Krank.
François Coppée
Verlag von J. Engelhorn
Wenn du, lieber Leser, es liebst, müßig umherzuschlendern, so ist dir wohl manchmal am Palais Royal oder in der Rue Vivienne ein Straßenbummler aufgefallen, der vor den ausgestellten Leckerbissen des Restaurants Very oder vor den glänzenden Schaufenstern der Delikatessenhandlung von Potel & Chabot wie festgebannt stehen blieb, eine jener kläglichen Gestalten, die, in den Straßen von Paris umherirrend, bis in die sonnigen Junitage hinein einen alten Paletot mit mottenzerfressenem Pelzkragen über die Schultern hängen haben und, wenn im Dezember die Bäche vom Eise starren, vor Kälte zitternd in einem während der letzten Hundstage verblichenen Alpakarocke einherwandeln. Es durchschauert einen, nicht wahr? wenn man die heißhungrigen Blicke sieht, die der arme Teufel auf die Kisten mit Erstlingsgemüsen und Frühobst, auf die Bündel von feingefiederten Rebhühnern und Wachteln, die feisten mit Trüffeln unterlegten Truthennen heftet. Oder hast du im Vorübergehen bisweilen die aufflammende Begierde bemerkt, die in den Augen des kaum mit dem ersten Flaum geschmückten Primaners leuchtet, wenn er durch die Spiegelscheiben eines Friseurladens hindurch die Wachsbüste einer schönen Dame betrachtet, die, den Kopf zur Seite gewendet, mit gezierter Gebärde den Nestel ihres rosafarbenen Leibchens auf ihrem kleinen Finger emporhält?
In einem ähnlichen Zustand lüsterner Begehrlichkeit hatte Albéric bis jetzt dahingelebt, wie ein Verhungernder vor den Herrlichkeiten des Bratenverkäufers, wie eine junge türkische Schildwache, die durchs Schlüsselloch ins Innere des Harems blickt. Und nun war er plötzlich Knall und Fall, ohne jeden Uebergang, reich geworden, konnte eine halbe Million auf der Bank deponieren, sah alle Lust und alle Wonnen des Lebens offen vor sich liegen. Sein erster Trieb, wir wollen es nur gestehen, war, sich in den Strudel des Genusses zu stürzen. Er wollte wahrlich nicht damit beginnen, sein Kapital in Staatspapieren anzulegen und wie ein Erzphilister von seinen Renten zu leben. Zuvor hatte er das Versäumte nachzuholen; er wollte wenigstens eine Zeit lang sich ebensoviel gönnen, als er entbehrt hatte, er wollte wie ein Nabob leben, ohne zu rechnen, ohne sich einen Wunsch oder eine Laune zu versagen, wollte ungehindert alle Früchte genießen, die ihn lockten, mit vollen Händen aus seinem Schatze schöpfen.
»Das darf mir das Leben wohl bieten,« dachte er, während er siegesgewiß das segenbringende Los gegen seine Brust drückte. »Jetzt will ich mir Genugthuung verschaffen für alle im Elend verlebten Jugendjahre, und ich werde nicht ruhen, bis ich zum mindesten hunderttausend Franken vertilgt habe; dann wollen wir weiter sehen. Es wird mir immer noch genug übrig bleiben, um ein angenehmes Leben zu führen.«
Indes wäre es falsch, zu glauben, daß Albéric hartherzig war; nein, er sagte sich zu gleicher Zeit: »Ich werde Gutes thun.«
Natürlich wurde er, sobald man erfuhr, daß er das große Los gewonnen habe, ja sogar noch ehe er den Gewinn in Empfang genommen hatte – denn es galt vorher, einige Förmlichkeiten zu erledigen – der Löwe des Tages. Zwanzig Reporter überfielen ihn in seinem elenden Stübchen der Rue Ravignan mit ihrem Notizbuch schon beim Aufstehen, beschrieben in den Zeitungen seine Wohnung so gut als ihn selbst, und achtundvierzig Stunden lieferte er den Zeitungsschreibern reichlichen Stoff zu Sensationsartikeln. Alsbald stürzte sich der ganze Schwarm der Pariser Krähen auf den vom Glück Begünstigten. Aus allen vier Himmelsgegenden eilten die Bettler herbei und belagerten ihn in seiner Wohnung. Da kam der Elsässer, der für Frankreich optiert hatte, seinen Marseiller Accent aber doch nicht ganz verleugnen konnte; der demütige Erfinder im fadenscheinigen Rock, der, seinen Hut ziehend, einen kahlen, birnenförmigen Schädel zeigte, und der freche, geriebene Gauner. Zahllose, von orthographischen Fehlern strotzende, mit Brotkrume verschlossene, von zerfetzten, schmierigen Zeugnissen geschwellte Briefe überfluteten ihn, und auch die flehenden Stimmen der nach Branntwein duftenden Bittsteller verschonten ihn nicht. Eine volle Stunde lang wurde seine ärmliche Dachstube durch den Pelz eines Hochstaplers mit dicker goldner Uhrkette versperrt, der ihn durchaus überreden wollte, sich als Gründer an einer unfehlbaren Spekulation zu beteiligen, an einem Peilenunternehmen, das die Schätze der Armada wieder zu Tage zu fördern bezweckte, und ein achtbarer Familienvater, dessen nach Johannisbeer-Liqueur riechender Atem die Luft verpestete, drohte ihm, sich auf der Stelle eine Kugel durch den Kopf zu jagen, wenn er nicht die zweihundert Franken erhalte, die er in einem Anfall von Wahnsinn aus der Kasse seines Prinzipals entwendet hatte, um seinen fünf Kindern, worunter zwei Zwillinge, Brot zu schaffen. Noch waren keine vierundzwanzig Stunden verflossen, seit Albérics Glücksstern bekannt geworden war, und schon hatte man sich brieflich an ihn gewendet, um sein Interesse für ein junges Mädchen zu erregen (zwanzig Jahre alt, sehr hübsch, vornehme Erziehung), das gern mit einem einzelnen Herrn auf Reisen gehen würde. Ferner sollte er ein von zehntausend Ar Park umgebenes Schloß und für sich selbst das eigene Seelenheil erwerben, indem er großmütig zu der Wiederherstellung eines kirchlichen Baues beisteuerte.
Von diesem greulichen Geschmeiß, das seinen frisch entstandenen Reichtum gleich einem Aas umkreiste, angeekelt, beschloß Albéric, der ganzen Meute der Ausbeuter zu entgehen und sie von seiner Fährte abzulenken, indem er unverzüglich die Wohnung wechselte.
»Allen denen, die nach mir fragen sollten,« bedeutete er am nächsten Morgen seinem Portier, »antworten Sie kurzweg: – ›Ausgezogen, ohne eine Adresse zu hinterlassen‹, und meine Briefe schicken Sie mir ins Hotel Continental, wo ich heute übernachten werde. Mein Zimmer behalte ich bei. Hier haben Sie die Miete für ein Jahr voraus und hundert Franken für sich. Jetzt gehen Sie, mir einen Wagen holen, und tragen dann mein Gepäck herunter, während ich mich bei Frau Bouquet und ihrer Tochter verabschiede.«
Zwei Tage waren vergangen, seitdem Albéric reich geworden war. Cahun & Söhne hatten sich, als er um seine Entlassung eingekommen war, plötzlich voller Zuvorkommenheit gezeigt und ihm einige tausend Franken vorgeschossen, und seit diesen zwei Tagen hatte er oft an seine Nachbarinnen gedacht. Sie waren die ersten gewesen, ihm zu seinem wunderbaren Glücksfall zu gratulieren, und da er sich vorgenommen hatte, auch andre zu beglücken, so hätte er gern mit ihnen den Anfang gemacht. Aber wie sollte er es anstellen? Die beiden Frauen waren stolz, und er selbst durfte sich ja lediglich als ihr Nachbar kaum als ein Freund betrachten. Mit welchem Recht hätte er ihnen ein Geschenk anbieten können? Sie wären sicherlich beleidigt gewesen; es war unmöglich.
So ließ ihn denn sein Reichtum schon zweierlei bereuen: einmal, sein Geld an Unwürdige verschwendet zu haben, denn wohl oder übel hatte er jenen Aufdringlichen doch einige Hände voll Gold zuwerfen müssen, und dann, zu fühlen, daß er einem Unglück gegenüber, das ihn tief ergriff, ohnmächtig war.
Jawohl, so war es. Und während er, vielleicht zum letztenmal, die Treppe dieses Hauses, in dem er so trübselig und so ärmlich gelebt hatte, hinaufstieg, während er bei seinen Nachbarinnen anläutete, fühlte Albéric abermals sein Herz in rascheren Schlägen pochen. Tick, tick, tick, tick, tick. Genau wie die Nähmaschine der kleinen Zoé. Allerdings hatte er ein Mittel an der Hand, und noch dazu ein recht einfaches, um das junge Mädchen mit den treuherzigen Augen an seinem Glücke teilnehmen zu lassen; er brauchte sie ja nur zu heiraten, denn jetzt war er nicht mehr in Verlegenheit, wie er die Kosten der Hochzeit bestreiten sollte. Aber wie? Sollte er sich wirklich auf der Stelle und so ohne weiteres verheiraten? Ein geordneter Ehemann und Spießbürger werden, eine Dynastie kleiner Mesnards gründen, vorsichtig das Kapital seines großen Loses in unzweifelhaft sicheren Papieren anlegen, wie es einem Familienvater geziemt? Nein, das hieße doch allzu vernünftig, allzu alltäglich handeln. Und dann, die entsetzliche Mme. Bouquet! Das wäre gerade die rechte Frau, um die sprichwörtlichen Witze über die Schwiegermütter zu rechtfertigen, und Zoé würde nie darein willigen, sich von ihrer Mutter zu trennen. Bei dem bloßen Gedanken, mit der alten »Schönheit« zusammenleben zu müssen, die, so oft man zum Mittagessen rief, sich von ihrem Lehnstuhl so feierlich erheben würde, als ginge es zum Blutgerüst, überlief es ihn eiskalt. O nein doch, nein! Tausendmal nein! Sein erster Gehrock sollte nicht dem Standesbeamten und dem Pfarrer zuliebe bestellt werden! Zuvörderst wollte er sich einmal seines Lebens freuen, sein Glück und seine Freiheit genießen!
Ach, wiederum eine verabscheuungswürdige Wirkung des Mammons! Er war es, der das erste zärtliche Gefühl, das in Albérics Herzen aufzublühen strebte, bereits im Keim erstickte und ihn zum Egoisten machte.
Der Besuch des jungen Mannes bei Frau und Fräulein Bouquet fiel sehr kurz aus. Er überraschte sie am Mittagstisch bei einem Kalbskotelett, dessen Mittelstück, wie ja nur recht und billig, von Madame Bouquet verzehrt wurde, während Fräulein Zoé den Knochen abnagte. Albéric entschuldigte sich vor allem, sie zu so unpassender Stunde zu stören, und erklärte dann, daß er gekommen sei, Abschied zu nehmen.
»O, selbstverständlich keinen Abschied auf Nimmerwiedersehen,« sagte er; denn er bitte, von Zeit zu Zeit seine Aufwartung machen und sich nach ihrem Befinden erkundigen zu dürfen, sondern nur, weil er eine andre Wohnung beziehe. Er nehme die besten Erinnerungen an ihre guten nachbarlichen Beziehungen mit sich und versichere sie, hier stockte er, und seine Stimme wurde unsicher, daß, wenn er den Damen jemals in irgend etwas angenehm oder nützlich zu sein vermöchte, sie auf seine unbedingte Freundschaft und Ergebenheit rechnen könnten.
Aber mitten in diesem wie ein auswendig gelernter Satz klingenden Anerbieten brach Albéric, durch einen Blick von Madame Bouquet eingeschüchtert, plötzlich ab.
»Vergessen Sie nicht, Herr Albéric,« sagte dieser strenge Blick, »daß Sie eine Dame vor sich haben, die allerdings vom Unglück heimgesucht ist, aber einen unbeugsamen Stolz besitzt. Lassen Sie es sich gesagt sein, daß die Mutter einer zwanzigjährigen Tochter nicht daran denken kann, von einem jungen Gelbschnabel, den sie überdies kaum kennt, unter irgend welchem Vorwand den geringsten Beistand anzunehmen, und erdreisten Sie sich nicht etwa, zu glauben, daß das Ihnen in den Schoß gefallene Vermögen Sie berechtige, einer von den edelsten Gefühlen beseelten Frau gegenüber, die eher Hungers sterben würde, als irgend jemand Dank zu schulden, den Großmütigen zu spielen.«
Wohl suchte Albéric, der die reinsten Absichten hegte, in Zoés Augen nach einer kleinen Aufmunterung; diese aber saß unter dem Bann ihrer Mutter wie versteinert da, die gesenkten Blicke hartnäckig auf ihren Teller geheftet. So kam es, daß der junge Mann nach einer kaum minutenlangen eisigen Unterhaltung durch das Gefühl, hier überflüssig zu sein, in Verlegenheit geriet und, durch das Mißverstehen seiner großmütigen Absichten verletzt, sich kurz empfahl.
»Hol der Teufel die hochnäsigen Frauenzimmer!« brummte er, indem er die Treppe hinunterstieg. »Ich werde sie sobald nicht wieder aufsuchen.«
Mit einem Satze war er an dem Portier vorbei, der unbedeckten Hauptes ehrerbietig den Wagenschlag geöffnet hielt, in der Droschke, auf der sein Koffer bereits untergebracht war und die ihn nach dem Hotel Continental fahren sollte.
Dort empfing man ihn trotz seiner Sonntagskleider beim Anblick des unansehnlichen Gepäcks, das er mit sich führte, ziemlich geringschätzig und wollte ihn unmittelbar unter dem Dache einquartieren. Aber ein Zwanzigfrankenstück belehrte den Portier mit der betreßten Mütze, daß der neue Ankömmling nicht nach dem Schein beurteilt werden dürfe, und Albéric erhielt im zweiten Stockwerk einige schmuck eingerichtete Zimmer. Und als er sodann ans Telephon eilte, um einige berühmte Lieferanten zu sich zu entbieten, ward die gesamte Dienerschaft von tiefster Ehrfurcht für den jugendlichen Reisenden ergriffen.
Jetzt kamen sie angerannt, der Schuster in abgenutzten Stiefeln, um das Sprichwort nicht Lügen zu strafen, der Schneider nach gutem alten Brauch wie ein armer Schlucker und der Hemdenfabrikant wie ein wahrer Schmutzfink angethan. Dies verhinderte sie indessen nicht, große Künstler in ihrem Fache zu sein, und dank dem Zauberworte: »Ich zahle bar und im voraus, wenn Sie wünschen«, erreichte Albéric, daß sie versprachen, ihn unverzüglich nach der allerneuesten Mode einzukleiden, indem sie aufs nachdrücklichste betonten, er möge sich ihrem künstlerischen Genie nur ohne Sorge anvertrauen.
Albéric ließ ihnen freie Hand, und der begeisterte Schneider kündigte ihm einen besonderen Anzug für die Morgenritte als etwas ganz Entzückendes an. Dann ließ er ihm noch aus reiner Gutherzigkeit und um ihn als Neuling in Modeangelegenheiten etwas zu witzigen, die wohlwollende Belehrung angedeihen, daß man diese Kleidung nur bis zwölf Uhr mittags tragen dürfe; wer sich um ein Viertel auf Eins damit auf der Straße sehen ließe, wäre einfach entehrt. Für Nachmittagsbesuche stellte ihm der Kleiderkünstler seine neueste Erfindung in Aussicht, ein Jackett, dem er beinahe wunderbare Kräfte zuschrieb, indem er behauptete, durch dieses Meisterstück der Bekleidungskunst erhielte selbst ein Mißgestalteter das Ebenmaß des bithynischen Antinous, und mehreren Dandys seiner Kundschaft habe er dadurch zu prächtigen Heiraten verholfen.
Nur mit dem Schuhmacher gab es einen kleinen Wortwechsel. Albéric war nämlich unvorsichtig genug gewesen, zu erklären, er wolle keine spitzen Schuhe haben. Auf dem Antlitz des Meisters aber malte sich alsbald ein solch herber Kummer, und er rief mit so schmerzlichem Ausdruck: »Wie mein Herr, die Schnabelschuhe des Prinzen von Wales?«, daß der junge Mann seine Taktlosigkeit einsah und augenblicklich nachgab.
Nach einer langen Unterredung mit diesen Gebietern der Bekleidungskunst blieb Albéric ganz beschämt zurück und bedauerte lebhaft, seinen bisherigen Anzug aus dem Magazin der Belle-Jardinière, der bis vor kurzem die Zierde seines Kleiderschranks gebildet hatte, noch einige Tage länger tragen zu müssen. Indes war zugleich mit dem Reichtum auch das nötige Selbstbewußtsein über ihn gekommen.
»Bah!« sagte er sich, »alles in allem bin ich nicht schlechter gekleidet, als irgend ein englischer Tourist.«
Es war Zeit, sich zum Diner zu begeben. Den Kopf stolz erhoben, trat er in den von elektrischem Lichte glänzend hell erleuchteten Speisesaal, wies die Aufforderung, an der table d’hôte Platz zu nehmen, geringschätzig zurück und bestellte ein Diner à la carte. Die Kellner ließen nicht auf sich warten und wetteiferten in guter Bedienung; wußte man doch jetzt im Hotel, mit wem man es zu thun hatte. Von einem beratenden Kellner unterstützt, der ihm sein Menü mit napoleonischer Entschlossenheit diktierte, konnte er sich an einem köstlichen Mahle erlaben. Dazu schlürfte er eine Flasche pontet-canet, die der Weinkellner in ihrem Weidengeflecht mit soviel zärtlicher Sorgfalt herbeitrug, als handle es sich um ein neugeborenes, vor der Zeit eingetroffenes Kind, dessen zartes Dasein durch die geringste unsanfte Bewegung gefährdet werden könnte.
Während Albéric seinen Kaffee trank und mit Behagen den Duft einer auserlesenen Havanacigarre einsog, die mit einem roten Papierbändchen geschmückt war und auf ihm in goldenen Lettern die in der That nicht wenig schmeichelhafte Inschrift enthielt: » Pour la noblesse!«, kam ihm sein Mangel an Erfahrung und Gewandtheit als Lebemann zum Bewußtsein. Er war reich, und das war sehr schön; aber dabei verstand er weder, sich ein Paar Hosen, noch ein Diner auf die rechte Art zu bestellen. Er brauchte einen Führer, einen Freund, der ihn in die Welt einführte, in der man sich unterhält, ihn in die Geheimnisse seiner neuen Lebensweise einweihte.
Wo sollte er diesen Freund suchen? Ei, konnte er denn nicht seine ehemaligen Schulkameraden vom Gymnasium aufsuchen? Freilich hatte er sie seiner bisherigen Armut halber aus Stolz und Schüchternheit seit lange gemieden und aus den Augen verloren. Wie wäre es auch dem mit achtzehnhundert Franken bei Cahun & Söhnen angestellten Kommis möglich gewesen, einen erträglichen Umgang mit jungen Leuten zu pflegen, die alle oder doch fast alle über einen wohlgespickten Geldbeutel verfügten? Nein, damit hätte er sich zu vielen Demütigungen ausgesetzt! Jetzt aber fühlte er sich ihnen gleichgestellt, nun konnte er auf demselben Fuß mit ihnen leben, und sicherlich würde er einen oder den andern finden, der ihn in gutem Andenken behalten hatte und geneigt wäre, seine gesellschaftliche Erziehung zu übernehmen.
Er fand ihrer zehn, ja zwanzig, und sie ließen sich schnell erbitten. Es waren ja gute Gründe genug vorhanden, um ihm bei all diesen »lieben Kameraden« eine herzliche Aufnahme zu sichern, und einer, der das große Los gewonnen hat, ist niemals zu verachten. Albéric hatte nichts zu thun, als ein prunkvolles Gabelfrühstück mit ganzen Trüffeln zu geben, bei dem viele Brüderschaften getrunken und unzählige Wiedererkennungsscenen gefeiert wurden. Man ließ die goldene Zeit der Schulerinnerungen wieder aufleben, erinnerte sich der im Schulpult aufgezogenen Seidenraupen und der heimlich gerauchten Schuhnestel; es war wahrhaft rührend. Da Albéric seine Absicht stets im Auge behielt, kam es ihm besonders gelegen, daß er den dicken Georges Bordier, den ehemaligen faulen Schüler, der jetzt Börsenspekulant geworden und in den Sport treibenden Kreisen sehr bekannt war, wieder aufgespürt hatte. Nicht weniger freute es ihn, den kleinen Jules Sautelet wieder gefunden zu haben, denselben, der früher in der englischen Stunde so viel Skandal machte und der jetzt als Journalist und Mitarbeiter an verschiedenen Operettentexten freien Zutritt zu den Bühnen der kleinen Theater hatte. Daher nahm er sich denn auch vor, unbeschadet aller Zuvorkommenheit für seine übrigen früheren Studiengenossen, die sämtlich gesetzte Männer geworden und meistenteils verheiratet waren, hauptsächlich die Bekanntschaft dieser beiden eleganten Bummler zu pflegen, die leichtfertig und ledig geblieben waren, und ihm in diesem Pariser Leben, in das er sich nun mit dem ganzen Eifer und der Unerfahrenheit eines soeben aus Peru oder Chili angekommenen Fremden stürzen wollte, als Führer dienen konnten.
Der dicke Bordier und der kleine Sautelet waren ihrerseits durchaus nicht unempfänglich für die ihnen von dem »lieben Kameraden« bewiesene Auszeichnung und gaben ihm dies auch sofort durch eine Probe ihrer Anhänglichkeit zu erkennen. Als man nach beendeter Mahlzeit in Rauchwolken eingehüllt beim Liqueur zusammensaß, als alle Gäste durcheinander sprachen und ein Spektakel herrschte, als quakten hundert Frösche in einem von der Sonne beschienenen Sumpfe, faßte der Börsenmakler Albéric an einem Knopfe seines Jacketts, zog ihn in eine Fensternische und beschwor ihn, sich in seinem eigenen Interesse mit fünfundzwanzig oder dreißigtausend Franken bei einem Unternehmen zu beteiligen, dem man eine ungeheure Zukunft prophezeien könne, nämlich an einer Spielverlustversicherung, ein Vorschlag, den unser neugebackener Kapitalist mit einem macchiavellistischen: »Wir sprechen noch darüber« aufnahm. Was den Journalisten betrifft, so bezeugte dieser seine Freude, einem alten Schulkameraden wieder begegnet zu sein, in nicht minder aufrichtiger Weise, indem er ihn »o, nur bis morgen oder übermorgen«, d. h. bis Ostern oder Trinitatis, wie’s im alten Marlboroughliede heißt, oder wie man in Schwaben sagt, »bis zum Pimpimpelestag«, um die geringfügige Summe von zehn Louisdors anging.
Bei solchen Lehrmeistern machte Albéric reißende Fortschritte in der Kunst, gut zu leben. Ein Möbelhändler, der äußerst gewandt war, zumal in der Kunst, die Rechnung zu vergrößern, richtete ihm in einem neuen Haus der Rue de Châteaudun ein Entresol ein, dessen Wände und Thüren mit so dichten Behängen ausgestattet waren und auf dessen Böden der Fuß so tief in weiche Teppiche versank, daß man hätte glauben können, dies alles sei mit Vorbedacht so angeordnet, um einen Mord zu begehen und die Hilferufe des Opfers zu ersticken. Außerdem schmückte Albéric seine Wohnung in so überladener Weise mit Nippessachen aus, daß er sich bald kaum mehr bewegen konnte, ohne Gefahr zu laufen, irgend eine chinesische oder japanische Vase zu zerbrechen. Er zierte die Wände mit angeblichen Schöpfungen berühmter Meister, ganz kleinen Bildern in riesigen Rahmen; unter anderm mit einem falschen Diaz, einem Herbst, der an eine sole au gratin erinnerte, und einem unechten Ziem, einer Ansicht von Venedig, die aussah, als wäre sie mit Chartreuse und Curaçaoliqueur gemalt. Ja, er fand noch Raum, mehrere indische, chinesische und japanische Gottheiten unterzubringen, die ebenso widerlich anzuschauen als unecht waren, so daß man denken konnte, er gehöre selbst zur gelben Rasse und befleißige sich der Anbetung der zwanzigarmigen und elefantenköpfigen Götzen. Im übrigen besaß Albéric, der sich sofort mitten in den Strudel der Vergnügungen gestürzt hatte und fast nie zu Hause war, ein Bett, dem das der Pompadour als Muster gedient; aber er benützte es nur, um sich zu spät hineinzulegen und schlecht darin zu schlafen; desgleichen eine reiche Sammlung vorzüglich ausgewählter und schön eingebundener Bücher, um nie darin zu lesen, und ein im Renaissancestil eingerichtetes Eßzimmer, um in seltenen Fällen, wenn er gerade einmal nicht wohl war, ein weiches Ei und eine Tasse Thee zum Frühstück darin auftragen zu lassen. Ja, er hatte sogar einen Kammerdiener, dessen Hauptthätigkeit darin bestand, die Zeitungen durchzublättern und die Cigarren seines Herrn zu rauchen, von den Briefen, die auf dem Schreibtisch herumlagen, Einsicht zu nehmen und dank seinen schwarzsamtnen Kniehosen und seinen hellbraunen Tuchgamaschen heillose Verwüstungen in den Herzen der Dienstmädchen seiner Nachbarschaft anzurichten.
Albéric selbst war gänzlich von seiner Schulung für das Leben in der feinen Welt in Anspruch genommen und befand sich daher fast immer auswärts. Gleich des Morgens bestieg er seinen für den Monat gemieteten Wagen, um in die Reitstunde zu fahren. Schon hatte er, nachdem er vierzehn Tage lang an Gliederschmerzen gelitten, die Tollheit begangen, mit einem Tiere auszureiten, das, um mit dem Reitlehrer zu reden, »Charakter hatte« und dies dem unerfahrenen Reiter auch sogleich dadurch bewies, daß es ihn bei strömendem Regen in der Avenue des Bois de Boulogne in den Schmutz warf. Nachdem er eine Stunde lang zu Pferde gesessen und, wie der Pariser sagt, Pfeffer gestoßen hatte, kehrte Albéric rasch wieder in seinen Wagen zurück und ließ sich in aller Eile nach dem Fechtboden fahren, wo er ungeachtet seiner von Natur friedliebenden Gemütsart, die seinen Mitmenschen gegenüber keinerlei blutdürstige Gelüste nährte, sich eifrig darin übte, seinen Gegner nach allen Regeln der Kunst zu töten, indem er ein Florett nach dem andern auf dem Schutzleder des Fechtmeisters abbrach. Also hatte es sein neuer Mentor, der dicke Georges Bordier angeordnet, der sich an jeder Art von Sport und turnerischer Kunst beteiligte und nie weder ein Rennen, noch einen Waffengang versäumte.
Um zwölf Uhr langte Albéric dann mit einem wahren Heißhunger im Klub der Rinnsteinkehrer an, dessen wirklicher Name »Philharmonischer Verein«, »New-Club« oder etwas dergleichen war, dem aber von seinen Mitgliedern, natürlich lauter überzeugten Angehörigen der besten Gesellschaft, mit Vorliebe dieser liebliche Spitzname beigelegt wurde; hier war es, wo der glückliche Gewinner des großen Loses beim gemeinsamen Gabelfrühstück mit seinen beiden Freunden, Bordier dem Börsenmakler und Sautelet dem Vaudevilleschreiber, seine Erziehung zum wahrhaft modernen Dandy vervollständigte. Schließlich drehte sich alles darum, den Anforderungen der neuesten Mode und des feinsten Tones zu genügen, oder, um den neuesten Pariser Ausdruck zu gebrauchen, »mit in dem Zug zu sein«, oder nicht darin zu sein, zu wissen, was » chic« und nicht » chic« war. So z. B. hieß es »mit in dem Zuge sein«, wenn man in der festen Ueberzeugung, zu gewinnen, d. h. nachdem einem das sicher vorauszusehende Resultat durch einen Jockey eingeblasen worden war, bei den Rennen eine Wette einging; und » chic« war es, eine kurze, geschnitzte Holzpfeife auf der Straße zu rauchen, wenn man sich nachts in Gesellschaftstoilette nach Hause begab. Dann kam es noch darauf an, sich so viel als irgend möglich » fin de siècle« zu zeigen. Zum Beispiel galt eine Herzogin mit historischem Namen, die jeden Freitag den Chansonettensängern im Künstlercafé »Zur schwarzen Katze« Beifall klatschte, als » fin de siècle« im vollendetsten Sinne. Albéric aber fehlte es weder an Intelligenz, noch Aneignungsvermögen, und so zeigte er bald das nötige Verständnis und Empfindung für all diese hübschen Nuancen.
Im Klub wurde viel gespielt. Jeden Abend begann nach Schluß des Theaters, d. h. gegen Mitternacht, die große Partie, und selbstverständlich war nichts mehr » chic«, nichts eines vollendeten Klubspielers würdiger, als bis fünf Uhr morgens mit rotem Kopf unter dem riesigen Lichtschirm des grünen Tisches zu sitzen und mit der unbefangensten Miene von der Welt und ohne mit der Wimper zu zucken, Unsummen Geldes zu verlieren oder zu gewinnen. Eine so edle Art, seine Zeit und seine Talente zu verwerten, mußte Albéric, der Ehrgeiz besaß, verlocken. Seine neuen Ratgeber erklärten ihm, wie lobenswert und interessant es sei, seinen Nebenmenschen kraft eines Careaububen ihr Geld abzunehmen oder auf Befehl einer Piqueneun die eigene Börse in die Tasche des ersten besten auszuleeren. So verbrachte denn der Schüler der »höheren Lebensweise«, der sich entschieden machte, ganze Nächte damit, Karten und Spielmarken durch die Finger gleiten zu lassen und bis zum Morgengrauen die wohltönenden Einsilber: » Carte … Bac … Bouche« » Carte«: so viel als: Bitte um noch eine Karte. » Bac«: Baccarat: gleich Null. » Buche«: Karte, die am Spiel nichts ändert. Anm. d. Uebers.zu wiederholen, bis er sich endlich zur Stunde, wo in Paris die Straßenkehrer ihre Arbeit beginnen, nach Hause begab, um bis zur Mittagszeit des nächsten Tages zu schlafen und mit brennendem Kopf und einem bitteren Geschmack im Munde aufzuwachen.
Schon während der ersten zwei Monate dieser neuen Lebensführung wurde Albéric ungefähr dreißigtausend Franken los. Dafür hatte er freilich auch kostbare Kenntnisse erworben. Der Schneider brauchte ihn jetzt nicht mehr darüber zu belehren, daß man das Veston am Nachmittag nicht tragen dürfe, und der Schuster hatte nicht mehr nötig, ihm die spitzen Schuhe aufzudrängen. Er war, was seine Kleidung betraf, hinfort nicht fähig, auch nur einen einzigen Verstoß gegen die herrschende Mode zu begehen. Er wußte, daß man sich lächerlich macht, wenn man seine strohgelben Glacéhandschuhe anzieht, daß es vielmehr genügt, sie funkelnagelneu in der bloßen Hand zu halten; daß es auf der Reise erlaubt, ja geboten ist, ein Hemd mit farbiger Brust, aber mit obligatem weißen Kragen zu tragen, und eine Menge andrer nicht minder wichtiger Dinge. Sofort hatte er sich auch die englische Art, zu gehen, angeeignet und durchschritt nun die Straßen von Paris mit zurückgeworfenem Kopf und abstehenden Ellenbogen, seinen dünnen Regenschirm wie eine schwere Last wagerecht in der herabhängenden Hand tragend. Und welche Fülle andrer nützlicher Kenntnisse hatte er sich nicht angeeignet! Vor ihm hätte es niemand wagen dürfen, die Rennbahn von Chantilly derjenigen von Auteuil an die Seite zu stellen. Man durfte sich nicht einfallen lassen, ihm von den türkischen Cigaretten des Hotel de Bade zu sprechen; denn einzig und allein im Grand Hotel waren sie leidlich zu haben; und man hätte ihm einwenden können, was man wollte, er wußte doch, daß bei niemand anderm ein Schnepfenragout zu essen war als bei Voisin.
Einer der von Albéric unzertrennlichen Freunde, der Journalist Jules Sautelet, hatte, wie bereits erwähnt, in der Theaterwelt, die bekanntlich von Tag zu Tag an Bedeutung gewinnt, ziemlich ausgebreitete Bekanntschaften. Als dramatischer Berichterstatter an einem der Tagesblätter hielt er die Pariser Gesellschaft unter dem sinnreichen Pseudonym »Fußbänkchen« über den Kulissenklatsch auf dem Laufenden. Ihm verdankte man kurz eingeschobene Artikel in folgender Fassung: »Unsere Leser werden mit Vergnügen erfahren, daß der kleine Junge von Fräulein Pfirsichblüte, der bezaubernden Sängerin der Bouffes de l’Ouest, von dem Keuchhusten, an dem er seit einigen Wochen litt, vollständig genesen ist. Jedermann wird gleich uns die Freude der reizenden Divetta teilen.« – Oder auch: »Wir bemerken unter den für die nächste Sitzung des Schwurgerichts im Seinedepartement in der Geschworenenliste bezeichneten Namen auch den des Herrn Le Banqueroutel, des beliebten Direktors der › Fumisteries-Parisiennes‹.« Ein Zeitungsschreiber, der berufen war, derartige wichtige Neuigkeiten anzukündigen, und der in allerletzter Zeit die Macht gehabt, vermittelst eines zweizeiligen Inserats einer Sängerin der Opéra comique ihr entlaufenes Havaneserhündchen wieder zu verschaffen, mußte billigerweise auf allen Bühnen Einfluß besitzen. Auch hatte er sich bereits als fünfter auf dem Theaterzettel verzeichneter Mitarbeiter mit einem Prozent Tantieme in verschiedene Operettentexte eingeschlichen; kurz, er war im Begriff, eine namhafte Persönlichkeit zu werden. Auf den Boulevards wurde er von den Schauspielern dritten Ranges ehrerbietig gegrüßt in der Hoffnung, daß er Reklame für sie machen werde.
Die Direktoren erwiesen ihm Aufmerksamkeiten aller Art; der berühmte Komiker Großmaul ließ sich sogar herbei, Brüderschaft mit ihm zu trinken, und Bräsig, der steinreiche Oberclaqueur, lud ihn bisweilen nach seiner herrlichen Besitzung am Marneufer ein, um einen Fasanen zu schießen.
Ein solcher Mann schien eigens dazu geschaffen, Albéric in jenes geheimnisvolle Paradies hinter den Coulissen einzuführen, das der heiligen Einfalt von weitem wie das Himmelreich der Moslemin erscheint, während sich in Wirklichkeit dort jedes Zartgefühl durch die steilen Treppen, die dunklen Gänge, die rohen Dekorationsmalereien, die wie Menschenfresser tättowierten Komödianten, besonders aber durch die zu einem unausstehlichen Gemisch vereinigten Gerüche von altem Staub, Parfüm und ausströmendem Gase verletzt fühlt. Aber so ist es nun einmal; und es gibt wohl keinen einzigen Pariser, der nicht im Grunde seines Herzens das Los des dienstthuenden Feuerwehrmannes beneidet.
Nun begab es sich, daß das Theater der Fumisteries ein Ausstattungsstück mit eingelegten Couplets über die Bühne gehen ließ, eine Art Jahresrevue mit dem lieblichen Titel: »Wutsch! Fort mit Schaden!« und Sautelet, den sein Priesteramt als Berichterstatter nötigte, alle ersten Aufführungen mit seiner Gegenwart zu beehren, hatte sich von Albéric ins Theater begleiten lassen.
Das Stück – wenn eine zusammenhangslose Reihenfolge von Scenen diesen Namen verdient – war der vollendete Blödsinn. Von einem Knäuel meistenteils krummbeiniger Mädchen in kurzen Röckchen umringt, die falsch sangen, daß es einen Stein hätte erbarmen können, gab Oskar, der berühmte Possenreißer, der die Rolle des Vetters vom Lande spielte, eine Anzahl alberner Reden und ungereimter Antworten aus dem wohlbekannten Werkchen »Eine Million Kalauer für einen Sou« zum besten. Aber das feingeistigste, witzigste Publikum der Welt war von dem sinnlosen Zeug entzückt und klatschte begeistert Beifall.
Plötzlich, als eben der Vetter vom Lande (Oskar war kürzlich mit dem akademischen Palmenorden dekoriert worden) zum Gaudium des Olymps seinen dritten Fußtritt in den Podex erhalten hatte, erschien auf der Bühne ein großes, ziemlich hübsches junges Mädchen mit mattblondem Haar und blauen, wildblitzenden Augen, trotzdem sie in der Vorstadt Charonne geboren und dort an das Gewerbe einer Feinwäscherin gewöhnt war. Sie wurde mit wiederholten Beifallssalven empfangen, die von dem den Erfolg garantierenden Unternehmer vor Beginn der Vorstellung durch einen seinem Personal in der Theaterkneipe gebotenen Johannisbeerliqueur mit Cognak vorbereitet worden waren.
Beim Anblick der Mademoiselle Acacia fühlte Albéric, daß es um seine Ruhe geschehen, daß sein Herz in Fesseln geschlagen sei.
Sie stellte, ein holdes Sinnbild, die künftige Eisenbahn der Metropole dar. Eine kleine Lokomotive aus bemaltem Karton im Haar, deren Rauch durch eine weiße Feder vorgestellt wurde, sang sie mit schriller, kreischender Stimme und gemeinem Vorstadtaccent eine Reihe Couplets, die alle mit dem obligaten Refrain endigten:
» Je suis la Métropolitaine,
Tin, tin, rlintintin.«
und da der Theaterschneider ihr Mieder auf das Unentbehrlichste und ihr Röckchen auf ein Minimum beschränkt hatte, bewies man ihr die Ehre, sie herauszurufen und ein Dacapo zu verlangen. Es war, als habe man ein neues Talent entdeckt, und jedenfalls ein unbestreitbarer Erfolg. Jules Sautelet, der seine Gleichnisse nicht immer vollständig beherrschte, gab in seiner am nächsten Tage erscheinenden Rezension folgende berühmt gewordene Stilblüte zum besten: »Mademoiselle Acacia ist ein zukünftiger Stern, der mit Meisterhand gesungen hat.«
Uebrigens stellte der Journalist noch am selben Abend nach beendigter Vorstellung des »Wutsch! Fort mit Schaden!« seinen leicht zu entflammenden Freund dem »zukünftigen Stern« vor, und von Stund an sah sich der junge Albéric an den Triumphwagen der Mademoiselle Acacia gefesselt.
Er warf sich zum Beschützer dieser interessanten Künstlerin auf und führte von nun an ein beneidenswertes Leben.
Um Mademoiselle Acacia so oft als möglich und aus unmittelbarster Nähe vor der in Verzückung jubelnden Claque erklären zu hören, sie sei die Metropolitaine, » tin, tin, rlintintin«, abonnierte er im Theater der Fumisteries Parisiennes auf einen Sperrsitz rechts, in der ersten Reihe des Parketts, wo er all seine Abende zubrachte und bald mit dem alten im Orchester sitzenden Paukenschläger Freundschaft schloß. Dieser war ein ausgezeichneter Musiker, der seit fünfundzwanzig Jahren die Partitur einer fünfaktigen Oper – vielleicht ein Meisterwerk! – in seinem Pult liegen hatte und jetzt, um sein Brot zu verdienen, im Orchester der Fumisteries die Pauke schlug, überdies auch noch die Aufgabe hatte, alle seltenen Instrumente, wie Triangel, Schellentrommel, Halbmond, Schellengeläute und Kastagnetten zu spielen.
Eines Abends teilte Albéric, der Mademoiselle Acacia ernst nahm und, um ihr ein Auftreten an der Opéra comique zu ermöglichen, soeben im Begriff stand, dem sich zur Zeit in bedrängter Lage befindlichen Direktor dieser Bühne eine ziemlich beträchtliche Summe vorzustrecken, dem alten Paukenschläger seine ehrgeizigen Pläne mit.
»Nicht wahr, in den Dragons de Villars müßte sie reizend sein?«
Aber der Alte begnügte sich, während er mit Hochgenuß ein Prise nahm, zu erwidern: »Warum nicht gar! Diese Schneegans!«
Und Albéric, der sich in seinen heiligsten Empfindungen verletzt fühlte, gab seinen Sperrsitz zur Rechten auf, um ihn gegen einen andern zur Linken des Orchesters umzutauschen, so daß er sich nun den Saiteninstrumenten gegenüber befand und binnen kurzem in freundschaftliche Beziehungen zu dem Konterbassisten trat.
Dieser war ein bescheidener Virtuose mit einem Schnurrbart wie ein Feldwebel und konnte seinem Aussehen nach ebensowohl für einen Civilisten als für einen Militär gelten; des Abends bearbeitete er sein Wimmerholz im Orchester der Fumisteries, und am Tage blies er sich als Musiker der Garde républicaine auf einer Saxposaune außer Atem.
»Sagen Sie mir aufrichtig Ihre Meinung,« redete Albéric ihn schließlich an. »Ist Mademoiselle Acacia nicht wie geschaffen für die Rolle des Schwarzen Domino?« Aber der simple Musikant urteilte nicht minder streng als der verkannte Maestro.
»Diese Pute?« rief er aus. »Sie scherzen!« Jetzt fühlte sich Albéric einigermaßen entmutigt. Er fragte sich, ob es nicht vielleicht doch eine Täuschung sei, wenn er Mademoiselle Acacia berufen wähnte, eine große Künstlerin zu werden. Außerdem belästigte sie ihn seit einiger Zeit durch ihre Anmaßung und ihre Habgier. Sie schäumte vor Wut, wenn sie den Namen einer berühmten Sängerin aussprechen hörte, und konnte am Arm des jungen Mannes an keinem Juwelierladen vorübergehen, ohne wie verzaubert stehen zu bleiben, so oft ihr ein Armband oder eine Brosche in die Augen stach. Ueberdies hatte sie eine sogenannte Tante als Ehrenwächterin bei sich, ein scheußliches altes Weib, das ehemals als Hökerin ihren Karren durch die Straßen gefahren und: »Heringe, frische Heringe!« gerufen hatte, und Albéric jetzt durch die widerliche Vertraulichkeit, mit der es ihn »Mein lieber Junge« nannte und ihm auf den Bauch klopfte, zur Verzweiflung brachte.
So verabschiedete er sich denn von Mademoiselle Acacia, nachdem er die Kränkung des plötzlichen Bruches durch das Geschenk eines Saphirschmuckes gemildert hatte; und sein Freund Bordier, der dicke Börsenagent, für den es kein Vergnügen ohne Stallduft gab, führte den Enttäuschten, um ihn zu trösten, alsbald in den Cirkus der Champs Elysées, wo damals ganz Paris eine junge Amerikanerin, Miß Nelly, bewunderte, die mit ihren Leistungen auf dem Drahtseil, auf dem sie sich knieend und mit fünf Kompottschalen spielend, produzierte, unvergleichlich war.
Ohne Zweifel war dies eine untergeordnete Art von Kunst, aus der sich ein Gentleman, der soeben einer Diva zuliebe allerhand Opfer gebracht hat, nichts hätte machen sollen. Aber Miß Nelly – o diese Blondinen! – war so schön, daß sie den heiligen Antonius in Versuchung geführt haben würde, und dank der Vermittelung des Börsenmaklers machte Albéric noch am selben Abend hinter den Coulissen, d. h. im Stallraum, die Bekanntschaft der jungen Akrobatin, während ihm der Elefant aus seinem Verschlage spöttisch zublinzelte.
Albéric war sogleich Feuer und Flamme, und in all seinen Träumen erschien ihm nun die schöne Amerikanerin unter einer Strahlenkrone von Kompottschalen. Aber Miß Nelly war ein durchaus tugendhaftes Mädchen, was bei den Seiltänzern nichts Ungewöhnliches ist, und lebte höchst ehrbar inmitten ihrer Familie.
Diese war zahlreich genug. Da kam zuerst der ehrwürdige Großvater, der in früheren Jahren am Reck Vorzügliches geleistet hatte und sich nun, als alter Mann auf seinen Lorbeeren ausruhend, damit begnügte, einige Hunde zu seinem Vergnügen abzurichten. Sodann der Vater, ein richtiger Athlet, der nichts Geringeres als eine Schiffskanone, wahr und wahrhaftig! auf seinem Nacken trug und zweihundert Franken wettete, die wohl abgezählt in einem Sack voller Fünffrankenstücke bereit lagen, daß nicht einer unter den anwesenden Dilettanten des hochgeehrten Publikums im stande sein würde, es ihm nachzuthun. Aber auch die Mama, ihr mögt es mir glauben, war eine starke Frau, die mit eins und zwei, hopp, hopp! auf die Schultern ihres Mannes kletterte und dort, mit gekreuzten Armen aufrechtstehend, nun ihrerseits in dieser schwierigen Stellung eine menschliche Pyramide trug, die von ihren drei jüngeren Söhnen, hoffnungsvollen Jünglingen, denen man schon in der Wiege die Glieder ausgerenkt hatte, gebildet wurde. Endlich vervollständigte ein vierter Sohn die Familie; er, der älteste von allen, hatte infolge seiner zarten Konstitution den Clownskittel angelegt und erzielte die schmeichelhaftesten Erfolge mit einem abgerichteten Schwein, das er, die Bahnpeitsche in der Hand, frei vorführte und nach der getreuen Ueberlieferung des Herrn Loyal alle Künste eines dressierten Pferdes ausführen ließ.
Nun herrschte aber in dieser kleinen Welt die größte Sittenreinheit, und kein Glied der Familie verlor auf dem straffgespannten Seile der Tugend jemals das Gleichgewicht. Als daher Albéric, der ein eifriger Besucher der Stallräume im Cirkus geworden war, es wagte, Miß Nelly gegenüber von Liebe zu sprechen, immer unter dem spöttischen Blicke des Elefanten, antwortete ihm die reizende Seiltänzerin, indem sie wie eine liebe Unschuld in Scribes Lustspielen die Augen niederschlug: »Sprechen Sie mit meiner Mama.«
Hierauf suchte sie ihm mit sittsamer Anmut Zuversicht einzuflößen und ließ ihn hoffen, daß ihre Mutter, diese achtbare Matrone, sicherlich den ersten unvermeidlichen Widerwillen des Familienoberhauptes gegen einen in den Turnkünsten unbewanderten Schwiegersohn, der nicht einmal im stande war, sein zärtliches Verlangen zwischen zwei salti mortali anzubringen, besiegen werde.
Aber so hübsch Miß Nelly auch war, so erschrak Albéric, der außerdem zuerst gar nicht ans Heiraten gedacht hatte, doch einigermaßen bei dem Gedanken, in eine Familie einzutreten, der es einfallen könnte, den ersten Kontretanz des Hochzeitsballes auf den Händen auszuführen, und trat schleunigst den Rückzug an.
So floß sein Leben in nichtssagender Eintönigkeit dahin.
Immer das ewige Einerlei der auf dem Schutzleder des Fechtmeisters zerbrochenen Floretts mit dem unvermeidlichen: » Touché!« Immer dieselben Mahlzeiten im Restaurant und immer die gleichen Erörterungen mit dem Kellner: »Hören Sie ‘mal, Louis, Sie wollen mir doch nicht weis machen, dieser Pomard sei derselbe, den ich neulich getrunken!« Immer dieselben im Klub beim Kartenspiel verbrachten Nächte: » Carte … Buche … Bac …« Keine Freunde, nichts als Schmarotzer! Nicht eine gute That, nichts als eitle Verschwendung, zum Fenster hinausgeworfenes Geld! Und jetzt hatte er gar seine Huldigungen einer Tingel-Tangel-Sängerin zu Füßen gelegt, die alle Abende mit Diamanten überladen die köstliche Romanze brüllte, die übrigens bestimmt scheint, die Reise um die Welt zu machen: »Ich bin so kitzlig, ich war noch niemals so kitzlig wie heute.« Schon ein volles Jahr dauerte nun dieses Leben, und Albéric hatte nahezu mit den ersten hunderttausend Franken seines großen Loses aufgeräumt! O über den armen, einfältigen Thoren! Gleich so vielen andern war auch er vom Geld verdorben!
An einem Novembermorgen aber erwachte Albéric, der ausnahmsweise einmal vor Mitternacht schlafen gegangen war, schon gegen sieben Uhr mit einem Gefühl des Ekels, das ihn bis ins tiefste Herz hinein durchdrang, und zum erstenmal seit langer Zeit begann er über sein bisheriges Leben nachzudenken.
»Ich bin doch wohl zu rasch gewesen,« so überlegte er, das Haupt noch auf dem Kissen, »ja freilich, viel zu rasch. Meine Entschuldigung ist, daß ich am Verschmachten war, daß ich mich zu heißhungrig auf die gebotene Nahrung geworfen habe und sie nun nicht verdauen kann. Denn darüber ist ja kein Zweifel, ich bin im Begriff, mich abzustumpfen, ich bin blasiert. Wer mir damals, als ich meine fünfhunderttausend Franken einstrich, vorausgesagt hätte, daß ich nach Ablauf eines Jahres schon des ganzen Genußlebens der Reichen müde sein würde, hätte schwerlich Gehör bei mir gefunden. Und doch ist es so. Ich langweile mich; alles ist mir zuwider. Meine Klubgenossen sind alberne Tröpfe, und die Trüffeln ekeln mich an. Gestern habe ich die ganze Bank gehalten und ohne das geringste Herzklopfen dreihundert Louisdors gewonnen. Was ist da zu machen? Den Hemmschuh anlegen, ein andres Leben beginnen? O nein, meiner Treu! Denn all die Dinge, die mir heute zuwider sind, haben doch ihr Gutes, und wenn ich ganz und gar darauf verzichten müßte, so würde ich sie dennoch vermissen, das weiß ich gewiß, ich kenne mich. Nein, was mir not thäte, wäre eine Ruhepause, eine Rast, eine Art geistiger und moralischer Läuterung. Ich müßte für einen Tag, oder auch für zwei oder drei, kurz für so lange, als eben nötig, wieder der arme Teufel von ehemals werden, und danach …«
Plötzlich richtete er sich im Bette auf und rief, fröhlich in die Hände klatschend, aus:
»Nein, bin ich dumm! Nichts ist ja leichter als das. Habe ich doch meine alte Wohnung für das ganze Jahr gemietet und brauche daher nur in die Dachkammer der Rue Ravignan zurückzukehren, die ich seither nie wieder betreten. Dort kann ich gleich heute übernachten. Und wer hindert mich, wie früher in der Garküche zu speisen und einen Abend mit Herrn Mataboul im Kaffeehaus zu verbringen? Ja, das ist das Richtige für mich; vortrefflich! Das wird mir die Sinne wieder auffrischen. Ich brauche mich nur ein wenig in mein elendes Leben von ehedem zu versetzen. Eigentlich müßte ich auch wieder zehn Stunden hintereinander bei Cahun & Söhnen Handelskorrespondenz führen. Ja, ja, ich bin krank aus Uebersättigung! Aber ich weiß jetzt auch, was mich heilen wird: eine Rückkehr zur Armut! Und die Kur wird nicht allzulange dauern, dessen bin ich gewiß; denn es müßte doch sonderbar zugehen, wenn einige in meinem alten Eiskeller verbrachte Nächte, etliche Mahlzeiten zu zweiundzwanzig Sous und die Sklaverei einer geisttötenden Arbeit mir nicht bald genug ein weiches Bett, gutes Essen und freien Müßiggang wieder schmackhaft und wünschenswert erscheinen ließen. Jawohl, das ist’s! Eine Armutskur, ich habe das rechte Wort und das richtige Mittel gefunden und werde noch heute mit der Kur beginnen!«