Jack London
Vivat Rex Eduardus! Sie haben heute einen König gekrönt, und es haben große Freude und völliger Blödsinn geherrscht. Nie habe ich etwas gesehen wie diese Prozession – es müßte denn ein amerikanischer Zirkusaufzug gewesen sein. Nie habe ich etwas so Hoffnungsloses und Tragisches gesehen.
Um Vergnügen von der Krönungsprozession zu haben, hätte ich von Amerika kommen, ins Hotel Cecil fahren und vom Hotel direkt auf einen Platz zu fünf Guineen unter feinen Leuten kommen müssen. Der Fehler, den ich beging, war, daß ich von den weniger feinen Leuten in East End kam. Es kamen übrigens nicht viele aus diesem Viertel. East End blieb in East End und betrank sich, Sozialisten, Demokraten und Republikaner zogen aufs Land hinaus, um frische Luft zu schöpfen, ganz unberührt von der Tatsache, daß vierhundert Millionen Menschen einen gekrönten und gesalbten Herrscher erhielten. Sechstausendfünfhundert Prälaten, Priester, Staatsmänner, Prinzen und Heerführer wohnten der Krönung und der Salbung bei, wir übrigen sahen die Prozession, als sie vorbeizog. Ich sah sie auf dem Trafalgar-Platz, »der prächtigsten Stätte Europas«, dem Herzen des Kaiserreichs. Wir standen hier zu Tausenden, beherrscht und in Schach gehalten von einer stattlichen Entfaltung bewaffneter Macht. Den Weg der Prozession kennzeichnete eine doppelte Mauer von Soldaten. Der Sockel der Nelson-Säule war von einer dreifachen Reihe von Marinesoldaten umringt. Nach Osten dräute die königliche Marineartillerie. Die Statue Georgs III. an der Ecke der Pall Mall und Cockspur-Straße war auf allen Seiten von Ulanen und Husaren umzingelt. Im Westen sah man die Rotröcke der königlichen Marine, und vom Union Club bis nach Whitehall bildete die erste Leibgarde eine massive, glitzernde Linie – riesige Männer auf riesigen Gäulen, in stählernen Brustpanzern, stählernen Helmen und stählernen Schabracken, eine mächtige stählerne Waffe, bereit zum Gebrauch für den, der die Macht hat. Außerdem war die Menge von langen Reihen städtischer Polizei durchzogen, während die Reserve ganz im Hintergrund stand, hochgewachsene, wohlgenährte Männer, die kräftigen Arme bereit, die Waffe zu gebrauchen, wenn es nötig werden sollte.
Und wie auf dem Trafalgar-Platz, so war es auf der ganzen Linie – eine überwältigende Machtentfaltung, Myriaden von Männern, herrlichen Männern, den kräftigsten des ganzen Volkes, deren einzige Pflicht es war, zu gehorchen, blind zu gehorchen, blind zu töten und Leben zu vernichten und auszulöschen. Und um sie zu ernähren, zu kleiden und zu bewaffnen, und um Schiffe zu bauen, die sie nach dem andern Ende des Erdballs bringen konnten, mußte das East End Londons und ganz Englands sich abrackern, faulen und sterben.
Ein chinesisches Sprichwort sagt, daß für jeden Mann, der im Müßiggang lebt, ein andrer Hungers sterben muß; und Montesquieu hat gesagt: Der Umstand, daß viele Menschen damit beschäftigt sind, Kleider für einen einzigen anzufertigen, ist schuld daran, daß so viele Menschen Kleider entbehren müssen.
Wir können den notleidenden, verkrüppelten, mühsalbeladenen Bewohner East Ends, der mit seiner Familie in einem einzigen Zimmer wohnt und den Fußboden an andre notleidende, verkrüppelte, mühsalbeladene Menschen vermietet, nicht verstehen, ehe wir die gewaltigen Leibgardisten vom West End gesehen und erfahren haben, daß der eine den andern ernähren, kleiden und ihm dienen muß.
Und während das Volk in der Westminster-Abtei einen König erhielt, weilten meine Gedanken, als ich eingeklemmt zwischen der Leibgarde und den Schutzleuten auf dem Trafalgar-Platz stand, bei der Zeit, da das Volk Israel zum erstenmal einen König haben wollte. Wir wissen alle, was darüber geschrieben steht. Die Ältesten gingen zum Propheten Samuel und sagten: Setze jetzt einen König über uns, um uns zu richten, wie es bei allen Völkern ist.
Aber Jehova sprach zu Samuel: Höre auf die Stimme des Volkes in allem, was sie zu dir sagen. Denn nicht dich haben sie verworfen, sondern mich haben sie verworfen, daß ich nicht König über sie sein soll.
Da sprach Samuel alle Worte Jehovas zum Volke, das von ihm einen König forderte.
Und er sprach: Dieses wird die Weise des Königs sein, der über euch herrschen soll: eure Söhne wird er nehmen und wird sie auf seinen Wagen und zu seinen Reitern setzen, daß sie vor seinen Wagen herlaufen.
Und daß er sie setze zu Obersten über die tausend, und zu Obersten über fünfzig, daß sie seinen Acker ackern und seine Ernte schneiden und seine Kriegsgeräte und seine Wagengeräte machen. Und eure Töchter wird er nehmen zu Salbenmacherinnen und zu Köchinnen und zu Bäckerinnen.
Und eure besten Felder und Weinberge und Ölgärten wird er nehmen und seinen Knechten geben. Und eure Knechte und eure Mägde und eure schönsten Jünglinge und eure Esel wird er nehmen und sein Geschäft damit treiben.
Eure Schafe wird er zehnten; und ihr selbst werdet seine Knechte sein.
Da werdet ihr schreien an jenem Tage über euren König, den ihr euch gewählt habt, und Jehova wird euch nicht antworten an jenem Tage.
Was alles in alten Tagen geschah. Aber es kam der Tag, an dem das Volk zu Samuel sprach: »Führe alle deine Knechte zu Jehova, deinem Gott, daß wir nicht sterben; denn wir haben zu all unserer Sünde noch das Böse hinzugefügt, uns einen König zu verlangen.« Und auf Saul, David und Salomon folgte Jerobeam, der dem Volk grausam antwortete: »Hat euch mein Vater ein schweres Joch aufgeladen, so will ich es noch schwerer machen. Hat euch mein Vater mit Peitschen gezüchtigt, so will ich euch mit Skorpionen züchtigen.«
Und in unseren Tagen besitzen fünfhundert erbberechtigte Peers ein Fünftel von ganz England; und diese, sowie die Offiziere und Hofleute des Königs und die Machthaber im Reiche verbrauchen alljährlich für leeren Prunk 370 Millionen Pfund Sterling, das heißt zweiunddreißig Prozent der Gesamteinnahmen des Landes.
In einem wunderbaren, goldgestickten Gewand, unter Fanfaren der Trompeten und donnernder Musik, von einer glänzenden Schar von Fürsten, Lords und Regenten umgeben, wurde der König mit seiner Herrscherwürde bekleidet. Die Sporen wurden ihm vom Großkämmerer an die Fersen geschnallt und das Staatsschwert in der Purpurscheide ihm vom Erzbischof von Canterbury mit folgenden Worten überreicht:
»Empfange dieses königliche Schwert, von Gottes Altar hierher gebracht und deinen Händen übergeben von den Bischöfen und Dienern des Herrn.«
Worauf er, als es ihm umgeschnallt wurde, auf die Ermahnung des Erzbischofs hörte:
»Übe Gerechtigkeit mit diesem Schwert; gebiete der Ungerechtigkeit Halt, wo sie sich vordrängt, beschütze die heilige Kirche Gottes, hilf und verteidige Witwen und Waisen, errichte, was in Verfall geraten, bewahre, was errichtet, strafe und verhüte Unrecht und bestätige alles, was gut ist.«
Aber hört! Wie sie in Whitehall rufen! Die Menge wogt, die doppelte Mauer von Soldaten wendet die Köpfe, und man erblickt die Vorreiter des Königs in phantastischen, mittelalterlichen Trachten aus rotem Stoff, ganz als sähe man den Vortrupp eines Zirkusaufzuges. Dann kommt ein königlicher Wagen mit Hofdamen und Kavalieren und mit prachtvoll galonierten Kutschern und Dienern. Mehrere Wagen mit Lords und Kammerherrn, Vicomtes, Hofdamen – alles Lakaien. Dann die Heerführer, eine königliche Eskorte, Generäle, dürr und sonnenverbrannt; aus allen Teilen der Welt sind sie hergekommen, Offiziere von Freiwilligenkorps, Miliz und regulären Truppen; Spens und Plumer, Broadwood und Cooper, der Cokiep entsetzte; Matthias von Dargay, Dixon von Vlakfontein, General Gaselle und Admiral Seymour von China; Kitchener von Khartum, Lord Roberts von Indien und der ganzen Welt – Englands große Krieger, die Herren der Vernichtung, die Ingenieure des Todes! Eine ganz andere Rasse von Menschen als die aus den Läden und Armenvierteln, eine ganz verschiedene Rasse.
Hier kommen sie in all ihrer Pracht und Machtfülle, immer mehr von diesen Männern aus Stahl, diesen Herren des Krieges, diesen Weltenbezwingern. Bunt durcheinander kommen Mitglieder des Oberhauses und Unterhauses, Prinzen und Maharadschas, Stallmeister und Leibtrabanten des Königs. Und dann kommen die geschmeidigen, abgehärteten Männer aus den Kolonien, und wieder alle Rassen der ganzen Welt – Soldaten aus Kanada, Australien, Neuseeland; von den Bermuda-Inseln, von Borneo, von den Fidschi-Inseln und der Goldküste; aus Rhodesien, der Kapkolonie, Natal, Sierra Leone und Senegambien, Nigeria und Uganda; aus Ceylon, Cypern, Hongkong, Jamaika und Wei-hai-wei; aus Lagos, Malta, St. Lucia, Singapore und Trinidad. Und nun überwundene Stämme aus Indien, dunkle Reiter und Schwertschwinger, schauerlich barbarisch, mit flatternden karmoisinroten und scharlachnen Mänteln, Sikhs, Raipuths, Birmanen, Provinz auf Provinz, Kaste auf Kaste.
Und jetzt die reitende Garde, ein Schimmer von milchweißen Pferden und Panzerplatten; ein Orkan von Hurrageschrei, ein Donnern von Orchestern – – »Der König! Der König! Gott segne den König!« Eine Tollheit hat alle gepackt. Auch ich fühle mich von der Stimmung angesteckt, auch ich fühle den Drang zu rufen: Gott segne den König! Zerlumpte Männer werfen mit Tränen in den Augen ihre Hüte in die Luft und brüllen begeistert: – Er lebe! Er lebe! Er lebe!
Seht, da kommt er in der wunderbaren vergoldeten Karosse; auf seinem Haupt funkelt eine große Krone, und die weißgekleidete Dame neben ihm hat ebenfalls eine Krone auf dem Haupt.
Und ich besinne mich und kämpfe mit mir, um mich zu überzeugen, daß dies Wirklichkeit und nicht ein Märchen ist. Es ist mir nicht möglich; und das ist wohl auch einerlei, denn ich will lieber glauben, daß diese Pracht und dieser Glanz, diese Herrlichkeit und naive Torheit, daß sie ein Märchen sind, lieber, als daß ich glaube, daß es die Schaustellung eines klugen und aufgeklärten Volkes ist, das sich zu Herren über den Stoff gemacht und das Rätsel der Sterne gelöst hat.
Prinzen und Prinzessinnen, Herzöge und Herzoginnen und zahllose Gekrönte aus dem königlichen Gefolge fahren vorbei – – wieder Krieger und Lakaien und eroberte Völker – und dann ist der Zug zu Ende. Ich lasse mich mit der Menge in ein Labyrinth von engen Straßen treiben, wo die Wirtshäuser ein einziges Gebrüll von Trunkenheit sind. Männer, Frauen und Kinder ergeben sich der schamlosesten Völlerei. Und von allen Seiten ertönt, von trunkenen Stimmen gegrölt, der Gassenhauer des Krönungstages.
Es regnet in Strömen. Die Straße herab kommen die farbigen Hilfstruppen, schwarze Afrikaner und gelbe Asiaten, einige den Turban, andere den Fes auf dem Kopfe, die Kulis schwingen Maschinengewehre und Munition über den Köpfen; und all die bloßen Füße klatschen taktfest durch den Straßenschlamm. Wie auf Kommando entleeren sich alle Wirtshäuser, und die schwarzen Alliierten werden von ihren britischen Brüdern begrüßt, die gleich darauf wieder zu ihrem Gelage zurückkehren.
»Na, Kamerad! Wie hat dir die Prozession gefallen?« fragte ich einen alten Mann im Green-Park.
»Wie sie mir gefallen hat? Ich meine, sie hat uns eine verflucht gute Gelegenheit verschafft, ein bißchen Schlaf zu kriegen. Als die ganze Polente weg war, krochen ich und an fünfzig andere in die Winkel; aber ich konnte nicht schlafen, ich war hungrig und mußte daran denken, wie ich mein lebelang geschuftet habe und jetzt nicht weiß, wo ich meinen Kopf betten soll. Und dazu all die Musik und das Hurrageschrei und das Schießen; ich wurde fast Anarchist und hätte am liebsten diesem Oberkämmerer den Schädel eingeschlagen.«
Warum er gerade an den Oberkämmerer dachte, weiß ich nicht recht; er wußte es selbst wohl auch nicht, aber er tat es nun mal, und es war kein Anlaß, darüber zu streiten.
Als der Abend anbrach, wurde die Stadt ein Meer von Licht. Überall sah man strahlende Farben, grün, gelb, rot, und wohin man sah, leuchtete »E. R.« mit großen Kristallbuchstaben im Schein der Gasfackeln. Die Menge auf den Straßen vermehrte sich um Hunderttausende, und obwohl die Polizei alle Ausschweifungen nach Kräften unterdrückte, machten sich doch Trunkenheit und Roheit überall bemerkbar. Die müden Arbeitstiere des Alltags schienen jetzt, als die Spannung ausgelöst war, vor Erregung toll geworden zu sein; sie rollten wie eine Woge durch die Straßen, tanzten, Männer und Weiber, alte und junge, in langen Reihen Arm in Arm und brüllten Lieder.
Ich setzte mich auf eine Bank an der Themse-Promenade und blickte über den illuminierten Fluß hinaus. Es war beinahe Mitternacht, und vorbei strömten die besseren Leute, die sich amüsiert hatten und jetzt auf dem Heimweg die Straßen passieren mußten, wo der meiste Spektakel war. Auf der Bank neben mir saßen zwei zerlumpte Gestalten, ein Mann und eine Frau. Sie waren eingenickt. Die Frau hatte die Arme über der Brust gekreuzt und schauerte zusammen, während ihr Körper beständig hin und her schwankte – erst nach vorn, daß es aussah, als ob sie fallen sollte, dann nach links, daß ihr Kopf fast auf dem Arm des Mannes ruhte, dann wieder nach rechts, und dann begann sie sich zu recken und zu strecken, bis die Schmerzen in ihren Muskeln sie weckten und sie aufrecht dasaß; dann sank sie wieder zusammen, bis Anstrengung und Schmerz sie wieder weckten.
Alle Augenblicke blieben einige Knaben und junge Menschen bei der Bank stehen, traten hinter sie und stießen plötzlich ein wildes Geheul aus. Das riß den Mann und die Frau jedesmal aus ihrem Schlaf heraus, und beim Anblick des nervösen Schmerzensausdrucks auf ihren Gesichtern stieß die Menge ein Gebrüll von Lachen aus.
Diese allgemeine Herzlosigkeit war auffallend; der Anblick der Obdachlosen auf den Bänken, dieser armen, elenden Menschen, die ganz ungefährlich sind, ist ja etwas ganz Alltägliches. Mindestens fünfzigtausend Menschen müssen die Bank passiert haben, während ich dort saß, und nicht einer von ihnen fühlte sich an diesem feierlichen Krönungstage des Königs so ergriffen, daß er zu der Frau ging und sagte: »Hier haben Sie Sixpence, suchen Sie sich eine Schlafstelle.« Die Frauen, namentlich die jungen, machten Witze über das Nicken und brachten immer wieder ihre Begleiter zum Lachen. Es war grausam. Ich gestehe, daß die Wut in mir zu kochen begann, als ich diese frohe Menge vorbeiströmen sah, und der Gedanke verschaffte mir eine Art Befriedigung, daß nach der Londoner Statistik von vier erwachsenen Menschen einer dazu bestimmt ist, auf öffentliche Kosten zu sterben, im Arbeitshaus, im Hospital oder in der Irrenanstalt.
Ich ließ mich in eine Unterhaltung mit dem Manne ein. Er war vierundfünfzig Jahre alt, ein verbrauchter Dockarbeiter. Er bekam nur Arbeit, wenn die Nachfrage nach Arbeitern groß war, sonst zog man jüngere und stärkere Leute vor. Er hatte jetzt eine ganze Woche auf den Bänken an der Themse-Promenade geschlafen; die nächste Woche schien jedoch bessere Aussichten zu bieten, er hoffte, für ein paar Tage Arbeit zu erhalten, so daß er irgendwo ein Bett bekommen konnte. Er hatte sein ganzes Leben in London verbracht, mit Ausnahme von fünf Jahren, die er in Indien gedient hatte.
Selbstverständlich wollte er gern etwas zu essen haben; und das wollte sie auch. Die Zeiten waren ungewöhnlich hart, und nur ausnahmsweise hatten die Schutzleute so viel zu tun, daß die armen Leute ein bißchen schlafen konnten.
Ich weckte die Frau, die mir auf meine Frage erzählte, daß sie achtundvierzig Jahre alt war. Dann standen wir auf, um ein Kaffeehaus zu finden.
»Welche Arbeit,« sagte der Mann beim Anblick einiger Häuser, die besonders reich illuminiert waren, »all diese Lichter!« Darum drehte sich sein ganzes Dasein; er hatte sein ganzes Leben gearbeitet und konnte das ganze Universum wie seine eigene Seele nur nach dem einen Begriff »Arbeit« ermessen.
»Krönungen haben doch etwas Gutes«, fuhr er fort. »Sie geben einer Menge Menschen Arbeit.«
»Aber du hast doch einen leeren Magen«, sagte ich.
»Ja,« antwortete er, »ich habe versucht, Arbeit zu bekommen, aber das Alter spricht gegen mich … Was arbeitest du? Du bist Seemann? Das konnte ich dir gleich an der Kleidung ansehen.«
»Und ich weiß, was du für ein Landsmann bist,« sagte die Frau, »du bist Italiener.«
»Aber nein,« rief der Mann eifrig, »er ist Yankee, das kann ich ihm ansehen.«
»Herrgott, was ist denn das?« rief sie, als wir zum Strand kamen, entsetzt über den Anblick der lärmenden, tanzenden Krönungsschar von brüllenden Männern und singenden Mädchen.
»Oha, wie ich schmutzig bin von dem Herumlaufen«, sagte die Frau, als wir uns in einem Kaffeehaus gesetzt hatten. Und während sie sich Schlaf und Schleim aus den Augen rieb, sagte sie: »Den Anblick heute vergesse ich doch nie, und ich habe mich im stillen gefreut, wenn es auch ein schwerer Tag war. Und die Herzoginnen und Hofdamen hatten so herrliche weiße Kleider an. Wie schön sie waren – wundervoll!«
»Ich bin Irländerin,« antwortete sie auf meine Frage, »aber ich bin in London geboren.«
Sie hatte ein glückliches Heim gehabt, bis ihr Vater durch einen Unfall ums Leben kam und sie plötzlich allein auf der Welt stand. Einer ihrer Brüder war Soldat, der andre schlug sich mühselig genug mit Frau und acht Kindern und einem Einkommen von zwanzig Schilling die Woche und unsicherer Arbeit durch. Ein einziges Mal in ihrem Leben war sie außerhalb Londons gewesen, da hatte sie irgendwo in Essex, zwölf Meilen von der Hauptstadt, Obst gepflückt. »Und als ich wiederkam, war ich direkt nußbraun«, versicherte sie. »Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, aber es ist wahr.«
Zuletzt hatte sie in einem Kaffeehaus Beschäftigung gehabt, wo sie von sieben Uhr morgens bis elf Uhr abends arbeiten mußte und dafür Kost und fünf Schilling wöchentlich erhielt. Dann war sie krank geworden, und seit ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hatte sie keine Arbeit wieder finden können.
Sie hieben tüchtig drein, die beiden, und erst als die Portionen, die sie zuerst verlangt hatten, verdoppelt und verdreifacht worden, waren sie satt.
Einmal beugte die Frau sich über den Tisch, um den Stoff meiner Jacke und meines Wollhemdes zu befühlen, und machte eine Bemerkung über die guten Kleider, die die Yankees immer tragen. – Meine Lumpen gute Kleider! Ich schämte mich ihrer; als ich sie aber genauer ansah und mit denen verglich, die der Mann und diese Frau auf dem Leibe hatten, begann ich mir direkt gut gekleidet und respektabel vorzukommen.
»Was, glaubt ihr, wird das Ende sein?« fragte ich. »Ihr werdet doch mit jedem Tage älter.«
»Armenhaus«, sagte er.
»Ich will verdammt sein, wenn ich das will«, sagte sie. »Für mich gibt es nichts, ich weiß, daß ich auf der Straße sterben werde. Jedenfalls bedanke ich mich für das Armenhaus«, schnaufte sie.
»Wenn ihr nun so die ganze Nacht auf der Straße gegangen seid,« fragte ich, »was macht ihr da, um etwas zu essen zu kriegen?«
»Wenn man keinen Penny hat, muß man sehen, einen zu erwischen«, erklärte der Mann. »Dann in ein Kaffeehaus und eine Tasse Tee trinken.«
»Aber ich verstehe nicht, wie ihr davon leben könnt«, wandte ich ein.
Das Paar lächelte vielsagend, und er fuhr fort:
»Man trinkt den Tee in ganz kleinen Schlucken, daß er so lange wie möglich vorhält. Und dann paßt man auf, ob nicht jemand etwas hat liegenlassen.«
»Es ist kaum zu glauben, aber es gibt tatsächlich Leute, die etwas liegenlassen«, warf die Frau ein.
»Aber die Hauptsache,« sagte der Mann nachdenklich, »ist, daß man den Penny kriegt.«
Als wir aufgestanden waren, um zu gehen, suchte sie ein paar Brotkrusten von den umstehenden Tischen zusammen und stopfte sie irgendwo in ihre Lumpen.
»Man darf sie nicht umkommen lassen«, sagte sie; und der Dockarbeiter nickte und steckte selbst ein paar Brotkrusten zu sich.
Gegen drei Uhr morgens ging ich die Promenade entlang. Es war eine herrliche Nacht für die Obdachlosen, denn die Polizei war anderweitig beschäftigt; und jede Bank war von schlafenden Gästen besetzt. Es waren ebenso viele Frauen wie Männer, und die meisten von ihnen waren alt. Hier und da sah man einen Knaben.
Auf einer Bank sah ich eine Familie, einen Mann, der aufrecht dasaß, ein schlafendes Kind in den Armen, während seine Frau, den Kopf an seine Schulter gelehnt, schlief und auf ihrem Schoß ein zartes schlafendes Kind hielt. Der Mann saß mit weit aufgerissenen Augen da. In Gedanken verloren sah er über den Fluß hinaus. Es ist nicht gut, wenn ein Familienvater ohne Dach über dem Kopfe denkt. Es ist nicht angenehm, sich mit seinen Gedanken zu beschäftigen, denn das weiß ich, und das weiß ganz London, daß Arbeitslose, die Frau und Kinder töten, keine Seltenheit sind.
Man kann nicht in früher Morgenstunde die Themse-Promenade entlang vom Parlamentsgebäude an der Kleopatrasäule vorbei nach der Waterloobrücke gehen, ohne an die Leiden zu denken, von denen vor siebenundzwanzig Jahrhunderten im Buche Hiob berichtet wurde:
Man verrückt Grenzen, man raubt Herden und weidet sie.
Den Esel der Waisen treibt man fort; nimmt das Rind der Witwe zum Pfand.
Man stößt die Armen aus dem Wege; sämtlich verkriechen müssen sich die Bedrängten des Landes.
Siehe! Wilden Eseln gleich ziehen sie in die Wüste aus, mühselig Nahrung suchend; die Wildnis gibt ihnen Unterhalt für ihre Kinder.
Auf dem Felde müssen sie ihr Mischkorn schneiden, und Nachlese halten in dem Weinberge des Bösen.
Nackt übernachten sie ohne Kleidung, sind ohne Decke bei der Kälte.
Vom Regenguß der Gebirge durchnäßt, und ohne Zufluchtsort umarmen sie den Fels.
Man reißt von der Brust den Waisen; und was der Arme über sich hat, nehmen sie als Pfand.
Nackt gehen sie einher ohne Kleidung und müssen hungrig Garben tragen. –
Siebenundzwanzig Jahrhunderte sind vergangen! Und doch ist heute noch alles wahr und treffend, heute im Herzen der christlichen Zivilisation, wo König Eduard VII. regiert.