DER RIESE WENZEL
Alfred Döblin
Hinter Jüterbog lag der junge Riese Wenzel auf dem Bauch und schlief. Als der Morgentau fiel, träumte Wenzel, er tauche mit dem Kopf in einen Pfuhl und eine Padde scharwänzele dicht unter seinem Gesicht. Drehte sich um, rieb sich die Nase mit einer Hand ausgerupfter Erde, wurde im Niesen wach. Quarig richtete er sich auf. Es regnete vom grauen Himmel in das Tal herunter. Er meckerte, arbeitete mit Borke an seinen schmierigen Fingern. Ein altes Strohdach hing ihm mit einem Bindfaden von der Schulter, auf dem spitzen Kopf saß ihm gestülpt ein Blechkessel mit Beulen und Löchern. Sein plattes langes Gesicht grün von dem zerpreßten Gras. Er sabberte in seinen Bart. Ein alter Gänsetreiber lahmte an mit einem Eimer Stutenmilch. Als Wenzel den Eimer glucksend absetzte, quetschte er versehentlich einem Gänschen den Hals; da weinte er: „Heut ist ein unglücklicher Tag.“ Suchte seine Beine zusammen, um aufzustehen; eins lag in der Tannenschonung des Jochen Dietrich, das ande-re war dicht an die Chaussee nach Jüterbog gerutscht. Der Gänsetreiber flüchte-te um die Ecke. Wenzel latschte fort, schrammte mit jeder Ferse eine Furche in den Acker.
Bei Kräknitz dampfte eine Wolke um den Berg, zwei Riesen qualmten Buchenblätter aus ihren Pfeifen. Wenzel schwenkte von weitem die Arme: „Ich halts nicht mehr aus.“ Brüllte, wie er hinaufkletterte: „Ich will in die Stadt gehen.“
„Hast keine Milch gekriegt?“
„Trink keine Milch, will Besseres saufen. Hab genug von Jüterbog.“
Sie lachten so grob, daß den Bauern die Erbsen von den Tischen hopsten und einer zum andern sagte: „Wir wollen Hasenpfeffer auf die Wege streuen, daß die Riesen gute Laune haben.“
Die drei stalpten herunter nach Luckenwalde auf ein verlassenes Schie-nengleis. Neben dem Rangierbahnhof saß ein Alter, dem die Augen schon er-loschen waren; er hatte sich Igel in die Augenhöhlen gesetzt, die für ihn sehen mußten. Einen zerrissenen Teppich hatte er um und fror sehr in dem Regen. „Gebt mir eine Pfeife,“ dröhnte er, als er den Qualm schnubberte.
„Wenzel will in die Stadt,“ grunzte einer.
Der alte Kilian schmauchte: „Was willst du in der Stadt?“
„Will tanzen, will mich amüsieren.“
Seufzte Kilian: „Oh weh.“ Seine Nase, über die Hirschkäfer krochen, fing an zu zittern; sie war dürr und blaublaß wie ein Spargel.
Plärrend drohte Wenzel mit den Fäusten und trampelte: „Will in die Stadt, in die Stadt!“
„Hornvieh,“ schrie der Alte, schwang die Pfeife, „dumme Kröte. Werden dir die Lumpen abreißen, dich ins Wasser schmeißen, daß du versaufst.“
„Die mir was tun in der Stadt?“ Wenzel kicherte, wie wenn eine Fliege am Fenster brummt. „Die sind ja so sanft, so fein, so gut. Sind nicht wie Bauern. Nehmen den Hut ab, machen Knix und noch Knix: ‚Lieber Wenzel, liebes Wenzelchen, guten Tag, wie gehts?‘ Kenne sie schon, hab gesehen, wenn sie vorbeigefahren sind im Zug. Haben samtene Kleider, essen Marmelade und ge-ben mir davon, soviel ich will. Und dann sage ich: ‚Ich komm ja schon, ich komm ja schon. Da bin ich.‘“
Den beiden jüngeren Riesen kollerte ein dumpfes Lachen aus dem Bauch, dem uralten Kilian aber tropfte das Wasser über die geriefte Lippe; er fütterte sein linkes Auge mit einem Regenwurm, denn der Igel stach ihn. Er prustete, mit der Hacke wühlte er voll Wut ein Loch in die Erde, daß eine Schiene hera-ussprang: „In den Paddenpfuhl werden sie dich schmeißen. Wirst schreien nach uns, daß wir dir helfen.“
„Und dann versauf ich lieber, äh, als daß ich fresse trockene Kastanien in Jüterbog und laß mir die Zehen abfrieren.“
Der Alte holte mit Pfeifenrohr und nassem Teppich aus; die beiden andern klafterten Fuder Sand über Wenzels Buckel.
Der junge Riese Wenzel rannte durch den Regen; eine Tanne riß er hoch und soff im Zorn ihr Harz; eine andere nahm er als Spazierstock. Er lief auf Berlin zu. Seine Mutter scharrte mit einem Fischnetz hinter ihm durch die Hei-de, sechs Krebse zog sie heraus; klammerte seinen Strohmantel fest und das rote Bettlaken, das ihm um die Beine flog; ach Wenzel sollte nicht frieren.
Er keuchte bei Tempelhof heran, ging gebückt unter den blanken Drähten der Elektrischen, vor denen er sich fürchtete. Grenzenloses Gekreisch um ihn, Wallen von Menschen; Schnarren, Schnattern. Kleine Männer, kleine Frauen stiegen in kleine rollende Wagen; im Husch waren die langen Straßen vor ihm frei. Es stank nach Qualm, bösen Dünsten. Wenzel zog beschämt von Häuser-reihe nach Häuserreihe, drückte eine Scheibe ein, bog sich eine Regenröhre um; guckte hindurch zum Himmel. Über leere Plätze schlurrte er; als er mit krum-men Knien sich über ein Häuschen bückte, auf die Nachbarstraße hinübersah, rief er leise: „Ihr! Nehmt mich mit. In euren Ballsaal.“ Aber die Stimme blieb ihm stecken, als alle davonliefen. „Wo habt ihr eure Marmelade?“
Die Städter, verängstigt, versteckt, merkten, was er für ein Tolpatsch war, als er so verspielt sachte herumflanierte, kamen in Haufen, hetzten: „Den haben wir bald, den kriegen wir schon.“ Wenzel kauerte grade auf dem Königsplatz, lutschte an der Siegessäule, da fing eine Glocke zu läuten an, eine andere bul-lerte, dann viele, alle in der ganzen Stadt, Dröhnen, Brummen. Still legte Wen-zel den Kopf an die Säule, freute sich, was die Berliner für fromme Leute wären. Klingelnd rückte die Feuerwehr durch den Tiergarten, zwanzig Wagen hintereinander, spritzte scharf auf einen Pfiff gegen Wenzels Beine, daß er zögernd davor auswich, erstaunt Straße nach Straße, über einen Platz, über eine Brücke, bis er an ein Fabriktor kam, da riß plötzlich ein eiserner Krahn seinen linken Fuß hoch und eine Dampframme schmetterte einen Keil durch die Ferse. An einer Kette hinkte er schmerzheulend, wo sie ihn führten. Wie ein Bär tanzte er auf dem Neuen Markt; Berliner und Berlinerinnen liefen hinzu und lachten. Er hatte Angst; seinen Strohmantel zerrten sie herunter. Zwei Männer legten eine Leiter an, kitzelten ihn unter der Achsel, hörten nicht auf. Und da er sich fürchtete sie zu zerdrücken, wirbelte er im Kreise herum, knackte vier La-ternen ab, bog sich, streckte sich, lachte und heulte in einem Atem. Wie er etwas Luft schöpfen wollte, saßen zwei graue Katzen auf dem Dach. Er ächzte: „Lauft zu Kilian hin und sagt ihm: das machen sie mit Wenzel in Berlin.“
Die Riesen standen hinter Jüterbog auf dem Floriansberg und horchten, als der Lärm und das Läuten entstand. Einmal sahen sie, wie der junge Wenzel auf das Pflaster hingeledert wurde, dann stiegen sie auf einen Kirchturm, putzten sich die Augen. Schauten nicht lange hin, ihnen wurde angst und bange.
Die Katzen sprangen über Dächer und Böden, sie ließen sich an hohen Schornsteinen herunter, rannten Wette über den Belle-Alliance-Platz, ohne Rast zum Floriansberg.
Mit Kugeln schossen die Städter in Wenzels Fell; da dämmerte dem jungen Riesen, daß die Städter schlecht mit ihm waren. Seine Augen wurden weit und trübe; eine Kälte rieselte von seinen Füßen herauf; er ließ mit sich geschehen.
Der Wind ließ am Abend nach. Von Jüterbog torkelten die drei Riesen her. Ihre Kessel hatten sie vom Kopf genommen, paukten drauf, um Furcht zu erwecken. Die beiden grauen Katzen mit blutig bösen Augen sprangen neben ihnen. Bei Tempelhof, dicht vor Mariendorf, ragte etwas aus dem Sande und bewegte sich. Sie hoben Wenzel an den Schultern hoch; seine Beine steckten tief im Boden, klirrten und klapperten; bis an die Brust war der junge Riese versteinert. Sein Mund lappig und schwer; er stöhnte: „Tut ihnen nichts. Tut ihnen nichts.“ Dann versteinerte er ganz und war tot. Ein Krebs hing noch über seinem Arm, der zappelte, weil er mit der braunen Schere im Stein fest saß. Die Riesen schaufelten mit den Händen ein großes Loch in die Erde, damit der Stein nicht umfiel. Da wackelte die Mutter herzu. Sie stellten sich hin zu dreien, sahen sich auf die Füße: „Wenzel ist König geworden in der Stadt. Geh nicht hin. Die Leute sind böse und schießen. Wenn er eine neue Kutsche hat, holt er dich ab.“ Die Mutter warf ihr blaues Tuch ab, weinte: „Das glaub ich nicht. Dieser Stein, das ist mein Kind.“
Und fallend glitt sie über den Stein und bedeckte ihn als ein schöner, war-mer, grüner Rasen. Und fließend bedeckte sie den Boden und die ganze Umge-bung. Die Riesen zupften sich die Bärte, pflanzten Hanfnessel, Löwenmaul und Bilsenkraut.