Jack London

Die Fahne tragen« bedeutet, die ganze Nacht auf der Straße sein. Und so hißte ich die Fahne und ging, um zu sehen, was es zu sehen gäbe.

Überall in dieser Stadt sind Männer und Frauen die ganze Nacht auf der Straße. Ich wählte West End, machte den Leicester Platz zum Ausgangspunkt und begab mich auf die Forschungsreise von der Themse-Promenade bis zum Hyde-Park.

Es regnete in Strömen, die Theater waren gerade aus, und die eleganten Scharen, die herausquollen, konnten schwer Wagen finden. Die Straßen waren zwar voller Wagen, aber die meisten waren besetzt; und jetzt erlebte ich den verzweifelten Kampf der zerlumpten, obdachlosen Männer und Knaben, um sich ein paar Groschen für eine Unterkunft zu verdienen, indem sie Herren und Damen, die in Verlegenheit waren, Wagen verschafften. Ich gebrauche absichtlich das Wort verzweifelt, denn diese armen, obdachlosen Menschen liefen Gefahr, bis auf die Haut durchnäßt zu werden, in der Hoffnung, sich ein Bett zu verdienen; und die meisten von ihnen wurden durchnäßt, ohne hinterher ein Bett zu bekommen.

Eine Unwetternacht in nassen Kleidern, zumal, wenn man im voraus durch mangelhafte Kost geschwächt ist, ist wohl das Schwerste, was ein Mensch je erleben kann. Ich bin, gut ernährt und warm gekleidet, einen ganzen Tag bei minus 76 Grad Fahrenheit gereist – es war in Klondike – und, wenn ich auch litt, so war es doch nichts im Vergleich mit den Leiden eines Menschen, der eine Nacht auf den Londoner Straßen die Fahne tragen muß, wenn er hungrig, schlecht gekleidet und bis auf die Haut durchnäßt ist.

Als das Theaterpublikum sich verlaufen hatte, wurden die Straßen öde und still. Man sah nur den allgegenwärtigen Schutzmann, der den Schein seiner Laterne in alle Haustüren und Gänge fallen ließ, und außerdem einige Männer, Frauen und Knaben, die Schutz vor Sturm und Regen suchten, indem sie sich eng an die Häuser drückten.

Nur Piccadilly war nicht so verlassen wie die andern Straßen, hier waren die Bürgersteige von elegant gekleideten Damen ohne Begleiter belebt; eben die Arbeit, sich einen Begleiter zu kapern, war das belebende Moment für sie. Gegen drei Uhr war die letzte der Frauen verschwunden, und nun war die Straße verödet.

Nach halb zwei wurde der anhaltende Regen von einzelnen Schauern abgelöst. Die Obdachlosen krochen aus ihren Schlupfwinkeln hervor und gingen auf und ab, um das Blut in Zirkulation zu bringen.

Ich bemerkte eine alte Frau, ein wahres Wrack, zwischen Fünfzig und Sechzig, die ich schon früher am Abend in der Nähe des Leicester Platzes gesehen hatte. Sie schien weder die Kraft noch den Sinn dafür zu haben, Schutz vor dem Regen zu suchen oder irgendwohin zu gehen; gelegentlich blieb sie stehen und fiel in Gedanken; ich vermute, daß sie von alten Tagen träumte, da die Welt jung und das Blut heiß gewesen. Aber lange durfte sie nie stehenbleiben, die Schutzleute hießen sie immer »weitergehen«, und das geschah in der Regel sechsmal, bis sie von einem Distrikt in den andern gelangt war. Gegen drei Uhr hatte sie die St.-James-Straße erreicht, und als es vier schlug, sah ich, daß sie, an das eiserne Gitter des Green-Parks gelehnt, schlief. Um diese Zeit kam wieder ein Regenschauer, und sie muß bis auf die Haut durchnäßt worden sein.

Als es eins war, sagte ich mir: Stell’ dir nun vor, daß du ein armer junger Mann ohne einen Pfennig in der Tasche bist, und daß du morgen auf die Arbeitssuche gehen mußt. Es ist also nötig, daß du etwas schläfst, damit du Kraft genug hast, zuzupacken, wenn du Glück hast.

So setzte ich mich denn auf eine Steintreppe. Fünf Minuten später stellte sich ein Schutzmann vor mir auf und betrachtete mich. Da ich die Augen geöffnet hatte, konnte er nichts tun und ging brummend weiter. Zehn Minuten darauf war ich eingenickt, der Kopf sank mir auf die Knie, und gleich war er wieder da und sagte diesmal brutal: »Machen Sie, daß Sie weiterkommen!«

Und ich kam weiter. Und es ging mir genau wie der alten Frau, ich wurde immer weiter geschickt; jedesmal, wenn ich ein bißchen eingenickt war, wurde ich von einem Schutzmann wachgerüttelt. Bald hatte ich es aufgegeben, mich auszuruhen, und schloß mich einem jungen Londoner an, der in den Kolonien gewesen war und jetzt nur wünschte, wieder dort zu sein.

Plötzlich entdeckte ich einen Kellergang, der tief unter ein Haus führte; ein niedriges eisernes Gitter versperrte den Zugang.

»Komm,« sagte ich, »laß uns hinüberklettern und sehen, ein Plätzchen zum Schlafen zu finden.«

»Bist du verrückt«, sagte er und wich vor mir zurück; »willst du dich drei Monate einsperren lassen! Nein, da komme ich nicht mit.«

Später kam ich in Begleitung eines vierzehn- oder fünfzehnjährigen Knaben am Hyde-Park vorbei. Es war ein schwächlich aussehender, magerer, hohläugiger Junge.

»Laß uns über das Gitter klettern und versuchen, im Gebüsch ein bißchen zu schlafen«, schlug ich vor. »Da können die Schutzleute uns nicht finden.«

»Nicht zu machen,« antwortete er, »dann kommen die Gartenwächter; die erwischen uns doch, und dann kriegen wir sechs Monate.«

Ach, wie die Zeiten sich geändert haben! Als Kind las ich von obdachlosen Knaben, die auf steinernen Treppen schliefen. In der Literatur werden sie sich vielleicht noch ein Jahrhundert halten; aus der Wirklichkeit aber sind sie verschwunden. Die steinernen Treppen sind noch da und die Knaben auch; aber die rührende Verbindung zwischen ihnen ist abgebrochen. Die steinernen Treppen stehen leer, und die Knaben müssen sich wach halten und die Fahne tragen.

»Als es regnete, war ich unter einem von den Bogen«, erzählte ein junger Mensch. Mit Bogen meinte er die Brückenbogen der Themsebrücke an Land. »Da kam ein Schutzmann und jagte mich weg. Aber ich kam wieder und er auch. ›Hör’ mal,‹ sagte er da, ›was hast du vor?‹ Als ich aber ging, sagte ich ihm denn auch: ›Glauben Sie, ich wollte die Brücke stehlen?‹«

Bei den Fahnenträgern heißt es, daß Green-Park von allen Parks morgens am frühesten geöffnet wird, und als es Viertel nach vier war, ging ich mit mehreren anderen hinein. Es regnete noch, da die Obdachlosen aber vom Laufen auf den Straßen erschöpft waren, ließen sie sich augenblicklich auf die Bänke fallen und schliefen. Einige warfen sich sogar der Länge nach in das nasse Gras, und während der Regen ständig auf sie herabtropfte, schliefen sie den tiefen Schlaf der Erschöpfung.

Ich hätte Lust, die Machthaber zu kritisieren. Da sie Machthaber sind, haben sie ja die Macht, zu tun, was sie wollen, und ich muß mich darauf beschränken, auf das Lächerliche ihrer Handlungsweise hinzuweisen. Sie lassen die Obdachlosen die ganze Nacht auf der Straße herumlaufen, verjagen sie aus Gängen und Haustüren und verschließen ihnen die Parks, offenbar in der Absicht, sie am Schlafen zu verhindern. Die Machthaber haben die Macht, das und was sie sonst für gut befinden, zu tun, aber warum in aller Welt öffnen sie dann die Pforten der Parks um fünf Uhr morgens und lassen die Obdachlosen hineinschlüpfen und schlafen? Ist es ihre Absicht, sie am Schlafen zu verhindern, warum lassen sie sie dann nach fünf Uhr morgens schlafen, ist es aber nicht ihre Absicht, warum lassen sie sie dann nicht früher in der Nacht schlafen?

In diesem Zusammenhang will ich erzählen, daß ich am selben Nachmittag um ein Uhr durch den Green-Park kam und Dutzende elender Menschen zählte, die im Grase schliefen. Es war ein Sonntagnachmittag. Die Sonne war hervorgekommen, und die gutgekleideten Familien aus West End gingen zu Tausenden spazieren. Es war kein anregender Anblick für sie, die häßlichen, zerzausten, schlafenden Vagabunden hier zu finden. Und ich bin überzeugt, daß die Vagabunden lieber nachts geschlafen hätten.

Und so sage ich euch, ihr lieben Menschen: Solltet ihr je nach London kommen und Geschöpfe sehen, die rings auf Bänken und Rasenplätzen schlafen, so glaubt nicht, daß es Faulenzer seien, die lieber schlafen als arbeiten wollten. Denkt daran, daß die Machthaber sie die ganze Nacht die Fahne tragen ließen, und daß sie keine andere Stätte hatten, wo sie am Tage schlafen konnten.