, die Kinder stehen auf ihm und können mit ihm fortgeschwemmt werden. Und wenn auch dieses alles nicht geschieht, so gehen sie mit ihren Füßlein im Winter in das Schneewasser, das auch Eisschollen hat, und fügen ihrer Gesundheit großen Schaden zu.
»Damit diese Gefahr in der Zukunft aufhöre, habe ich zu sparen begonnen und verordne, wie folgt: Von der Geldsumme, welche nach meinem Tode als mein Eigentum gefunden wird, vermehrt um die Geldsumme, welche aus dem Ver-kaufe meiner hinterlassenen Habe entsteht, soll in der Mitte der Schulkinder der Steinhäuser und Karhäuser ein Schulhaus gebaut werden; dann soll ein solcher Teil der Geldsumme auf Zinsen angelegt werden, daß durch das Erträgnis die Lehrer der Schule erhalten werden können; ferner soll noch ein Teil nutzbrin-gend gemacht werden, daß aus den Zinsen die jährliche Vergütung des Scha-dens entrichtet werden könne, welchen der Schullehrer im Kar durch den Ab-gang der Kinder erleidet, und endlich, wenn noch etwas übrig bleibt, so soll es meiner Dienerin Sabine gehören.
»Ich habe drei gleiche Testamente geschrieben, daß sie sicherer seien, und wenn noch was immer für eine Verfügung oder Meinung in meinem Nachlasse sollte gefunden werden, welche nicht den Inhalt und Jahres- und Monatstag dieser Testamente trägt, so soll sie ungültig sein.
»Damit aber in der Zeit schon die Gefahr vermindert werde, gehe ich alle Tage auf die Wiese am Karufer und sehe, ob keine Graben, Gruben und Vertiefungen sind, und stecke eine Stange dazu. Den Eigentümer der Wiese bitte ich, daß er entstandene Gruben und Vertiefungen so bald ausebnen lasse, als es angeht, und er hat meine Bitten immer erfüllt. Ich gehe hinaus, wenn die Wiese überschwemmt ist, und suche den Kindern zu helfen. Ich lerne das Wetter ken-nen, um eine Überschwemmung voraussehen zu können und die Kinder zu warnen. Ich entferne mich nicht weit von dem Kar, um keine Versäumnis zu begehen. Und so werde ich es auch in der Zukunft immer tun.«
Diesen Testamenten war die Geldrechnung bis zu dem Zeitpunkte ihrer Abfas-sung beigelegt. Die Rechnung, die von dieser Zeit an bis gegen die Sterbetage des Pfarrers lief, fand man in seinen Schriften. Die Rechnungen waren mit großer Genauigkeit gemacht. Man ersah auch aus ihnen, wie sorgsam der Pfar-rer im Sparen war. Die kleinsten Beträge, selbst Pfennige, wurden zugelegt und neue Quellen, die unscheinbarsten, eröffnet, daraus ein kleines Fädlein floß.
Zur Versteigerung des Nachlasses des Pfarrers wurde der fünfte Tag nach Eröffnung des Testamentes bestimmt.
Da wir von dem Gerichtshause fortgingen, sagte der Mietmann des Pfarrers un-ter Tränen zu mir: »O, wie habe ich den Mann verkannt, ich hielt ihn beinahe für geizig; da hat ihn meine Tochter viel besser gekannt, sie hat den Pfarrer immer sehr lieb gehabt. Ich muß ihr die Begebenheit sogleich schreiben.«
Der Schullehrer im Kar segnete den Pfarrer, der immer so gut gegen ihn gewesen sei, und der sich so gern in der Schule aufgehalten habe.
Auch die andern Leute erfuhren den Inhalt des Testamentes.
Nur die einzigen, die es am nächsten anging, die Kinder in den Steinhäusern und Karhäusern, wußten nichts davon, oder wenn sie es auch erfuhren, so vers-tanden sie es nicht und wußten nicht, was ihnen zugedacht worden sei.
Weil ich auch bei der Versteigerung gegenwärtig sein wollte, so ging ich wie-der in das Kar zurück und beschloß die vier Tage dazu anzuwenden, um manc-he Plätze im Steinkar und andern Gegenden zu besuchen, wo ich einstens gear-beitet hatte. Es war alles unverändert, als ob diese Gegend zu ihrem Merkmale der Einfachheit auch das der Unveränderlichkeit erhalten hätte.
Da der fünfte Tag herangekommen war, wurden die Siegel von den Türen der Pfarrerswohnung abgenommen und die hinterlassenen Stücke des Pfarrers vers-teigert. Es hatten sich viele Menschen eingefunden, und die Versteigerung war in Hinsicht des Testamentes eine merkwürdige geworden. Es trugen sich auffal-lende Begebenheiten bei derselben zu. Ein Pfarrer kaufte einen unter den Klei-dern des Verstorbenen gefundenen Rock, der das Schlechteste war, was man unter nicht zerrissenen Kleidern finden kann, um einen ansehnlichen Kaufschil-ling. Die Gemeinde des Kar erstand die Bibel, um sie in ihre Kirche zu stiften. Selbst die hölzerne Bank, die man nicht einmal eingesperrt hatte, fand einen Käufer.
Auch ich erwarb etwas in der Versteigerung, nämlich das kleine aus Holz geschnitzte Kruzifix von Nürnberg und sämtliche noch übrigen, so schönen und feinen Leinentücher und Tischtücher. Ich und meine Gattin besitzen die Sachen noch bis auf den heutigen Tag und haben die Wäsche sehr selten gebraucht. Wir bewahren sie als ein Denkmal auf, daß der arme Pfarrer diese Dinge aus einem tiefen, dauernden und zarten Gefühle behalten und nie benutzt hat. Zuweilen läßt meine Gattin die Linnen durchwaschen und glätten; dann ergötzt sie sich an der unbeschreiblichen Schönheit und Reinheit, und dann werden die zusam-mengelegten Stücke mit den alten ausgebleichten, rotseidenen Bändchen, die noch vorhanden sind, umbunden und wieder in den Schrein gelegt. –
Nun stellt sich die Frage, was die Wirkung von all diesen Dingen gewesen sei.
Die Summe, welche der Pfarrer erspart hatte, und die, welche aus der Verstei-gerung seines Nachlasses gelöst worden war, waren zusammengenommen viel zu klein, als daß eine Schule daraus hätte gegründet werden können. Sie waren zu klein, um nur ein mittleres Haus, wie sie in jener Gegend gebräuchlich sind, zu bauen, geschweige denn ein Schulhaus, mit den Lehrzimmern und den Leh-rerswohnungen, ferner das Gehalt der Lehrer festzustellen und den früheren Lehrer zu entschädigen.
Es lag das in der Natur des Pfarrers, der die Weltdinge nicht verstand und dre-imal beraubt werden mußte, bis er das ersparte Geld auf Zinsen anlegte.
Aber wie das Böse stets in sich selber zwecklos ist und im Weltplane keine Wirkung hat, das Gute aber Früchte trägt, wenn es auch mit mangelhaften Mit-teln begonnen wird, so war es auch hier: »Gott bedurfte zur Krönung dieses Werkes des Pfarrers nicht.« Als die Sache mit dem Testamente und dessen Un-zulänglichkeit bekannt wurde, traten gleich die Wohlhabenden und Reichen in dem Umkreise zusammen und unterschrieben in kurzem eine Summe, die hinlänglich schien, alle Absichten des Pfarrers vollziehen zu können. Und sollte noch etwas nötig sein, so erklärte jeder, daß er eine Nachzahlung leisten würde. Ich habe auch mein Scherflein dazu beigetragen.
War ich das erstemal mit Wehmut von der Gegend geschieden, so flossen jetzt Tränen aus meinen Augen, als ich die einsamen Steine verließ. –
Jetzt, da ich rede, steht die Schule längst in den Steinhäusern und Karhäusern; sie steht in der Mitte der Schulkinder auf einem gesunden und luftigen Platze. Der Lehrer wohnt mit seiner Familie und dem Gehilfen in dem Gebäude; der Lehrer im Kar erhält seine jährliche Entschädigung, und selbst Sabine ist noch mit einem Teile bedacht worden. Sie wollte ihn aber nicht und bestimmte ihn im vorhinein für die Tochter des Schullehrers, die sie immer lieb hatte.
Das einzige Kreuz, das für einen Pfarrer in dem Kirchhofe des Kar steht, steht auf dem Hügel des Gründers dieser Dinge. Es mag manchmal ein Gebet dabei verrichtet werden, und mancher wird mit einem Gefühle davor stehen, das dem Pfarrer nicht gewidmet worden ist, da er noch lebte.