VERWIRRUNG DER GEISTER

Anton Tschechow

Übersetzt von Alexander Eliasberg

Die Erde stellte eine Hölle dar. Die Nachmittagssonne brannte mit solchem Eifer, daß selbst das Thermometer, das im Amtszimmer des Akzisebeamten hing, ganz ratlos wurde: es stieg bis 35,8 Grad Reaumur und blieb unentschlossen stehen …. Von den Bürgern troff der Schweiß wie von müdegehetzten Pferden; sie ließen ihn ruhig eintrocknen, denn sie waren zu faul, um ihn abzuwischen.

Ueber den großen Marktplatz, längs der Häuserreihe mit den hermetisch verschlossenen Fensterläden, gingen zwei Bürger: der Rentmeister Potscheschichin und der Rechtskonsulent (und jahrelanger Berichterstatter der Zeitung »Sohn des Vaterlandes«) Optimow. Sie gingen nebeneinander und schwiegen infolge der großen Hitze. Optimow hatte wohl Lust, Kritik am Magistrat wegen des Staubes und Schmutzes auf dem Marktplatze zu üben, da er aber den friedlichen Charakter und die gemäßigte Gesinnung seines Weggenossen kannte, zog er es vor, zu schweigen.

Mitten auf dem Marktplatze blieb Potscheschichin plötzlich stehen und blickte zum Himmel hinauf.

»Was schauen Sie denn, Jewpl Serapionytsch?«

»Da sind eben Stare vorbeigeflogen. Ich will mal sehen, wo sie sich hinsetzen werden. Eine ganze Wolke! Wenn man aus einem Gewehr schießen und sie dann auflesen wollte … und wenn man …. Im Garten des Herrn Dompfarrers haben sie sich hingesetzt!«

»Keine Spur, Jewpl Serapionytsch! Nicht beim Herrn Dompfarrer, sondern beim Herrn Diakon Wratoadow. Und wenn man von hier aus schießen wollte, so würde man nichts treffen. So ein Schrotkorn ist ja klein und verliert, ehe es sie erreicht, jede Kraft. Und warum soll man sie auch töten? Der Vogel fügt zwar dem Beerenobst Schaden zu, ist aber immerhin eine Kreatur Gottes. Der Star kann auch beispielsweise singen …. Warum singt er aber? Um den Schöpfer zu preisen. Alles, was Odem hat, lobt den Herrn. Ach nein, sie haben sich doch beim Dompfarrer hingesetzt!«

Drei alte Wallfahrerinnen mit Säcken auf dem Buckel und in Bastschuhen gingen lautlos an den Sprechenden vorbei. Sie blickten Potscheschichin und Optimow, die aus einem unbegreiflichen Grunde das Haus des Dompfarrers betrachteten, fragend an, verlangsamten die Schritte, blieben nach einer Weile gleichfalls stehen, sahen sich noch einmal nach den beiden Freunden um und begannen gleichfalls das Haus des Dompfarrers anzustarren.

»Ja, Sie haben recht, sie haben sich tatsächlich beim Dompfarrer niedergelassen,« fuhr Optimow fort. »Bei ihm sind eben die Kirschen reif geworden, sie wollen sich wohl an die Kirschen machen.«

Aus dem Dompfarrhause trat nun der Dompfarrer Wosmistischijew in eigener Person in Begleitung des Küsters Jewstingej auf die Straße. Als er sah, daß man sein Haus so aufmerksam betrachtete, und da er nicht verstehen konnte, was die Leute so anzog, blieb auch er stehen und begann mit dem Küster gleichfalls zum Himmel hinaufzublicken, um die Ursache zu ergründen.

»Vater Pajissij geht wohl zu einer heiligen Amtshandlung,« sagte Potscheschichin. »Gott stehe ihm bei!«

Zwischen den Freunden und dem Herrn Dompfarrer gingen die Arbeiter von der Purowschen Fabrik vorbei, die soeben im Flusse gebadet hatten. Als sie den Vater Pajissij, der angestrengt zum Himmel hinaufblickte, und die Wallfahrerinnen, die unbeweglich dastanden und gleichfalls hinaufstarrten, sahen, blieben auch sie stehen und blickten in die gleiche Richtung. Dasselbe taten ein Junge, der einen blinden Bettler führte, und ein Bauer, der ein Fäßchen verdorbener Heringe schleppte, um sie auf dem Marktplatze abzuladen.

»Es ist wohl etwas los,« sagte Potscheschichin. »Vielleicht eine Feuersbrunst? Nein, es ist kein Rauch zu sehen …. He, Kusjma!« schrie er dem Bauern zu, der stehen geblieben war. »Was ist denn los?«

Der Bauer antwortete etwas, aber Potscheschichin und Optimow hörten es nicht. In allen Ladentüren zeigten sich die verschlafenen Kommis. Die Maurer, die das Mehllager des Kaufmanns Fertikulin tünchten, ließen ihre Leitern stehen und gesellten sich zu den Fabrikarbeitern. Der Feuerwehrmann, der auf dem Wachtturme barfuß im Kreise herumging, blieb stehen, sah eine Weile hin und stieg hinunter. Der Wachtturm war auf einmal verwaist. Dies erschien verdächtig.

»Brennt es nicht irgendwo? Stoßen Sie doch nicht so, Sie Schweinekerl!«

»Wo sehen Sie eine Feuersbrunst? Was für eine Feuersbrunst? Meine Herrschaften, gehen Sie auseinander! Ich bitte höflichst!«

»Es brennt wohl innen!«

»Er bittet höflichst und fährt dabei einem mit den Händen ins Gesicht. Fuchteln Sie nicht mit den Händen! Sie sind zwar die Obrigkeit, haben aber doch kein Recht, so mit den Händen herumzufuchteln!«

»Aufs Hühnerauge ist er mir getreten! Der Teufel soll dich überfahren!«

»Wen hat man überfahren? Kinder, da hat man einen Menschen überfahren!«

»Warum dieser Auflauf? Zu welchem Zweck?«

»Einen Menschen hat man überfahren, Euer Wohlgeboren!«

»Wo? Geht auseinander! Meine Herrschaften, ich bitte höflichst darum! Ich bitte dich höflichst, du Klotz!«

»Die Bauern kannst du herumstoßen, aber bessere Leute darfst du nicht anrühren! Untersteh’ dich nicht!«

»Sind es Menschen? Kann man denn diesen Teufeln mit guten Worten beikommen? Ssidorow, ruf mal den Akim Danilytsch her! Schnell! Meine Herrschaften, Sie werden’s ja bereuen! Wenn Akim Danilytsch kommt, werden Sie was erleben! Bist du auch dabei, Parfen? Du blinder, heiliger Greis! Er sieht nichts, muß aber doch dabei sein, wo sich die Leute drängen, und gehorcht auch nicht! Smirnow, schreib mal den Parfen auf!«

»Zu Befehl! Soll ich auch die Purowschen Leute aufschreiben? Dieser da, mit der geschwollenen Backe, ist einer von den Purowschen!«

»Die Purowschen brauchst du einstweilen nicht aufzuschreiben …. Purow hat morgen Namenstag!«

Die Stare erhoben sich als dunkle Wolke über dem Garten des Herrn Dompfarrers, aber Potscheschichin und Optimow sahen nicht mehr hin; sie standen da, starrten in die Höhe und suchten zu begreifen, warum sich so viele Menschen angesammelt hatten und warum sie hinaufschauten. Da erschien, an einem Bissen kauend und sich die Lippen abwischend, Akim Danilytsch. Er drang mitten in die Menge hinein und brüllte:

»Feuerwehrleute, macht euch bereit! Auseinandergehen! Herr Optimow, gehen Sie auseinander, sonst geht es Ihnen schlecht! Statt in Zeitungen Kritiken über anständige Leute zu schreiben, sollten Sie sich lieber selbst angemessener aufführen. Von den Zeitungen lernt man nichts Gutes!«

»Ich bitte Sie, die öffentliche Meinung nicht anzutasten!« fuhr Optimow auf. »Ich bin Literat und kann es nicht dulden, daß man die öffentliche Meinung antastet, obwohl ich Sie auch aus bürgerlichem Pflichtgefühl als einen Vater und Wohltäter verehre!«

»Feuerwehr! Los!«

»Es ist kein Wasser da, Euer Wohlgeboren!«

»Keine Widerrede! Fahrt zum Fluß und holt Wasser! Schnell!«

»Wir können nicht hinfahren, Euer Wohlgeboren. Der Major ist mit den Feuerwehrpferden weggefahren, um seine Tante abzuholen.«

»Auseinandergehen! Zurück, hol’ dich der Teufel! … Das sitzt?! Schreib ihn mal auf, diesen Satan!«

»Ich hab den Bleistift verloren, Euer Wohlgeboren!«

Die Menge wuchs immer an …. Gott weiß, zu welchen Dimensionen sie noch angewachsen wäre, wenn es dem Gastwirt Grjeschkin nicht eingefallen wäre, in diesem Augenblick das aus Moskau verschriebene neue Orchestrion zu probieren. Als die Leute das »Schützenlied« hörten, stöhnten sie vor Entzücken auf und stürzten zum Gasthaus. So erfuhr kein Mensch, warum sich die Menge angesammelt hatte, und auch Optimow und Potscheschichin hatten schon die Stare, die wahren Schuldigen, ganz vergessen. Nach einer Stunde war die Stadt schon wieder still und unbeweglich, und man sah nur einen einzigen Menschen: den Feuerwehrmann, der auf dem Wachtturme herumging.

Am Abend des gleichen Tages saß Akim Danilytsch im Kolonialwarengeschäft Fertikulins, trank Brauselimonade mit Kognak und schrieb: »Dem offiziellen Bericht erlaube ich mir meinerseits einen Nachtrag beizufügen. Euer Hochwohlgeboren, Vater und Wohltäter! Nur dank den Gebeten Ihrer tugendhaften Frau Gemahlin, die sich in der wohlduftenden Sommerfrische in der Nähe unserer Stadt aufhält, ist es nicht zum Aeußersten gekommen! Was ich an diesem einen Tag ausstehen mußte, kann ich gar nicht schildern. Für die administrative Tüchtigkeit Kruschenskijs und des Feuerwehrmajors Portupejew finde ich keine gebührende Bezeichnung. Ich bin stolz auf diese würdigen Diener des Vaterlandes! Ich aber tat alles, was ein schwacher Mensch, der seinen Nächsten nur Gutes will, überhaupt zu tun vermag. Und während ich jetzt am eignen Herde sitze, danke ich unter Tränen dem, der uns vor einem Blutvergießen bewahrt hat. Die Schuldigen sitzen wegen mangelnder Beweise einstweilen hinter Schloß und Riegel, doch ich habe die Absicht, sie nach etwa acht Tagen herauszulassen. Nur aus Unwissenheit haben sie das Gebot übertreten!«