Drittes Zirpen.

Charles Dickons

Die Schwarzwälder Uhr in der Ecke schlug zehn, als der Fuhrmann sich wieder an seinem Herde niederließ. So verstört und kummervoll, daß er sogar den Kuckuck zu erschrecken schien, der, nachdem er seine zehn melodischen Ankündigungen so kurz wie möglich geschlagen, rasch in den maurischen Palast zurückstürzte und seine kleine Tür hinter sich zuschloß, als könne er es nicht ertragen, dies ungewohnte Schauspiel länger mit anzusehen.

Wäre der kleine Heumäher mit der schärfsten aller Sensen bewaffnet gewesen und hätte er sie bei jedem Schlage dem Fuhrmann ins Herz gestoßen, er hätte es nimmer so grausam zerreißen und verwunden können, wie Dot getan hatte.

Es war ein Herz so voll Liebe zu ihr, so eng und fest vereinigt mit dem ihren durch unzählige Fäden liebevoller Erinnerungen – gesponnen aus ihren Vorzügen, die ebenso zahlreich wie fesselnd, die darauf zielten, es mit jedem Tage fester zu machen –; es war ein Herz, so einfach und so wahr, so stark im Guten, so schwach im Bösen, daß es anfangs weder Zorn noch Rache hegen konnte und nur noch existierte, um darin das zerbrochene Bild seines Abgottes zu bewahren.

Aber allmählich, wie der Fuhrmann nachdenklich an seinem jetzt kalten und finstern Herde saß, begann ein anderer wilderer Gedanke sich seiner Gedanken zu bemächtigen, wie ein böser Sturmwind sich mitten in der Nacht erhebt. Der Fremde befand sich unter seinem entehrten Dache. Drei Schritte führten ihn an seine Tür. Ein einziger Schlag genügte, sie einzustoßen. »Ihr könntet einen Mord begehen, bevor Ihr daran denkt«, hatte Tackleton gesagt. Wie konnte es ein Mord sein, wenn er dem Elenden Gelegenheit gab, mit ihm Brust an Brust zu ringen! War er nicht jünger?

Es war ein schlimmer Gedanke, doppelt schlimm bei der finstern Stimmung seines Gemüts. Es war ein böser Gedanke, der ihn zu einer Rachetat verleiten wollte, die seine fröhliche Behausung in eine jener berüchtigten Höhlen verwandeln würde, vor der einsame Wanderer in der Nacht vorüberzugehen sich fürchten und wo der Furchtsame durch die zerschlagenen Fenster Schatten sehen will, wenn der Mond sich hinter Wolken versteckt und wo man bei stürmischem Wetter wilde Stimmen hören kann.

Er war jünger! Ja, ja, ein Geliebter, der das Herz gewonnen hatte, das nie für »ihn« geschlagen hatte. Irgendein Geliebter aus früherer Zeit, an den sie gedacht und von dem sie geträumt, nach dem sie geschmachtet und geseufzt hatte, während er sich eingebildet hatte, daß sie an seiner Seite glücklich sei! O welche Herzensangst, nur daran zu denken!

Sie war mit dem Kinde hinaufgegangen, um es zu Bett zu bringen. Während er da brütend am Herde saß, kam sie dicht an seine Seite, ohne daß er sie auch nur bemerkte – in den Folterqualen seines großen Elends hatte er den Sinn für alle anderen Töne verloren – und stellte ihren kleinen Stuhl neben seine Füße. Er bemerkte es erst, als er ihre Hand auf der seinen fühlte und ihre Augen nach seinem Gesicht emporblicken sah.

Mit Erstaunen? Nein. Das war sein erster Eindruck, und er mußte sie noch einmal ansehen, um sich zu überzeugen, daß es wirklich so war. Nein, nicht mit Erstaunen. Mit einem neugierig fragenden Blick; aber nicht mit Erstaunen. Anfangs war dieser Blick unruhig und ernst; dann machte er einem seltsamen, wilden, schrecklichen Lächeln Platz, als ob sie seine Gedanken erraten hätte; dann nichts anderes als ihre über der Stirn gekreuzten Hände und ihr geneigtes Haupt und die herabfallenden Haare.

Wenn John in diesem Augenblick selbst über die Allmacht Gottes hätte verfügen können: er hatte in seiner Brust zu viel von ihrer noch göttlicheren Eigenschaft, der Barmherzigkeit, um auch nur auf Dot das Gewicht einer Feder fallen zu lassen. Aber er konnte es nicht ertragen, sie auf dem kleinen Sitz kauern zu sehen, auf dem er sie so oft mit Stolz und Liebe betrachtet hatte, wie sie so unschuldig und so froh dasaß; und als sie aufstand und sich schluchzend von ihm entfernte, da fühlte er sich erleichtert: der leere Platz an seiner Seite war ihm lieber, als ihre sonst so teure Gegenwart. Dies war sein größter Schmerz, denn es erinnerte ihn daran, wie unglücklich er geworden und wie das große Band, das ihm das Leben wert gemacht hatte, zerrissen war.

Je mehr er hieran dachte, desto mehr fühlte er, daß er sie lieber frühzeitig tot, mit ihrem Kinde in den Armen vor sich liegen gesehen hätte, und desto heftiger wurde die Wut gegen seinen Feind. Er sah sich nach einer Waffe um.

Da hing eine Flinte an der Wand. Er nahm sie herab und tat einige Schritte auf die Tür des Zimmers zu, in dem sich der verräterische Fremde befand. Er wußte, daß das Gewehr geladen war. Eine unbestimmte Vorstellung, daß er ein Recht habe, diesen Menschen wie ein wildes Tier niederzuschießen, bemächtigte sich seines Geistes und ergriff ihn ganz und gar wie ein furchtbarer Dämon, der keine mildern Regungen aufkommen ließ und seine unbeschränkte Herrschaft geltend zu machen begann.

Nein, das wollte ich nicht sagen. Diese Vorstellung verbannte nicht alle milderen Gedanken aus seinem Herzen: sie verwandelte sie mit teuflischer Kunst, verwandelte sie in Nadeln, um ihn aufzuhetzen; wandelte Wasser in Blut, Liebe in Haß, Milde in blinde Raserei. Ihr Bild, trauernd, gedemütigt, aber immer noch mit unwiderstehlicher Macht an seine Zärtlichkeit und Barmherzigkeit appellierend, kam ihm nie aus der Seele; aber die Erinnerung schon an dieses Bild genügte, um ihn an die Tür zu treiben, die Waffe an seine Schulter zu heben, seine Finger an den Hahn zu legen und ihm zuzurufen: Töte ihn! In seinem Bette!

Er kehrte das Gewehr um, die Tür mit dem Kolben einzuschlagen; schon schwang er es hoch in der Luft; er fühlte, wie es ihm auf den Lippen lag, dem da drinnen zuzurufen: Fliehe, um Gottes willen, fliehe, durch das Fenster!

Da plötzlich glimmte das erlöschende Feuer auf, erhellte den ganzen Kamin mit einem Lichtschein, und das Heimchen am Herde begann zu zirpen!

Kein Ton, den er hätte hören können, keine menschliche Stimme, nicht einmal die ihre, würde ihn so bewegt, erschüttert und beruhigt haben. Die kunstlosen Worte, mit denen sie ihm von ihrer Liebe zu diesem Heimchen gesprochen hatte, hört er noch ganz frisch in den Ohren; er sah sie wieder vor sich mit ihrem ernsten Wesen, ihrer lieblichen Stimme – o welch eine Stimme es war, so ganz dazu angetan, mit ihrer traulichen Musik einen ehrlichen Mann am häuslichen Herde zu erfreuen! – Das alles durchbebte bis ins Innerste seine bessere Natur und wurde zu Leben und Bewegung.

Er wich von der Tür zurück wie ein Schlafwandler, der aus einem schrecklichen Traum aufwacht. Er stellte das Gewehr weg; dann bedeckte er das Gesicht mit den Händen, setzte sich wieder ans Feuer und erleichterte sein Gemüt in Tränen.

Das Heimchen am Herde kam hinein ins Zimmer und stand in Feengestalt vor ihm.

»Ich liebe es!« sang die Feenstimme, die Worte wiederholend, deren es sich so wohl erinnerte; »ich liebe es, weil ich es so oft gehört, und wegen der vielen guten Gedanken, die seine unschuldige Musik in mir angeregt hat.«

»So sagte sie!« rief der Fuhrmann. »Und es ist wahr!«

»Es ist ein glückliches Daheim für mich gewesen, John; und darum liebe ich das Heimchen!«

»Ja, das ist es gewesen, Gott weiß es«, versetzte der Fuhrmann. »Sie hat dieses Haus glücklich gemacht, immer . . . . bis heute.«

»So lieblich, so sanft, so häuslich, vergnügt, geschäftig und leichtherzig!« sang die Stimme.

»Sonst hätte ich sie nie so lieben können, wie ich sie liebte!« erwiderte der Fuhrmann.

»Sage doch vielmehr: wie ich sie liebe!« verbesserte die Stimme.

»Wie ich sie liebte!« wiederholte der Fuhrmann. Aber nicht in festem Tone. Seine etwas unsichere Zunge widerstand seinem Willen und redete in ihrer eigenen Weise, für sich selbst und für ihn.

Die Erscheinung erhob feierlich die Hand und sagte:

»An deinem Herde . . . . .«

»Den sie geschändet hat«, unterbrach der Fuhrmann.

»Den sie – und wie oft! – gesegnet und erhellt hat«, sagte das Heimchen, »an dem Herde, der sonst nur Kalk und Ziegelsteine und rostige Eisenstangen war, der aber durch sie dein Hausaltar geworden, – der Altar, auf den du jeden Abend irgendeine kleine Leidenschaft, irgendeine Selbstsucht oder Sorge gelegt hast, um darauf das Opfer eines ruhigen Herzens, einer vertrauenden Seele und eines überströmenden Gemüts darzubringen, so daß der Rauch mit einem lieblicheren Duft als der kostbarste Weihrauch, vor dem kostbarsten Schrein in den herrlichsten Tempeln der Welt verbrannt, von deinem armseligen Kamin emporstieg! . . . Bei deinem Herde, bei deinem friedlichen Heiligtum, umgeben von allen schönen Einflüssen und Erinnerungen: Höre sie! Höre mich! Höre alles, was die Sprache deines häuslichen Herdes redet!«

»Und zu ihren Gunsten spricht?« fragte der Fuhrmann.

»Alles, was die Sprache deines häuslichen Herdes redet, kann garnicht anders als zu ihren Gunsten sprechen!« versetzte das Heimchen. »Denn diese Sprache kann nicht lügen.«

Und während der Fuhrmann, der den Kopf auf die Hände sinken ließ, auf seinem Stuhl zu träumen fortfuhr, stand ihr Bild neben ihm, gab ihm seine Gedanken durch seine übernatürliche Macht ein und stellte sie wieder in einem Spiegel oder in einem Gemälde vor ihn hin.

Die Erscheinung blieb nicht allein. Aus der Herdplatte, dem Kamin, der Uhr, der Pfeife, dem Kessel, der Wiege; aus dem Fußboden, den Wänden, der Decke und der Treppe; aus dem Wagen draußen und dem Schrank drinnen, aus den Haushaltsgegenständen, aus jedem Ding und jeder Stelle, mit dem Dot zu tun gehabt hatte und woran sich eine Erinnerung an sie in dem Geiste ihres unglücklichen Mannes knüpfte, kamen in ganzen Scharen Feen hervor. Nicht, um wie das Heimchen unbeweglich neben ihm zu bleiben, sondern um sich zu rühren und sich zu beschäftigen; um ihrem Bilde alle Ehre zu erweisen, ihn an den Rockschößen zu zerren und ihm zu zeigen, wie sie erschienen; um sich um sie herumzustellen, sie in ihre Arme zu nehmen und Blumen auf ihren Weg zu streuen. Um zu versuchen, ihr schönes Haupt mit ihren zarten Händen zu bekränzen. Um ihr zu zeigen, wie innig sie sie liebten, und daß es kein einziges, häßliches, boshaftes oder anklagendes Wesen gab, das sich rühmen konnte, sie zu kennen. – Niemand als sie, ihre getreuen Gefährtinnen, kannten sie und ihren Wert!

Seine Gedanken folgten unablässig ihrem Bilde. Es war immer zur Stelle.

Vor dem Feuer sitzend arbeitete sie mit der Nadel und sang vor sich hin. Welch ein heiteres, tätiges und ausdauerndes Geschöpf war diese kleine Dot! Die Feengestalten wandten sich alle zugleich ihr zu, richteten mit einer einzigen Bewegung einen einzigen Blick auf sie und schienen voller Stolz zu sagen:

»Ist das die leichtsinnige Frau, um die du trauerst?«

Da hörte man von draußen die fröhlichen Töne von Musikinstrumenten, lärmenden Stimmen und hellem Lachen. Ein Schwarm junger, lustiger Leute kam plötzlich ins Haus; unter ihnen Mary Fielding mit einigen zwanzig ebenso hübschen jungen Mädchen. Dot war die schönste von allen, und auch so jung wie irgendeine von ihnen. Sie kamen, um sie einzuladen, an ihrem Feste teilzunehmen. Es handelte sich um einen Tanz. Waren je kleine Füße zum Tanzen geschaffen, so sicherlich die ihren. Aber sie lachte, schüttelte den Kopf und zeigte auf das Essen am Feuer und den bereits gedeckten Tisch; mit einer so herausfordernden Miene, daß sie nur noch reizender aussah. Und so verabschiedete sie sie denn ganz vergnügt, ihren Möchte-gern-Tänzern einem nach dem andern zunickend, während sie fortgingen, aber mit einer so komischen Gleichgültigkeit, die sie hätte veranlassen können, sofort hinzugehen und sich vor Verzweiflung ins Wasser zu stürzen, wenn sie zu ihren Bewunderern gehörten – und das waren wohl mehr oder weniger alle, aber das war eben nicht anders möglich. Und doch war von Gleichgültigkeit nichts in ihrem Wesen. O nein, denn in diesem Augenblick kam ein gewisser Fuhrmann und Gott weiß, welch ein Willkomm sie ihm gab!

Wiederum wandten sich die Feengestalten ihm gleichzeitig zu und schienen zu sagen:

»Ist das die Frau, die dich verlassen hat?«

Ein Schatten fiel auf den Spiegel oder das Bild – nennt es, wie ihr wollt. Ein großer Schatten, der Schatten des Fremden, wie er zuerst unter ihrem Dache erschien, bedeckte seine ganze Oberfläche, und löschte alle anderen Gegenstände aus. Aber die gewandten Feen arbeiteten wie Bienen, um ihn wieder wegzuwischen, und da war Dot wieder schön und glänzend wie vorher.

Sie wiegte ihr Kind, sang ihm leise ein Liedchen vor, lehnte das Haupt auf seine Schulter, die ihre Gegenstütze in der sinnenden Gestalt hatte, neben der das Feenheimchen stand.

Die Nacht – ich meine die wirkliche Nacht: nicht diejenige, die sich nach den Uhren der Elfen richtet – die Nacht rückte allmählich vor; und in diesem Stadium der Gedanken des Fuhrmanns kam hell und klar der Mond hinter den Wolken hervor. Vielleicht war in seiner Seele ebenfalls ein stilles ruhiges Licht aufgegangen, und er konnte mit mehr Ruhe nachdenken über das, was geschehen war.

Wenn auch der Schatten des Fremden von Zeit zu Zeit über den Spiegel glitt – immer deutlich, greifbar und genau ausgeprägt – so zeigte er sich doch nicht wieder so finster wie das erstemal. Sooft er erschien, stießen die Feen alle miteinander einen Schrei des Schreckens aus und setzten mit unbegreiflicher Behendigkeit ihre Ärmchen und Beinchen in Bewegung, um ihn auszuwischen. Und wenn sie sich dann wieder zu Dot wandten und sie ihm wieder zeigten, strahlend und schön, so legten sie in der begeisterndsten Weise ihre Freude an den Tag.

Sie zeigten sie nie anders als glänzend und schön, denn sie waren Hausgeister, für die die Lüge ein Nichts ist, und Dot war für sie nichts anderes als das tätige, fröhliche, liebliche, kleine Wesen, das immer das Licht und die Sonne in des Fuhrmanns Hause gewesen war!

Die Feen waren wunderbar eifrig, wenn sie sie mit dem Kinde zeigten, wie sie in einer Versammlung weiser alter Matronen plauderte und tat, als sei sie selbst so wunderbar weise und matronenhaft, und sich mit gesetzter, ernster und einer alten Dame würdigen Miene auf ihres Mannes Arm stützte, indem sie versuchte – sie, eine kleine Knospe von einer kleinen Frau! – versuchte, ihnen die Meinung beizubringen, sie hätte die Eitelkeiten der Welt alle miteinander abgeschworen und sie gehöre zu jener Klasse von reiferen Personen, denen es gar nichts Neues ist, Mutter zu sein, doch in demselben Augenblick zeigten sie sie wieder, wie sie über die Ungeschicklichkeit des Fuhrmanns lachte und ihm den Hemdkragen ordnete, um etwas wie einen Stutzer aus ihm zu machen, und ihn fröhlich mit sich durch das Zimmer zog, um ihn tanzen zu lehren!

Sie wandten sich mehr denn je ihm zu und sahen ihn mit ungewöhnlich weit geöffneten Augen an, als sie sie ihm neben dem blinden Mädchen zeigten; denn wenn sie auch überall Leben und Heiterkeit mit sich brachte, wohin sie ging, so war ihr Einfluß doch ganz besonders groß in Kaleb Plummers Heim. Des blinden Mädchens Liebe zu ihr, die zarte Weise, in der sie Berthas Dank zurückzuweisen verstand; wie sie zu mancher kleinen List ihre Zuflucht nahm, um jeden Augenblick ihres Besuches so auszufüllen, daß er Kalebs Hause zugute kam und unter dem Vorwand, sich einen Tag köstlich zu amüsieren, wirklich schwer arbeitete; ihre großmütige Sorge für jene verabredeten Leckereien, die Kalbs- und Schinkenpastete und die Bierflaschen; ihr heiteres Gesicht, wenn sie an der Tür erschien und wenn sie Abschied nahm; dieser wundervolle Ausdruck in ihrem ganzen Wesen, von ihrem allerliebsten Fuß an bis zu ihrem Köpfchen, daß sie die Bedeutung ihrer Rolle bei diesem von ihr gegründeten Feste fühle – daß sie dort notwendig, unentbehrlich sei; das alles erhöhte die Freude der Feen und verdoppelte ihre Liebe zu ihr. Und noch einmal sahen sie den Fuhrmann alle zugleich an, gleichsam flehend und als schienen sie ihm zu sagen, während einige von ihnen sich in die Falten ihres Kleides nestelten, um sie besser liebkosen zu können:

»Ist das die Frau, die dein Vertrauen getäuscht hat?«

Mehr als ein- oder zwei- oder dreimal während der langen gedankenvollen Nacht zeigten sie sie ihm auch, wie sie auf ihrem Lieblingsstuhl saß, vorgeneigt den Kopf, mit über der Stirn gefalteten Händen und aufgelöstem Haar, wie er sie zuletzt gesehen hatte. Wenn sie sie so fanden, dann kümmerten sie sich gar nicht um ihn, sondern drängten sich um sie und trösteten und küßten sie und beeilten sich um die Wette, ihre Teilnahme und ihr Wohlwollen zu zeigen, wahrend sie ihn vollständig vergaßen.

So verging die Nacht. Der Mond ging unter, die Sterne verblaßten; der kalte Tag brach an; die Sonne ging auf. Noch immer saß der Fuhrmann gedankenvoll in der Kaminecke. Er hatte dort, den Kopf auf die Hände gestützt, die ganze Nacht gesessen. Die ganze Nacht hatte das treue Heimchen auf dem Herde sein Zirp-zirp-zirp gesungen. Die ganze Nacht waren die Hausfeen mit ihm beschäftigt gewesen. Die ganze Nacht war sie liebenswert und makellos gewesen, ausgenommen in den Augenblicken, wo jener Schatten darauf fiel.

Als es heller Tag war, stand er auf, wusch sich und kleidete sich an. Er konnte seinem gewöhnlichen ihm so lieb gewordenen Beruf nicht nachgehen – dazu fehlte es ihm an Mut –, aber es hatte das nichts zu bedeuten; da Tackletons Hochzeit war, hatte er sich darauf eingerichtet, seine Touren durch jemand anders machen zu lassen. Es war seine Absicht gewesen, heiter mit Dot zur Kirche zu gehen. Aber an so etwas war jetzt nicht mehr zu denken. Es war auch ihr Hochzeitstag. O wie wenig hatte er erwartet, daß dieses Jahr so enden könnte!

Der Fuhrmann hatte von Tackleton einen Morgenbesuch erwartet; und er irrte sich nicht. Kaum hatte er vor seiner Tür angefangen, auf und ab zu gehen, als er den Spielwarenhändler in seinem Wagen daherkommen sah. Als die Chaise näher kam, bemerkte er, daß Tackleton bereits hochzeitlich geschmückt war und daß er den Kopf des Pferdes mit Blumen und Bändern geschmückt hatte.

Das Pferd sah einem Bräutigam viel mehr ähnlich als Tackleton, dessen halbgeschlossenes Auge einen unangenehmeren Ausdruck hatte als je. Aber der Fuhrmann achtete wenig darauf. Seine Gedanken gingen in ganz anderer Richtung.

»John Peerybingle!« sagte Tackleton mit einer Trauermiene. »Armer Freund, wie geht es Euch heute morgen?«

»Ich habe eine schlechte Nacht gehabt, Mr. Tackleton«, erwiderte der Fuhrmann und schüttelte den Kopf; »denn mir ist allerhand durch den Sinn gegangen. Aber es ist jetzt vorüber. Habt Ihr etwa ein halbes Stündchen für mich übrig? Zu einer privaten Unterredung . . . ?«

»Dazu bin ich gerade gekommen«, erwiderte Tackleton, indem er vom Wagen stieg. »Kümmert Euch nur nicht um das Pferd. Es wird schon still stehen, wenn man die Zügel hier befestigt und Ihr ihm eine Handvoll Heu geben wollt.«

Nachdem der Fuhrmann dies aus dem Stalle geholt und es dem Pferde gegeben hatte, traten sie in das Haus.

»Die Trauung findet wohl nicht vor Mittag statt?« sagte John.

»Nein«, erwiderte Tackleton. »Zeit genug. Zeit genug.«

Als sie in die Küche traten, klopfte Tilly gerade an die Tür des Fremden; sie war nur einen halben Schritt davon entfernt. Das eine ihrer roten Augen – denn Tilly hatte die ganze Nacht geweint und natürlich nur, weil ihre Herrin weinte – hatte sie an das Schlüsselloch gelegt; sie klopfte sehr laut und schien gar sehr erschreckt.

»Wenn’s erlauben«, rief sie hinein, »ich kann niemand hören. Wenn’s erlauben. Sie sind doch am Ende nicht gestorben?«

Diese philantropischen Worte begleitete Fräulein Tolpatsch nachdrücklich durch mehrmaliges Klopfen und durch Fußtritte gegen die Tür, ohne jedoch irgendein Resultat zu erzielen.

»Soll ich nachsehen?« fragte Tackleton. »Der Fall ist wichtig.«

Der Fuhrmann, der sein Gesicht von der Tür abgewendet hatte, gab ihm ein Zeichen, er solle nur nachsehen, wenn er wolle.

Tackleton löste also Tilly ab; er trat und klopfte ebenfalls gegen die Tür, aber es gelang ihm ebensowenig, irgendwelche Antwort zu erhalten. Aber da kam er auf den Einfall, den Drehknopf der Tür zu probieren; und da sie leicht aufging, schaute er hinein und steckte den Kopf in die Stube, prallte aber rasch wieder zurück.

»John Peerybingle«, sagte er ihm ins Ohr. »Da ist doch heute nacht nichts – nichts Gewaltsames geschehen?«

Der Fuhrmann wandte sich rasch zu ihm um.

»Er ist nämlich fort!« sagte Tackleton: »und das Fenster ist offen. Ich sehe gar keine Spur . . . Allerdings liegt das Zimmer fast in gleicher Höhe mit dem Garten . . . Aber ich befürchte . . . es könnte irgendein . . . kleiner Streit, he?«

Er schloß das ausdrucksvolle Auge fast ganz und sah John durchdringend an. Sein Auge, sein Gesicht, ja seine ganze Gestalt bekam ein heftiges Zucken – als hätte er die Wahrheit aus ihm herausschneiden wollen.

»Beruhigt Euch«, sagte der Fuhrmann. »Er trat gestern abend in dies Zimmer, ohne daß ich ihm mit Worten oder Werken etwas zuleide getan habe; und niemand ist seitdem darin gewesen. Er ist aus freiem Willen fortgegangen. Auch ich möchte mit Freuden dies Haus verlassen, um von Tür zu Tür mein Brot zu erbetteln, wenn ich um diesen Preis fertigbringen könnte, daß er nie hier eingetreten wäre. Aber er ist gekommen und gegangen. Und nun habe ich nichts mehr mit ihm zu schaffen!«

»Ah! . . . Na, mir scheint, er ist ziemlich leicht davongekommen«, sagte Tackleton und nahm sich einen Stuhl.

Sein höhnisches Lachen ging dem Fuhrmann verloren, der sich ebenfalls setzte und, bevor er fortfuhr, einen Augenblick sein Gesicht mit seiner Hand beschattete.

»Ihr zeigtet mir gestern abend«, sagte er endlich, »Meine Frau, die ich liebe . . . wie sie heimlich . . .«

»Und zärtlich . . .« ergänzte Tackleton.

»Jenem Manne half, sich zu verkleiden, und ihm Gelegenheit gab, sie allein zu sprechen. Es gibt nichts, das ich nicht lieber gesehen hätte, als gerade das. Und es gibt wohl keinen Menschen in der Welt, von dem ich’s mir nicht lieber hätte zeigen lassen.«

»Ich gestehe, daß ich stets meinen Verdacht gehabt habe«, sagte Tackleton; »und ich weiß, das ist’s auch, was mich hier mißliebig gemacht hat.«

»Aber da Ihr es mir nun einmal gezeigt habt«, sagte der Fuhrmann, ohne auf seine Worte zu achten, »und da Ihr sie gesehen habt, meine Frau, meine Frau, die ich liebe« – seine Stimme, sein Blick, seine Hand wurden fester und gleichsam sicherer, als er diese Worte sprach: ein offenbarer Beweis, daß er einen festen Entschluß gefaßt – »da Ihr sie in dieser ungünstigen Stellung gesehen, so ist es nur in Ordnung, daß Ihr sie auch mit meinen Augen seht und in meine Brust schaut, um zu erfahren, wie ich hierüber denke, denn mein Entschluß ist gefaßt«, sagte der Fuhrmann, ihn aufmerksam anblickend. »Und nichts kann ihn jetzt mehr erschüttern.«

Tackleton murmelte einige allgemeine Worte der Zustimmung hinsichtlich der Notwendigkeit, an irgend jemand Rache zu üben; aber das Benehmen des Fuhrmanns flößte ihm beinahe Ehrfurcht ein.

Wie einfach und schlicht es auch war, es lag etwas Würdevolles und Stolzes darin, das nur der edleren und großmütigeren Seele dieses Mannes entspringen konnte.

»Ich bin ein einfacher, ungebildeter Mensch«, fuhr der Fuhrmann fort: »ich habe wenig Vorzüge. Ich bin nicht gerade ein liebenswürdiger Mann, wie Ihr sehr wohl wißt. Ich bin auch kein junger Mann. Ich liebte meine kleine Dot, weil ich sie von Kindheit an im Hause ihres Vaters hatte aufwachsen sehen; weil ich wußte, wie vortrefflich sie war; weil sie seit vielen Jahren mein Leben und mein Alles gewesen. Es gibt gewiß viele Menschen, mit denen ich mich nicht vergleichen kann, die aber sicherlich meine kleine Dot nicht so hätten lieben können wie ich.«

Er hielt inne und stieß einige Augenblicke sanft auf den Fußboden, bevor er fortfuhr.

»Ich habe oft gedacht, daß ich, wenn ich auch nicht gut genug für sie sei, doch ein freundlicher Ehemann gegen sie sein möchte und ihren Wert vielleicht besser zu schätzen wisse, als irgendein anderer, und so fand ich mich damit ab und dachte so in meinem Sinn, daß unsere Heirat doch wohl nicht ganz unvernünftig sein könnte. Und so geschah es, und wir heirateten uns.«

»Freilich«, sagte Tackleton mit einem bedeutsamen Kopfschütteln.

»Ich hatte mich kennenzulernen gesucht; ich hatte mir alle möglichen Fragen vorgelegt, ich wußte, wie sehr ich sie liebte und wie glücklich ich sein würde«, setzte der Fuhrmann hinzu. »Aber ich hatte – das fühle ich jetzt – sie selbst nicht genug in Erwägung gezogen.«

»Natürlich nicht!« sagte Tackleton. »Eitelkeit, Leichtsinn, Unbeständigkeit, Koketterie. Nicht genug bedacht! Alles aus den Augen gelassen! Ja, ja!«

»Ihr tätet besser, mich nicht zu unterbrechen«, sagte der Fuhrmann mit gerunzelter Stirn, »bis Ihr mich verstanden habt, und davon seid Ihr noch weit entfernt. Wenn ich gestern jeden mit einem Schlage getötet hätte, der sich herausgenommen hätte, auch nur ein Wort gegen sie zu sagen, heute würde ich ihm den Kopf mit meinem Fuß zertreten, und wenn es mein Bruder wäre!«

Der Spielwarenhändler sah ihn bestürzt an. John fuhr in sanfterem Tone fort:

»Hatte ich bedacht, daß ich sie – in ihrem Alter und mit ihrer Schönheit! – aus der Mitte ihrer jungen Freundinnen und aus den Kreisen wegnahm, deren Schmuck, deren hellster Stern sie war, um sie für immer in mein langweiliges Haus zu verschließen und sie an meine trübselige Gesellschaft zu fesseln? Hatte ich bedacht, wie wenig ich zu ihrer Lebhaftigkeit paßte und wie unerträglich ein Mann von so langsamen Begriffen wie ich für eine Frau von so schnellem Verstande wie sie sein mußte? Hatte ich bedacht, daß ich gar keine Vorzüge oder Ansprüche hatte, daß ich sie liebte, da alle, die sie kannten, sie lieben mußten? Nein, nie! Ich nutzte ihre arglose Natur und ihr liebevolles Temperament zu meinen Gunsten aus und heiratete sie. Ich wollte, ich hätte es nie getan! Um ihretwillen; nicht um meinetwillen!«

Der Spielwarenhändler sah ihn an, jedoch ohne mit der Augenwimper zu zucken. Sogar das halbgeschlossene Auge war jetzt weit offen.

»Der Himmel segne sie«, sagte der Fuhrmann, »für die liebevolle Festigkeit, mit der sie diese Entdeckung von mir fernzuhalten suchte! Und der Himmel stehe mir bei, daß ich mit meinem trägen Kopfe das nicht früher herausgefunden habe! Armes Kind! Arme Dot! Ich ahnte es nicht, ich, der ich ihre Augen sich mit Tränen füllen sah, wenn von einer Heirat wie der unsern gesprochen wurde! Ich, der ich das Geheimnis wohl hundertmal auf ihren Lippen zittern sah und doch bis gestern abend nie eine Ahnung davon hatte! Armes Kind! Daß ich je hoffen konnte, sie könne mich lieben! Daß ich je glauben konnte, sie liebe mich wirklich!«

»Sie tat nur so«, sagte Tackleton. »So sehr gab sie sich den Anschein, daß, um Euch die Wahrheit zu sagen, dies meinen Argwohn erregte.«

Und nun hob er die Überlegenheit von May Fieldings Tugenden hervor, die man sicherlich nicht beschuldigen könne, sie täte so, als sei sie in ihn verliebt.

»Sie hat’s versucht«, sagte der arme Fuhrmann mit größerer Erregung, als man bis dahin an ihm bemerken konnte; »jetzt erst fange ich an zu begreifen, wie schwer sie gekämpft hat, mein treues und ergebenes Weib zu sein. Wie gut ist sie gewesen; wie viel hat sie für mich getan; welch ein tapferes und starkes Herz! Das Glück, das ich unter diesem Dache genossen, möge Zeuge dafür sein! Das wird immer ein Trost und eine Erleichterung für mich sein, wenn ich hier allein bin.«

»Hier allein?« sagte Tackleton. »Aha! Ihr habt also doch die Absicht, die Sache doch nicht als ungeschehen zu betrachten?«

»Ich habe die Absicht«, versetzte der Fuhrmann, »ihr das größte Zeichen von Liebe und die beste Genugtuung zu geben, die in meiner Macht sind. Ich kann sie von der täglichen Qual einer ungleichen Ehe und dem Kampfe, dies zu verbergen, befreien. Sie soll so frei sein, wie ich es machen kann.«

»Ihr Genugtuung geben, ihr!« rief Tackleton, indem er an seinen großen Ohren mit den Händen herumzerrte. »Hier muß ein Mißverständnis vorliegen. Ich muß nicht richtig verstanden haben.«

Der Fuhrmann packte den Spielwarenhändler beim Kragen und schüttelte ihn wie ein Schilfrohr.

»Hört einmal!« sagte er, »und sorgt dafür, daß Ihr mich richtig versteht. Hört mal. Rede ich deutlich?«

»In der Tat, sehr deutlich!« antwortete Tackleton.

»Als ein Mann, der es ernst meint?«

»Gewiß, gewiß, als ein Mann, der es ernst meint.«

»Ich habe die letzte Nacht, die ganze Nacht, da am Herde gesessen«, rief der Fuhrmann aus. »An der Stelle, wo sie so oft, mich mit ihrem süßen Gesicht anblickend, neben mir gesessen hat. Ich habe ihr ganzes Leben, Tag für Tag, an mir vorübergehen lassen. Ich habe ihr teures Bild in allen Lagen des Lebens vor mich hintreten lassen. Bei meiner Seele, sie ist unschuldig, so wahr es Einen im Himmel gibt, der über die Schuldigen und die Unschuldigen richtet.«

O tapferes Heimchen am Herde! O treue Hausfeen!

»Zorn und Mißtrauen haben mich verlassen«, sprach der Fuhrmann weiter. »Es bleibt mir nichts übrig als mein Schmerz. In einem unglücklichen Augenblick ist ein früherer Geliebter, der ihr besser gefallen konnte und zu ihren Jahren besser paßt – vielleicht meinetwegen, wider ihren Willen verlassen – zurückgekehrt. In einem unglücklichen Augenblick hat sie, überrascht und ohne Zeit zu haben, zu bedenken, was sie tat, sich an seiner Verräterei mitschuldig gemacht, indem sie es verheimlichte. Gestern abend hat sie ihn gesehen bei der Zusammenkunft, von der wir Zeuge waren. Das war unrecht von ihr. Aber dies ausgenommen, ist sie unschuldig, wenn es noch Wahrheit auf Erden gibt.«

»Wenn Ihr das glaubt«, begann Tackleton.

»So kann sie gehen!« sagte der Fuhrmann weiter. »Gehen mit meinem Segen für die vielen glücklichen Stunden, die sie mir geschenkt hat, und ich vergebe ihr den Schmerz, den sie mir verursacht hat. Mag sie gehen mit dem Frieden des Herzens, den ich ihr wünsche! Sie wird mich niemals hassen. Sie wird mich vielmehr besser lieben lernen, wenn sie nicht mehr an mich gefesselt ist. Sie wird dann die Kette, die ich für sie geschmiedet habe, leichter tragen können. Heut ist der Tag an dem ich sie von ihrem väterlichen Herde wegführte, ohne irgendwie nach ihrem eigenen Glücke zu fragen. Heute soll sie dahin zurückkehren und nichts mehr zu leiden haben. Ihre Eltern werden sogleich hier sein – wir hatten einen kleinen Plan gemacht, wie wir den heutigen Tag miteinander feiern wollten – und sie mögen sie wieder mit nach Hause nehmen. Ich kann mich auf sie verlassen, dort und überall. Sie verläßt mich ohne Schuld, und sie wird auch so leben, das weiß ich ein für allemal. Und wenn ich sterbe – ich kann vielleicht sterben, während sie noch jung ist; ich habe in wenigen Stunden viel von meinem Lebensmut verloren – dann wird sie wissen, daß ich mich ihrer erinnerte und sie bis zur letzten Stunde liebte. Und damit ist es vorbei.«

»O nein, John, noch nicht vorbei! Noch nicht ganz. Ich habe deine hochherzigen Worte gehört. Ich konnte nicht fortgehen, ohne dir zu sagen, wie unendlich dankbar ich dir bin. Sage nicht, es sei aus, ehe die Uhr noch einmal geschlagen hat!«

Sie war kurz nach Tackleton eingetreten und dageblieben. Für Tackleton hatte sie keinen einzigen Blick übrig, ihre Augen waren unablässig auf ihren Mann gerichtet. Aber sie hielt sich fern von ihm, so weit wie irgend möglich; und wenngleich sie mit leidenschaftlichem Nachdruck sprach, so trat sie ihm doch noch immer nicht näher. Wie verschieden war sie von ihrem früheren Selbst!

»Keine Hand kann die Uhr verfertigen, die mir noch einmal die Stunden schlagen wird, die dahin sind«, entgegnete der Fuhrmann mit einem leeren Lächeln. »Aber es sei, wenn du willst, mein Kind. Die Uhr wird bald schlagen. Es hat wenig zu bedeuten, was wir sagen. Ich würde gern versuchen, dir in einer viel schwereren Sache zu Gefallen sein.«

»Nun!« brummte Tackleton. »Ich muß gehen, denn wenn die Uhr noch einmal schlägt, muß ich auf dem Wege zur Kirche sein. Guten Morgen, John Peerybingle. Es tut mir leid, das Vergnügen Eurer Gesellschaft entbehren zu müssen. Tut mir leid um den Verlust und die Veranlassung dazu!«

»Habe ich deutlich gesprochen?« fragte der Fuhrmann, indem er ihn bis zur Tür begleitete.

»O sehr deutlich!«

»Und werdet Ihr Euch merken, was ich gesagt habe?«

»Gewiß, gewiß, und – da Ihr mich absolut zwingt, die Bemerkung zu machen –« sagte Tackleton, nicht ohne zuvor die Vorsicht zu gebrauchen, in seinen Wagen zu steigen, »so muß ich sagen, die Sache kam mir so unerwartet, daß ich sie wohl schwerlich je vergessen werde.«

»Um so besser für uns beide,« versetzte der Fuhrmann. »Gehabt Euch wohl. Viel Glück.«

»Ich wollte, ich könnte Euch denselben Wunsch zurufen«, sagte Tackleton. »Da das aber nicht möglich ist, so danke ich Euch. Unter uns – ich habs Euch schon einmal gesagt, wie? oder nicht? – unter uns, ich glaube nicht, daß ich in meinem Ehestande darum nicht weniger glücklich sein werde, weil May nicht allzuviel Liebe und Glück gezeigt hat. Laßt es Euch gut gehen und nehmt Euch die Sache nicht allzu sehr zu Herzen!«

Der Fuhrmann sah ihm nach, bis er in der Ferne kleiner erschien als seines Pferdes Blumen und Bänder in der Nähe. Und dann irrte er seufzend und sich grämend wie ein ruheloser gebrochener Mann zwischen einigen Bäumen in der Nachbarschaft umher; er mochte nicht zurückkehren, bis die Uhr bald schlagen würde.

Seine kleine Frau, allein geblieben, schluchzte zum Erbarmen; aber sie trocknete sich immer wieder die Augen und drängte die Tränen zurück, um zu sagen, wie gut, wie brav ihr Mann sei, und ein paarmal lachte sie auf, so herzlich, so siegesgewiß, so unbegreiflich – denn sie weinte gleichzeitig – daß Tilly aus dem Schrecken gar nicht herauskam.

»O bitte, nicht so!« sagte Tilly. »Es könnte ja das Kindchen rein unter die Erde bringen, wenn’s erlauben.«

»Willst du es bisweilen seinem Vater bringen, Tilly, wenn ich hier nicht mehr wohnen kann und in mein väterliches Haus zurückgekehrt bin?« fragte die Herrin, sich die Augen trocknend.

»O, o, bitte nicht so!« rief Tilly, den Kopf zurückwerfend und in ein Geheul ausbrechend – sie sah in diesem Augenblick Boxer ungewöhnlich ähnlich. »O, o, bitte nicht so! O, o, was hat denn alle Welt nur aller Welt getan, um alle Welt so unglücklich zu machen! O, o, o, o!«

Und die gefühlvolle Tilly brach in ein anhaltendes Klagegeheul aus, das um so furchtbarer wurde, je länger sie es zurückzuhalten versucht, so daß sie das Wickelkind unfehlbar geweckt und in einen mit sehr ernsten Folgen – wahrscheinlich mit Krämpfen – verbundenen Schrecken versetzt hätte, wenn ihre Augen nicht Kaleb Plummer begegnet wären, der grade mit seiner Tochter ins Zimmer trat. Da dieser Anblick das Gefühl des Anstandes in ihr wieder zurückrief, blieb sie einige Augenblicke mit geöffnetem Munde schweigend dastehen, und dann nach dem Bett davonstürzend, auf welchem das Kind schlief, begann sie in unheimlicher Weise, als hätte sie den Veitstanz, auf dem Boden umherzuspringen, während sie sich zugleich mit Gesicht und Kopf in die Bettücher hineinwühlte, offenbar viel Erleichterung für ihren Schmerz aus diesen außerordentlichen Operationen schöpfend.

»Marie!« rief Bertha. »Nicht auf der Hochzeit!«

»Ich habe ihr gesagt, junge Frau, Ihr würdet nicht mit dabei sein«, flüsterte Kaleb. »Ich habe gestern abend so was gehört. Aber mein Gott«, sagte der kleine Mann, zärtlich ihre beiden Hände drückend, »ich achte nicht darauf, was sie sagen. Ich glaub’ nichts davon. Es ist nicht viel an mir, aber dieses Wenige würde ich erst in Stücke reißen lassen, ehe ich auch nur ein Wort gegen Euch glaubte.«

Er legte die Arme um sie und herzte sie, wie ein Kind seine Puppe herzt.

»Bertha konnte es heute morgen zu Hause nicht aushalten«, fuhr Kaleb fort. »Ich weiß, sie fürchtete die Glocken läuten zu hören und hatte nicht das Herz, ihnen an ihrem Hochzeitstage so nahe zu sein. So machten wir uns denn frühzeitig auf den Weg und kamen hierher. Ich habe mir dies alles überlegt«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Ich habe mich ausgescholten, bis ich kaum mehr wußte, was ich tun oder wohin ich mich wenden sollte; denn all ihren Kummer habe ich verschuldet; und da bin ich zu dem Entschlusse gekommen, es sei besser – das heißt – wenn Ihr mir beistehen wollt, junge Frau – ihr die Wahrheit zu sagen. Wollt Ihr mir beistehen?« fragte er, von Kopf bis zu den Füßen zitternd. »Ich weiß nicht, was sie von mir denken wird, ich weiß nicht, ob sie dann noch ihren Vater lieben wird. Aber es ist das beste für sie, daß sie erfährt, daß alles Täuschung war, und ich muß die Folgen tragen, wie ich’s verdient habe.«

»Marie«, sagte Bertha, »wo ist deine Hand? Ah, hier ist sie, hier ist sie!«

Sie drückte sie mit einem Lächeln an die Lippen und zog sie unter ihren Arm.

»Ich hörte sie miteinander flüstern gestern abend und dich wegen irgend etwas tadeln. Sie hatten unrecht.«

Des Fuhrmanns Frau schwieg. Kaleb nahm das Wort für sie.

»Sie hatten unrecht«, sagte er.

»Ich weiß es« rief Bertha stolz. »Und ich hab’s ihnen auch gesagt. Es wäre verächtlich erschienen, auch nur ein einziges Wort anzuhören. Ein Recht haben, Dot zu tadeln!« Und sie drückte die Hand in die ihrige und näherte ihre weiche Wange ihrem Gesicht. »Nein, so blind bin ich nicht.«

Ihr Vater stellte sich ihr zur Linken, während Dot, noch immer ihre Hand haltend, auf ihrer rechten Seite blieb.

»Ich kenne euch alle«, sagte Bertha, »besser als ihr glaubt. Aber niemand so gut wie sie. Nicht einmal dich, Vater. In meiner ganzen Umgebung gibt es nichts so Reines und Wahres wie sie. Wenn ich in diesem Augenblick mein Gesicht wieder erlangen könnte, ich würde sie in einer zahlreichen Menge heraus erkennen, ohne daß nur ein Wort gesagt würde! Meine Schwester!«

»Bertha, mein liebes Kind«, sagte Kaleb, »ich habe etwas auf dem Gewissen, das ich dir sagen muß, solange wir drei allein sind. Höre mich freundlich an! Ich habe dir ein Bekenntnis zu machen, mein gutes Kind.«

»Ein Bekenntnis, Vater?«

»Ich habe mich von der Wahrheit entfernt und mich geirrt, liebes Kind«, sagte Kaleb mit einem herzzerreißenden Ausdruck in seinen aufgeregten Zügen. »Ich habe mich von der Wahrheit entfernt, aus Liebe zu dir; und diese Liebe hat mich grausam gemacht.«

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, das den Ausdruck des höchsten Erstaunens zeigte, und wiederholte: »Grausam!«

»Er klagt sich zu streng an, Bertha«, sagte Dot. »Das wirst du ihm gleich selbst sagen, wie ich es jetzt tue.«

»Er grausam gegen mich!« rief Bertha mit einem ungläubigen Lächeln.

»Ohne es zu wollen, mein Kind!« sagte Kaleb. »Aber ich bin’s gewesen, wenn es mir auch erst gestern zum Bewußtsein gekommen ist. Meine teure blinde Tochter, höre mich an und vergib mir! Die Welt, in der du lebst, Kind meines Herzens, ist nicht so, wie ich sie dir dargestellt habe. Die Augen, denen du vertrautest, haben dich belogen.«

Noch immer war ihr überraschtes und erstauntes Antlitz ihm zugewandt, aber jetzt wich sie zurück und klammerte sich fester an ihre Freundin.

»Dein Lebensweg war rauh, mein teures liebes Kind,« fuhr Kaleb fort, »und ich wollte ihn dir glatt und eben machen. Ich habe die Gegenstände verändert, den Charakter der Menschen umgeschaffen, viele Dinge erfunden, die nie existiert haben, um dich glücklicher zu machen. Ich habe dir vieles verheimlicht, dich in Täuschungen versetzt, Gott verzeihe mir, und dich mit erträumten Wesen umgeben.«

»Aber lebende Menschen sind doch keine erträumten Wesen!« rief sie rasch, während sie erbleichte und sich noch mehr von ihm zurückzog. »Die kannst du doch nicht verändern!«

»Und doch hab’ ich’s getan, Bertha!« bekannte Kaleb. »Es gibt eine Person, die du kennst, mein Liebstes . . .«

»O Vater!« versetzte sie in einem Tone bittern Vorwurfs, »warum sagst du, ich kenne sie? Wen und was soll ich kennen! Ich, die ich keinen Führer habe! Ich bin so elendiglich blind.«

In Herzensangst streckte sie die Hände aus, als suche sie sich tastend einen Weg; dann legte sie sie trostlos, ja fast verzweiflungsvoll vor das Gesicht.

»Der Mann, der heute Hochzeit feiert«, sagte Kaleb, »ist ein finsterer, filziger Geizhals; dir und mir ein harter Herr, mein Kind, und das schon seit vielen Jahren, häßlich in seinem Äußern und in seiner Seele. Immer kalt, immer hart. Ganz und gar anders als das Bild, das ich dir von ihm geschildert habe. In jeder Beziehung.«

»O, warum«, rief das blinde Mädchen in überwältigendem Schmerz, »warum tatst du das! Warum hast du stets mein Herz so reich gemacht, um nun zu kommen wie der Tod, um herauszureißen, was ich liebe! O mein Gott, wie blind bin ich! Wie hilflos und verlassen!«

Ihr Vater ließ trostlos den Kopf sinken und antwortete nur mit seiner Reue und seiner Qual.

Sie hatte sich noch nicht lange diesem leidenschaftlichen Ausbruch des Jammers hingegeben, als das Heimchen am Herde, nur von ihr allein gehört, zu zirpen begann. Aber nicht fröhlich, sondern leise, schwach und traurig; so traurig und schwermütig klang sein Lied, daß sie in Tränen ausbrach. Als jedoch das Bild, das die ganze Nacht den Fuhrmann umschwebt hatte, hinter ihr erschien und auf ihren Vater deutete, da flossen ihre Tränen in Strömen.

Bald vernahm sie die Stimme des Heimchens deutlicher und fühlte trotz ihrer Blindheit, daß die Erscheinung ihren Vater umschwebte. »Marie«, sagte das blinde Mädchen, »sage mir, wie unsere Wohnung ist. Wie sie in Wirklichkeit aussieht.«

»Es ist eine ärmliche Behausung, Bertha, sehr arm wahrlich, sehr arm und kahl. Das Häuschen wird kaum noch einen Winter dem Wind und Wetter widerstehen können. Es ist gegen das Unwetter so schlecht geschützt, Bertha«, fuhr Dot mit leiser, aber deutlicher Stimme fort, »wie dein armer Vater in seinem Überzieher aus Sackleinewand.«

Das blinde Mädchen stand in großer Erregung auf und zog die kleine Frau des Fuhrmanns auf die Seite.

»Jene Geschenke, die ich so sorgfältig hütete«, sagte sie mit bebender Stimme, »die fast allen meinen Wünschen zuvorkamen, und die mir alle eine solche Freude machten – woher sie? Hast du sie geschickt?«

»Nein.«

»Wer denn?«

Dot sah, daß sie das Geheimnis bereits erraten hatte, und schwieg. Das blinde Mädchen bedeckte wieder das Gesicht mit beiden Händen. Aber diesmal in ganz andrer Weise.

»Liebe Marie, nur einen Augenblick! Nur einen einzigen Augenblick! Komm noch etwas näher – hierher! Sprich leise. Du bist aufrichtig, ich weiß es. Du wirst mich jetzt nicht täuschen, nicht wahr?«

»Nein, Bertha, sicherlich nicht!«

»Nein, das wirst du gewiß nicht! Du hast zuviel Mitleid mit mir, Marie, blicke durch das Zimmer, nach der Stelle, wo wir soeben standen . . . wo mein Vater ist . . . mein Vater, der so mitleidig, so liebevoll gegen mich ist . . . und sage mir, was du siehst.«

»Ich sehe«, antwortete Dot, die sie vollkommen verstand, »einen alten Mann auf einem Stuhl sitzen und schmerzlich zurückgelehnt, das Gesicht auf die Hand gestützt, als bedürfe er des Trostes seines Kindes, Bertha.«

»Ja, ja, es wird ihn trösten. Weiter.«

»Es ist ein alter Mann, von Arbeit und Sorgen aufgerieben: ein magerer, gramerfüllter alter Mann mit grauem Haar. Ich sehe ihn jetzt verzweifelt, zerschmettert und gebrochen. Aber, Bertha, ich habe ihn oft früher gesehen, wie er tapfer und standhaft für einen großen, heiligen Zweck kämpfte. Und ich ehre sein graues Haupt und segne ihn.«

Das blinde Mädchen machte sich plötzlich von ihr los, warf sich vor ihrem Vater auf die Knie und drückte sein Haupt an ihre Brust.

»Jetzt habe ich mein Augenlicht wieder!« rief sie aus. »Ich war blind, jetzt sind mir die Augen geöffnet. Ich kannte ihn garnicht! Zu denken, daß ich hätte sterben können, ohne je richtig den Vater erkannt zu haben, der mich mit so vieler Liebe umgeben hat.«

Kaleb fand keine Worte, um seine Rührung auszudrücken.

»Es gibt auf der ganzen Erde kein so schönes und edles Haupt«, rief die Blinde, ihn mit ihren Armen umfangend, »das ich so zärtlich, so hingebend liebe wie dieses! Je grauer und gebeugter, um so teurer ist es mir, Vater! Nie sollen sie wieder sagen, ich sei blind. Da ist keine Falte in diesem Gesicht, kein Haar auf diesem Haupt, das in meinen Gebeten und in meinem Dank zum Himmel vergessen werden soll!«

Kaleb vermochte nur die Worte: »Meine Bertha!« vor sich hinzustammeln. .

»Und in meiner Blindheit glaubte ich ihm«, sagte das Mädchen, ihn unter Tränen in der zärtlichsten Weise liebkosend. »Ich hielt ihn für so ganz anders! Daß ich ihn Tag für Tag an meiner Seite hatte, immer so sehr mit mir beschäftigt, und nie an so etwas gedacht hatte!«

»Der jugendliche, schmucke Vater in dem blauen Rock – er ist verschwunden, Bertha!« sagte der arme Kaleb.

»Nichts ist verschwunden«, antwortete sie. »Nein, nichts, bester Vater! Alles ist da – in dir. Der Vater, den ich so sehr liebte und nie kannte: der Wohltäter, den ich zuerst zu verehren und zu lieben anfing, weil er eine solche Liebe für mich zeigte – das alles findet sich hier in dir wieder. Nichts ist tot für mich. Der Inbegriff alles dessen, was meinem Herzen am teuersten war, ist hier – hier in seinem verrunzelten Gesicht und seinem grauen Haupt, Und ich bin nicht mehr blind, Vater!«

Dots ganze Aufmerksamkeit war während dieses Gesprächs auf Vater und Tochter gerichtet gewesen. Aber als Dot jetzt nach dem kleinen Mäher auf der maurischen Wiese blickte, sah sie, daß die Uhr in ein paar Minuten schlagen werde, und verfiel sofort in einen Zustand nervöser Aufregung.

»Vater«, sagte Bertha zögernd. »Marie . . .«

»Ja, mein liebes Kind,« erwiderte Kaleb, »hier ist sie.«

»Sie hat sich doch in nichts verändert. Von ihr hast du mir nie etwas gesagt, was nicht wahr gewesen wäre?«

»Ich würde es wohl auch getan haben, Kind, befürchte ich«, antwortete Kaleb, »wenn ich sie hätte besser machen können, als sie war. Aber ich hätte sie schlechter machen müssen, wenn ich überhaupt an ihr etwas geändert hätte. An ihr kann man nichts verschönern, Bertha.«

Wie vertrauensvoll die Blinde auch gewesen war, als sie dies angefragt hatte, ihre Freude und ihr Stolz über Kalebs Antwort und die neuen Zärtlichkeiten, womit sie Dot überhäufte, waren überaus rührend anzusehen.

»Es können allerdings noch mehr Veränderungen kommen, als du glaubst, Liebe«, sagte Dot. »Veränderungen zum Bessern; ich meine Veränderungen, die einigen von uns große Freude verursachen werden. Du mußt dich aber nicht zu sehr aufregen, wenn eine solche eintritt, die dich näher angehen sollte! . . . Ist das nicht Wagengerassel? Du hast ein feines Ohr, Bertha – rührt das nicht von Rädern her?«

»Ja, und sie nähern sich mit großer Schnelligkeit.«

»Ich . . . ich . . . ich weiß, du hast ein feines Ohr«, sagte Dot, indem sie die Hand aufs Herz legte und augenscheinlich nur so schnell wie möglich redete, um das Pochen desselben nicht hören zu lassen; »ich weiß es, weil ich es oft bemerkt habe und weil du gestern abend so schnell den Schritt des Fremden erkanntest: obgleich ich nicht recht weiß, warum du sagtest, Bertha – denn ich weiß es noch ganz genau – wessen Tritt das sei und warum er dir mehr auffiel als irgendein anderer. Ja, wie ich soeben sagte, Bertha, es kommen große Veränderungen in der Welt vor, große Veränderungen, und wir können nichts Besseres tun, als uns darauf vorzubereiten, um von nichts mehr überrascht zu werden.«

Kaleb fragte sich, was das alles zu bedeuten habe, da er bemerkte, daß sie sich ebensosehr an ihn wie an seine Tochter wandte. Zu seinem Erstaunen sah er sie so aufgeregt und traurig, daß sie kaum noch zu atmen vermochte und mußte sich an einem Stuhl festhalten, um nicht umzufallen.

»Ja, es sind wirklich Wagenräder!« rief sie außer Atem. »Da kommen sie heran! Und nun hört ihr sie am Hoftor halten . . . und was ist das für ein Tritt vor der Haustür – derselbe Tritt von gestern abend, Bertha, nicht wahr? . . . Und jetzt . . .«

Sie stieß einen lauten Freudenschrei aus, und als sie sich dann auf Kaleb stürzte, legte sie ihm die Hände auf die Augen, genau in dem Augenblick, als ein junger Mann ins Zimmer stürzte und, seinen Hut hoch in die Luft werfend, auf sie zueilte.

»Ist es geschehen?« rief Dot.

»Ja.«

»Und glücklich?«

»Ja.«

»Erinnert Ihr Euch noch dieser Stimme, lieber Kaleb?« rief Dot. »Habt Ihr früher jemals eine ähnliche gehört?«

»Wenn mein Junge in dem goldenen Südamerika noch lebte . . .«, begann Kaleb zitternd.

»Er ist noch am Leben!« rief Dot aus, indem sie ihre Hände Kaleb vom Gesicht nahm und entzückt zu klatschen anfing. »Da seht ihn! Seht, da steht er vor Euch, gesund und frisch! Euer lieber guter Sohn! Dein teurer Bruder, Bertha, der lebt und dich liebt!«

Alle Achtung vor dem Entzücken dieses kleinen Geschöpfchens, alle Achtung vor ihrem Weinen und Lachen, während die drei einander umschlungen hielten! Alle Achtung vor der Herzlichkeit, mit welcher sie dem sonnenverbrannten Matrosen mit den fast bis zu den Schultern herabfallenden Haaren entgegentrat, ohne ihr rosiges Mäulchen abzuwenden, ihm vielmehr gestattete, sie frank und frei zu küssen und sie an seine wogende Brust zu drücken.

Aber alle Achtung auch vor dem Kuckuck – und warum nicht! –, daß er aus seiner Luke in dem maurischen Palast grade jetzt wie ein Hausfriedensstörer herausstürzte und zwölfmal über die versammelte Gesellschaft hinweg einen Schluckauf erschallen ließ, als wäre auch er vor Freude trunken!

Der Fuhrmann, der jetzt eintrat, wich zurück. Und dazu hatte er schon Grund, denn sich in einer so glücklichen Gesellschaft zu finden, das hatte er nicht erwartet.

»Seht ihn Euch an, John!« rief Kaleb außer sich. »Schaut her! Mein lieber Junge aus dem goldenen Südamerika. Mein leibhaftiger Sohn! Derselbe, den Ihr selbst ausgerüstet und fortgeschickt hattet! Derselbe, dem Ihr allzeit so viel Freundschaft erwieset!«

Der Fuhrmann näherte sich, um ihm die Hand zu reichen. Aber plötzlich wich er zurück; denn einige Züge seines Gesichtes erinnerten ihn an den tauben Mann auf dem Wagen.

»Eduard«, rief er, »warst du es?«

»Jetzt erzähle ihm nur alles«, sagte Dot. »Erzähle ihm alles, Eduard; und schone mich nicht, denn ich bin entschlossen, mich selbst nicht zu schonen.«

»Ja, ich war es«, begann Eduard.

»Und du konntest dich verkleidet in das Haus deines alten Freundes schleichen«, versetzte der Fuhrmann. »Ich kannte einst einen treuherzigen offenen Jungen – wieviel Jahre sind es her, Kaleb, daß wir hörten, er sei tot, und die Beweise dafür zu haben glaubten? – der so etwas nie getan haben würde.«

»Und ich habe einst einen großmütigen Freund gekannt – er war mir mehr Vater als Freund –« sagte Eduard, »der weder mich noch irgendeinen andern Menschen ungehört verurteilt haben würde. Das wart Ihr. Und so bin ich überzeugt. Ihr werdet mich jetzt anhören.«

Der Fuhrmann wurde ganz verwirrt, sah Dot an, die sich noch immer fern von ihm hielt, und sagte:

»Wohlan, es sei . . . es ist nur billig und recht . . . erzähle!«

»So wißt denn, daß ich, als ich noch ganz junger Mann von hier fortging«, fuhr Eduard fort, »verliebt war und daß meine Liebe erwidert wurde. Sie war noch ein sehr junges Mädchen, das vielleicht – wie Ihr sagen dürftet – ihr Herz noch nicht kannte. Aber ich kannte jedenfalls das meine und hegte eine sehr starke Liebe zu ihr.«

»Du!« rief der Fuhrmann. »Du!«

»Ja freilich, ich!« versetzte der andre. »Und ich fand Gegenliebe. Ich habe es immer geglaubt, und jetzt weiß ich es ganz gewiß!«

»Gott steh’ bei mir!« rief der Fuhrmann. »Das ist ja noch schlimmer als alles andere!«

»Treu, wie ich ihr geblieben«, begann Eduard von neuem, »kam ich nach vielen Gefahren und Leiden hoffnungsvoll zurück, um meinen Teil unseres gegenseitigen Schwures zu erfüllen . . . da hörte ich einige Meilen von hier, daß sie mir untreu geworden war, daß sie mich vergessen und sich einem andern, reichen Manne geschenkt habe. Ich hatte nicht die Absicht, ihr Vorwürfe zu machen, aber ich wollte sie sehen und mich mit eigenen Augen überzeugen, daß es wahr sei. Ich hoffte, sie möchte dazu gegen ihren Wunsch und Willen gezwungen worden sein. Es wird das nur ein ganz kleiner Trost sein, dachte ich, aber doch immerhin ein Trost, und so kam ich. Um die Wahrheit zu erfahren, die wirkliche Wahrheit und selbst frei beobachten und urteilen zu können, ohne Hindernisse von ihrer Seite und ohne von meinem Einflusse auf sie – wenn ich noch welchen hätte – meinerseits Gebrauch zu machen, verkleidete ich mich – Ihr wißt wie, und wartete an der Landstraße – Ihr wißt wo. Ihr hegtet keinen Verdacht gegen mich; auch sie nicht« – hier deutete er auf Dot – »bis ich ihr da am Kamin ein Wörtchen ins Ohr flüsterte und sie mich fast verraten hätte.«

»Aber als sie erfuhr, daß Eduard noch lebte und zurückgekommen war«, schluchzte Dot, die jetzt selbst das Wort ergriff, worauf sie während der ganzen Erzählung des Matrosen ungeduldig gewartet hatte; »und als sie seine Absicht merkte, riet sie ihm dringend, die Sache geheimzuhalten, denn sein alter Freund Peerybingle wäre von Natur viel zu offenherzig und auch zu linkisch in allen Kunststücken, um das Geheimnis bewahren zu können, – wie er überhaupt ein linkischer Mann ist«, setzte Dot halb lachend, halb weinend hinzu. »Und als sie – das heißt ich, John – ihm alles erzählt hatte, wie sein geliebtes Mädchen ihn für tot gehalten, und wie sie sich schließlich von ihrer Mutter zu einer Heirat habe überreden lassen, die die gute alte Dame in ihrer Einfalt vorteilhaft nannte, und als sie – das heißt wieder ich, John – ihm erzählte, daß sie noch nicht verheiratet (wenn auch kurz davor) seien und daß, wenn diese Heirat zustande käme, es nur eine Aufopferung für die Mutter wäre, da auf ihrer Seite gar keine Liebe vorhanden sei, und als er bei dieser Nachricht vor Freude fast toll wurde, da sagte sie – das heißt nochmals ich, John – daß sie ihm helfen wolle, wie sie das früher schon oft getan, daß sie John und sein Liebchen ausforschen werde und daß sie überzeugt sei, daß das, was sie – wieder ich, John – dachte und tun würde, das Richtige sei. Und es war das Richtige, John! Und da wurden sie zusammengebracht, John! Und dann wurden sie getraut, John – vor einer Stunde! Und hier steht die junge Frau! Und Gruff und Tackleton kann sich als Junggeselle begraben lassen! Und ich bin eine glückliche kleine Frau, May, und der Himmel schenke Euch seinen Segen!«

Nebenbei bemerkt – und das muß festgestellt werden –: sie war ein unwiderstehliches kleines Geschöpf; aber nie war sie so absolut unwiderstehlich gewesen, wie in ihrer augenblicklichen Freude. Niemals hat es so zärtliche Glückwünsche gegeben wie die, die sie jetzt an sich selbst und an die junge Frau verschwendete.

Inmitten des Tumults der Gefühle, der sich in seiner Brust erhob, hatte der ehrliche Fuhrmann ganz verdutzt dagestanden. Jetzt eilte er auf sie zu; aber Dot streckte ihm abwehrend die Hand entgegen und wich vor ihm zurück.

»Nein, John, nein! Höre alles! Liebe mich nicht eher wieder, als bis du alles gehört hast, was ich dir zu sagen habe. Es war unrecht von mir, etwas vor dir zu verbergen, John, und ich bereue es bitter. Ich hielt es nicht für so schlimm, bis ich mich gestern abend neben dich auf den kleinen Sessel setzte. Aber als ich auf deinem Gesicht las, daß du mich mit Eduard in der Galerie auf und ab hattest gehen sehen; als ich merkte, was du von mir dachtest, da fühlte ich erst, wie leichtsinnig und ungerecht ich gehandelt.

Aber du mein Gott, lieber John, wie konntest du, wie konntest du nur so etwas von mir denken!«

Diese kleine Frau, wie sie wieder schluchzte. John Peerybingle wollte sie wieder in seine Arme schließen. Aber nein, das konnte sie nicht zugeben!

»Bitte, John, noch darfst du mich nicht wieder liebhaben! Noch lange nicht! Daß mich diese beabsichtigte Heirat so traurig machte. Lieber, das geschah, weil ich an May und Eduard dachte, die sich schon als junge Leute so sehr liebten, und weil ich wußte, daß ihr Herz gar nicht an Tackleton dachte. Das glaubst du doch jetzt auch – nicht wahr, John?«

Bei diesem Appell wollte John einen neuen Angriff auf sie machen. Aber sie wehrte ihn noch einmal ab.

»Nein, bleib noch zurück, John, ich bitte dich! Wenn ich dich, wie ich das ja bisweilen tue, auslache und dich linkisch und einen lieben alten Einfaltspinsel und so weiter nenne, so geschieht das nur, weil ich dich so sehr liebe, John, und deine Art und Weise mir so sehr gefällt, daß ich sie um nichts in der Welt anders haben möchte, und solltest du noch morgen am Tage König werden!«

»Hurra hoch!« rief Kaleb begeistert aus. »Ganz meine Meinung!«

»Und wenn ich von Leuten von reifem und gesetztem Alter rede, John, und behaupte, wir gäben ein komisches Paar ab und liefen nur so dahin wie ein hinkendes Gespann, – das geschieht nur, weil ich ein so albernes kleines Geschöpf bin, John, und bisweilen sogar mit dem Wickelkindchen ein wenig Posse spiele.«

Sie sah, daß er sich wieder näherte, hielt ihn aber zum dritten Mal zurück. Doch beinahe wäre es zu spät gewesen.

»Nein, liebe mich ein paar Minuten lang noch nicht, wenn ich bitten darf, John! . . . Was mir ganz besonders am Herzen liegt, habe ich bis zuletzt aufgespart. Mein lieber, guter, rechtschaffener John, als wir neulich abend von dem Heimchen redeten, da hatte ich ein Geheimnis auf den Lippen, nämlich, daß ich dich anfangs nicht ganz so sehr liebte wie jetzt; daß, als ich zum erstenmal hierher in dein Haus kam, ich fast fürchtete, ich könnte dich nicht ganz und gar so lieben lernen, wie ich hoffte und wünschte – ich war ja noch so jung, John! Aber, lieber John, mit jedem Tage, mit jeder Stunde liebte ich dich mehr. Und wäre es mir möglich, dich noch mehr zu lieben, als es der Fall ist, so geschähe es wegen der edlen Worte, die ich heute morgen von dir hörte. Aber das ist unmöglich. All die Zärtlichkeit, die ich besaß, – und das ist eine große Menge, John – habe ich dir geschenkt, wie du es auch verdientest; und zwar schon lange, schon sehr lange, und so habe ich dir nun nichts mehr zu geben. Und jetzt, mein lieber Mann, drücke mich an dein Herz! Hier ist mein Heim, John, und denke nie, nie wieder daran, mich nach einem andern zu schicken!«

Niemals könnt ihr eine solche Freude darüber empfinden, wenn ihr eine wundervolle kleine Frau in den Armen eines andern seht, wie ihr sie empfunden haben würdet, hättet ihr gesehen, wie Dot dem Fuhrmann entgegeneilte. Es war der vollkommenste, ungetrübteste, herzinnigste Ausbruch von Zärtlichkeit, den ihr Zeit eures Lebens gesehen habt.

Das dürft ihr mir glauben, daß der Fuhrmann sich in einem Zustande vollkommener Glückseligkeit befand, und daß es mit Dot ebenfalls so war, ja daß es bei allen der Fall war – einschließlich Tilly Tolpatschs, die vor lauter Freude reichlich Tränen vergoß, und da sie den Wunsch hegte, daß ihr junger Zögling an der allgemeinen Freude sich ebenfalls beteiligte, reichte sie ihn sämtlichen Anwesenden der Reihe nach hin, als wäre er irgendeine Erfrischung gewesen.

Aber jetzt konnte man draußen wieder den Ton von Rädern hören, und jemand sagte, daß Gruff und Tackleton zurückkehre. Wirklich tauchte bald darauf dieser würdige Herr auf, und zwar mit aufgeregtem und hochrotem Gesicht.

»Na, was zum Teufel ist denn das, John Peerybingle?« rief er. »Da muß ein Mißverständnis vorliegen. Ich hatte mit Frau Tackleton eine Zusammenkunft an der Kirche verabredet, aber ich möchte darauf schwören, daß ich ihr begegnet bin, als ich hierher fuhr . . . Ah, da ist sie ja! Verzeihung, mein Herr: habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen – aber wollten Sie mir wohl die Gunst gewähren, mir diese junge Dame abzutreten? – sie hat heute eine ganz besondere Verabredung.«

»Tut mir leid, aber ich kann sie nicht einen Augenblick entbehren«, versetzte Eduard. »Gar kein Gedanke daran!«

»Was wollen Sie damit sagen, Sie Vagabund?« fragte Tackleton.

»Ich will damit sagen«, entgegnete der andere lächelnd, »daß ich, da ich auf Ihren Zorn Rücksicht nehmen muß, allen Ihren Reden gegenüber heute ebenso taub bin, wie ich es gestern gegen alle Reden war.«

Welch einen Blick ihm Tackleton zuwarf! Und wie er plötzlich erschrak!

»Ich bedaure, mein Herr«, fuhr Eduard fort, indem er Mays Hand und besonders den Goldfinger emporhielt, »ich bedaure, daß diese junge Dame Sie nicht in der Kirche treffen kann; aber da sie heute morgen bereits einmal dort gewesen ist, so haben Sie vielleicht die Güte, sie zu entschuldigen.«

Tackleton starrte nach dem vorgezeigten Goldfinger, und dann zog er aus seiner Westentasche ein Stückchen Seidenpapier, das, wie es schien, einen Ring enthielt.

»Fräulein Tilly«, sagte Tackleton, »wollten Sie wohl so freundlich sein, das ins Feuer zu werfen? . . . So, danke.«

»Sehen Sie«, begann Eduard wieder, »sie hatte sich mit mir schon früher verlobt – und so ist es meiner jungen Frau nicht möglich, zu Ihrem Stelldichein zu kommen.«

»Herr Tackleton wird mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, anzuerkennen, daß ich ihm alles ehrlich berichtete«, sagte May errötend, »und daß ich ihm oft erklärt habe, es sei mir unmöglich, es jemals zu vergessen.«

»O gewiß!« versetzte Tackleton. »O gewiß! Natürlich. Vollkommen richtig. O, ganz in der Ordnung, Mrs. Eduard Plummer – vermutlich?«

»Das ist ihr jetziger Name«, erwiderte der junge Ehemann,

»Ah! Ich hätte Sie nicht wiedererkannt, mein Herr«, sagte Tackleton, indem er aufmerksam sein Gesicht musterte und ihm eine tiefe Verbeugung machte. »Wünsche Ihnen viel Vergnügen, mein Herr!«

»Gleichfalls.«

»Mrs. Peerybingle«, fuhr Tackleton fort, indem er sich plötzlich nach der Seite wandte, wo Dot mit ihrem Mann stand, »ich drücke Ihnen mein Bedauern aus. Sie haben mir zwar nie ein besonderes Wohlwollen bewiesen, aber, bei meinem Leben, ich drücke Ihnen mein Bedauern aus. Sie sind besser, als ich glaubte . . . John Peerybingle, empfangt ebenfalls den Ausdruck meines Bedauerns. Ihr versteht mich; das genügt. Alles in Richtigkeit, meine Herren und Damen, und zwar zu allseitiger Zufriedenheit. Guten Morgen!«

Mit diesen Worten ging er über die Sache hinweg und ging dann selber von dannen – nur einen Augenblick an der Haustür blieb er stehen, um seinem Pferde den hochzeitlichen Blumen- und Bänderschmuck vom Kopfe zu reißen und diesem armen Tier einen Tritt in die Rippen zu versetzen; vermutlich wollte er ihm auf diese Weise kundtun, daß gerade nicht alles in Richtigkeit sei.

Natürlich wurde es jetzt eine ernste Pflicht, diesen Tag so zu feiern, daß er sein Andenken für immer in dem Festkalender des Hauses Peerybingle zurückließ.

Demgemäß machte sich Dot an die Arbeit, um ein Mahl zu bereiten, das ihr Haus und alle, die ihm verwandt und zugetan sind, mit unsterblicher Ehre bedecken sollte; und in kürzester Frist hatte sie ihre mit Grübchen geschmückten Ellenbogen in Mehl getaucht, wobei sie sich das Vergnügen machte, Johns Rock weiß anzustreichen, sooft er ihr nahe kam, indem sie ihn anhielt, um ihn abzuküssen. Dieser gute Bursche wusch das Gemüse, zerschnitt die Rüben, zerbrach die Teller, stieß die mit Wasser gefüllten Töpfe am Feuer um und machte sich überhaupt in jeder Weise nützlich, während ein paar Köchinnen von Beruf, die in der Eile – just wie bei einem Sterbefall oder einer Geburt – irgendwoher aus der Nachbarschaft zusammengerufen waren, in allen Türen und an allen Ecken gegeneinander rannten und immerfort über Tilly Tolpatsch und das Wickelkindchen stolperten. Noch nie hatte Tilly sich durch ihre Leistungen so ausgezeichnet. Ihre Allgegenwart erregte allgemeine Bewunderung. Sie war ein Stein des Anstoßes im Flur um zwei Uhr fünfundzwanzig Minuten; eine Fallgrube in der Küche um genau halb drei und eine Art Fallstrick in der Dachkammer fünfundzwanzig Minuten vor drei. Des Kindes Kopf war sozusagen ein Prüfstein für jede Art von Gegenstand – mochte er ins Tier-, Pflanzen- oder Mineralreich gehören. Nichts war an diesem Tage im Gebrauch, das nicht früher oder später nähere Bekanntschaft mit ihm machte.

Dann wurde eine große Expedition ausgerüstet, um Mrs. Fielding aufzusuchen und vor dieser vornehmen Dame reuig und bußfertig zu sein und sie, wenn nötig, mit Gewalt herzubringen, um glücklich zu sein und Absolution zu erteilen. Und als die Expedition sie entdeckte, wollte sie von nichts hören, sondern wiederholte unaufhörlich, sie habe einzig gelebt, um einen solchen Tag erleben zu müssen, und man konnte sie nicht dazu bringen, etwas anderes zu sagen als: »Nun legt mich nur ins Grab hinein« – eine recht unvernünftige Redensart, weil sie weder tot war, noch die Absicht zu sterben hatte. Nach einiger Zeit verfiel sie in einen Zustand beunruhigendster Ruhe und bemerkte, sie habe damals, zur Zeit jener verhängnisvollen Wendung im Indigohandel, deutlich vorausgewußt, daß sie ihr ganzes Leben lang jeder Art von Beleidigung und Beschimpfung ausgesetzt sein würde, und sie sei gar nicht erstaunt, daß es wirklich so gekommen sei, und sie bitte nur, man möge sich ihretwegen nicht bemühen – denn was sei sie? Du lieber Gott, ein Nichts! Man würde ja bald vergessen haben, daß so ein armes Geschöpf wie sie überhaupt gelebt habe, und die Welt würde sich schon ohne sie behelfen. Aus diesem beißenden bittern Ton ging sie zu einem zornigen über und verstieg sich zu der großartigen Äußerung, der Wurm krümme sich, wenn er getreten werde. Hierauf trat eine Stimmung milder Wehmut ein: wenn man sie nur ins Vertrauen gezogen hätte – was für nützliche Ratschläge hätte sie nicht geben können! Diese Krisis in ihren Gefühlen benutzte die Deputation, umarmte sie, und nicht lange nachher hatte sie ihre Handschuhe angezogen und befand sich in tadelloser Vornehmheit auf dem Wege nach John Peerybingles Hause, ein Papierpaket an der Seite mit einer Staatshaube, die fast ebenso groß und jedenfalls ganz ebenso steif war wie eine Bischofsmütze.

Dann mußten in einem zweiten Wagen Dots Eltern geholt werden, und da diese auf sich warten ließen, geriet man in große Unruhe und blickte beständig die Straße hinunter, ob sie noch nicht kämen, und Mrs. Fielding schaute jedesmal nach der verkehrten, ja, vollständig unmöglichen Richtung, und als man sie hierauf aufmerksam machte, sprach sie die Hoffnung aus, sie werde doch wohl die Freiheit haben, hinzublicken, wohin es ihr beliebe. Endlich kamen sie: ein kleines rundliches Paar, in jener zierlichen gemächlichen Weise einherschreitend, die ganz zu der Dot’schen Familie gehörte, und Dot und ihre Mutter hatten eine wunderbare Ähnlichkeit, wie sie so nebeneinander saßen.

Und nun mußte Dots Mutter ihre Bekanntschaft mit Mays Mutter erneuern, und Mays Mutter hob immer wieder ihre Vornehmheit hervor, wogegen Dots Mutter weiter nichts als ihre rührigen kleinen Füße rühmte. Und der alte Dot – ich meine Dots Vater: ich vergaß, daß es nicht sein eigentlicher Name war: aber das ist ganz gleich – der alte Dot erlaubte sich allerlei Freiheiten; schüttelte Leuten, die er bisher nie gesehen, die Hände und schien an einer Haube nichts zu finden, als eine gewisse Menge von Stärke und Musselin, hatte auch dem Indigohandel gegenüber nicht den geringsten Respekt, sondern sagte, daran sei nun einmal nichts zu ändern – kurz er war, nach Mrs. Fieldings summarischem Urteil, ein guter Mann – aber du grundgütiger Himmel, wie ungebildet!

Um nichts hätte ich Dot missen mögen, wie sie in ihrem Hochzeitsstaate die Honneurs machte – und meinen Segen über ihr strahlendes Gesicht! Ja, auch den guten Fuhrmann nicht, der so innerlich froh und mit so hochrotem Gesicht unten am Tisch saß. Noch den gebräunten frischen Matrosen und seine hübsche junge Frau. Noch sonst jemand von den Gästen. Das Essen missen, hieße ein so vergnügtes solides Festmahl missen, wie man sich nur eins wünschen kann: ebenso gut hätte man die überfließenden Becher missen können, aus welchen man auf den Hochzeitstag trank, und das wäre sicherlich der allergrößte Verlust gewesen.

Nach dem Festmahl sang Kaleb sein Lied von der schäumenden Bowle. Und so wahr ich am Leben bin und es noch einige Jahre zu bleiben hoffe, – er sang alle Strophen bis zu Ende.

Und nebenbei bemerkt, gerade in dem Augenblick, als Kaleb mit dem letzten Vers fertig war, geschah etwas ganz und gar Unerwartetes.

Es wurde leise an die Tür geklopft, und ein Mann mit etwas Schwerem auf dem Kopfe kam, ohne zu sagen: »Darf ich?« oder »Mit Eurer Erlaubnis« ins Zimmer gestolpert. Er stellte eine Last mitten auf den Tisch, genau in die Mitte von Nüssen und Äpfeln, und sagte:

»Kompliment von Mr. Tackleton, und da er von dem Hochzeitskuchen selbst keinen Gebrauch mehr machen könne, so möchtet Ihr ihm die Ehre antun, ihn zu verspeisen.«

Mit diesen Worten ging er wieder von dannen.

Wie man sich leicht vorstellen kann, war die Gesellschaft sehr überrascht. Mrs. Fielding, eine Dame von unendlichem Scharfsinn, äußerte sich dahin, der Kuchen sei vergiftet, und erzählte sofort die Geschichte eines Kuchens, von dem ein ganzes Mädchenpensionat blau angelaufen sei. Aber sie ward durch Akklamation überstimmt, und der Kuchen wurde mit großer Feierlichkeit und unter allgemeinem Jubel von May selbst zerschnitten.

Noch niemand, glaube ich, hatte davon gekostet, als zum zweitenmal an die Tür geklopft wurde, und es erschien derselbe Mann mit einem großen braunen Paket unter dem Arm.

»Kompliment von Mr. Tackleton, und hier schicke er einige Spielsachen fürs Wickelkindchen. Und sie seien nicht häßlich.«

Nachdem er hiermit seinen Auftrag ausgerichtet, eilte er wieder davon.

So groß war das Erstaunen der ganzen Gesellschaft, daß sie sehr verlegen um Worte gewesen wäre, selbst wenn sie Zeit genug gehabt hätte, danach zu suchen. Aber es blieb ihr keine Zeit übrig; denn kaum hatte der Bote die Tür hinter sich geschlossen, als zum drittenmal geklopft wurde und Tackleton selbst ins Zimmer trat.

»Mrs. Peerybingle«, begann der Spielwarenhändler mit dem Hut in der Hand, »es tut mir sehr leid. Jetzt noch mehr als heute morgen. Ich habe Zeit gehabt, darüber nachzudenken . . . John Peerybingle, ich bin von Haus aus ein alter Griesgram; aber ich kann nicht anders mehr oder weniger weichmütig werden in Gesellschaft eines Mannes, wie Ihr seid . . . Kaleb, dieses ahnungslose Kindermädchen, gab mir gestern abend einen rätselhaften Wink, zu dem ich nun die Lösung gefunden habe. Ich erröte, wenn ich daran denke, wie leicht ich Euch und Eure Tochter an mich hätte fesseln können und welch ein erbärmlicher Tropf ich war, als ich sie für einen solchen hielt! Ihr Freunde – erlaubt mir, Euch alle miteinander so zu nennen! – mein Haus ist heute abend ganz verlassen. Nicht einmal ein Heimchen hab ich an meinem Herd. Ich habe sie alle verscheucht. Habt Mitleid mit mir; laßt mich in Eurer glücklichen Gesellschaft auch froh sein!«