DER RITTER BLAUBART
Alfred Döblin
Hinter der dünnen Birkenreihe, welche die Stadt von Norden her umsäumte, zog eine wellige Ebene dem Meer zu, wenig mit niedrigen Kiefern und Strauchwerk besetzt. Kein Weg führte aus dem Durchbruch der Stadt gerade hindurch zum Strand, der kaum zwei Stunden entfernt war; eine Kleinbahn umfuhr die Einöde in weitem Bogen. In vielen Senkungen der Ebene stand der Sumpf, schwarz und steif wie Leim; Ratten und Kröten hausten hier; öfter stieß ein Häher durch die Luft, schlug ein Weichtier an.
Wo sich die Hügelreihe am stärksten erhob, ragten quadratische und unförmige Steinblöcke scharf auf, Reste verwitterter Klippen. Die See hatte sich früher über das Land gestreckt; jetzt lag die Ebene verstört da; Meer und Erde wandten sich von ihr ab.
Diese Fläche war vor Jahren auf eine sonderbare Weise in den Besitz eines Barons Paolo di Selvi gekommen. Er war von einer Weltreise durch den Sund in die See gesteuert, um in der Stadt den Vater seines ersten Bootsmanns zu besuchen, der unter dem Äquator dem Schwarzwasserfieber erlegen war. Er stieg ans Land, sprühend von Laune, träumerisch, eroberungssicher. Breitschultrig ging er mit den leicht gebogenen Beinen des Reiters über die Anlegebretter. Der Wind pfiff scharf an dem Morgen, warf ihm die schiefsitzende Mütze mit einem glatten Schlag ins Wasser, so daß er barhäuptig und lachend unter seinen Leuten stand, die das böse Omen entsetzte. Seine Augen waren schräg gestellt, standen dicht an der Nase, die klein und stumpf war und mit ihrer Wurzel tief einsetzte. Die klaren, hellgrauen Augen stimmten schlecht zu dem Mund von mädchenhafter Weiche, zu der Sanftheit seiner Stirne. Er ritt auf einem schwarzen Hengst hinter einem Maultiergespann den weiten Umweg nach der Stadt. Zwei Truhen schleppte man zu dem alten Mann, den er suchte, eine mit Andenken und allem Nachlaß des Toten, die andere mit japanischer Seide und sibirischem Pelzwerk. Kaum zwei Stunden blieb er in der Stadt. Dann trabte er pfeifend und lachend, seine Mütze schwenkend, allein zurück, unkundig der Gegend, den kurzen Weg durch die Ebene.
Es ist nichts bekannt über die Vorgänge in der Ebene an diesem Mittag. Der Baron muß schon beim Eintritt in die Einöde vom Pferd abgesessen sein und sich zu Fuß durch den Sand und Morast gemacht haben. Beim nächsten Morgengrauen fand man den Vermißten besinnungslos auf der weißen Klippe liegen, lang auf dem Rücken ausgestreckt, über und über mit Lehm bedeckt, als sei er gestürzt und hätte sich um sich gerollt auf einer Flucht, das Gesicht geschwollen wie verbrannt, unter Bläschen glühend. Auch der Ärmel über seiner rechten Hand und die rechte Schulter war versengt. Man lagerte den Ohnmächtigen auf eine Bahre, trug ihn schräg herüber zur Chaussee, wo man ihn auf einem Heuwagen in die Stadt fuhr. Die wunden Flächen heilten. Der Baron sprach nicht; er schien nicht sicher zu wissen, was ihm geschehen war. Nur sahen die Krankenschwestern, daß seine Augen gegen Abend einen entsetzten Ausdruck annahmen, daß er den rechten Arm, die rechte Schulter wie zur Abwehr in die Höhe hob, sich duckte, versteckte, hinsank und trostlos wimmerte.
Als er genesen war, schenkte er die Jacht seinem ersten Steuermann, entließ die Leute und zog in die Stadt.
Zuerst bewohnte er ein Haus im Süden, ganz im Freien. Er pflog mit keinem Menschen Verkehr, viele Singvögel umgaben ihn. Nach einigen Monaten zog er an die Stadtmauer in eine ganz alte Wohnung, die einen Blick auf die dunstige Heide gewährte. Auf der Stadtmauer spazierte nun und saß der unzugängliche völlig veränderte Mann oder ritt auf der Chaussee langsam zum Meer.
Bis er nach Jahresfrist einmal frühmorgens durch die Straßen der Stadt ging, auf dem Marktplatz nach dem Baumeister fragte und diesen dann beauftragte mit kurzen Worten, ihm in der Heide auf der höchsten Anhöhe um die Klippe herum ein Wohnhaus zu bauen. Der Baumeister brauche sich nicht beeilen, sagte er, indem er die Arme verschränkte. Es solle ein Schloß werden, heimlich, weitläufig, mit vielem festlichem Schmuck, denn er wolle in sechs Monaten seine Gemahlin heimführen.
So zogen die Wegebauer in die entsetzliche Heide, stampften von der Chaussee her einen sicheren Weg nach der Klippe. Maurer fuhren lärmend an, planten den Hügel ab, gruben Pfeiler ein. Sie umbauten den Felsen, der sich bis zum ersten Stock des Hauses erhob und frei in die Zimmer ragte. Ein weitgedehntes Gebäude aus grauem Kalkstein richteten sie auf, mit bunten Fenstern, zierlichen Türmen. Mitten in der Einöde erhob sich das Schloß, zum Gelächter der Bauleute, zum Kopfschütteln der Städter.
Knapp einen Monat, nachdem Zimmer und Wände mit Kostbarkeiten gefüllt waren, führte der Baron eine fremde junge Frau in sein Schloß. Sie erschien einmal im Theater der Stadt, die Portugiesin, ein braunes, kindliches Wesen, das nicht vom Arm des Mannes wich. Der lachte wie früher, bezauberte alle. Sie tanzten an dem Abend im Bürgersaal. Der Baron spitzte seinen Mund und pfiff im Tanz. Er strich den braunen Vollbart, zeigte spottend die Brandnarben seiner rechten Hand. Das zweite Mal, daß man von der Portugiesin hörte, war eine Woche später, als ein reitender Bote nachts vom Schloß her jagte, dem Arzt die Tür einschlug, ihn nach der Heide schleppte an die Leiche der jungen Frau. Sie lag mit blaurotem Gesicht im Nachtkleid auf dem dunklen Korridor vor ihrem Zimmer. Neben ihr lag zerbrochen Leuchter und Kerze, mit denen sie gegangen war.
Der Baron folgte der Untersuchung des Arztes mit starren Augen. Keine Miene verzog er, keine Frage beantwortete er. Aus den Worten einer schluchzenden Zofe hörte der Arzt von einem Herzleiden der fremden Frau. Er knöpfte seinen Pelz zu; sie war wohl einer Lungenembolie erlegen.
Nach drei Wochen erschien der Baron wieder in der Stadt. Man lud ihn zu Gesellschaften. Oft und öfter ritt er in die Stadt, er fuhr zur Jagd, beteiligte sich an Rennen, saß abends beim Wein, erzählte versunken von seinen Fahrten und Abenteuern. Lange Zeit sah man ihn schwärmend, träumerisch mit den Soldaten und Seeleuten der Stadt. Er fuhr eines Märztages mit einigen von ihnen wieder in See. Es kam nach einem halben Jahr ein Brief von ihm an bei dem Verwalter seines Schlosses, daß die Wohngemächer grün auszuschlagen und grüne Läufer zu legen seien. Im Damenzimmer sollten Orchideen gesetzt werden.
Er kehrte zurück. Wieder führte er eine junge, fremde Frau auf sein Schloß. Diese hat kein Städter gesehen. Eines Morgens lag sie im schwarzen Reitkleid, den Schleier vor dem stolzen, weißen Gesicht, eine Gerte in der Hand, tot auf dem Hofe des Schlosses.
Im Volk, bei den Schiffern und Vorstadtarbeitern, munkelte man, wenn der finstere Baron im schwarzen Ledermantel vorüberritt. Die Kinder schrien vor ihm auf, schossen mit dem Katapult auf seinen Hengst.
Die Tochter eines Ratsherrn, ein schmächtiges, hellblondes Mädchen, sah ihm vom Fenster nach. Ihr traten Tränen in die taubengrauen Augen, wenn die Männer grimmig von dem schwarzen Ritter sprachen. Sie weinte in ihrem Zimmer um ihn, war eines Tages auf seinem Schloß und wurde seine Frau. Alle angstvollen Beschwörungen der Verwandten konnten dies nicht verhindern.
Scharen von tobenden Menschen aber wälzten sich über den dunklen Weg nach dem Schloß, noch ehe ein Monat verstrichen war, als man die Leiche des süßen Geschöpfes eines Abends an dem Tor des Schlosses nahe dem Weg zur Chaussee fand. Die Polizei umringte das Schloß, nahm den Baron in Haft. Das Gericht verfügte die Ausgrabung der beiden ersten Frauen, die genaue chemische Untersuchung der drei Leichen auf Giftstoffe. Die Analyse war ohne Ergebnis. Der Baron wurde auf freien Fuß gesetzt. Das Volk streckte die Hände nach ihm aus, wollte ihn zerreißen, als er zusammengesunken, den Revolver in der rechten Hand; langsam nach der Heide hinausritt.
Von nun an mied er die Stadt völlig. Hauste allein in der Heide. Nur sein Reichtum hielt die Dienerschaft im Schloß zurück.
Da landete eines Tages eine kleine Jacht vor der Stadt. Ein silbernes Horn blies über die Heide; Miß Ilsebill kutschierte ein Schimmelgespann durch die glatte Chaussee nach der Stadt. In dem Gasthof am Markt logierte sie sich ein.
Fragte den Wirt nach dem Baron Paolo und seinem verrufenen Schloß. Fragte zum zweiten, ob jetzt noch eine Frau bei ihm wäre. Fragte zum dritten, wo sie ihn sehen könne.
Bei den Rennen, morgen in Stirming.
Frühmorgens rüstete man das Gespann. Der Groom stieg auf den Bock. Auf dem Polster schaukelte Miß Ilsebill.
Die schnurgraden Alleen herunter sausten die Automobile. Lenkten in weitem Bogen vor das Portal der Rennbahn. Der Himmel stahlblau. Es wehte sommerliche Luft. Die Menschen drängten auf die Rennbahn, füllten die Tribüne um den weiten, grünen Rasen. Lärm der Stimmen und Gefährte brauste, ein Riesenvogel über die leere Fläche.
Die Miß fuhr zuletzt, kurz vor dem Start, am Sattelplatz vor. Zwei sanfte Schimmel zogen den offenen blauausgeschlagenen Wagen durch den knirschenden Sand. Sie stieg aus, im blauen wallenden Samtkleide, eine weiße Feder wehte in den bloßen Nacken. Glitt durch die hölzerne Sperre auf ihren Platz. Sie hatte eine gelbweiße Haut, ebenmäßige Züge. Ihre tiefschwarzen Augen schlüpften zögernd über die Menschen und Gegenstände, wie ein schleimiger Schneckenleib, ließ eine Spur. Sie saß lächelnd da. Kaute Schokolade.
Baron Paolo lehnte an der Stange. Er sah mit Vergnügen die weißen Pferde antraben, hielt seinen weichen Filzhut zum Schutz über die spähenden Augen. Als die weiße Straußenfeder steil in dem Winde sich aufstellte, ging er die vier Stufen der Treppe hinunter, schob sich seitlich durch die Menge, trat vor Miß Ilsebill. Er hob die hohlen Hände wie ein Araber auf. Beugte seinen Nacken vor ihr. Sie erschrak und lachte.
Calvello hieß der Favorit. Das braune schlankbeinige Tier jagte lässig hinter dem Rudel. Schon waren zwei Runden um, die Entscheidungsstrecke kam. Miß Ilsebill ließ das Silberpapier fallen, stützte das feste Kinn auf die Hand, jauchzte über die gebundene Ruhe des Pferdes. Sie waren dicht am Ziel: da legte sich der blauweiße Jockey dicht an das Ohr des Pferdes, flüsterte: „Calvello, ho, Calvello.“ Das Tier senkte den Kopf, flog in vier Sprüngen hin, siegte. Sie strahlte. Der Lärm der Menge rauschte über sie.
Kaum das Hürdenspringen vorüber war, stand sie auf, lud den schweigenden Mann zu einer Spazierfahrt mit ihr ein. Während sie durch die Wälder im Süden der Stadt fuhren, sagte er, daß er der Baron Paolo di Selvi sei, daß er durch sein Geschick hierher verschlagen sei und drüben in der Heide wohne. Sie erzählte, sie wäre Miß Ilsebill; er hätte auf seinem Heideschloß drei Frauen verloren, und sie trauere über sein Geschick.
Worauf er einen trüben Blick auf sie warf, den grauen Kopf senkte; der Groom aber riß die Schimmel herum; sie fuhren die Chaussee zurück, auf den geraden Weg zur Heide. An der Wendung der Schloßallee verengerte sich der Weg. Paolo nahm dem Kutscher die Leine ab. Die Pferde sträubten sich. Er stieg aus und riß sie vor. Unter Peitschenhieben zogen sie an, sie schnaubten und wollten durchgehen, aber er hielt die Leine straff.
Prunkend stand in der Wüstenei das graue Schloß; über dem Dach des Damenflügels ragte die Spitze einer weißen Klippe. Paolo saß aufrecht im weißen Hut. Eingefallen waren seine braunen Wangen und seine Schläfen, seine schräg gestellten grauen Augen blickten leer, nur sein Mund rund und weich und sehnsüchtig wie immer. In der Dämmerung kamen sie vor sein Haus. Am Portal gab er ihr zum Abschied die Hand. Miß Ilsebill stieg aber aus und bat sich bei ihm zu Gaste auf ein paar Tage. Sie wollte ihn pflegen und mit schöner Musik erheitern. Sie bezog die Zimmer des Damenflügels.
Sie ritten morgens und mittags aus. Ilsebill sang und spielte vor ihm in den Gemächern. Sie trug bunte und nixengrüne Gewänder. In ihren Augen war ein weißes Schimmern, wenn sie auf den Teppichen tanzte. Ihr schwarzes Haar hatte sie in Zöpfen gebunden, die sie mit den blitzenden Zähnen festhielt.
Paolo lag stumpf auf den Polstern, rauchte und hüllte sich in Dampf, später warf er sich auf den Teppich, sah ihr neugierig aus seinen hellen Augen zu, hörte sie summen zu der Guitarre, in die ihre Dienerin griff. Seine Stimme wurde heller, sein Gang rascher.
Und als sie einmal auf dem Balkon standen, brach sie in ein ungefüges Weinen aus. Sie wollte wissen, was mit ihm sei, sie wollte ihm helfen. Er aber nahm ihre beiden gelbweißen heißen Hände, legte sie auf seine Stirn, indem er die Worte eines fremden Gebets flüsterte. Sie hing an seinem Hals, während er entsetzt bebte und lauter sprach und schrie, was sie nicht verstand. Schon war er wieder still und sanft, geleitete Miß Ilsebill in ihr Zimmer.
Und am Abend schlich sie sich, indessen der Baron im Herrenflügel schlief, allein trotzig und finster an die Tür des verschlossenen Zimmers, in das die Klippe hineinragte. Sie rüttelte an dem Holz, stemmte sich seufzend mit der Schulter an; das Schloß hielt fest.
Da nahm sie das goldene Kreuz vom Halse ab, flehte die Mutter Gottes um Hilfe an, fand am Fuße der Tür einen Riegel bloßliegen, schob ihn, den Finger einschlagend, in die Höhe, mit schwerer Mühe, so daß ihr Arm schmerzte.
Lautlos sprang die Tür auf. Miß Ilsebill, die zarte, in ein schwarzes Tuch geschlagen, hob die Kerze. Es war ein schmales, freundliches Gemach, mit zärtlichem Frauentand die Tischchen und Wände bedeckt. Der rohe, zackige Felsen bildete die breite Hinterwand; er schattete sonderbar in dem unsicheren Lichte. In seiner Nische über dem Boden stand das grünbezogene Nachtlager, zu dem zwei Stufen führten. Miß Ilsebill tänzelte freudig über den dicken Teppich, warf ihr Tuch ab, sog den schwachen Blumengeruch ein, zündete zwei Ampeln an und war in dem heimlichsten Zimmer. Grüne japanische Seide hing von der Decke herab. Bilder und Tapeten lächelten ruhevoll und sanft. Die sonderbare Klippe schimmerte wie ein spielerischer, phantastischer Einfall.
Sie legte leise die Tür an, sprang auf das Lager, lag träumend stundenlang, schlüpfte frühmorgens wieder durch die Korridore auf ihr Zimmer, nachdem sie das Licht gelöscht, sorgfältig die schweren Riegel herabgeschoben hatte. „War nichts geschehen, ist mir nichts geschehen,“ seufzte sie glücklich vor sich hin. Glitt nun Nacht für Nacht hinüber in das Felsenzimmer, dort zu schlafen.
Des Tages aber fand Miß Ilsebill kein Ende des Plauderns, Singens und Lockens vor dem versunkenen Manne. Aus ihren tiefschwarzen, schlüpfenden Augen schlug öfter ein greller Blick zu ihm. Und als sie einmal unter den fünf raschelnden Schleiern vor ihm getanzt hatte und er lachend über ihre tollen Sprünge ihre Handgelenke hielt, warf sie ihre Schönheit vor ihm hin und bettelte an seinem Hals: „Ich bin Ihr Eigen, Paolo.“ „Sind Sie das, Miß Ilsebill? Sind Sie das?“ Und sein Blick war nicht grell und heiß, sondern derart schwermutsvoll, fragend und ohne Trost, daß sie von ihm abwich, die Schleier um sich warf und aus dem Zimmer schlich. Er umgab sie aber mit so viel stiller Ehrfurcht, daß er die blaßwangige Ilsebill ganz in staunendes Glück versenkte.
Auf ihren Streifzügen durch die Wälder trug der schwarze Ritter sie oft auf den Armen und betete, manchmal in die starken Knie sinkend, in fremder, harter Sprache. Sie hob nie die Lippen zu seinem Munde, nur selten nahm er ihre gelbweißen Hände und preßte sie an seine Stirn.
Welche Kleider trug Ilsebill mit feinen Knöcheln? Wieviel Zöpfe hingen aus ihrem blauschwarzen Haar? Grüne Kleider, wie die Seide in dem Felsenzimmer trug Miß Ilsebill. Grüne Blätter lagen auf ihrem Haare und waren eingeflochten in drei dichten Zöpfen.
Miß Ilsebill und Paolo spielten und jagten zusammen, sie saßen oft am Meere, sie träumten zu zweit. Paolos Augen sprühten.
Eines Mittags sagte sie ihm, daß sie ihn um etwas bitten möchte. Und als Paolo freundlich fragte, biß sie sich auf die Unterlippe und meinte, daß sie ihm etwas sagen müsse. Ob es nicht zweckmäßig wäre, wenn sie einen Arzt kommen ließen aus der Stadt; sie glaube, sie sei etwas krank. Paolos Lippen wurden schneeweiß, er atmete schwer mit geschlossenen Augen: was ihr denn fehle. Sie höre immer, fast immer ein leises Scharren. Es sei ein Geräusch, ganz weit entfernt, ein gleichmäßiges Streifen, Rieseln und Scharren. Als liefe ein Tier über Sand und bliebe immer wieder schnaufend stehen. Es sei so fein, daß es wie ein Pfeifen klinge.
Er stand am Fenster und blies gegen die Scheibe. Fuhr mit rauher Stimme heraus, es sei kein Arzt not bei solcher Krankheit; sie müsse sich zerstreuen; sie müsse jagen, reisen; am besten, sie ginge fort von hier. Da lachte Miß Ilsebill aus vollem Halse und sagte, ihre beiden Pferde seien nur schwer den Weg hierher gelaufen, und jetzt: wo fände sie Pferde, die sie zurücktragen würden ohne ihn. Der untersetzte Mann hatte sich umgedreht, seine Stirn lag in Falten, sein mageres Gesicht glühte, er klagte heiser: sie solle gehen, sie solle gehen, sie solle gehen, er wolle sie doch nicht. Er wolle kein Weib und keinen Menschen und nichts. Er hasse sie alle, die höhnischen, sinnlosen Wesen. Sie solle gehen, oh sie solle gehen. Ein Messer wolle er ihr gleich geben, damit solle sie sich ihre Krankheit aus dem Herzen schälen.
Wie Miß Ilsebill mit schaukelnden Hüften auf ihn zuging, kam er auf sie gewankt, taumelnd wie ein Kind, sah sie an derart schwermutsvoll und ohne Trost, daß sie sein Haar streichelte und in fesselloses Schluchzen ausbrach, als er an ihrer Brust zitterte. Sie stellte keine Frage an ihn; sie nahm heimlich einen Dolch von der Wand, versteckte ihn unter ihrem Kleid.
Miß Ilsebill ging nun in ihrem dünnen Kleid oft allein aus. Sie streifte bis an die Stadtmauer, brachte Paolo seltene Muscheln, blaue Steine mit, auch streng duftende Narzissen, die er liebte. Und auf einem Wege sprach sie in der Vorstadt einen alten Bauern, der erzählte, der Baron habe sich mit Leib und Seele einem bösen Untier verkauft. Er schüttelte den Kopf, als sie sagte, sie wohne in dem Schloß. Ob sie denn nicht wisse. Das mit dem Schloß, mit der Einöde, mit dem Felsen, dem Sumpf.
Was denn damit sei.
Habe sie nicht auch schon das Scharren und Kratzen gehört.
Kratzen? Kratzen nicht. Aber was sei damit.
„Ja, da liegt ein Untier, ein Drache. Das liegt da auf dem alten Meeresgrund. Das alte Meer hat es nicht mit fortgeschwennnt. Ein Unglück ist es, eine Gefahr für die Menschen, die heute leben. Es braucht Menschen.“
„Nein, lieber Bauer.“
„Nein, Miß Ilsebill. Warum sagt Ihr nein? Habt Ihr die Portugiesin gekannt und dann die andere und dann die von unserem Ratsherrn. Das waren drei Menschen. Drei, von denen wir wissen. Es sind viel mehr.“
„Und jetzt wird es mich holen.“
„Wer weiß, Miß Ilsebill. Wen der Drache anfällt, der muß ein gerade gewachsener Mensch sein. Ich kenne Euch nicht. Laßt Euch nicht in Versuchung führen. Die Heide ist ein Unglück. Man muß stark im Glauben sein. Und frei von den bösen Gelüsten. Ein schweres Ding. Den Ritter hat der Drache fast zerrissen, die Frauen hat er getötet.“
„Lieber Bauer, was sucht der Ritter Paolo in der Heide?“
„Er findet nicht aus noch ein. Die Heide ist ein Unglück. Er sollte wegziehen. Er kann nicht gesund werden. Und Hilfe gibt es nicht.“
Sie hörte es mit Glück, denn sie wußte es schon lange. Sie spielte auf ihrem Zimmer mit Eidechsen, die sie fing. Als Paolo sie einmal unter Lächeln klagen hörte, sie suche im Grunde nur nach dem Tier, das so laut scharre und murre und raschele, meinte er, nach einem langen, schüttelnden Gelächter, er wolle einen Dichter einladen, den er kenne in der Stadt. Der solle sie mit Märchen und seltsamen Geschichten unterhalten. Es sei ein seelenkundiger Mann.
Am nächsten Mittag spazierte über den breiten Hauptweg der Dichter auf das Schloß. Sie saßen zu dritt bei Tisch. Dann lud Paolo ihn ein, den Arzt zu spielen bei Miß Ilsebill und ihre Schwermut zu beheben. Denn es scheine ihm eine Art Schwermut zu sein, was in ihr scharre und raschele und sie zu verschlingen drohe.
Der Dichter sprach mit ihr auf ihrem Balkonzimmer. Es war ein schlanker junger Mann mit langen Armen und mit freien Bewegungen. Er fuhr über sie mit herrscherischen Blicken. Sie lachten zusammen, über ihre Bilder gebückt. Er bat sie, sie möchte tanzen, als schon die Lust dazu in der Wilden erwacht war. Sie tanzten zusammen unter Ilsebills letztem Schleier, und die Entfesselte sprang mit ihm auf den Balkon und lachte mit einmal über das Schloß und den Sumpf und die scharrenden Tiere.
Sie krümmte sich über das Eisengitter, schrie ihr Gelächter über die dämmrige Heide hin.
Wahnsinnig, ja wahnsinnig wäre sie selbst. Wahnsinnig und eine Leiche sei sie, hier geworden. Eine Leiche bei lebendigem Leibe. Mögen alle vorsintflutlichen Drachen ausbrechen und Paolos Glück morden. Sie kenne nur ein Tier, das ausbrechen wolle, und das sei sie selber.
Sie streckte ihre runden Arme über sich, rief das Meer an. Sie wolle wieder fort. Sie wolle reisen und wandern und wolle immer lieben und immer küssen. Und eh die Dunkelheit einbrach, ging der Dichter. Trällernd riß sie ein grünes Blatt aus ihrem Haar und steckte es zwischen seine Lippen.
Kaum war es finster im Schloß geworden, da warf sich Miß Ilsebill ihr schwarzes Tuch um, nahm noch mit glühenden Wangen eine Kerze in die Hand und belud ihren linken Arm mit zwei Scheiten Holz. Sie wollte zum Schluß die Felsenkammer in Brand stecken und dann in Nacht und Nebel verschwinden. Auf dem Meere wartete schon die Jacht, die der Dichter zur Flucht besorgt hatte.
Den dunklen Gang keuchte sie hin. Aus dem Dunklen, ihr entgegen, kamen Schritte. Die Scheite ließ sie über die Knie leise zu Boden gleiten. Es war Paolo. Der sie nicht fragte, ihre Kerze sachte an den Boden stellte, sie zärtlich, ohne zu sprechen, streichelte über Haar und Hände. Die schwarzen Augen Miß Ilsebills schlüpften nicht fort von seinen, die in ihr suchten, voll Teilnahme blickten und einen erschreckenden Trost spendeten, schlüpften nicht ab von der ruhigen Aufgeschlossenheit seines heiteren Gesichts. Seine schräggestellten Augen strahlten über sie gar eine Dankbarkeit, sein Mund näherte sich zum ersten Male ihren Lippen und küßte sie. Er sagte, sich von ihr lösend, er ginge noch heute in die Stadt.
Sie kauerte auf dem Gang, die Kerze war erloschen, sie war verwandelt, eine unbezwingliche Angst schüttelte ihre Schultern. Sie hielt das Kreuz in beiden Händen hoch. Sie richtete sich auf. Die Scheite ließ sie liegen. Sie mußte über den Gang. Sie mußte nach der Tür. Sie mußte in die Kammer. Hart war ihr Gesicht, dann verzerrte es sich hilflos. Hinter dem Kreuz schleppte sich Miß Ilsebill, weinend und kasteiend. Den Riegel schob sie hoch. In der Kammer ging sie händeringend auf und ab, schlug sich die Brust, schlummerte auf dem weichen Teppich ein.
Im Traume hörte sie ein Scharren und Krachen, lautes Rufen einer Männerstimme: „Ilsebill, rette dich; rette dich, Ilsebill, Ilsebill!“ Richtete sich auf.
Kam aus dem Felsen eine blasende Flamme, ein brennender Mund her. Der Felsen sprang auseinander, aus der Höhle strömte das Wasser, wälzte sich ein grauenhaftes Meeresungeheuer, eine Meduse mit zahllosen ringelnden Fängen; aus dem Leib schlug eine zitternde, blaurote Flamme wie der Atem. Miß Ilsebill stürzte nach der Tür; die fand sie nicht; da schrie sie gell und wahnsinnig: „Paolo, Paolo.“
Das Untier zischte nach ihr; eine lähmende Süße durchfloß sie; sie schlug in Todesangst gegen die Wand. Ein blanker Spieß hing da, sie riß ihn herunter, schleuderte ihn blind in die Flamme hinein. Halbumfallend fand sie die Tür, lief, schreiend, mit den versengten Händen um sich schlagend, über die stummen Gänge. Blieb vor ihrer Zimmertür liegen.
Bis an den grauen Morgen lag die stolze Miß Ilsebill. Als sie sich aufrichtete, löste sie mit starrer Ruhe ihre Schuhe und Strümpfe ab, band sich die Zöpfe auf, ging barhäuptig, in bloßem, dünnem Röckchen aus dem Hause, durch den Torweg nach der Stadt zu über die Heide, bis da, wo die Birken stehen. Sie wandte sich nicht einmal um.
Hinter ihr tobte es. Vom Meere her kam ein Donnern und Bersten. Eine Springflut, eine meilenweite graue Wand durchbrach die Dämme und Deiche, setzte rollend und schäumend über die verwunschene Ebene, bedeckte wieder, was ihr schon einmal gehört hatte, dazu das graue Schloß. Das furchtbare Wasser warf seine Wellen bis dicht an den Berg heran vor der Stadt, auf dem die Birken standen. Ilsebill wanderte auf den Berg.
Und wie sie zwischen den Bäumen ging, stieg der Nebel in den Wald. Aus einem Baume, an dem sie betete und ihr Kreuz aufhing, trat ein feiner, feiner Rauch, der süßer als Flieder duftete. Er legte sich um die wandernde Ilsebill, so daß sie eingehüllt war in die Falten eines weiten, duftenden Mantels. Sie sah keinen Schritt vor sich und keinen Schritt hinter sich. Und als sie merkte, daß der Mantel der Mutter Gottes sie einhüllte, fing sie an zu weinen wie ein zages Mädchen. Rascher und rascher lief sie, aber sie stürzte bei jedem Schritt: „Ich möchte doch leben. Ach, liebe Mutter Gottes, laß mich doch die Blumen noch sehen, laß mich doch die Vöglein sehen. Ach, liebe Mutter Gottes, sei gut zu mir. Ich sehe, du bist gut zu mir, wie ich zu dir bin.“ Ihre Lippen blaßten. Sie wurde dünner und dünner. Seufzend löste sie sich auf. Verschwand in dem feinen Nebel, der über die Birken zog.
Schon hob sich die Sonne über dem Wasser, da trabte langsam ein schwarzer Hengst mit einem Reiter durch den Mauerdurchbruch von der Stadt her. Der Reiter ritt über den Berg, und wie er auf der Höhe stand, schäumte meilenweit vor ihm das graue tobende Wasser und kein Weg und kein Schloß. Er stieg ab, band das Pferd an einen Stamm, ging zwischen den Birken. Ein winziges goldenes Kreuz hing an einem Baum; um den ging ein süßer Geruch herum. Er zog den weichen Hut, kniete nieder und legte die Stirn an die Rinde: „Große Angst hast du uns beschert, holde Mutter Gottes; große Liebe hast du uns beschert, du holde Mutter Gottes.“
Die Städter sahen noch einmal den schwarzen Reiter an diesem Tage des Dammbruches durch die Stadt jagen. Dann hörte man nach vielen Jahren wieder von ihm, als die Kämpfe in Mittelamerika tobten. Als Führer einer Freischar gegen die heidnischen Indianer fiel er damals mit seiner ganzen Mannschaft bei einem heimtückischen Angriff.