Jack London
Ein Tag nach dem andern verging, ohne daß Tudor Neigung zu verspüren schien, das gastfreundliche Berande zu verlassen. Alles war für die Abreise bereit, aber er blieb immer noch und widmete seine ganze Zeit Joan, was die Abneigung, die Scheldon gegen ihn empfand, noch vermehrte. Er ging mit ihr schwimmen und übertraf sie noch an Unbesonnenheit; er schoß mit ihr Fische, tauchte dabei zwischen die hungrigen Grundhaie und kämpfte mit ihnen um den Besitz der betäubten Beute, bis er die Anerkennung der ganzen Tahitianer erntete. Arahu forderte ihn heraus, einen Fisch aus den Kiefern eines Haies zu reißen, wobei er diesem die eine Hälfte lassen und die andere selbst an die Oberfläche bringen sollte; und Tudor vollbrachte diese Heldentat, bei der ein leichter Schlag von der rauhen Haut des erstaunten Haies mehrere Zoll von seiner Schulterhaut abriß. Joan war entzückt, während Scheldon, der zusah, sich klarmachte, daß hier der Held ihrer Abenteuerträume zur Wirklichkeit geworden war. Zwar machte sie sich nichts aus Liebe, aber wenn sie je lieben sollte, das fühlte er, so mußte es ein solcher Mann sein – »ein Mann, der etwas aus sich zu machen verstand«, wie er sich sagte. Er fühlte sich in den Hintergrund gedrängt von Tudor, der die Gabe hatte, alle seine Eigenschaften ins rechte Licht zu stellen. Scheldon war selbst ein tapferer Mann, ohne daß er es jedoch für nötig befunden hätte, dies zu erwähnen. Er wußte, daß er genau wie der andere zwischen die Grundhaie tauchen würde, wenn es ein Leben zu retten gälte, aber das rechtfertigte für ihn nicht das tollkühne Tauchen zwischen die Haie, nur wegen der Hälfte eines Fisches. Der Unterschied zwischen ihnen war, daß er sein Schaufenster verhängt hatte. Das Leben pulste stetig und still in ihm, und es lag nicht in seiner Art, auf der Oberfläche Schaum aufzuwirbeln, daß die Welt es bemerkte, und die erstaunlichen Darstellungen des anderen übten auf ihn nur die Wirkung aus, daß er sich noch mehr in sich selbst zurückzog und dichter als je in die matte, stoische Ruhe seiner Rasse hüllte. »Sie sind so stumpfsinnig seit ein paar Tagen«, beklagte sich Joan. »Man möchte fast glauben, Sie wären krank, böse oder sonst etwas. Sie scheinen nichts im Kopfe zu haben als schwarze Arbeiter und Kokosnüsse. Was ist denn los?«
Scheldon lächelte nur und wurde noch stiller, während er zuhörte, wie Joan und Tudor die Theorie der starken Hand erörterten, durch die der Weiße das Leben der niederen Rassen lenkte. Beim Zuhören wurde es Scheldon wie durch eine Offenbarung klar, daß es gerade das war, was er tat. Die beiden philosophierten darüber, er aber erlebte es, indem er die starke Hand seiner Rasse fest auf die Schulter der Niederen legte, die auf Berande arbeiteten oder die Plantage von außen bedrohten. Aber weshalb darüber sprechen? fragte er sich. Es genügte, es zu tun, und damit fertig.
Er äußerte dies trocken und ruhig und wurde sofort in einen Wortwechsel verwickelt, bei dem Joan und Tudor geschlossen gegen ihn standen und so erstaunliche Vorwürfe gegen die englische Selbstbeherrschung und Zurückhaltung, auf die er im Geheimen stolz war, erhoben, wie er es nie für möglich gehalten hätte.
»Der Yankee redet viel über das, was er tut oder getan hat,« sagte Tudor, »und wird deshalb von dem Engländer von oben herab als Prahlhans angesehen. Aber der Yankee ist das reine Kind. Er versteht gar nicht, wirkungsvoll zu prahlen. Er redet von seinen Taten, das ist richtig, aber der Engländer übertrumpft ihn, indem er nicht darüber redet. Wenn es heißt, daß der Engländer nicht prahlt, so ist das schließlich nichts weiter als nur eine feinere Form der Prahlerei. Es ist wirklich komisch, wie Sie zugeben werden.«
»Ich habe noch nie darüber nachgedacht«, fiel Joan ein. »Gewiß – ein Engländer kann schreckliche Heldentaten ausführen und ist hinterher bescheiden und zurückhaltend, lehnt es ab, überhaupt darüber zu sprechen, und durch dieses Schweigen deutet er eben an: solche Sachen mache ich jeden Tag, das ist ebenso leicht, wie das Abrollen einer Loggleine. Sie sollten erst sehen, welche wahren Heldentaten ich vollbringen könnte, wenn ich nur Gelegenheit dazu hätte. Aber diese Kleinigkeit – an der kann ich wirklich nichts Bemerkenswertes oder Ungewöhnliches sehen. Ich wünschte nur, alle meine und ihre Freunde würden einmal davon hören, daß ich bei einer Pulverexplosion in die Luft flog oder hundert Menschenleben rettete. Dann würde ich stolzer als Luzifer sein. Gestehen Sie, Herr Scheldon, haben Sie nicht auch innerlich ein stolzes Gefühl, wenn Sie etwas Kühnes oder Nützliches getan haben?«
Scheldon nickte.
»Nun,« drängte sie weiter, »Sie verbergen diesen Stolz unter einer Maske sorgloser Gleichgültigkeit – ist das nicht gleichbedeutend mit einer Lüge?«
»Ja, das ist es«, gab er zu. »Aber wir sagen doch täglich solche Lügen. Es ist eine Frage der Erziehung, und die Engländer sind eben besser erzogen, das ist alles. Mit der Zeit werden Ihre Landsleute eine ebenso gute Erziehung besitzen, der Yankee ist, wie Tudor sagte, noch jung.«
»Gott sei Dank!« rief Joan. »Bis zu diesen Lügen haben wir es noch nicht gebracht.«
»O doch«, sagte Scheldon schnell. »Erst vor wenigen Tagen taten Sie es. Erinnern Sie sich, wie Sie am Laternenfall hochkletterten? Ihr Gesicht war die verkörperte Lüge.«
»Das war etwas ganz anderes.«
»Gestatten Sie einen Augenblick«, fuhr er fort. »Ihr Gesicht war so ruhig und friedlich, als wenn Sie in einem Liegestuhl ruhten; sah man Ihr Gesicht an, so konnte man folgern, daß es etwas ganz Alltägliches für Sie wäre, das Gewicht Ihres Körpers Hand um Hand an einem Tau hochzuziehen, etwas, das ebenso leicht wäre, wie das Abrollen einer Loggleine. Und erzählen Sie mir nicht, Fräulein Lackland, daß Sie keine Gesichter geschnitten haben, als Sie das erstemal versuchten, an einem Tau hochzuklettern. Aber Sie haben diese Periode wie jeder Zirkusakrobat durch Übung überwunden. Sie haben Ihr Gesicht dazu erzogen, Ihre Empfindungen und die gewaltigen Anstrengungen, die Ihre Muskeln vollbrachten, zu verbergen. Es war, um mit Herrn Tudor zu sprechen, eine feinere Äußerung körperlicher Tapferkeit. Und darauf beruht eben unsere englische Selbstbeherrschung – sie ist lediglich eine Frage der Erziehung. Gewiß, wir sind innerlich stolz auf die Dinge, die wir tun oder getan haben – stolz wie Luzifer, ja, noch stolzer. Aber wir sind erwachsen und reden nicht mehr darüber.«
»Ich ergebe mich«, rief Joan. »Schließlich sind Sie doch nicht so stumpfsinnig.«
»Ja, Sie haben uns geschlagen«, gab Tudor zu. »Aber Sie würden es nicht dahin gebracht haben, wenn Sie nicht Ihre Erziehungsregeln durchbrochen hätten.«
»Wie meinen Sie das?«
»Indem Sie darüber sprachen.«
Joan klatschte zustimmend in die Hände. Tudor zündete sich eine Zigarette an, während Scheldon in unerschütterlicher Ruhe sitzenblieb.
»Jetzt haben Sie’s gekriegt«, hetzte Joan. »Warum geben Sie es ihm nicht wieder?«
»Ich wüßte wirklich nicht, was ich sagen sollte«, erwiderte Scheldon. »Ich habe das Bewußtsein, daß meine Ansichten gesund sind, und das genügt mir.«
»Sie könnten erwidern,« meinte Joan, »daß ein Erwachsener, der sich mit Kindern abgibt, in ihrer Sprache sprechen muß, um sich ihnen verständlich zu machen.«
»In der Hitze des Gefechts sind Sie desertiert und zum Feinde übergegangen, Fräulein Lackland«, sagte Tudor vorwurfsvoll.
Aber sie hörte ihn nicht. Sie blickte gespannt über das Grundstück hinweg nach der See. Die beiden Männer folgten ihrem Blick und sahen ein grünes Licht und die Umrisse eines Segels.
»Ich bin gespannt, ob das die Martha ist, die zurückkommt«, bemerkte Tudor.
»Nein, das Seitenlicht steht zu niedrig«, antwortete Joan. »Außerdem haben sie Riemen ausgelegt. Hören Sie es nicht? Ein so großes Schiff wie die Martha würde man nicht rudern.«
»Das stimmt, und dazu hat die Martha noch einen Motor – fünfundzwanzig Pferdekräfte –« fügte Tudor hinzu.
»Das wäre ein Schiff für uns«, sagte Joan sehnsüchtig zu Scheldon. »Ich muß wirklich sehen, ob ich nicht einen Schoner mit Motor bekommen kann. Vielleicht könnte ich einen gebrauchten einbauen lassen.«
»Das würde wieder Ausgaben für einen Maschinisten bedeuten«, wandte er ein.
»Aber es würde sich durch schnellere Fahrt bezahlt machen«, widersprach sie. »Ein guter Motor ist so gut wie eine Versicherung. Ich weiß Bescheid. Ich habe mich selbst zwischen den Riffen herumgetrieben. Außerdem könnte ich ja, wenn Sie nicht so mittelalterlich wären, selbst das Schiff führen und mehr als das Gehalt des Maschinisten sparen.«
Er antwortete nicht auf ihren Stich, und sie blickte ihn an. Er sah über das Wasser hinaus, und im Lampenschein waren die Linien seines Gesichts stark, ernst und eigensinnig, der Mund beinahe keusch, aber fester und mit dünneren Lippen als der Tudors. Zum ersten Male wurde sie sich seiner Stärke bewußt, die in seiner Ruhe, seiner einfachen Redlichkeit und besonnenen Entschlossenheit lag. Sie warf einen schnellen Blick auf Tudor. Dessen Gesicht war hübscher, berührte im ersten Augenblick angenehmer. Aber der Mund gefiel ihr nicht. Er war wie zum Küssen bestimmt, und sie verabscheute Küsse. Für den Augenblick war sie sich über den Mann nicht klar. Vielleicht hatte Scheldon recht mit seinem Urteil. Sie wußte es nicht, und außerdem berührte es sie wenig. Schiffe und See und alles, was damit zusammenhing, interessierte sie bedeutend mehr als Männer, und im nächsten Augenblick sah sie wieder durch die warme tropische Dunkelheit nach den Umrissen des Segels und dem ruhigen Grün des sich nahenden Seitenlichtes und horchte gespannt auf den kurzen Schlag der Riemen in den Dollen. Im Geiste sah sie die nackten, gespannten Körper der Schwarzen, wie sie sich rhythmisch bei der Arbeit bogen und streckten, und sie wußte, daß irgendwo auf diesem fremden Deck der unvermeidliche Herrenmensch stand, der das Fahrzeug zu seinem Ankerplatz leitete, indem er scharf nach dem undeutlichen Waldstreifen der Küste spähte, um die in der Nacht trügerische Entfernung abzuschätzen; der auf seinen Wangen den ersten Hauch der Landbrise spürte, die gerade zu wehen begann, und der wägend, überlegend, messend, schätzend die zwanzig oder mehr sich immer ändernden Kräfte lenkte, mit deren Hilfe er seinen Weg machte. Sie wußte das, weil sie es liebte und miterlebte, wie nur ein Seemann es kann.
Zweimal hörte sie das Plätschern des Lotes und horchte gespannt auf den Ruf, der folgte. Das eine Mal sprach eine Männerstimme, tief, befehlend. Sie bebte vor Freude darüber. Es war nur die Anweisung für den Rudergast, das Ruder nach Backbord umzulegen. Sie beobachtete die geringe Änderung des Kurses, wußte, daß sie vorgenommen wurde, damit die feststehenden Segel den ersten Hauch der Landbrise auffangen konnten. Und sie wartete nur darauf, daß dieselbe tiefe Stimme das Wort »Stütz« rufen würde. Und wieder bebte sie, als der Ruf erklang. Noch einmal fiel das Lot, und »elf Faden« lautete der Ruf. »Fall Anker«, klang die tiefe Stimme durch die Dunkelheit, und es folgte das ungestüme Rasseln der Ankerkette. Das Kreischen der Scheiben in den Blöcken, als die Segel heruntergefiert wurden, war Musik für sie; sie bemerkte sofort, daß ein Klüverfall klemmte, und sah beinahe den ungeduldigen Ruck, mit dem der Seemann es klar machte. Die beiden Männer neben ihr existierten für sie so lange nicht mehr, bis der Anker gefaßt hatte und beide Lichter, das rote und das grüne, in Sicht gekommen waren.
Scheldon war gespannt, was für ein Schiff es sein mochte, während Tudor immer noch glaubte, daß es die Martha sei.
»Es ist die Minerva«, sagte Joan bestimmt.
»Woher wissen Sie das?« fragte Scheldon zweifelnd.
»Erstens ist es eine Jacht. Und zweitens würde ich sie immer an dem Klappern ihrer Groß-Piek-Blöcke erkennen – sie sind zu groß für das Fall.«
Eine dunkle Gestalt, die bis jetzt das Schiff beobachtet hatte, näherte sich jetzt vom Strande her dem Hause.
»Bist du es, Utami?« rief Joan.
»Nein, Missie, mich Matapuu«, lautete die Antwort.
»Was Schiff ist es?«
»Mich glauben, Minerva.«
Joan blickte triumphierend auf Scheldon, der sich verneigte.
»Wenn Matapuu es sagt, muß es wohl stimmen«, murmelte er.
»Aber wenn Joan Lackland es sagt, bezweifeln Sie es«, rief sie. »Genau so, wie Sie ihre Fähigkeit als Schiffer bezweifeln. Aber das macht nichts, eines Tages wird Ihnen Ihre Ungefälligkeit schon leid tun. – Da wird das Boot zu Wasser gefiert, und in fünf Minuten werden wir Christian Young die Hand schütteln.«
Lalaperu brachte Gläser, Zigarren und den unvermeidlichen Whisky, und ehe noch die fünf Minuten vergangen waren, klappte schon die Pforte, und Christian Young kam, braun, golden und sanft wie immer, die Bungalowtreppe zu ihnen herauf.