François Coppée

Autorisierte Übersetzung aus dem Französischen von
E. Wulkow. 

Vor Jahren sah ich an der Table d’hote eines Hotels, wo ich öfter mit einem Freunde speiste, einen jener Narren oder Betrüger, die sich für Ludwig XVII. ausgeben.

Er war ein ziemlich hochgewachsener, magerer Greis, mit rotem, verschrumpftem Gesicht und einer aristokratischen Nase. Ein besonderes Merkmal an ihm war, daß ihm ein Arm fehlte und der leere Aermel seines feierlichen schwarzen Rockes sorgfältig unter der Achselhöhle zusammengefaltet war. Ich glaube, daß der Mann, dessen Tod seiner Zeit von mehreren Zeitungen gemeldet wurde, eher ein Verrückter, als ein Spitzbube war, denn aus seinen Zügen sprach eine ehrliche Offenheit. Trotzdem es, wie man mir sagte, nicht schwer hielt, aus dem Alten die Aufzählung seiner Leiden als verkannter Dauphin von Frankreich herauszulocken, überkam mich nie die Neugierde, es zu thun, und keiner der jungen Leute, die mit ihm an derselben Tafel aßen, war je so grausam, sich über den Aermsten lustig zu machen. Sie behandelten ihn alle mit der seinem Alter gebührenden Achtung und dem Mitleid, das seine fixe Idee einflößte. Da ich dem guten Beispiel meiner Tischgenossen folgte, so habe ich den angeblichen König, diesen ältesten Sohn der Kirche, nur von Ansehen und nicht vom Sprechen gekannt.

Aber der Anblick dieses Greises, der sich für den erlauchten Märtyrer des Temple ausgab, genügte schon, um die Phantasie eines jungen Dichters anzuregen, und dieser falsche Dauphin, den mir der Zufall in den Weg führte, war die Veranlassung, daß ich damals den Plan zu einem Theaterstück faßte, den ich aller Wahrscheinlichkeit nach nie ausarbeiten werde, den ich aber – ich weiß selbst nicht recht, warum – hier in großen Zügen skizzieren will.

*

Ein Edelmann, Graf L…, der persönliche Freund des Grafen von Provence, hat den amerikanischen Feldzug mitgemacht und die liberalen Ideen mit herübergebracht, von denen Lafayettes Armee angesteckt worden ist. Die Revolution bricht aus; er nimmt erst blindlings daran teil, aber bald erschrecken ihn die alles Maß überschreitenden Vorgänge, sie widern ihn an; er zieht sich zurück, und aus dem Feuillantiner Anhänger der gemäßigten republikanischen Partei in Frankreich. Anm. d. Uebers.wird kein Jakobiner. Trotzdem er die Gewaltthaten der Volkspartei verabscheut, bedauert er doch auch die schwankende oder gar verräterische Politik des Hofes; die Flucht nach Varennes bringt ihn auf, und am 10. August ist er nicht mit dem Degen in der Hand auf der Treppe der Tuilerien.

Die Gefangenschaft jedoch, die Verurteilung, der Tod des Königs, vor allem die Hinrichtung der Königin, erfüllen ihn mit Gewissensbissen. Er, der Edelmann, der im Grunde seines Herzens der königlichen Sache treu geblieben war, wirft sich nun sein Zögern und seine Zweifel vor, und um seine frühere Unthätigkeit zu sühnen, entsteht in ihm als heilige Mission der Plan, das königliche, im Temple gefangen gehaltene Kind zu befreien.

Es gelingt ihm auch. Die romantischen Mittel, die er zur Ausführung der Flucht anwendet, sind hier nicht von Belang. In den sagenhaften Erzählungen des Mathurin Bruneau, d’Hervagault, des Baron von Richemont, von Naundorff u. s. w. findet man Stoff genug dazu und hat nur die Qual der Wahl. Sollte es z. B. dem Grafen L… nicht möglich sein, die alte, griechische vor Troja angewandte List wieder aufleben zu lassen, indem er den Dauphin in einem Schaukelpferde entführt? Läßt er dann nicht am besten einen taubstummen Idioten an Stelle des königlichen Kindes im Gefängnisse zurück? Eine Menge solcher Phantasieen sind von sehr ernsten Historikern, wenn ich nicht irre, sogar von Louis Blanc, als mögliche Wahrheiten aufgestellt worden. Da darf sie der Dramatiker denn doch wohl für seine Zwecke benützen.

So ist denn der Dauphin in Freiheit gesetzt; aber in welchem beklagenswerten Zustande befindet er sich! Die rohe Behandlung, die ihm von seinen Henkern zu teil geworden ist, haben den Kleinen auf die niedrigste menschliche Stufe zurückgebracht. Sein Körper ist nur noch eine Wunde; er kann nicht mehr sprechen, und was besonders zu beachten ist, er hat das Gedächtnis verloren: sein Geist ist umnachtet.

Sein Retter, der den Dauphin an einen sichern Ort geflüchtet und ihn mit der sorgfältigsten Pflege umgeben hat, frägt sich nun, was zu geschehen hat. Soll er den jungen Prinzen seinen Verwandten zurückerstatten? In den Augen des einstigen Kampfesgenossen Lafayettes, des freisinnigen Edelmannes, handeln die Brüder Ludwig XVI. schändlich, indem sie Frankreich mit Hilfe fremder Nationen bekriegen. Wenn er ihnen das Kind wieder zuführt, werden sie es in den alten Vorurteilen des Königtums großziehen; und, sollte er eines Tages zum Throne gelangen, so würde er ein schlechter König sein. Da entsteht in dem Gehirn des idealistischen Schwärmers ein eigentümlich kühner Plan: er wird mit dem Prinzen nach Amerika fliehen; die augenblickliche Geistesgestörtheit wird dem Grafen L… zu statten kommen und ihm ermöglichen, den Dauphin in dem Glauben zu erhalten, daß er der Sohn eines einfachen Kolonisten sei. Er wird ihn in den gesunden und thatkräftigen Prinzipien der Arbeit heranwachsen lassen und ihm dann später, wenn die Umstände es erlauben oder gebieten, das Geheimnis seiner Geburt enthüllen und ihm sagen: »Du glaubst der bescheidene Bürger eines freien Staates zu sein? … Nein, du bist der König der Franzosen! Gehe hin, regiere dein Volk und gib ihm die Freiheit!«

Selbstverständlich kann man in einem solchen Drama nicht ohne einen bestimmten Kniff, ohne ein Erkennungszeichen fertig werden. Irgend ein unbestreitbarer Beweis der Identität des Dauphins muß vorhanden sein und da wir nun einmal unsrer Phantasie die Zügel schießen lassen, so sind vielleicht drei von dem Grafen L… auf den Arm des Kindes eingebrannte Lilien gar nicht so übel. Es gelingt dem Grafen sogar, diese Thatsache der Schwester Ludwig XVII., die zugleich seine Mitgefangene im Temple war, der Madame Royale, zur Kenntnis zu bringen.

Graf L… führt sein sonderbares Unternehmen glücklich durch. Nachdem er die Prinzen von der Flucht und dem Schicksale ihres Neffen unterrichtet hat, ermöglicht er es, sich in Nantes mit dem kranken Kinde einzuschiffen, er entkommt nach Amerika, läßt sich im Staate Louisiana nieder und kauft sich mit dem letzten Reste seines Geldes eine kleine Pflanzung. Hier erholt sich der Dauphin langsam und wird wieder vollständig hergestellt. In seinem Gedächtnisse bleiben jedoch große Lücken, so daß er von der Vergangenheit zwar eine schreckliche, aber ganz unklare Vorstellung bewahrt.

Die Jahre vergehen, und während drüben auf dem alten Kontinent Napoleon die Karte von Europa umstößt und wieder umstößt, wächst der Sohn Ludwigs XVI. zu einem schönen, stolzen und mutigen jungen Mann heran; sein vermeintlicher Vater, der Edelmann-Farmer, der jeden Abend in seinem Blockhaus Rousseaus »Emile« studiert, hat seinen Schüler in freien und philosophischen Lebensprinzipien erzogen.

Bei der Nachricht von dem Mißgeschick der Großen Armee in Rußland und von der Schlacht bei Leipzig verfällt der Graf in ernstes Nachdenken. Er ahnt, daß das Kaiserreich zusammenstürzen wird und daß die Stunde naht, wo er dem Dauphin das Geheimnis seiner Geburt enthüllen muß. Da erkrankt der Graf und zwar lebensgefährlich. Er entwirft ein feierliches Sendschreiben an seinen einstigen Freund, den Grafen von Provence, jetzt Ludwig XVIII., König von Frankreich, und drückt sein volles Wappensiegel darunter. Im Todeskampf offenbart er dem erschütterten jungen Mann alles, übergibt ihm den Brief und stirbt.

Großartig? Nicht? Und dann der Monolog an der Leiche des Grafen! Welche Schleusen eröffnen sich da nicht für die Beredsamkeit eines geschickten Autors! Da ich aber nur in großen Zügen entwerfe, so wie es mir gerade in die Feder fließt, so muß ich den Gang der Handlung so viel als möglich beschleunigen.

Der junge Prinz landet in den letzten Tagen des März 1814 in Havre und kommt mit den Alliierten zugleich nach Paris. Wir finden ihn hinter den Festungsmauern von Clichy mit dem Gewehre in der Hand, dann beim Donner der Kanonen, den er zum erstenmal zu hören glaubt, folgt er unbewußt der Stimme des Patrioten in ihm, und einer der letzten Schüsse, die den Kaiser gegen die fremden Nationen verteidigen, wird von dem Haupte der Bourbonen abgefeuert!

Wenn das kein Knalleffekt ist, dann verstehe ich mich nicht auf die Theatermache!

Schwer vor Clichy verwundet, wird der junge Mann in einer Pariser Familie aufgenommen und gepflegt, und die Tochter des Hauses … das genügt ja wohl schon als Hinweis auf die unentbehrliche Liebesgeschichte des Dramas … Bis er wieder genesen ist, hat sich alles entschieden: die Restauration hat sich vollzogen; Ludwig XVIII. sitzt nochmals auf dem Throne, und das alte Königtum ist fast wiederhergestellt. Mein liberaler Bourbone kann dies nicht dulden; er wird sich seinem Onkel zu erkennen geben, wird seine Rechte fordern und seinem Volke eine Aera der Unabhängigkeit und des Gedeihens eröffnen.

Ich muß nun leider auf Ludwig XVIII. ein schlechtes Licht werfen und kann ihm nur eine Nebenrolle zuerteilen, die Rolle des Verräters; aber dramatische Dichter kennen kein Erbarmen und opfern selbst Vater und Mutter einer Situation zuliebe.

So wären wir denn bei der Scene zwischen Ludwig XVII. und Ludwig XVIII., bei der Hauptscene, beim Höhepunkt der Handlung, angelangt.

Der König ist von der Glaubwürdigkeit des jungen Mannes überzeugt. Graf L… hat ihn ja auch seinerzeit von der Flucht des Dauphins benachrichtigt; er erkennt nicht nur die Schrift, sondern auch die Anschauungsweise seines ehemaligen Freundes in dem Briefe wieder. So scheint sich denn die Hoffnung des Grafen zu erfüllen; er gibt Frankreich einen Fürsten, der die Revolution verzeihen und deren Forderungen annehmen und bewilligen wird. Erst hat Ludwig XVIII. eine wahrhaft königliche Regung! Er wird sich dem Hauptgesetze der erblichen Monarchie unterordnen und wird die Krone, die er so lange ersehnt und erhofft hat, zu den Füßen des Hauptes der Dynastie niederlegen. So schwer ihm das Opfer fällt, er will es bringen! Er breitet die Arme aus, und nach einer langen, innigen Umarmung begegnet er seinem Neffen mit der höchsten Verehrung, nennt ihn »Sire« und »Euer Majestät«, und während er mit seinen von Gicht geplagten Beinen stehen bleibt, nötigt er ihn in den königlichen Sessel.

Aber dies ist nur eine vorübergehende Anwandlung von Rührung und Edelmut. Der ehrgeizige und schlaue Politiker kommt bald wieder zum Vorschein. Indem er sich auf sein Alter und seine Verwandtschaft beruft, fragt er den jungen Mann aus, gibt ihm gute Ratschläge und forscht nach seinen Zukunftsplänen. In kurzen Zügen entwickelt Ludwig XVII. sein politisches Glaubensbekenntnis: er wird jede Freiheit gewähren, jede Reform einführen! Da entsteht in dem alten Bourbonen, der übrigens aufrichtig davon überzeugt ist, daß er Frankreich zu Grunde richtet, wenn er es diesem jungen Revolutionär ausliefert, ein verbrecherischer Gedanke.

»So ist also,« sagt er in gereiztem Tone zu dem Prinzen, »Ihr Ideal dasselbe, wie das der Mörder Ihrer Familie und Ihres Vaters, des Märtyrer-Königs?«

»Ich denke nur noch,« erwiderte der Dauphin, »an das, was mein Vater auf dem Schafott gesprochen hat und was auch das Wirbeln der Trommeln nicht übertäuben konnte: Ich verzeihe meinen Feinden!«

Daran hat der alte König vollständig genug! Er wirft das Schreiben des Grafen L…, den einzigen Beweis der Identität seines Neffen, ins Feuer und schleudert dem Unglücklichen die schrecklichen Worte ins Gesicht: »Der Dauphin ist als Gefangener im Temple gestorben. … Ich kenne Sie nicht. … Sie sind ein Betrüger oder ein Narr. … Entfernen Sie sich, oder ich lasse Sie durch meine Lakaien hinauswerfen!«

Empört über eine solche unerhörte Verweigerung allen Rechtes, nimmt der Prinz den Kampf auf. Endlich nach einer Unzahl von Hindernissen, die es zu überwinden galt, gelangt er bis zu seiner Schwester, der Madame Royale, die mit ihm in der Gefangenschaft geschmachtet hatte und inzwischen Herzogin von Angouléme geworden war. Sie ist bei dem Anblick der bourbonischen Züge des jungen Mannes und der drei auf seinem Arme eingebrannten Lilien aufs tiefste erschüttert; aber diese Beweise genügen nicht, und um Zweifel in der Herzogin wachzurufen, erteilt der König seinen Geheimpolizisten den Befehl, da und dort falsche Dauphins auftauchen zu lassen. Schließlich gibt der Prinz, angeekelt von dem Umstande, daß er mit Intriganten und Narren auf dieselbe Stufe gestellt wird, entmutigt den Kampf auf und verschwindet vom Schauplatze der Oeffentlichkeit, getröstet wenigstens durch die Liebe eines Weibes, von dem ihn der Thron für immer getrennt hätte.

Dies ist jedoch der Ausgang des Dramas nicht. So glatt darf es nicht ablaufen! Das Stück findet seinen Abschluß in einem Epiloge. Auf einer Barrikade in den Straßen von Paris, im Juli 1830, fällt Ludwig XVII., das Haupt der Bourbonen und rechtmäßiger König von Frankreich und Navarra, für die Rechte des Volkes, indem er sterbend ausruft: »Es lebe die Republik!«

*

Dies ist das sensationelle Drama, das ich mit zwanzig Jahren entwarf und das der Anblick des Einarmigen, der mit mir an derselben Table d’hote speiste, in mir angeregt hatte. Zu jener Zeit fand ich es großartig, heute bin ich etwas kleinlaut damit.

Damals glaubte ich einigermaßen an staatsumwälzende Ideen und an die Schöpfungen der freien Phantasie. Seither habe ich mich sehr verändert. Ich denke über politische Dinge mit nachsichtigem Skepticismus und – eine seltene Ausnahme unter meinen Zeitgenossen – trage keine Verfassung mit mir in der Tasche herum, die dazu bestimmt wäre, das Heil des französischen Volkes zu begründen. Was nun die willkürlichen und verwickelten Erfindungen der Feuilletonromane und der Kriminalnovellen anbelangt, so bin ich zwar ein großer Freund davon, gebe sie aber alle für eine Seite gut geschriebener Prosa oder, was noch mehr wert ist, für ein paar schöne Verse dahin.

Obendrein haben sich die Legenden von den Dauphins längst überlebt. Ich verzichte deshalb darauf, meinen »Ludwig XVII.« zu schreiben, der ohnehin dem »Falschen Demetrius« und dem »Falschen Smerdis«, dieser aus der Mode gekommenen dramatischen Richtung des vergangenen Jahrhunderts, zu sehr gleicht.

Sollte jedoch irgend ein junger Dichter die Lust in sich verspüren, diesen Entwurf auszuarbeiten und im Nationaltheater auspfeifen zu lassen, so bin ich gern bereit, ihm in Beziehung auf meine Autorrechte so viel als möglich entgegenzukommen; mehr kann man wohl nicht von mir verlangen.