Jack London

Da ich erfahren hatte, daß es unter den kleinen Leuten in London 1 292 737 Menschen gab, die nur 21 Schilling und darunter die Woche verdienten, interessierte es mich, zu untersuchen, wie eine Familie eigentlich mit einem solchen Einkommen alle Bedürfnisse decken könnte. Familien von sechs, sieben, acht oder zehn Köpfen ziehe ich hier nicht in Betracht, die folgende Tabelle gilt für eine Familie von fünf Köpfen: Vater, Mutter und drei Kinder.

Wohnungsmiete 6 Schilling 0 Pence

Brot 4 “ 0 “

Fleisch 3 “ 3 “

Gemüse 3 “ 6 “

Kohl 1 “ 0 “

Tee 0 “ 9 “

Petroleum 0 “ 8 “

Zucker 0 “ 9 “

Milch 0 “ 6 “

Seife 0 “ 4 “

Butter 0 “ 10 “

Brennholz 0 “ 4 “

  ——— ———  

zusammen 21 Schilling 2 Pence

Nimmt man einen einzelnen Posten heraus, so wird sich leicht zeigen, wie wenig davon zu streichen ist. Für vier Schilling Brot für eine Familie von fünf Köpfen in sieben Tagen heißt, daß die tägliche Ration pro Kopf 1,4 Pence ausmacht, und wenn sie drei Mahlzeiten essen, bekommt jeder zu jeder Mahlzeit weniger als für einen halben Penny Brot. Und Brot ist der größte Posten auf der Rechnung. An Fleisch und Gemüse zu jeder Mahlzeit wird es noch weniger werden, während die ganz kleinen Posten zu mikroskopisch werden, als daß man sie überhaupt noch rechnen könnte. Dazu kommt, daß diese Nahrungsmittel in ganz geringen Mengen eingekauft sind, was ja die teuerste Art des Einkaufs ist.

Die vorstehende Tabelle gestattet keine Verschwendung; wie man sieht, weist sie ja keinen Überschuß auf; der ganze Lohn wird von Essen und Miete verschlungen. Für Taschengeld bleibt nichts. Kauft sich der Mann ein Glas Bier, so hat die Familie weniger zu essen; und in dem Maße, wie weniger gegessen wird, wird die physische Widerstandskraft verringert. Die Mitglieder einer solchen Familie können nicht Omnibus oder Straßenbahn fahren, sie können keine Briefe schreiben, keine Ausflüge machen, weder zu billigen Theatervorstellungen gehen, noch am Vereinsleben teilnehmen, ebensowenig wie sie sich Schleckereien, Tabak, Bücher und Zeitungen kaufen können.

Und sollte eines der drei Kinder ein Paar Schuhe brauchen, so müßte die Familie auf ihrem Speisezettel das Fleisch für eine ganze Woche streichen. Da es fünf Paar Füße sind, die mit Schuhen versorgt werden müssen, fünf Köpfe, die Hüte, und fünf Körper, die Kleider brauchen, und da es Gesetze gibt, die bestimmen, welche Kleidung unanständig ist, muß die Familie beständig ihre Körperkraft verringern, um den Körper warm zu halten und das Gefängnis zu meiden. Denn beachtet wohl: wenn Miete, Kohlen, Petroleum, Seife und Brennholz von der wöchentlichen Einnahme abgezogen werden, bleiben für die tägliche Kost nur 4½ Pence für jeden, und diese 4½ Pence kann man nicht noch durch den Einkauf von Kleidung angreifen, ohne dadurch die Körperkraft zu verringern.

Alles dies ist hart genug. Aber gesetzt den Fall, daß ein Unglück geschieht. Der Familienvater bricht sich ein Bein oder vielleicht den Hals. Dann ist es aus mit den 4½ Pence täglich für jeden der hungrigen Münder, dann gibt es keinen halben Penny mehr für Brot zu jeder Mahlzeit und keine sechs Schilling mehr für die Miete, wenn die Woche um ist. Dann kann die Familie auf die Straße oder ins Armenhaus gehen oder in ein elendes Loch irgendwo ziehen, wo die Mutter vermutlich versuchen wird, das Heim mit Hilfe der zehn Schilling, die sie vielleicht zu verdienen imstande ist, zu erhalten.

Es gibt, wie gesagt, in London 1 292 737 Menschen, die 21 Schilling oder weniger die Woche verdienen und eine Familie zu versorgen haben, und man muß sich erinnern, daß wir hier untersucht haben, wie eine Familie von fünf Köpfen mit einem solchen Einkommen leben kann. Aber es gibt größere Familien, es gibt viele Familien, die für weit weniger als 21 Schilling leben müssen; außerdem gibt es viele, die keine dauernde Arbeit haben. Da liegt die Frage auf der Hand: Wie können die existieren? Die Antwort ist, daß sie nicht leben. Sie wissen nicht, was Leben ist. Sie führen ein Dasein, das geringer als das der Tiere ist, bis der barmherzige Tod sie befreit.

Ehe wir in die allerhäßlichsten Tiefen hinabsteigen, wollen wir das Beispiel der Telephonistinnen nehmen. Hier haben wir gesunde, frische, junge englische Frauen vor uns, für die eine höhere Lebenshaltung als die der Tiere eine absolute Notwendigkeit ist – sonst würden sie nicht frische, gesunde Frauen bleiben. Wenn die Telephonistin ihren Dienst antritt, erhält sie einen Lohn von elf Schilling die Woche. Ist sie aufgeweckt und tüchtig, so kann sie nach Verlauf von fünf Jahren ein Maximalgehalt von 1 Pfund Sterling erreichen.

Neulich sandte man Lord Londonderry eine Übersicht über die wöchentlichen Ausgaben eines solchen jungen Mädchens. Hier ist sie:

Miete, Brennholz und Licht 7 Schilling 6 Pence

Kost im Hause 3 “ 6 “

Kost im Amt 4 “ 6 “

Fahrgeld 1 “ 6 “

Wäsche 1 “ 0 “

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zusammen                     18 Schilling 0  

Es bleibt also nichts für Kleider, Erholung und Krankheitsfälle. Und viele der jungen Mädchen erhalten ja nicht einmal 18 Schilling, sondern 11, 12 oder 14 Schilling die Woche. Sie brauchen notwendig Kleidung und Erholung, und – Männer sind so oft ungerecht gegen Männer, und sie sind es stets gegen Frauen.

Auf dem Gewerkschaftskongreß, der jetzt in London tagt, hat die Gasarbeitergewerkschaft vorgeschlagen, im Parlamentarischen Ausschuß einen Gesetzesantrag ausarbeiten zu lassen, der Kindern unter fünfzehn Jahren das Arbeiten verbietet. Herr Shackleton, Mitglied des Parlaments und Vertreter der Weber in den nördlichen Distrikten, wandte sich im Namen der Textilarbeiter gegen diesen Vorschlag, indem er behauptete, daß die Textilarbeiter den Verdienst ihrer Kinder nicht entbehren und für den Lohn, den sie selbst erhielten, nicht leben könnten. Die Vertreter von 514 000 Arbeitern stimmten gegen den Vorschlag, die Vertreter von 535 000 Arbeitern dafür. – Wenn 514 000 sich dem Verbot widersetzten, daß Kinder unter fünfzehn Jahren arbeiten sollen, so ist es klar, daß eine unermeßliche Zahl erwachsener Arbeiter in diesem Lande reine Hungerlöhne bezieht. Ich habe mit Frauen in Whitechapel gesprochen, die weniger als einen Schilling für zwölfstündige schwere Arbeit in einer Nähstube erhielten, und ich habe mit Hosennäherinnen gesprochen, die einen durchschnittlichen Wochenlohn von drei bis vier Schilling hatten.

Kürzlich wurde ein Fall bekannt, in dem die Arbeiter bei einer sehr reichen Firma für sechs Tage Arbeit zu sechzehn Stunden hintereinander freie Kost und sechs Schilling die Woche erhielten.

Die Sandwichmänner verdienen vierzehn Pence täglich und müssen sich selbst kleiden und beköstigen. Der durchschnittliche Wochenverdienst von Straßenhändlern beträgt nicht mehr als zehn bis zwölf Schilling. Der Durchschnittslohn aller gewöhnlichen Arbeiter außerhalb der Docks beträgt weniger als sechzehn Schilling die Woche, während die Dockarbeiter durchschnittlich ungefähr acht bis neun Schilling verdienen. Diese Zahlen sind dem Bericht der königlichen Kommission entnommen, also authentisch.

Wir wollen uns einmal folgendes Beispiel vor Augen halten: Eine abgearbeitete, alte Frau, die sich und vier Kinder versorgen und drei Schilling Miete wöchentlich bezahlen muß, verdient sich ihr Geld damit, daß sie Streichholzschachteln zum Preis von 2¼ Pence das Gros klebt. Zwölf Dutzend Schachteln für 2¼ Pence, und dabei muß sie sich selbst Kleister und Faden halten! Sie hat nie gewußt, was es heißt, sich einen Tag auszuruhen. Jeden einzigen Tag, auch den Sonntag, hat sie vierzehn Stunden hintereinander geschuftet. Das höchste, was sie leisten konnte, waren sieben Gros, womit sie einen Schilling 3¾ Pence verdiente. In den achtundneunzig Arbeitsstunden der Woche verfertigte sie 7066 Streichholzschachteln und verdiente 4 Schilling und 10¼ Pence, wovon noch die Kosten für Kleister und Faden abgingen.

Als der bekannte Kriminalist Thomas Holmes voriges Jahr über die Verhältnisse der weiblichen Arbeiterschaft geschrieben hatte, erhielt er folgenden, vom 18. April 1901 datierten Brief:

Sehr geehrter Herr!

Entschuldigen Sie, daß ich mir die Freiheit nehme, Ihnen zu schreiben, da ich aber gelesen habe, was Sie über arme Frauen schreiben, die vierzehn Stunden täglich für zehn Schilling die Woche arbeiten, möchte ich Ihnen gern mitteilen, wie es mir ergeht. Ich bin Krawattennäherin und kann in einer ganzen Woche nicht mehr als fünf Schilling verdienen. Seit mehr als zehn Jahren habe ich einen armen kranken Mann zu versorgen, der selbst in der ganzen Zeit nicht einen Penny verdienen konnte …

– Wenn man denkt, daß eine Frau, die imstande ist, einen so klaren, vernünftigen, grammatikalisch richtigen Brief zu schreiben, ihren Mann und sich selbst für fünf Schilling die Woche versorgen muß! Holmes besuchte sie. Er mußte fast kriechen, um in ihr Zimmer zu gelangen. Dort lag ihr kranker Mann, und dort arbeitete sie den ganzen Tag, dort kochte, aß, wusch und schlief sie; dort mußten sie und ihr Mann alle Funktionen des Lebens verrichten – und die des Todes dazu. Der Kriminalist fand keinen andern Platz, sich zu setzen, als das Bett, das zum größten Teil mit Krawatten und Seide bedeckt war. Der Kranke befand sich im letzten Stadium der Schwindsucht. Er hustete und spie ununterbrochen, und sie stand von ihrer Arbeit auf, um ihm zu helfen, wenn er einen Anfall hatte. Der Staub von der Seide war alles eher als gut für seine Krankheit; und seine Krankheit war im übrigen auch nicht gut für die Krawatten – und für die, die später mit ihnen handeln und sie tragen sollten.

Ein anderer Fall, den Holmes untersuchte, betraf ein zwölfjähriges Mädchen, das vor Gericht kam, weil es etwas Essen gestohlen hatte. Die Untersuchung ergab, daß die Kleine Pflegemutter eines Knaben von neun Jahren, eines kleinen Krüppels von sieben und eines noch kleineren Kindes war. Ihre Mutter war Witwe und ernährte sich als Blusennäherin. Sie bezahlte fünf Schilling wöchentlich Miete. Ich führe hier die letzten Posten ihrer Haushaltungsrechnung an: Tee ½ Penny, Zucker ½ Penny, Brot ¼ Penny, Margarine 1 Penny, Petroleum 1½ Penny und Brennholz ½ Penny.

Ihr guten Hausfrauen, ihr sanften, warmherzigen Menschen, stellt euch vor, daß ihr selbst mit so kleinen Mitteln einkaufen und haushalten, für fünf Menschen auftischen und außerdem auf die kleine zwölfjährige Pflegemutter achten solltet, damit sie kein Essen für ihre kleinen Geschwister stähle, während ihr nähtet, nähtet und nähtet, eine lange, lange Reihe Blusen – bis weit hinein in die dunkle Zukunft, bis in den Armensarg, der eurer wartete!