H.G. Wells

Übersetzt von Gertrud I. Klett

Jedenfalls haben Sie schon von Hapley gehört – nicht W. T. Hapley, dem Sohn, sondern dem berühmten Hapley, dem Hapley von der Periplaneta Hapliia – dem Entomologen. Dann wissen Sie natürlich auch von der großen Fehde zwischen Hapley und Professor Pawkins. Wenn Ihnen auch gewisse Folgen derselben unbekannt sein dürften. Für die, die nichts davon gehört haben, muß ich hier ein paar Worte der Erklärung einschieben, die der Leser leicht mit einem Blick überfliegen kann, wenn sie ihn nicht weiter interessieren.

Es ist wirklich ganz erstaunlich, wie wenig verbreitet so wichtige Zeitereignisse, wie z. B. diese Hapley-Pawkinssche Fehde, sind. Diese ganze epochemachende Streitsache, die die Zoologische Gesellschaft geradezu auf den Kopf gestellt hat, ist tatsächlich, wie ich glaube, außerhalb der Fachkreise gänzlich unbekannt. Ich habe selber gehört, wie Männer von wirklich guter allgemeiner Bildung die großartigen Auftritte jener Versammlungen einfach als blödsinnige Fachsimpelei bezeichnet haben. Und doch dauert der große Haß zwischen englischen und schottischen Zoologen nun schon mindestens ein halbes Jahrhundert fort und hat »zahlreiche und tiefe Narben auf dem Körper der Wissenschaft hinterlassen«. Und just diese Hapley-Pawkins-Geschichte, wenn sie vielleicht auch mehr eine persönliche Angelegenheit war, hat die tiefsten Leidenschaften aufgewühlt. Der Alltagsmensch macht sich ja keinen Begriff von dem Eifer, der einen wissenschaftlichen Forscher beseelt – von der Leidenschaft des Widerspruchs, die in ihm entflammt wird … Es ist das Odium theologicum in einer neuen Form. Es gibt Männer z. B., die mit Freuden Professor Ray Lankester in Smithfield verbrennen würden für seinen Aufsatz über die Mollusken in der Enzyklopädie. Für seine phantastische Theorie, daß die Zephalopoden später waren als die Pteropoden … Aber – um wieder auf Hapley und Pawkins zu kommen …

Angefangen hatte es vor langen Jahren, und zwar mit einer Übersicht über die Mikrolepidopteren (keine Ahnung, was das ist!), die Pawkins veröffentlichte, in der er eine neue, von Hapley geschaffene Spezies nicht anerkannte. Hapley, der immer ein Kampfhahn war, schrieb eine Erwiderung, die die ganze Klassifikation Pawkins anzweifelte. Pawkins wiederum in seiner Entgegnung behauptete, Hapleys Mikroskop wäre ebenso unzuverlässig wie seine Untersuchungen, und nannte ihn einen »laienhaften Schwätzer«. – Hapley war damals noch nicht Professor. Hapley erging sich darauf in seiner Antwort über »läppische Sammler« und beschrieb – so ganz nebenbei – Pawkins’ Aufsatz als »ein wahres Wunder von Unfähigkeit«. Es war ein Krieg bis aufs Messer. Na ja! Es dürfte ja den Leser schwerlich interessieren, im einzelnen zu hören, wie diese zwei großen Wissenschaftler sich herumstritten, wie sie immer weiter und weiter auseinander kamen, bis sie schließlich von den Mikrolepidopteren an bis zu der kleinsten Frage in der Entomologie differierten. Es waren denkwürdige Zeiten. Die Versammlungen der Entomologischen Gesellschaft glichen oft geradezu einer Kammer von Abgeordneten. Im ganzen, glaube ich, war das Recht eher auf Pawkins Seite als auf der Hapleys. Aber Hapley war ein gewandter Redner, besaß einen bei Wissenschaftlern recht seltenen Sinn für Humor, dazu eine fabelhafte Energie und war dabei höchst ehrlich gekränkt über die Nichtanerkennung seiner Spezies. Während Pawkins persönlich abstumpfend wirkte. Sein Vortrag war langweilig … er sah aus wie eine Tonne – versteifte sich auf Einzelheiten und Zitate und war so recht ein Mann der toten Museen. Natürlich scharten sich die Jungen alle um Hapley und seine Fahne. Es war ein langer Kampf – messerscharf von Anfang an … und er wuchs schließlich bis zu tödlicher Gegnerschaft. Die unterschiedlichen Wendepunkte – – einmal Hapley durch einen Pawkinsschen Sieg geduckt … dann wieder Pawkins durch Hapley verdunkelt – – gehören in die Geschichte der Entomologie … nicht hierher.

1891 veröffentlichte Pawkins, dem seit einiger Zeit seine Gesundheit zu schaffen machte, ein Buch über den »Mesoblast« des Totenkopffalters. Was der Mesoblast des Totenkopffalters ist, hat mit meiner Geschichte weniger als nichts zu schaffen. Aber jedenfalls – das Buch war weit schwächer als seine sonstigen und gab Hapley die Handhabe, auf die er seit Jahren gelauert hatte. Tag und Nacht muß er gearbeitet haben, um seinen Vorteil ja recht auszunützen.

In einer umfangreichen Rezension riß er Pawkins geradezu in Stücke – man sieht ordentlich das zerwühlte schwarze Haar vor sich und seine merkwürdigen, glühenden dunklen Augen, während er so gegen seinen Widersacher vorging. – Darauf hielt Pawkins einen Vortrag – lückenhaft – wirkungslos – voll von peinlichen Übergehungen – und dennoch voller Bosheit. Niemand konnte daran zweifeln, daß er Hapley gern jeden Hieb versetzt hätte – – und daß er doch unfähig war, es zu tun. Aber nur wenige von seinen Zuhörern – ich war gerade nicht anwesend – merkten so ganz, wie krank der Mann überhaupt war.

Jetzt hatte Hapley seinen Gegner besiegt; und er war entschlossen, ihm auch vollends den Garaus zu machen. Seine Erwiderung war einfach ein brutaler Angriff auf Pawkins in Form eines Aufsatzes über Nachtfalter im allgemeinen – – ein Aufsatz, der von ganz außergewöhnlicher geistiger Leistungsfähigkeit zeugte und doch in einem leidenschaftlich-feindseligen Ton gehalten war. So heftig er auch war – aus einer Fußnote des Verlegers ging hervor, daß er noch in gemilderter Form erschien. Er überschüttete Pawkins geradezu mit Schmach und Schande. Auch nicht ein Schlupfloch ließ er ihm offen. Seine Logik war geradezu tödlich – – der ganze Ton mehr als verächtlich. Fürchterlich war das Ganze für einen Mann, dessen Laufbahn schon im Abstieg begriffen war …

Die ganze Welt der Entomologen harrte atemlos auf Pawkins’ Entgegnung. Kommen mußte eine – Pawkins hatte sich ja noch nie lumpen lassen! Aber als sie endlich kam, überraschte sie jedermann. Denn Pawkins Erwiderung bestand darin, daß er an Influenza erkrankte, die in Lungenentzündung überging – und starb.

Wer weiß – er hätte vielleicht unter diesen Umständen überhaupt keine bessere Entgegnung finden können. Und die allgemeine Mißbilligung der Menge wandte sich plötzlich scharf gegen Hapley. Dieselben Menschen, die beiden Gladiatoren aufmunternd zugejubelt hatten, wurden plötzlich – bei diesen Folgen der Dinge – ernst. Niemand konnte ja vernünftigerweise daran zweifeln – – die Niederlage hatte Pawkins’ Tod beschleunigt. Auch wissenschaftliche Streitigkeiten hatten doch schließlich ihre Grenzen – sagten die Vernünftigen. Schon erschien am Tag vor der Beerdigung ein niederschmetternder Artikel in den Zeitungen. Hapley tat, soviel ich mich erinnere, überhaupt nichts dagegen. Auf einmal dachten alle bloß daran, wie Hapley seinen Rivalen zu Tode gehetzt hatte … und vergaßen darüber ganz die Mängel des Gegners. Schneidende Satire – – es macht sich schlecht … über frischaufgegrabener Erde! Die Tageszeitungen nahmen die Sache auf. Und darum kam ich überhaupt auf den Gedanken, Sie hätten vielleicht von Hapley und seiner Fehde gehört. Aber – na ja, ich hab’s ja schon zuvor gesagt … Wissenschaftler leben in ihrer eigenen Welt; nicht die Hälfte von den Menschen, die jährlich die Museen besuchen, haben auch nur eine Ahnung, wo die einzelnen Gesellschaften tagen. Viele denken jedenfalls, wissenschaftliche Forschung sei ein einziges großes Familienbauer, in dem alle Arten von Menschen sich friedlich zusammenfinden …

In seinen Privatgedanken vergab Hapley es Pawkins nie, daß er gestorben war. Erstlich war das wirklich keine Art, sich so einfach der Niederlage zu entziehen, die er schon für ihn in Bereitschaft hatte. Und dann … eine seltsame Leere hinterließ dieser Tod in Hapley. Zwanzig Jahre lang hatte er nun gearbeitet … unablässig … oft bis tief in die Nacht … wochaus – wochein – – gearbeitet mit Mikroskop, Skalpell, Fangnetz, Feder … und fast immer im Gedanken an Pawkins. Der Weltruf, den er auf diese Weise errungen hatte, war schließlich weiter nichts als ein zufälliges Anhängsel dieser großen Gegnerschaft … Und so … endlich … ganz nach und nach … hatte er auf eine Krise hingearbeitet. Pawkins … war daran gestorben. Aber auch ihn, Hapley, hatte es sozusagen aus der Bahn geschleudert. Und sein Arzt riet ihm ernsthaft, für eine Zeitlang die Arbeit an den Nagel zu hängen und sich auszuruhen. So verfügte sich denn Hapley in ein stilles kentisches Dorf, wo er Tag und Nacht an Pawkins dachte und an alle möglichen schneidenden Entgegnungen, die jetzt alle ins Wasser fielen …

Schließlich ward es ihm doch klar, wohin diese Eine fixe Idee für ihn führen würde. Er beschloß, sie zu bekämpfen, und fing damit an, daß er Romane las. Aber er konnte Pawkins nicht vergessen – wie er dastand – in seinem letzten Vortrag … mit weißem Gesicht … jeder Satz ein wundervoller Angriffspunkt für ihn, Hapley … Er warf sich auf Literatur … aber was half ihm das? Er las und las – – landete schließlich bei Kipling und fand ihn bloß öde und unwahr und sensationslüstern. Wissenschaftler haben so ihre Grenzen. Schließlich geriet er unglücklicherweise an Besants »Inner House« – und schon das Anfangskapitel lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf wissenschaftliche Gesellschaften und Pawkins.

Darauf versuchte er es mit Schach und fand es im allgemeinen recht beruhigend. Die verschiedenen Züge und Gambits und Mattsetzungen hatte er bald begriffen und fing schon an, dem Pfarrer Spiele abzugewinnen. Aber auf einmal glich der König des Gegenspielers Pawkins, wie er da stand und sich hilflos gegen das Matt wehrte … Und Hapley gab das Schachspielen auf.

Wer weiß? Vielleicht die beste Zerstreuung war, sich auf einen neuen Zweig der Wissenschaft zu werfen. Wechsel der Beschäftigung ist immer das beste Ausruhen. Hapley beschloß, sich auf das Studium der Diatomeen zu legen, und ließ sich eins von seinen kleineren Mikroskopen und Halibuts Monographien aus London kommen. Er rechnete so: konnte er einen handfesten Streit mit Halibut anfangen, so konnte er vielleicht wieder von vorn beginnen und Pawkins glatt vergessen.

Gleich darauf arbeitete er auch Hals über Kopf, in seiner gewohnten leidenschaftlichen Weise, an diesen mikroskopischen Lebewesen eines Landstraßentümpels …

Am dritten Tag der Diatomeen ward Hapley plötzlich einer neuen Erscheinung der lokalen Fauna gewahr. Er arbeitete noch spät am Mikroskop, und die einzige Beleuchtung im Zimmer bestand aus einer hellen kleinen Lampe mit vorschriftsmäßigem grünem Schirm. Wie alle erfahrenen Mikroskopisten hatte er beide Augen weit offen. Es ist die einzige Art und Weise, schlimmster Übermüdung vorzubeugen. Ein Auge war gegen das Mikroskop gepreßt – und überschaute klar und deutlich eine helle Fläche, über die sich langsam eine braune Diatomee bewegte. Mit dem anderen Auge sah Hapley sozusagen ohne zu sehen. Die Metallhülle des Instruments, den hellen Fleck auf dem Tischtuch … ein Blatt Briefpapier, den Fuß der Lampe … und dahinter das dunkle Zimmer …

Plötzlich wechselte seine Aufmerksamkeit von dem einen Auge zum andern. Die Tischdecke war eine Art Gobelin … wie es im Handel hieß … in ziemlich lebhaften Farben. Ein goldfarbenes Muster auf grauem Grund, leicht mit Rot und Blau durchschossen. An einer Stelle schien es, als ob das Muster sich verschiebe; seltsam flossen die Farben ineinander … Hapley warf plötzlich den Kopf zurück und starrte mit beiden Augen … Sein Mund öffnete sich vor Erstaunen …

Ein großer Nachtfalter war es! Ein Schmetterling! Die Flügel bewegten sich wie bei einem Schmetterling …

Seltsam, daß er überhaupt im Zimmer war. Die Fenster waren alle zu. Seltsam, daß er ihn nicht früher bemerkt hatte. Seltsam, daß er so ganz zum Muster der Tischdecke stimmte! Und noch seltsamer! Er war ihm, Hapley, dem großen Entomologen, ganz und gar unbekannt. Kein Irrtum war möglich. Da kroch er her … dem Fuß der Lampe zu …

» Genus novum! Bei allen Göttern! Hier … in England!« sagte Hapley mit weitaufgerissenen Augen …

Und auf einmal fiel ihm Pawkins ein. Nichts hätte Pawkins wütender machen können … Und Pawkins war tot!

Irgend etwas an Kopf und Rumpf des Insekts erinnerte merkwürdig an Pawkins, gerade so wie der Schachkönig …

»Zum Henker mit Pawkins!« sagte Hapley. »Aber ich muß das Ding fangen.« Und indem er sich nach irgendeinem Gegenstand umsah, vermittels dessen er sich des Falters bemächtigen konnte, erhob er sich langsam aus seinem Stuhl. Plötzlich erhob sich auch das Insekt, stieß gegen den Rand der Lampenkugel – Hapley hörte das »kling!« – und verschwand im Schatten.

Im Nu hatte Hapley die Kuppel abgenommen, so daß das ganze Zimmer erleuchtet war. Das Ding war fort; aber bald entdeckte sein geübtes Auge es auf der Tapete in der Nähe der Tür. Er ging darauf zu und hielt die Lampenkuppel bereit, um es zu fangen. Noch ehe er nahe genug war, war es jedoch aufgeflogen und flatterte im Zimmer herum. Wie alle seiner Art flog es in plötzlichen Stößen und Wendungen, schien da zu verschwinden, dort wieder aufzutauchen. Einmal holte Hapley aus und verfehlte es; dann noch einmal.

Das dritte Mal traf er sein Mikroskop. Das Instrument schwankte, schlug um, riß die Lampe mit und fiel mit einem Krach zu Boden. Die Lampe rollte über den Tisch und ging zum großen Glück aus. Hapley stand im Dunkeln. Mit einem Zusammenzucken fühlte er den fremdartigen Falter gegen sein Gesicht taumeln.

Es war zum Verrücktwerden. Er hatte keine Streichhölzer. Wenn er die Zimmertür öffnete, würde das Ding fortfliegen. In der Dunkelheit sah er ganz deutlich Pawkins, wie er ihn auslachte. Pawkins hatte immer ein so öliges Lachen gehabt. Er fluchte wütend und stampfte auf den Boden. Ein schüchternes Klopfen ward vor der Tür vernehmbar.

Dann öffnete sie sich, vielleicht fußbreit, und sehr langsam. Hinter einer rötlichen Kerzenflamme erschien das erschrockene Gesicht der Hauswirtin. Sie hatte eine Nachthaube auf ihrem grauen Haar und irgend ein rotes Kleidungsstück um die Schultern. »Was war denn das für ein fürchterlicher Krach?« sagte sie. »Ist irgend etwas – –« Der seltsame Falter tauchte plötzlich auf und flatterte über dem Türspalt.

»Machen Sie die Tür zu!« sagte Hapley und fuhr auf sie los.

Hastig fuhr die Tür zu. Hapley war wieder allein im Dunkeln. In der darauf folgenden Pause hörte er seine Hauswirtin die Treppe hinaufhuschen, ihre Tür zuschließen und irgend etwas Schweres durchs Zimmer und davor schieben.

Es wurde Hapley klar, daß sein Aussehen und sein Benehmen seltsam und verdächtig gewesen waren. Zum Kuckuck mit diesem Falter! Und Pawkins! Immerhin – es wäre doch schade jetzt, wenn er um den Falter käme! Er tastete sich hinaus in den Korridor und fand auch die Streichhölzer, nachdem er erst seinen Hut auf die Erde geworfen hatte – mit einem Lärm wie von einer Trommel. Mit der brennenden Kerze kehrte er in sein Wohnzimmer zurück. Kein Falter war zu sehen. Und doch schien es ihm einmal – einen Augenblick lang –, als flattere das Ding ihm um den Kopf. Hapley beschloß ganz plötzlich, den Falter aufzugeben und zu Bett zu gehen. Aber er war erregt. Die ganze Nacht störten Träume von dem Falter, von Pawkins, von seiner Hauswirtin ihm den Schlaf. Zweimal stand er auf und tauchte seinen Kopf in kaltes Wasser.

Eins war ihm jedenfalls ganz klar. Seine Wirtin konnte das mit dem fremdartigen Falter unmöglich verstehen, besonders, da es ihm nicht gelungen war, ihn zu fangen. Niemand als ein Entomologe würde sein Gefühl dabei ganz verstehen. Sie war vermutlich geänstigt durch sein Benehmen, und doch wußte er nicht, wie er es erklären sollte. Er beschloß, überhaupt nichts mehr von den Ereignissen des vorigen Abends zu sagen. Nach dem Frühstück sah er sie im Garten und beschloß, hinauszugehen und sich mit ihr zu unterhalten, um sie zu beruhigen. Er sprach mit ihr über Bohnen und Kartoffeln, Bienen, Raupen und Obstpreise. Sie antwortete ganz wie sonst, sah ihn aber dabei etwas mißtrauisch an und ging, während er ging, auch immer weiter, so daß immer ein Blumenbeet oder eine Reihe Bohnen oder irgend etwas derartiges zwischen ihnen war. Nach einer Weile machte ihn das ganz merkwürdig nervös, und um seinen Ärger zu verbergen, ging er wieder ins Haus und machte darauf einen Spaziergang.

Der Nachtfalter oder Schmetterling mit dem seltsamen Anflug von Pawkins, der ihm anhing, schlich sich unablässig in seinen Spaziergang, obgleich er sein möglichstes tat, seine Gedanken davon fernzuhalten. Einmal sah er ihn ganz deutlich mit ausgebreiteten Flügeln auf der alten Steinmauer, die an der Westseite des Parks entlang läuft; aber als er darauf zuging, fand er, daß es nur zwei Klümpchen grauer und grüner Flechte waren. »Das«, sagte Hapley, »nennt man umgekehrte Schutzfärbung. Statt eines Schmetterlings, der wie ein Stein aussieht, ein Stein, der wie ein Schmetterling aussieht.« Einmal flatterte und schwebte etwas um seinen Kopf; aber durch eine Willensanstrengung verscheuchte er diesen Eindruck wieder aus seinen Gedanken.

Nachmittags besuchte Hapley den Pfarrer und erörterte theologische Fragen mit ihm. Sie saßen in der kleinen grünumrankten Laube und rauchten und disputierten. »Sehen Sie doch den Falter!« sagte Hapley plötzlich, auf den Rand des hölzernen Tisches deutend.

»Wo?« fragte der Pfarrer.

»Sehen Sie keinen Falter dort am Tischrand?« sagte Hapley.

»Gewiß nicht,« entgegnete der Pfarrer.

Hapley war wie vom Donner gerührt. Ihm stockte der Atem. Der Pfarrer starrte ihn an. Zweifellos – der Mann sah nichts. »Das Auge des Glaubens sieht auch nicht schärfer als das Auge der Wissenschaft,« sagte Hapley unbeholfen.

»Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen,« entgegnete der Pfarrer; er glaubte, es gehöre noch zu ihrer Streitfrage …

Am Abend sah Hapley den Falter über sein Deckbett kriechen. Er saß in Hemdärmeln auf dem Rand des Betts und predigte sich selber Vernunft. War es wirklich nichts als Halluzination? Er wußte, er war auf einer schiefen Ebene, und er kämpfte um seinen Verstand mit derselben stillen Energie, die er dereinst Pawkins gegenüber gezeigt hatte. So beharrlich ist geistige Gewöhnung, daß er das Gefühl hatte, als sei es immer noch ein Kampf mit Pawkins. Er war gut bewandert in Psychologie. Er wußte, daß derartige optische Täuschungen das Resultat geistiger Überanstrengungen sind. Aber die Sache war die: – er sah den Falter nicht bloß, er hatte ihn gehört, wie er gegen die Lampenkuppel stieß, und nachher als er gegen die Wand flog, und er hatte ihn im Dunkeln sein Gesicht streifen fühlen …

Er betrachtete ihn. Ganz und gar nichts Traumhaftes war an ihm, sondern er sah im Kerzenschein vollkommen klar und greifbar aus. Hapley sah den haarigen Rumpf und die kurzen, federigen Fühler, die gegliederten Beine, sogar eine Stelle am Flügel, von der der Staub abgestoßen war. Er ärgerte sich plötzlich über sich selber, daß er Angst hatte vor einem kleinen Insekt.

Seine Wirtin hatte sich heute nacht das Dienstmädchen in ihr Zimmer genommen, weil sie sich fürchtete, allein zu schlafen. Außerdem hatte sie noch die Tür verriegelt und die Kommode davor gestellt. Die beiden horchten und schwatzten flüsternd miteinander, als sie im Bett lagen; aber nichts geschah, was sie hätte erschrecken können. Gegen elf hatten sie die Kerze auszulöschen gewagt und waren beide eingeschlummert. Sie erwachten beide mit einem Ruck und setzten sich auf und horchten hinaus in die Dunkelheit.

In Hapleys Zimmer hörten sie Füße in Pantoffeln hin und her gehen. Ein Stuhl fiel um, und ein heftiger Schlag wurde gegen die Wand geführt. Jetzt schmetterte eine porzellanene Kaminsimsverzierung auf das Feuergitter. Plötzlich wurde die Zimmertür geöffnet, und sie hörten ihn draußen im Flur. Lauschend klammerten sie sich aneinander. Er schien auf der Treppe herumzutanzen. Einmal ging er rasch drei oder vier Stufen hinunter, dann wieder herauf, dann lief er in die Halle hinunter. Sie hörten, wie der Schirmständer umstürzte, und eine Fensterscheibe zerbrach. Dann klappte der Riegel, und die Kette rasselte. Er öffnete die Tür. Sie eilten ans Fenster. Es war eine dunkle, graue Nacht. Fast ununterbrochen strich eine Decke von wässerigen Wolken über den Mond; die Hecke und die Bäume vor dem Haus standen schwarz vor der blassen Landstraße. Sie sahen Hapley, in seinem Hemd und weißen Beinkleid wie ein Gespenst auf dem Weg herumrennen und in die Luft schlagen. Einmal stand er still, dann schoß er hastig auf ein unsichtbares Etwas zu, dann wieder näherte er sich ihm mit langsamen Schritten. Schließlich entschwand er ihren Blicken, die Straße hinauf, in der Richtung der Dünen. Während sie besprachen, wer hinuntergehen und die Tür schließen sollte, kam er zurück. Er ging sehr rasch, kam geradeswegs auf das Haus zu, schloß sorgfältig die Tür und ging ruhig in sein Schlafzimmer. Darauf war alles still.

»Mrs. Colville,« rief Hapley am nächsten Morgen die Treppe herunter, »ich hoffe, ich habe Sie heute nacht nicht erschreckt.«

»Das dürfen Sie wohl fragen!« sagte Mrs. Colville.

»Die Sache ist nämlich die – ich bin Nachtwandler, und habe die letzten zwei Nächte mein gewohntes Mittel nicht gehabt. Es ist wirklich gar nichts dabei zum Erschrecken. Tut mir leid, daß ich mich so schafsköpfig benommen habe. Ich gehe jetzt nach Shoreham hinunter und hole mir irgend etwas, damit ich fest schlafe. Ich hätt’ es schon gestern tun sollen.«

Aber auf halbem Weg, bei den Kalkgruben, stellte der Nachtfalter sich wieder ein. Hapley ging weiter und versuchte, seine Gedanken auf Schachprobleme zu richten; aber es half nichts. Das Ding flatterte ihm ins Gesicht, und er schlug zur Abwehr mit dem Hut darnach. Und nun kam die Wut, die alte Wut, wie er sie so oft gegen Pawkins empfunden hatte, wieder über ihn. Immer nach dem wirbelnden Insekt schlagend, lief er weiter. Plötzlich trat er ins Leere und fiel der Länge nach hin.

Dann kam eine Lücke in seinem Bewußtsein, und darauf fand er sich auf einem Steinhaufen vor dem Eingang zu den Kalkgruben sitzen, das eine Bein unter sich und nach hinten gedreht. Der seltsame Falter umflatterte noch immer seinen Kopf. Er schlug mit der Hand darnach, und als er den Kopf wandte, sah er zwei Männer auf sich zukommen. Der eine war der Dorfarzt. Hapley hatte das Gefühl, daß das sich recht gut traf. Dann ward ihm plötzlich mit außerordentlicher Lebhaftigkeit klar, daß niemand außer ihm imstande sein würde, den seltsamen Falter zu sehen, und daß er unter allen Umständen schweigen müsse …

Spät in der Nacht jedoch, nachdem sein gebrochenes Bein eingerichtet war, fieberte er und vergaß seine Selbstbeherrschung. Er lag auf dem Rücken in seinem Bett und fing an, die Blicke durchs Zimmer schweifen zu lassen, um zu sehen, ob der Falter noch da war. Er versuchte, es zu lassen, aber es half nichts. Bald erblickte er das Ding auch dicht neben seiner Hand bei dem Nachtlicht auf der grünen Tischdecke. Die Schwingen zitterten leise. In einer plötzlichen Zornaufwallung hieb er mit der Faust darnach, und die Pflegerin wachte mit einem Schrei auf. Er hatte es nicht getroffen.

»Der Nachtfalter!« sagte er. Dann fügte er hinzu: »Es war eine Täuschung. Gar nichts!«

Die ganze Zeit über sah er das Insekt ganz deutlich an der Tapetenleiste herumkriechen und wieder durchs Zimmer huschen; er sah auch, daß die Pflegerin nichts davon sah und ihn sonderbar anblickte. Er mußte sich fest in der Hand behalten. Er wußte, er war verloren, wenn er sich nicht fest in der Hand behielt. Aber als die Nacht verstrich, wurde das Fieber stärker, und vor lauter Angst, er könnte den Falter sehen, sah er ihn wirklich. Gegen fünf, eben als der Morgen dämmerte, versuchte er aus dem Bett zu steigen und ihn zu fangen, trotz des brennenden Schmerzes in seinem Bein. Die Pflegerin mußte mit ihm ringen.

Daraufhin banden sie ihn im Bett fest. Jetzt wurde der Falter kühner, und einmal fühlte Hapley, wie er sich ihm ins Haar setzte. Weil er heftig mit den Armen ausschlug, banden sie ihm auch diese. Jetzt kam der Falter und kroch ihm übers Gesicht, und Hapley weinte und fluchte, schrie und flehte, sie möchten das Ding doch fortnehmen. Umsonst.

Der Doktor war ein Schafskopf, ein wenig befähigter Arzt für alles, der keine Ahnung von psychologischer Wissenschaft hatte. Er sagte einfach, es wäre nirgends ein Nachtfalter da. Hätte er Verstand genug gehabt, so hätte er vielleicht noch jetzt Hapley vor seinem Schicksal bewahren können, indem er auf seine Wahnidee eingegangen wäre und ihm das Gesicht mit Gaze zugedeckt hätte, was der Unglückliche unausgesetzt erflehte. Aber wie gesagt – der Doktor war ein Dummkopf, und Hapley blieb, bis das Bein geheilt war, ans Bett gebunden, und unablässig kroch der eingebildete Nachtfalter auf ihm herum. Er verließ ihn nicht im Wachen – – und ward zum Ungeheuer in seinen Träumen. Wenn er wach war, sehnte er sich nach Schlaf … und vom Schlaf erwachte er schreiend …

Jetzt verbringt Hapley den Rest seiner Tage in einer auswattierten Zelle – ständig aufgereizt durch einen Nachtfalter, den außer ihm kein Mensch sieht. Der Irrenarzt nennt es Halluzination; aber Hapley selber, wenn er lichtere Momente hat und sprechen kann, behauptet, es sei Pawkins’ Geist, und darum wirklich ein ganz einzig dastehendes Exemplar – wohl der Mühe wert, es zu fangen …