Zweites Kapitel
Muß fürs ganze Leben genommen werden
So war denn mein Plan in jeder Beziehung erfolgreich. Das Leben, das wir nach unserer Wiedervereinigung führten, war schöner als alles, was wir erwartet hatten. Freude und Zufriedenheit gingen mit uns, wenn die Räder der beiden Wagen sich drehten, und sie machten mit uns halt, wenn die beiden Wagen haltmachten. Ich war so stolz wie ein Mops, dem man für eine Abendgesellschaft den Maulkorb geschwärzt und den Schwanz mit einer Maschine gekräuselt hat.
Aber ich hatte etwas bei meiner Rechnung übersehen. Nun, was hatte ich übersehen? Um euch beim Raten zu helfen, will ich sagen, eine Größe. Also los. Ratet und ratet richtig. Null? Nein. Neun? Nein. Acht? Nein. Sieben? Nein. Sechs? Nein. Fünf? Nein. Vier? Nein. Drei? Nein. Zwei? Nein. Eins? Nein. Nun will ich euch mal sagen, was ich mit euch machen werde. Ich will so viel mitteilen, daß es eine ganz andere Art von Größe ist. Also? Dann muß es eine sterbliche Größe sein, sagt ihr. Nein, es ist keine sterbliche Größe. Auf diese Weise werdet ihr in die Enge getrieben, und ihr könnt nicht anders, als auf eine unsterbliche Größe zu tippen. Da seid ihr auf der richtigen Spur. Warum habt ihr das nicht gleich gesagt?
Ja. Es war eine unsterbliche Größe, die ich bei meiner Rechnung gänzlich übersehen hatte. Es war kein Mann und keine Frau, sondern ein Kind. Ein Knabe oder ein Mädchen? Ein Knabe. Der Knabe mit Pfeil und Bogen. Jetzt habt ihr es erraten.
Wir waren unten in Lancaster und das Geschäft war zwei Abende lang viel besser als durchschnittlich gegangen, obwohl ich die Leute dort, um der Wahrheit die Ehre zu geben, nicht gerade als eine leicht zu gewinnende Zuhörerschaft empfehlen kann. Mims reisender Riese mit Namen Pickleson war zufällig gleichzeitig in der Stadt und versuchte, das Publikum zu blenden. Er hatte sich die vornehme Art zugelegt. Keine Spur von Reisewagen. Durch einen mit grünem Tuch ausgeschlagenen Eingang ging es in ein Auktionslokal hinein zu Pickleson. Gedrucktes Plakat: »Freikarten aufgehoben, mit Ausnahme des stolzen Ruhmes eines freien Landes, der freien Presse. Für Schulen ermäßigter Eintritt nach Vereinbarung. Nichts, um die Jugend erröten zu machen oder selbst die Feinfühligsten zu verletzen.« Mim hinter einer mit rosa Tuch überzogenen Kasse, in der fürchterlichsten Weise über die Schwerfälligkeit des Publikums fluchend. In den Läden Zettel aufgehängt, mit der ernsthaften Versicherung, es wäre so gut wie unmöglich, die Geschichte Davids richtig zu verstehen, wenn man Pickleson nicht gesehen habe.
Ich ging in das fragliche Auktionslokal und fand nichts darin als Echos und modrige Luft, mit einziger Ausnahme Picklesons, der auf einem roten Teppich stand. Das kam mir gerade recht, da ich ein paar vertrauliche Worte mit ihm zu sprechen hatte, und so begann ich:
»Pickleson, da ich Euch ein großes Glück verdanke, habe ich Euch in meinem Testament mit einer Fünfpfundnote bedacht; aber, um die Sache kurz zu machen, hier habt Ihr vier Pfund auf der Stelle, was Euch wohl ebenso lieb ist, und damit wollen wir das Geschäft abmachen.«
Pickleson, der vor dieser Bemerkung das trübselige Aussehen einer langen römischen Kerze gehabt hatte, erhellte sich an seinem oberen Ende und drückte seinen Dank aus in einer Weise, die (für ihn) parlamentarische Beredsamkeit war. Er fügte noch hinzu, er hätte als Römer nicht mehr gezogen, und Mim hätte ihm deshalb den Vorschlag gemacht, als Indianerriese aufzutreten, der durch »Des Milchmanns Tochter« bekehrt worden wäre. Pickleson aber hatte erklärt, ihm sei das nach dieser jungen Dame benannte Traktätchen vollkommen unbekannt, auch verbiete ihm die ernste Auffassung seines Berufes derartige Scherze, worauf es zu einem Wortwechsel kam, der für den unglücklichen jungen Mann die gänzliche Entziehung des Biers zur Folge hatte. All das wurde während des ganzen Gesprächs durch das wilde Brummen Mims unten an der Kasse bestätigt, und dieser Ton ließ den Riesen wie dürres Laub erbeben.
Derjenige Teil meiner Unterhaltung mit dem reisenden Riesen namens Pickleson, der sich auf mein gegenwärtiges Thema bezog, war folgender:
»Doktor Marigold« – ich wiederhole seine Worte, ohne einen Versuch zu machen, dem Leser einen Begriff von der Schwäche zu geben, mit der sie vorgebracht wurden – »wer ist der Fremde, der sich bei Euren Karren herumtreibt?«
»Der Fremde?« wiederhole ich seine Frage, in der Meinung, daß er sie meint, sich aber in seinem schwachen Zustand im Artikel vergriffen hat.
»Doktor«, sagt er darauf, mit einem rührenden Nachdruck, der selbst einem Mannesauge eine Träne entlockt hätte, »ich bin zwar schwach, aber doch noch nicht so schwach, daß ich nicht wüßte, was ich sage. Ich wiederhole deshalb, Doktor, der Fremde.«
Es stellte sich nun heraus, daß Pickleson, der seine Glieder nur dann strecken durfte, wenn man ihn nicht umsonst sehen konnte (nämlich zu später Nachtzeit und gegen Tagesanbruch), in dieser selben Stadt Lancaster, in der ich mich erst zwei Abende lang aufhielt, diesen selben Fremden zweimal in der Nähe meiner Wagen beobachtet hatte.
Das versetzte mich in Unruhe. Was es im einzelnen zu bedeuten hatte, das ahnte ich ebensowenig, wie ihr es jetzt ahnen könnt, aber es machte mir Sorgen. Trotzdem tat ich Pickleson gegenüber so, als wäre die Sache nicht ernst zu nehmen, und ich verabschiedete mich von ihm mit dem Rat, sein Vermächtnis zur Kräftigung seiner Gesundheit zu verwenden und sich seine Religion nach wie vor nicht nehmen zu lassen. Gegen Morgen hielt ich nach dem Fremden Ausschau, und – was mehr war – ich sah ihn. Er war ein gutgekleideter, hübscher junger Mensch. Er ging ganz nahe bei meinen Wagen hin und her, so als ob er sie bewachte, und kurz nachdem es Tag geworden war, drehte er sich um und ging davon. Ich rief hinter ihm her, aber er fuhr weder zusammen noch drehte er sich um und nahm auch nicht die geringste Notiz davon.
Etwa ein oder zwei Stunden später verließen wir Lancaster, um nach Carlisle zu fahren. Am nächsten Morgen gegen Tagesanbruch hielt ich wieder nach dem fremden jungen Mann Ausschau. Ich bekam ihn nicht zu sehen. Aber am folgenden Morgen paßte ich abermals auf, und diesmal war er wieder da. Ich rief wiederum hinter ihm her, aber, wie das erstemal, gab er nicht das geringste Zeichen, daß er irgendwie betroffen war. Das brachte mich auf einen Gedanken. Ich folgte meinem Einfall und beobachtete ihn in verschiedener Weise und zu verschiedenen Zeiten – die Einzelheiten tun nichts zur Sache –, bis ich herausfand, daß dieser fremde junge Mann taubstumm war.
Diese Entdeckung brachte mich ganz aus dem Häuschen. Ich wußte, daß in einem Teil der Anstalt, wo sie gewesen war, junge Männer untergebracht waren (einige darunter in guten Verhältnissen), und ich dachte mir: »Wenn sie ihn vorzieht, wo bleibe dann ich? Und wo bleibt alles, wofür ich Pläne gemacht und gearbeitet habe?« In der Hoffnung – ich muß gestehen, daß ich so selbstsüchtig war –, daß sie ihn nicht vorzöge, machte ich mich daran, die Wahrheit herauszufinden. Schließlich wurde ich zufällig Zeuge einer Zusammenkunft zwischen ihnen. Es war im Freien, und ich stand hinter einer Fichte verborgen, ohne daß sie von meiner Anwesenheit etwas ahnten. Es war ein rührendes Zusammentreffen für uns alle drei. Ich verstand jede Silbe, die zwischen ihnen gewechselt wurde, ebensogut wie sie selbst. Ich belauschte sie mit meinen Augen, die es gelernt hatten, eine Taubstummenunterhaltung ebenso rasch und sicher aufzufassen, wie meine Ohren gesprochene Worte verstanden. Er war im Begriff, als kaufmännischer Angestellter nach China zu gehen zu einer Firma, wo früher sein Vater beschäftigt gewesen war. Sein Einkommen erlaubte es ihm, eine Frau zu ernähren, und er wollte, daß sie ihn heiraten und mit ihm gehen sollte. Sie sagte hartnäckig nein. Er fragte sie, ob sie ihn nicht liebe. Doch, sie liebe ihn von ganzem Herzen, aber sie könnte niemals ihrem geliebten, guten, edlen, großmütigen und ich weiß nicht was noch alles Vater (damit meinte sie mich, den fahrenden Hausierer in der Ärmelweste) die Enttäuschung bereiten, ihn zu verlassen, und sie wolle bei ihm bleiben, der Himmel segne ihn!, und wenn ihr das Herz darüber bräche. Hier fing sie bitterlich zu weinen an, und damit war mein Entschluß gefaßt.
Solange ich mir über ihre Gefühle zu diesem jungen Mann im unklaren gewesen war, hatte ich eine so unvernünftige Wut auf Pickleson gehabt, daß es gut für ihn war, sein Vermächtnis gleich ausgezahlt gekriegt zu haben. Denn ich hatte oft gedacht: »Wenn dieser schwachköpfige Riese nicht gewesen wäre, so wäre es vielleicht nie dazu gekommen, daß ich mir wegen dieses jungen Mannes den Kopf zerbreche und die Seele aus dem Leib ärgere.« Aber, sobald ich einmal wußte, daß sie ihn liebte – sobald ich gesehen hatte, wie sie Tränen um ihn vergoß – da war es eine ganz andere Sache. Ich bat Pickleson auf der Stelle im Geiste alles ab, und nahm mich zusammen, um allen gegenüber das Rechte zu tun.
Inzwischen hatte sie den jungen Mann verlassen (denn es dauerte einige Minuten, bevor ich mich gänzlich zusammengenommen hatte), und er stand gegen eine andere Fichte gelehnt und hatte das Gesicht auf den Arm gepreßt. Ich berührte ihn am Rücken. Er blickte auf, und als er mich wahrnahm, sagte er in der Taubstummensprache: »Seid nicht böse.«
»Ich bin nicht böse, guter Junge. Ich bin Euer Freund. Kommt mit mir.«
Ich ließ ihn an den Stufen des Bibliothekswagens stehen und ging allein hinauf. Sie wischte sich die Augen.
»Du hast geweint, mein Kind.«
»Ja, Vater.«
»Weshalb?«
»Mir tut der Kopf weh.«
»Nicht das Herz?«
»Ich sagte der Kopf, Vater.«
»Doktor Marigold muß für diesen Kopfschmerz ein Rezept ausstellen.«
Sie nahm das Buch mit meinen »Rezepten« auf und hielt es mit einem gezwungenen Lächeln in die Höhe. Da sie mich aber so ernst und ruhig sah, legte sie es sacht wieder hin, und ihre Augen blickten mich mit größter Aufmerksamkeit an.
»Das Rezept ist nicht da drin, Sophy.«
»Wo ist es denn?«
»Hier, mein Kind.«
Ich führte ihren jungen Gatten herein, und ich legte ihre Hand in die seine, und die einzigen Worte, die ich noch an die beiden richten konnte, lauteten:
»Doktor Marigolds letztes Rezept. Muß fürs ganze Leben genommen werden.«
Darauf lief ich davon.
Zur Hochzeit trug ich zum ersten und letzten Mal in meinem ganzen Leben einen Rock (blau mit Metallknöpfen) und ich gab Sophy mit eigener Hand hinweg. Die Gesellschaft bestand bloß aus uns dreien und dem Gentleman, unter dessen Obhut sie während der vergangenen zwei Jahre gestanden hatte. Das Hochzeitsmahl für vier Personen fand im Bibliothekswagen statt. Taubenpastete, gepökelter Schweinebraten, ein Geflügel, dazu passendes Gemüse und das Schönste und Beste zu trinken. Ich hielt eine Rede, der Gentleman hielt eine Rede, alle unsere Späße hatten Erfolg, und das Ganze nahm seinen Gang wie eine Rakete. Während des Mahles erklärte ich Sophy, daß ich den Bibliothekswagen als meinen Wohnwagen benutzen würde, wenn ich nicht auf der Fahrt wäre, und daß ich alle Bücher für sie, so wie sie standen, aufbewahren würde, bis sie zurückkäme, um sie zu verlangen. So ging sie also mit ihrem jungen Gatten nach China, nachdem wir unter heißen Tränen bitter schweren Abschied genommen hatten; ich verschaffte dem Jungen, den ich hatte, eine andere Stelle, und nun schritt ich wie früher, als mein Kind und mein Weib gestorben waren, mit der Peitsche über der Schulter allein neben dem alten Gaul her.
Sophy schrieb mir viele Briefe, und ich schrieb ihr viele Briefe. Gegen Ende des ersten Jahres erhielt ich einen von ihr, der mit unsicherer Hand geschrieben war:
»Liebster Vater, vor nicht ganz einer Woche wurde mir ein süßes kleines Töchterchen geschenkt, aber ich bin so wohlauf, daß man mir gestattet hat, diese Worte an Euch zu schreiben. Liebster und bester Vater, ich hoffe, mein Kind wird nicht taubstumm sein, aber ich weiß es noch nicht.«
In meiner Antwort bat ich in vorsichtigen Worten um baldige Nachricht darüber; da aber Sophy niemals darauf zurückkam, so merkte ich, daß dies ein schmerzlicher Punkt war, und äußerte die Bitte nicht wieder. Lange Zeit wechselten wir regelmäßig Briefe, aber dann begannen sie unregelmäßig zu werden, denn Sophys Gatte war in eine andere Stelle versetzt worden, und ich war immer unterwegs. Aber wir dachten immer aneinander, dessen war ich sicher, mochten nun Briefe kommen oder nicht.
Fünf Jahre und einige Monate waren es her, seit Sophy die Heimat verlassen hatte. Ich war immer noch der König der fahrenden Händler und meine Beliebtheit beim Publikum war größer denn je. Das Geschäft war im Herbst prachtvoll gegangen, und am dreiundzwanzigsten Dezember des Jahres eintausendachthundertvierundsechzig befand ich mich in Uxbridge in Middlessex mit gänzlich ausverkauftem Karren. So trabte ich froh und leichten Herzens mit dem alten Gaul nach London, um den Weihnachtsabend und Weihnachtstag allein neben dem Kamin in dem Bibliothekswagen zu verbringen. Darauf wollte ich mich vollkommen neu mit allen nötigen Artikeln eindecken, um sie wieder zu verkaufen und das Geld einzustecken.
Ich habe eine geschickte Hand im Kochen, und ich will euch sagen, was ich für mein Mahl am Weihnachtsabend in dem Bibliothekswagen zustande brachte. Es war ein Beefsteak-Pudding mit zwei Nieren, einem Dutzend Austern und ein paar Pfifferlingen als Zugabe. Das ist ein Pudding, um einen Menschen mit allem auf der Welt auszusöhnen, nur mit den beiden untersten Knöpfen an seiner Weste wird er Schwierigkeiten haben. Nachdem ich mich an dem Pudding gütlich getan und den Tisch abgedeckt hatte, schraubte ich die Lampe niedrig und setzte mich an den Kamin, die Augen auf Sophys Bücher gerichtet, die das Feuer mit seinem Schein erhellte.
Sophys Bücher stellten mir so lebhaft Sophy selbst vor die Seele, daß ich ihr rührendes Gesicht ganz deutlich vor mir sah, bevor ich neben dem Feuer einschlummerte. Das mag der Grund dafür sein, daß Sophy mit ihrem taubstummen Kind im Arm während meines ganzen Schläfchens schweigend neben mir zu stehen schien. Ich war auf der Landstraße, neben der Landstraße, an allen möglichen Orten, in Nord und Süd und Ost und West, soweit der Wind im Lande bläst, hier und dort und am anderen Ort, über die Berge und weiter fort, und noch immer stand sie schweigend neben mir mit ihrem schweigenden Kind in den Armen. Erst als ich aus dem Schlaf auffuhr, schien sie zu verschwinden, als hätte sie noch einen einzigen Augenblick zuvor an dieser selben Stelle neben mir gestanden.
Ich war durch ein wirkliches Geräusch geweckt worden, und dieses Geräusch kam von den Karrenstufen. Es war der leichte, rasche Schritt eines Kindes, das hinaufkletterte. Dieser Kinderschritt war mir einst so vertraut gewesen, daß ich einen halben Augenblick lang glaubte, ich würde einen kleinen Geist zu Gesicht bekommen.
Aber wirkliche Kinderhände berührten die äußere Klinke der Tür, die Klinke wurde niedergedrückt, die Tür öffnete sich ein wenig, und ein wirkliches Kind guckte herein. Ein hübsches kleines Mädchen mit großen dunklen Augen.
Die Kleine blickte mich voll an und nahm ihren winzigen Strohhut ab, wobei dichte schwarze Locken um ihr Gesichtchen fielen. Dann öffnete sie ihre Lippen und sagte:
»Großvater!«
»O mein Gott!« rief ich aus. »Sie kann sprechen!«
»Ja, lieber Großvater. Und ich soll dich fragen, ob ich dich an jemand erinnere.«
Im nächsten Augenblick hing Sophy, ebenso wie die Kleine, an meinem Hals, und ihr Gatte preßte mir die Hand, während er sein Gesicht zu verbergen suchte, und wir mußten uns alle zusammennehmen, bevor wir uns fassen konnten. Aber als wir allmählich ruhiger wurden und ich sah, wie die hübsche Kleine freudig und rasch und eifrig mit ihrer Mutter sprach in denselben Zeichen, die ich diese zuerst gelehrt hatte, da rollten mir die glücklichen und doch mitleidvollen Tränen über das Gesicht.