Iwan Turgenjew
Es war ein herrlicher Julitag, einer von den Tagen, die nur dann vorkommen, wenn kein Wetterumschlag zu erwarten ist. Der Himmel ist dann vom frühen Morgen an heiter; das Morgenrot flammt nicht wie eine Feuersbrunst; die Sonne ist nicht feurig und glühend wie zur Zeit einer Dürre, auch nicht trüb-blutrot wie vor einem Sturm, sondern schwebt hell und freundlich unter einer schmalen und langen Wolke hervor, leuchtet heiter und versinkt im lilagrauen Nebel. Der obere dünne Rand der langgestreckten Wolke glitzert wie voller feiner Schlangen; ihr Glanz erinnert an den Glanz getriebenen Silbers . . . Schon brechen aber die spielenden Strahlen aufs neue hervor, und das mächtige Gestirn steigt lustig, majestätisch, wie auffliegend empor. Um die Mittagsstunde erscheint gewöhnlich eine Menge runder, hoher, goldig-grauer Wolken mit zarten weißen Rändern. Gleich Inseln, auf einem uferlosen Fluß verstreut, der sie mit tiefen und durchsichtigen Armen einer tiefen Bläue umflutet, bewegen sie sich kaum von der Stelle; weiter unten am Horizont drängen sie sich mehr zusammen, und es ist kein Blau zwischen ihnen mehr zu sehen; aber sie sind selbst da so leuchtend blau wie der Himmel; sie sind ganz von Licht und Wärme durchtränkt. Die Farbe des Horizonts, leicht und blaßlila, ändert sich während des ganzen Tages nicht und ist in der ganzen Runde gleich; nirgends verdunkelt sie sich, nirgends sammelt sich ein Gewitter; höchstens ziehen sich hier und da bläuliche Streifen herab – es ist ein kaum bemerkbarer Regen, der wie eine Saat herabrieselt. Gegen Abend verschwinden diese Wolken; die letzten von ihnen, dunkel und formlos wie Rauch, ballen sich rosenrot der scheidenden Sonne gegenüber; an der Stelle, wo sie ebenso ruhig untergegangen ist wie sie emporgestiegen, bleibt das hellrote Leuchten nur eine kurze Zeit über der dunkelgewordenen Erde, und leise flimmernd, wie eine vorsichtig getragene Kerze, leuchtet darin der Abendstern auf. An solchen Tagen sind alle Farben gedämpft; sie sind leuchtend, aber nicht grell; auf allen Dingen liegt das Siegel einer eigenen rührenden Milde. An solchen Tagen ist die Hitze oft sehr groß, manchmal brütet sie an den Abhängen der Felder; aber der Wind vertreibt und verweht die angesammelte Glut, und Wirbel – sichere Anzeichen beständigen Wetters – ziehen als hohe weiße Säulen über die Wege und Äcker dahin. In der trockenen und reinen Luft duftet es nach Wermut, nach gemähtem Korn und Buchweizen; selbst eine Stunde vor Anbruch der Nacht spürt man keine Feuchtigkeit. Ein solches Wetter wünscht sich der Landmann für die Getreideernte.
An einem solchen Tag jagte ich einmal im Tschernschen Kreise des Tulaer Gouvernements auf Birkhühner. Ich hatte recht viel Wild aufgestöbert und geschossen; meine gefüllte Jagdtasche schnitt mir unbarmherzig in die Schulter; das Abendrot war aber schon im Verlöschen, und in der noch hellen, wenn auch von den Strahlen der untergegangenen Sonne nicht mehr erleuchteten Luft verdichteten sich schon kalte Schatten, als ich mich endlich entschloß, nach Hause zurückzukehren. Mit raschen Schritten durchstrich ich die lange, von Gebüsch bedeckte Strecke, stieg einen kleinen Hügel hinauf und erblickte statt der von mir erwarteten, mir bekannten Ebene mit dem Eichenwäldchen rechts und der niederen weißen Kirche in der Ferne eine mir völlig unbekannte Gegend. Zu meinen Füßen zog sich ein schmales Tal hin; gerade vor mir erhob sich als eine steile Wand ein dichtes Espengebüsch. Ich blieb erstaunt stehen und sah mich um . . . Aha! dachte ich mir – ich bin ganz woanders hingeraten: Ich bin viel zu weit nach rechts gekommen. – Mich über mein Versehen selbst wundernd, stieg ich den Hügel hinab. Mich umfing sofort eine unangenehme, unbewegliche Feuchtigkeit, als wäre ich in einen Keller geraten; das dichte, hohe Gras auf dem Grund des Tales breitete sich naß und weiß wie eine Decke aus; es war irgendwie unheimlich, es zu betreten. Ich stieg möglichst schnell an der anderen Seite wieder hinauf und schlug den Weg nach links, das Espengehölz entlang, ein. Die Fledermäuse flatterten schon über den schlafenden Wipfeln des Gehölzes, geheimnisvoll am dunklen und doch noch heiteren Himmel kreisend; schnell und geradeaus schoß in der Höhe ein verspäteter junger Habicht seinem Neste zu. – Wenn ich nur jene Ecke dort erreicht habe, dachte ich mir, so komme ich gleich auf die Straße; ich habe ja einen Umweg von einer Werst gemacht!
Endlich erreichte ich die Ecke des Waldes, aber dort war keinerlei Weg: Niedere Büsche breiteten sich vor mir aus, und hinter ihnen war in weiter Ferne ein leeres Feld zu sehen. Ich blieb wieder stehen. – Was ist das für ein Wunder . . .? Wo bin ich denn? – Ich fing an, mich zu besinnen, wie und wohin ich an diesem Tag gegangen war . . . – Ach! Das ist ja das Parachinsche Gebüsch! rief ich endlich aus. – Es stimmt! Das da muß ja das Sindejewsche Gehölz sein . . . Wie bin ich nur hergeraten? So weit . . .! Seltsam! Jetzt muß ich wieder nach rechts abbiegen.
Ich ging nach rechts durch die Büsche. Die Nacht senkte sich indessen und wuchs wie eine drohende Gewitterwolke; die Dunkelheit schien sich zugleich mit den Abenddünsten von überall zu erheben und sogar von der Höhe zu fallen. Ich stieß auf einen verwachsenen Fußpfad; ich schlug ihn ein und blickte aufmerksam vorwärts. Alles um mich her wurde schnell dunkel und still, nur die Wachteln schrien noch dann und wann. Ein kleiner Nachtvogel, der unhörbar und leicht auf seinen weichen Flügeln dahinflog, stieß beinahe auf mich und verschwand scheu seitwärts. Ich erreichte das Ende des Gebüsches und ging einen Feldrain entlang. Mit Mühe konnte ich schon die entfernten Gegenstände unterscheiden; das Feld um mich her leuchtete weiß; hinter ihm erhob sich, mit jedem Augenblick zunehmend, die düstere Finsternis. Meine Schritte hallten dumpf in der erstarrenden Luft wider. Der bleichgewordene Himmel fing wieder an, blau zu werden, aber es war schon die Bläue der Nacht. In dieser Bläue regten sich und flimmerten die Sterne.
Was ich für ein Gehölz gehalten hatte, erwies sich jetzt als ein dunkler, runder Hügel. – Wo bin ich denn? fragte ich wieder laut; ich blieb zum drittenmal stehen und blickte fragend auf die Dianka, meinen englischen, gelbgefleckten Hund, entschieden das klügste von allen vierfüßigen Geschöpfen. Aber das klügste von allen vierfüßigen Geschöpfen wedelte nur mit seinem Schweif, zwinkerte traurig mit seinen müden Augen und gab mir keinerlei vernünftigen Rat. Ich schämte mich vor dem Hund und ging verzweifelt vorwärts, als wäre ich plötzlich dahintergekommen, wohin ich zu gehen hätte. Ich umging den Hügel und geriet in eine nicht sehr tiefe, von allen Seiten umpflügte Schlucht. Ein sonderbares Gefühl bemächtigte sich meiner sofort. Diese Schlucht sah wie ein fast regelmäßiger Kessel mit abschüssigen Wänden aus; auf dem Grund ragten einige aufrechtstehende, große weiße Steine – es sah so aus, als wären sie zu einer geheimen Beratung in die Schlucht hinabgestiegen, und alles war da so stumm und so öde, und der Himmel hing so flach und so traurig über der Schlucht, daß mein Herz sich zusammenkrampfte. Irgendein kleines Tier piepste schwach und jämmerlich zwischen den Steinen. Ich beeilte mich, wieder den Hügel zu erreichen. Bis jetzt hatte ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, den Weg nach Hause zu finden; nun überzeugte ich mich aber endgültig, daß ich mich gänzlich verirrt hatte, und ging nun weiter geradeaus, den Sternen nach, aufs Geratewohl, ohne mir die geringste Mühe zu geben, die Umgebung, die schon ganz in der Dunkelheit versunken war, wiederzuerkennen . . . Etwa eine halbe Stunde ging ich so, die Füße mit Mühe bewegend. Es war mir, als sei ich noch niemals in einer so öden Gegend gewesen; nirgends flimmerte ein Feuer, nirgends ließ sich ein Ton vernehmen. Ein abschüssiger Hügel folgte dem anderen, die Felder zogen sich in die Unendlichkeit hin, die Büsche wuchsen plötzlich aus dem Boden dicht vor meiner Nase empor. Ich ging immer weiter und hatte schon die Absicht, mich bis zum Morgen irgendwo hinzulegen, als ich vor mir plötzlich einen schrecklichen Abgrund erblickte.
Ich zog den schon erhobenen Fuß schnell zurück und sah durch die kaum noch durchsichtige Dunkelheit der Nacht eine riesengroße Ebene vor mir. Ein breiter Strom umbog sie in einem Halbkreis; die stählernen Reflexe des Wassers, die hier und da trübe aufleuchteten, bezeichneten seinen Lauf. Der Hügel, auf dem ich mich befand, fiel beinahe senkrecht hinab; seine großen Umrisse hoben sich schwarz von der bläulichen, leeren Luft ab, und gerade vor mir, in der Ecke zwischen dem Abhang und der Ebene, am Flusse, der an dieser Stelle als dunkler Spiegel unbeweglich zu liegen schien, dicht unter dem Abhang des Hügels, brannten und rauchten zwei rote Feuer nahe nebeneinander. Um sie herum bewegten sich Menschen, schwankten Schatten, und zuweilen fiel das Licht auf den Vorderteil eines kleinen Lockenkopfes . . .
Endlich wußte ich, wo ich hingeraten war. Diese Stelle war in unserer Gegend als die ›Bjeschinwiese‹ bekannt . . . Aber es war schon ganz unmöglich, besonders jetzt in der Nacht, nach Hause zurückzukehren; die Beine knickten vor Müdigkeit ein. Ich entschloß mich, auf das Feuer loszusteuern und in Gesellschaft dieser Menschen, die ich für Rinderhirten hielt, auf den Morgen zu warten. Ich stieg glücklich hinunter, hatte aber noch nicht Zeit gehabt, den letzten Ast, an dem ich mich festhielt, loszulassen, als plötzlich zwei große, weiße, zottige Hunde mit bösem Bellen auf mich losstürzten. Helle Kinderstimmen klangen in der Nähe der beiden Feuer; einige Jungen erhoben sich rasch von der Erde. Ich antwortete auf ihre fragenden Rufe. Sie liefen auf mich zu, riefen sogleich ihre Hunde zurück, auf die das Erscheinen meiner Dianka solchen Eindruck gemacht hatte, und ich kam näher.
Ich hatte mich geirrt, als ich die Menschen, die um die Feuer saßen, für Rinderhirten gehalten hatte. Es waren einfache Bauernkinder aus dem nächsten Dorf, die eine Pferdeherde hüteten. In der heißen Sommerzeit pflegt man bei uns die Pferde nachts auf die Weide zu treiben: Bei Tage würden ihnen die Fliegen und die Bremsen keine Ruhe lassen. Die Pferde abends hinauszutreiben und beim Morgengrauen wieder zurückzubringen, ist für die Bauernjungen ein großes Fest. Ohne Mützen, in alten Halbpelzen auf den lebhaftesten Mähren sitzend, jagen sie mit lustigem Geschrei, die Arme und Beine schwenkend, hoch aufspringend, und lachen, daß es nur so hallt. Der leichte Staub erhebt sich als gelbliche Wolke über der Straße; weit hallt das Gestampfe vieler Hufe, die Pferde rennen mit gespitzten Ohren; allen voran jagt irgendein rothaariger Gaul mit Kletten in der zerzausten Mähne, den Schweif hoch erhoben, ununterbrochen den Takt wechselnd.
Ich sagte den Jungen, daß ich mich verirrt habe, und setzte mich zu ihnen. Sie fragten mich, woher ich sei, schwiegen eine Weile und machten mir Platz. Wir unterhielten uns eine Weile miteinander. Ich streckte mich unter einem angenagten Busch aus und sah mich um. Das Bild war wunderschön: Neben den Feuern zitterte und erstarb, an die Dunkelheit stoßend, ein runder rötlicher Widerschein; die Flamme warf aufflackernd über die Grenze des Kreises schnelle Reflexe hinaus; schmale Lichtzungen beleckten ab und zu die nackten Äste des Weidengebüschs, und sofort verschwand wieder alles; spitze, lange Schatten drangen für einen Augenblick in den Lichtkreis ein und erreichten die Flammen: Die Dunkelheit kämpfte mit dem Licht. Zuweilen, wenn das Feuer schwächer brannte und der Lichtkreis enger wurde, erschienen aus der Finsternis, die näher herantrat, plötzlich ein brauner Pferdekopf mit zackiger Blesse oder ein ganz weißer Kopf; er sah uns aufmerksam und stumpf an, an dem langen Gras kauend, und verschwand gleich wieder. Man hörte ihn nur noch kauen und schnauben. Von der erleuchteten Stelle aus war es schwer zu erkennen, was im Finstern geschah, und darum schien alles in der Nähe von einem fast schwarzen Vorhang verdeckt. Aber weiter, am, Horizont zeichneten sich die Hügel und Wälder als verschwommene, lange Flecken ab. Der dunkle, reine Himmel hing feierlich und unermeßlich hoch über uns in seiner ganzen geheimnisvollen Pracht. Die Brust fühlte sich wonnig beengt beim Einatmen dieses eigentümlichen, ermattenden und frischen Duftes, des Duftes der russischen Sommernacht. Ringsum gab es fast kein Geräusch . . . Nur ab und zu plätscherte im nahen Fluß plötzlich ein großer Fisch, oder das Uferschilf fing, von einer Welle kaum berührt, leise zu rauschen an . . . Nur die Feuer allein knisterten leise.
Die Jungen saßen um die Feuer. Neben ihnen lagen auch die beiden Hunde, die solche Lust hatten, mich zu fressen. Sie konnten sich noch lange mit meiner Anwesenheit nicht befreunden und knurrten, schläfrig nach dem Feuer blinzelnd und schielend, ab und zu mit einem ungewöhnlichen Ausdruck eigener Würde; anfangs knurrten sie, dann winselten sie leise, als beklagten sie die Unmöglichkeit, ihren Wunsch zu erfüllen. Es waren fünf Jungen da: Fedja, Pawluscha, Iljuscha, Kostja und Wanja. (Aus ihren Gesprächen erfuhr ich ihre Namen, und ich will den Leser mit ihnen gleich bekannt machen.)
Der erste, der älteste, Fedja, mochte vierzehn Jahre alt sein. Er war ein schlanker Junge mit hübschen, feinen, etwas zu schwach ausgeprägten Gesichtszügen, mit krausem, blondem Haar, hellen Augen und einem fortwährenden halb heiteren, halb zerstreuten Lächeln. Er gehörte allem Anschein nach einer wohlhabenden Familie an und war wohl nicht aus Notwendigkeit, sondern nur zum Zeitvertreib ins Feld hinausgeritten. Er trug ein buntes Kattunhemd mit gelbem Saum und einen kleinen, neuen Kittel übergeworfen, der sich kaum auf seinen schmalen Schultern hielt; am blauen Gürtel hatte er einen Kamm hängen. Seine Stiefel mit niedrigen Schäften waren tatsächlich seine Stiefel und nicht die seines Vaters. Der zweite Junge, Pawluscha, hatte zerzaustes, schwarzes Haar, graue Augen, breite Backenknochen, ein blasses, pockennarbiges Gesicht, einen großen, aber regelmäßigen Mund; sein ganzer Kopf war ungewöhnlich groß, wie ein Kessel; der Körper untersetzt und plump. Er war ein unansehnlicher Junge, das war nicht zu leugnen, und doch gefiel er mir gut: Er blickte klug und frei, und in seiner Stimme lag Kraft. Mit seiner Kleidung konnte er nicht prahlen: Sie bestand aus einem einzigen, schmutzigen Hemd und einer geflickten Hose. Der dritte, Iljuscha, hatte ein recht unbedeutendes Gesicht – mit der gebogenen Nase, lang und kurzsichtig, drückte es eine stumpfe, krankhafte Besorgnis aus; die zusammengepreßten Lippen bewegten sich nicht, die zusammengezogenen Brauen rückten nicht auseinander, es sah so aus, als blende ihn immer das Feuer. Seine hellgelben, fast weißen Haare ragten in spitzen Strähnen unter dem niederen Filzhütchen hervor, das er sich fortwährend mit beiden Händen über die Ohren zog. Er hatte neue Bastschuhe und Fußlappen an; ein dicker Strick, dreimal um seine Hüften geschlungen, hielt sorgfältig sein sauberes schwarzes Filzmäntelchen. Er sowohl als Pawluscha schienen nicht mehr als zwölf Jahre alt zu sein. Der vierte, Kostja, ein Junge von etwa zehn Jahren, erregte mein Interesse durch seinen nachdenklichen, traurigen Blick. Sein Gesicht war nicht groß, mager, von Sommersprossen bedeckt, nach unten zu spitz wie bei einem Eichhörnchen; die Lippen waren kaum zu unterscheiden; aber einen seltsamen Eindruck machten seine großen, schwarzen, schwachglänzenden Augen: Sie schienen etwas ausdrücken zu wollen, wofür es in der Sprache, jedenfalls in seiner Sprache, keine Worte gibt. Er war klein gewachsen, schmächtig und recht ärmlich gekleidet. Den letzten, Wanja, hatte ich anfangs gar nicht bemerkt: Er lag auf der Erde, mäuschenstill unter einer Bastdecke zusammengekauert, und streckte nur ab und zu seinen blonden Lockenkopf unter ihr hervor.
Ich lag also seitwärts unter einem Strauch und sah die Jungen an. Ein kleines Kesselchen hing über einem der Feuer, in ihm kochten Kartoffeln. Pawluscha sah nach ihnen und rührte, auf den Knien liegend, mit einem Span das Wasser, das eben zu brodeln anfing. Fedja lag, auf einen Ellenbogen gestützt, die Schöße seines Kittels auseinandergeschlagen. Iljuscha saß neben Kostja und zwinkerte gespannt mit den Augen. Kostja hatte den Kopf ein wenig gesenkt und blickte irgendwohin in die Ferne. Wanja lag unbeweglich unter seiner Bastdecke. Ich stellte mich schlafend. Die Jungen kamen allmählich wieder ins Gespräch.
Zuerst redeten sie von dem und jenem, von den Arbeiten des nächsten Tages und von den Pferden; plötzlich wandte sich aber Fedja an Iljuscha und fragte ihn, als setze er ein begonnenes Gespräch wieder fort: »Nun, hast du den Hausteufel wirklich gesehen?«
»Nein, gesehen habe ich ihn nicht, und man kann ihn auch gar nicht sehen«, antwortete Iljuscha mit einer heiseren und schwachen Stimme, deren Tonfall vollkommen seinem Gesichtsausdruck entsprach. »Aber ich habe ihn gehört . . . Und nicht ich allein.«
»Wo wohnt er denn bei euch?« fragte Pawluscha.
»In der alten Lumpenmühle.«Lumpenmühle heißt in den Papierfabriken das Gebäude, in dem man das Papier aus den Kuren schöpft. Es befindet sich dicht am Damm, unter dem Wasserrad. (Anmerkung Turgenjews)
»Geht ihr denn auf die Fabrik?«
»Gewiß. Ich und mein Bruder Awdjuscha arbeiten als Papierglätter.«
»Ihr seid also Fabrikarbeiter . . .!«
»Nun, wie hast du ihn gehört?« fragte Fedja.
»Es war so. Ich war mit meinem Bruder Awdjuscha und mit Fjodor von Michejewo und mit Iwaschka Kossoi und mit dem anderen Iwaschka, dem von den Roten Hügeln, und mit dem Iwaschka Suchorukow, es waren auch andere Jungen dabei, im ganzen an die zehn Mann, die ganze Schicht; wir mußten in der Lumpenmühle übernachten; wir mußten es eigentlich nicht, aber Nasarow, der Aufseher, sagte uns: ›Was sollt ihr noch nach Hause gehen, Jungens? Morgen ist viel Arbeit, bleibt dann lieber hier.‹ So blieben wir in der Lumpenmühle. Wir liegen zusammen, und Awdjuscha fragt plötzlich: ›Und wenn jetzt der Hausteufel kommt?‹ Kaum hatte Awdjuscha diese Worte gesprochen, als plötzlich jemand über unseren Köpfen zu gehen anfing; wir lagen aber unten, und er ging oben bei dem Rad. Wir hören – er geht herum, die Bretter biegen sich unter ihm und knarren; da geht er schon über unseren Köpfen; plötzlich fängt das Wasser an zu rauschen, das Rad klopft und dreht sich; aber die Schleusen sind heruntergelassen. Wir wundern uns: Wer hat die Schleusen geöffnet, daß das Wasser hindurchkann? Das Rad drehte sich aber eine Weile und blieb plötzlich stehen. Jener ging oben wieder zur Tür und fing an, die Treppe hinunterzusteigen, aber langsam, ohne Eile; die Stufen stöhnten unter seinen Tritten . . . So kam er zu unserer Tür, wartete eine Weile, und plötzlich ging die Tür weit auf. Wir fuhren zusammen, sahen hin – es ist nichts . . . Plötzlich bewegte sich eine Schöpfkelle bei einem der Kufen, sie hob sich, bewegte sich durch die Luft, als tauchte sie jemanden unter, und kehrte wieder auf ihren Platz zurück. Dann hob sich der Haken an einer anderen Kufe und schloß sich wieder; dann klang es, als ginge jemand wieder zur Tür, und plötzlich hustete er und pustete wie ein Schaf, so laut . . . Wir fielen alle auf einen Haufen zusammen und krochen einer unter den anderen . . . So erschrocken waren wir damals!«
»So, so!« versetzte Pawel. »Warum fing er aber zu husten an?«
»Ich weiß nicht, vielleicht von der Feuchtigkeit.«
Alle schwiegen.
»Nun«, fragte Fedja, »sind die Kartoffeln gar?«
Pawluscha untersuchte sie.
»Nein, sie sind noch roh . . . Wie der Fisch plätschert«, fügte er hinzu, das Gesicht zum Fluß wendend, »ist wohl ein Hecht . . . Und dort fiel ein Sternchen vom Himmel.«
»Nein, Brüder, ich will euch etwas ganz anderes erzählen«, begann Kostja mit feiner Stimme. »Hört mal, was Vater neulich erzählt hat.«
»Wir hören«, sagte Fedja mit herablassender Miene.
»Ihr kennt doch Gawrilo, den Zimmermann aus der Vorstadt?«
»Gewiß kennen wir ihn.«
»Wißt ihr aber, warum er immer so traurig ist und schweigsam, wißt ihr es? Er ist darum so traurig: Einmal ging er, so hat’s Vater erzählt, einmal ging er, Brüder, in den Wald nach Nüssen. Er ging also in den Wald nach Nüssen und verirrte sich; er kam Gott weiß wohin. Er geht und geht, Brüder, und kann den Weg nicht finden; es ist aber schon Nacht. So setzte er sich unter einen Baum: ›Ich will auf den Morgen warten.‹ Er setzte sich hin und schlief ein. Er schlief ein und hörte plötzlich, wie ihn jemand rief. Er sieht hin: Es ist niemand da. Er schlief wieder ein, und wieder rief man ihn. Er sieht wieder hin: Vor ihm sitzt auf einem Ast eine Nixe, sie schaukelt hin und her, ruft ihn zu sich und schüttelt sich vor Lachen . . . Der Mond leuchtet aber hell, so hell, so klar, Brüder, daß alles zu sehen ist. So ruft sie ihn zu sich und ist so hell und weiß, wie sie auf dem Ast sitzt, wie eine Plötze oder ein Gründling, oder es gibt auch solche weißliche, silberne Karauschen . . . Der Zimmermann Gawrilo war ganz starr vor Schreck, Brüder, aber sie lacht immer und lockt ihn mit der Hand zu sich. Gawrilo stand schon auf, wollte auf die Nixe hören, aber der liebe Gott gab es ihm ein, ein Kreuz zu schlagen . . . Es war ihm aber furchtbar schwer, das Kreuz zu schlagen, Brüder; er sagt, die Hand sei wie aus Stein gewesen, er hätte sie kaum bewegen können . . . Hast du es gesehen . . .! Als er das Kreuz geschlagen hatte, hörte die Nixe zu lachen auf und fing zu weinen an . . . Sie weint, Brüder, wischt sich mit den Haaren die Tränen aus den Augen, ihre Haare sind aber grün wie Hanf. Gawrilo guckte sie an und fing an, sie zu fragen: ›Was weinst du, du Waldkraut?‹ Die Nixe aber antwortete ihm: ›Hättest du kein Kreuz geschlagen, Mensch, so hättest du bis ans Ende deiner Tage mit mir in Freuden gelebt; ich weine aber und gräme mich, weil du das Kreuz geschlagen hast; aber ich werde mich nicht allein grämen: Auch du sollst bis ans Ende deiner Tage trauern.‹ – Da verschwand sie, und Gawrilo sah sofort, wie er aus dem Wald herauskommen konnte . . . Aber seitdem geht er so traurig herum.«
»Ach!« sagte Fedja nach kurzem Schweigen. »Wie kann bloß so ein Waldspuk eine Christenseele verderben! Er hat auf sie doch nicht gehört?«
»Was soll man machen!« sagte Kostja, »Gawrilo erzählte, sie hätte eine so feine und klagende Stimme gehabt wie eine Kröte.«
»Hat das dein Vater selbst erzählt?«
»Er selbst. Ich lag auf der Pritsche und hörte alles.«
»Eine merkwürdige Sache! Warum soll er traurig sein . . .? Er hat ihr wohl gefallen, daß sie ihn rief.«
»Ja, er hat ihr gefallen!« bestätigte Iljuscha. »Gewiß! Sie wollte ihn zu Tode kitzeln, das wollte sie. Das machen die Nixen immer!«
»Es muß doch auch hier Nixen geben«, bemerkte Fedja.
»Nein«, antwortete Kostja, »hier ist ein reiner, freier Ort. Eines nur: Der Fluß ist nah.«
Alle verstummten. Plötzlich ertönte irgendwo in der Ferne ein gedehnter, klingender, fast klagender Laut, einer der unerklärlichen nächtlichen Laute, die manchmal in der tiefsten Stille entstehen, aufsteigen, anhalten und endlich, langsam verhallend, ersterben. Wenn man genauer hinhorcht, so ist es nichts, und doch klingt es. Es war, als habe jemand ferne dicht unter dem Himmelsgewölbe geschrien, und ein anderer habe ihm im Walde mit einem feinen, scharfen Gelächter geantwortet, und ein schwacher, zischender Pfiff zog über den Fluß dahin. Die Jungen wechselten Blicke und fuhren zusammen . . .
»Gott steh uns bei!« flüsterte Ilja.
»Ach, ihr Maulaffen!« rief Pawel. »Was seid ihr so erschrocken? Schaut nur, die Kartoffeln sind gar.«
Alle rückten näher zum Kesselchen heran und begannen die dampfenden Kartoffeln zu verzehren; nur Wanja allein regte sich nicht.
»Nun, und du?« fragte Pawel.
Aber er kam unter seiner Bastdecke nicht hervor. Das Kesselchen war bald ganz leer.
»Habt ihr gehört, Kinder«, begann Iljuscha, »was sich neulich bei uns in Warnawizy zugetragen hat?«
»Auf dem Damm?« fragte Fedja.
»Ja, ja, auf dem durchbrochenen Damm. Das ist schon wirklich ein unreiner Ort, so unrein und öde. Ringsherum sind lauter Klüfte und Gräben, und in den Gräben lauter Schlangen.«
»Nun, was ist denn geschehen? Erzähl . . .«
»Was da geschehen ist? Du weißt es vielleicht nicht, Fedja, daß bei uns dort ein Ertrunkener begraben ist. Er hat sich da vor sehr langer Zeit ertränkt, als der Teich noch tief war; jetzt ist nur noch sein Grab zu sehen, und auch das kaum; es ist nur ein Hügelchen . . . Dieser Tage ruft der Verwalter den Hundeknecht Jermil zu sich und sagt ihm: ›Jermil, reite mal auf die Post.‹ Jermil pflegt bei uns immer auf die Post zu reiten; die Hunde sind ihm alle eingegangen: Sie leben bei ihm nicht und haben auch niemals gelebt, sonst ist er aber ein guter Hundeknecht, das muß man ihm lassen. So ritt Jermil nach der Post, hielt sich aber in der Stadt auf, und als er heimritt, war er etwas betrunken. Die Nacht ist aber hell, und der Mond scheint. So reitet Jermil über den Damm: Diesen Weg hat er eben genommen. So reitet der Hundeknecht Jermil und sieht: Am Grabhügel des Ertrunkenen geht ein Schäfchen auf und ab, ein weißes, lockiges, hübsches Schäfchen. Da denkt sich Jermil: Ich will es mitnehmen, was soll es unnütz umkommen . . . Er stieg vom Pferd und nahm das Schäfchen auf die Arme. Das Schäfchen wehrte sich nicht. So geht Jermil zum Pferd, das Pferd weicht aber vor ihm zurück, es schnaubt und schüttelt den Kopf; er brachte es aber zum Stehen, stieg mit dem Schäfchen in den Sattel und ritt weiter, das Schäfchen hielt er vor sich. Er sieht es an, und auch das Schäfchen sieht ihm gerade in die Augen. Da wurde es ihm unheimlich, dem Hundeknecht Jermil: Er konnte sich nicht erinnern, daß ein Schaf jemand so in die Augen geblickt hätte; aber er machte sich nichts draus; er fing an, das Schäfchen zu streicheln und sagte ihm: ›Bä! Bä!‹ Das Schaf fletscht aber plötzlich die Zähne und sagt ihm auch: ›Bä! Bä . . .!‹«
Der Erzähler hatte das letzte Wort noch nicht gesprochen, als die beiden Hunde plötzlich zugleich aufsprangen, mit krampfhaftem Gebell vom Feuer wegstürzten und in der Finsternis verschwanden. Alle Jungen erschraken. Wanja sprang unter seiner Bastdecke hervor. Pawluscha stürzte schreiend den Hunden nach. Das Gebell entfernte sich rasch . . . Man hörte das unruhige Rennen der aufgescheuchten Pferdeherde. Pawluscha schrie laut: »Grauer! Schutschka . . .!« Nach einigen Augenblicken verstummte das Gebell; Pawels Stimme klang aus der Ferne . . . Es verging noch einige Zeit; die Jungen sahen einander verständnislos an, als warteten sie auf etwas . . . Plötzlich ertönten die Hufschläge eines heransprengenden Pferdes; es machte dicht vor dem Feuer halt, und Pawluscha sprang, sich an der Mähne festhaltend, schnell herab. Die beiden Hunde kamen gleichfalls in den Lichtschein zurück und setzten sich sofort, die roten Zungen herausgestreckt, nieder.
»Was ist los? Was ist los?« fragten die Jungen.
»Nichts«, antwortete Pawluscha, mit der Hand nach dem Pferde winkend. »Die Hunde haben wohl etwas gewittert. Ich glaubte, es sei ein Wolf«, fügte er mit gleichgültiger Stimme hinzu, während seine Brust schnell atmete.
Ich sah Pawluscha mit unwillkürlicher Bewunderung an. Er war in diesem Augenblick herrlich. Sein unschönes, vom schnellen Ritt belebtes Gesicht glühte vor kühner Unternehmungslust und fester Entschlossenheit. Ohne auch nur einen Stecken in der Hand, war er allein in der Nacht auf einen Wolf losgeritten . . . Was für ein prachtvoller Junge! dachte ich mir, ihn betrachtend.
»Habt ihr denn die Wölfe gesehen?« fragte der Hasenfuß Kostja.
»Hier gibt es ihrer immer viele«, antwortete Pawel. »Aber sie sind nur im Winter unruhig.«
Er hockte sich wieder am Feuer hin. Indem er sich auf die Erde setzte, ließ er eine Hand auf den zottigen Nacken eines der Hunde fallen, und das erfreute Tier wandte seinen Kopf lange nicht weg und blickte Pawluscha dankbar und stolz von der Seite an.
Wanja verkroch sich wieder unter die Bastdecke.
»Du hast uns solche Gruselgeschichten erzählt, Iljuscha«, begann Fedja, der, als der Sohn eines reichen Bauern, in der Unterhaltung den Ton angab (er selbst sprach wenig, als fürchtete er, sich etwas an seiner Würde zu vergeben). – »Da mußten auch die Hunde zu bellen anfangen . . . Aber das stimmt, ich habe gehört, dieser Ort ist bei Nacht nicht recht geheuer.«
»Warnawizy . . .? Das will ich meinen! So unrein ist der Ort! Man sagt, man hätte dort mehr als einmal den alten Herrn, den verstorbenen Gutsherrn, gesehen. Er geht, sagt man, in einem langschößigen Kaftan herum, stöhnt immer und sucht etwas auf der Erde. Einmal traf ihn Großvater Trofimytsch: ›Was suchst du, Väterchen Iwan Iwanytsch, auf der Erde?‹«
»So fragte er ihn?« unterbrach ihn Fedja erstaunt.
»Ja, so fragte er ihn.«
»Nun, dann ist Trofimytsch ein tapferer Kerl . . . . Und was geschah dann weiter?«
»›Ich suche das Sprengkraut‹, sagte er ihm. So dumpf sagte er das: ›Sprengkraut‹. – ›Was brauchst du denn, Väterchen Iwan Iwanytsch, das Sprengkraut?‹ – ›Es drückt mich‹, antwortete er, ›das Grab drückt mich, Trofimytsch; ich will hinaus, hinaus . . .‹«
»Seht ihn einmal an!« bemerkte Fedja. »Er hat wohl zuwenig gelebt.«
»Was für ein Wunder!« versetzte Kostja. »Ich hätte geglaubt, man könnte die Verstorbenen nur am Gedächtnis-Sonnabend sehen.«
»Die Toten kann man zu jeder Stunde sehen«, erklärte Iljuscha mit Überzeugung; wie ich merkte, kannte er besser als die anderen alle ländlichen Aberglauben . . . »Aber am Gedächtnis-Sonnabend kannst du auch einen Lebendigen sehen, das heißt, einen solchen, der im kommenden Jahr sterben soll . . . Man braucht sich nur nachts vor die Kirchentür zu setzen und immer auf die Straße zu schauen. Dann gehen alle vorbei, die in dem Jahr sterben sollen. Bei uns ging so im vergangenen Jahr die alte Uljana vor die Kirchentür.«
»Nun, sah sie jemand?« fragte Kostja neugierig.
»Gewiß. Erst saß sie lange, lange, sah und hörte niemand. dann war es ihr, als belle irgendwo ein Hündchen . . . Plötzlich sieht sie: Auf dem Weg geht ein Junge im bloßen Hemdchen. Sie sieht hin, es ist Iwaschka Fedossejew . . .«
»Der im Frühjahr gestorben ist?« unterbrach ihn Fedja.
»Derselbe. Er geht und hebt sein Köpfchen nicht . . . Aber Uljana erkannte ihn . . . Später sieht sie: Da kommt eine Frau. Sie sieht hin, sieht hin – ach du mein Gott! –, es ist die Uljana selbst, die auf der Straße daherkommt.«
»War es denn wirklich sie selbst?« fragte Fedja.
»Bei Gott, sie selbst.«
»Sie ist aber doch noch gar nicht gestorben?«
»Das Jahr ist noch nicht um. Sieh sie aber bloß an: Sie lebt kaum.«
Alle wurden wieder still. Pawel warf eine Handvoll trockene Zweige ins Feuer. Sie hoben sich erst schwarz von der plötzlich auflodernden Flamme ab, begannen zu knistern, zu rauchen, warfen sich und streckten die angebrannten Enden empor. Der Schein des Feuers verbreitete sich zitternd nach allen Seiten, besonders nach oben. Plötzlich kam ein weißes Täubchen, niemand wußte woher, gerade in den Lichtschein hereingeflogen; es drehte sich ängstlich auf einer Stelle, vom heißen Glanz übergossen, und verschwand dann mit lautem Flügelschlag.
»Hat sich wohl verirrt«, bemerkte Pawel. »Jetzt wird sie fliegen, bis sie auf etwas stößt; dort übernachtet sie dann bis zum Morgengrauen.«
»Was meinst du, Pawluscha«, versetzte Kostja. »Vielleicht war es eine gerechte Seele, die in den Himmel flog, wie?«
Pawel warf eine neue Handvoll Reisig ins Feuer.
»Kann sein«, sagte er endlich.
»Sag mal bitte, Pawluscha«, versetzte Fedja, »hat es auch bei euch in Schalamowo ein Himmelszeichen gegeben?«
»Als man die Sonne plötzlich nicht sah? Gewiß.«
»Da wart ihr auch erschrocken?«
»Nicht wir allein. Unser Herr hat uns zwar vorher gesagt, daß es ein Himmelszeichen geben wird, als es aber finster wurde, da erschrak auch er, sagen die Leute. In der Gesindestube schlug aber die Köchin, als es finster wurde, mit der Ofengabel alle Töpfe entzwei: ›Wer soll jetzt essen?‹ hat sie gesagt. ›Es ist der Jüngste Tag.‹ So lief die ganze Kohlsuppe heraus. Bei uns im Dorf ging aber das Gerücht, Bruder, daß weiße Wölfe auf die Erde gelaufen kommen und die Menschen auffressen, daß Raubvögel geflogen kommen; auch daß man den TrischkaIn der Legende vom Trischka spiegelt sich wohl die Sage vom Antichrist. (Anmerkung Turgenjews)selbst sehen würde.«
»Was für einen Trischka?« fragte Kostja.
»Weißt du das nicht?« begann Iljuscha mit Eifer. »Wo kommst du denn her, Bruder, wenn du nichts von Trischka weißt? Ihr sitzt wohl bei euch im Dorf wie die Tölpel und wißt von nichts! Trischka wird so ein wunderbarer Mensch sein, der einmal kommen wird – so wunderbar, daß man ihn weder ergreifen noch ihm etwas antun kann: So ein wunderbarer Mensch wird er eben sein. Die Bauern werden ihn zum Beispiel ergreifen wollen; sie werden mit Knüppeln auf ihn losgehen und ihn umstellen, er wird sie aber blenden, so daß sie einander verprügeln. Oder man wird ihn zum Beispiel ins Gefängnis sperren; er wird um Wasser bitten; man wird ihm einen Krug mit Wasser bringen, er wird aber darin untertauchen und verschwinden. Man wird ihn in Ketten legen, er wird aber bloß in die Hände klatschen, und die Ketten werden von ihm herunterfallen. So wird dieser Trischka über die Dörfer und Städte ziehen; und dieser Trischka, der arglistige Mensch, wird das christliche Volk verführen . . . aber tun kann man ihm nichts . . . So ein wunderbarer, arglistiger Mensch wird er sein.«
»Ja, gewiß«, fuhr Pawel mit seiner bedächtigen Stimme fort, »so wird er sein. So hat man ihn auch bei uns erwartet. Die Alten sagten, Trischka würde kommen, sobald das Himmelszeichen beginnt. So begann das Himmelszeichen. Das ganze Volk lief auf die Straße, aufs Feld und wartete, was wohl kommen würde. Unser Ort liegt aber, wie ihr wißt, hoch und frei. Sie sehen: Vom Berg her kommt ein seltsamer Mensch, hat einen so merkwürdigen Kopf . . . Da schreien alle: ›Ach, Trischka kommt! Ach, Trischka kommt!‹ Und jeder rettete sich, wohin er konnte. Der Schulze verkroch sich in den Straßengraben; die Schulzenfrau blieb im Spalt unter dem Tor stecken; sie schrie mit wilder Stimme und erschreckte ihren eigenen Hofhund so, daß er sich von der Kette losriß, über den Zaun sprang und in den Wald davonrannte. Kusjkas Vater, Dorofejitsch, sprang aber in den Hafer, hockte sich hin und fing an wie eine Wachtel zu schreien: ›Vielleicht wird der Seelenverderber mit dem Vogel Erbarmen haben.‹ So waren wir alle erschrocken . . .! Der Mann aber war der Böttcher Wawila: Er hatte sich eine neue Holzwanne gekauft und sie über den Kopf gestülpt.«
Alle Jungen fingen zu lachen an und verstummten wieder für eine Weile, wie es oft mit Menschen passiert, die sich unter freiem Himmel unterhalten. Ich sah mich um: Feierlich herrschte die Nacht; an die Stelle der feuchten Frische des späten Abends war die trockene mitternächtliche Wärme getreten, die noch lange als weiche Decke auf den schlafenden Fluren ruhen sollte; es war noch lange bis zum ersten Laut des Lebens, bis zu den ersten Tautropfen des Morgens.
Der Mond stand nicht am Himmel: Um diese Zeit ging er spät auf. Zahllose goldene Sterne schienen sämtlich, um die Wette flimmernd, in der Richtung der Milchstraße langsam zu ziehen, und wenn man sie ansah, fühlte man wirklich den ungestümen, unaufhörlichen Flug der Erde . . . Ein seltsamer, scharfer, schmerzvoller Schrei erklang plötzlich zweimal nacheinander über dem Fluß und wiederholte sich einige Augenblicke später etwas weiter . . .
Kostja fuhr zusammen . . . »Was ist das?«
»Ein Reiher schreit«, antwortete Pawel ruhig.
»Ein Reiher«, wiederholte Kostja . . . »Was war es aber, Pawluscha, was ich gestern abend gehört habe?« fügte er nach kurzem Schweigen hinzu. »Vielleicht weißt du es . . .«
»Was hast du gehört?«
»Das habe ich gehört. Ich ging von der Steinernen Zeile nach Schaschkino; zuerst ging ich durch unsere Haselbüsche, dann durch die Wiese, weißt du, wo sie eine scharfe Wendung macht – dort ist ein Sumpfloch, weißt du, das ganz mit Schilf bewachsen ist; so ging ich, Brüder, an diesem Sumpfloch vorbei, und plötzlich stöhnt jemand so jämmerlich, ach so jämmerlich aus dem Loch: ›Uh . . . Uh . . . Uh . . .‹ Da packte mich die Angst, Brüder: die späte Stunde, und eine so jämmerliche Stimme. Ich hätte selbst weinen können . . . Was mag es wohl gewesen sein? Wie?«
»In diesem Sumpfloch haben die Diebe im vorvorigen Jahr den Waldhüter Akim ertränkt«, bemerkte Pawluscha. »Vielleicht ist es seine Seele, die da klagt.«
»Das muß ich sagen, Brüder«, entgegnete Kostja, seine ohnehin großen Augen weit aufreißend. »Ich wußte gar nicht, daß man den Akim in diesem Loch ertränkt hatte, dann hätte ich noch viel mehr Angst gekriegt.«
»Man sagt auch, es gäbe solche kleine Frösche«, fuhr Pawel fort, »die so jämmerlich schreien.«
»Frösche? Nein, das waren keine Frösche . . . was sind das für . . .«
Der Reiher schrie wieder über dem Fluß.
»Wie der schreit!« sagte Kostja unwillkürlich: »Wie ein Waldteufel.«
»Der Waldteufel schreit nicht, er ist stumm«, fiel ihm Iljuscha ins Wort. »Er klatscht nur in die Hände und kracht . . .«
»Hast du ihn denn gesehen, den Waldteufel?« unterbrach ihn Fedja spöttisch.
»Nein, ich hab’ ihn nicht, gesehen, und Gott beschütze mich davor; aber andere haben ihn gesehen. Neulich hat er bei uns einen Bauer irregeleitet: Er führte ihn immer im Wald herum, immer um die gleiche Waldwiese herum . . . Mit Not kam er erst am Morgen heim.«
»Hat er ihn gesehen?«
»Er hat ihn gesehen. Er sagt, er habe so riesengroß, finster, eingehüllt dagestanden, hinter einem Baum, gut hätte er ihn nicht unterscheiden können; er hätte sich vor dem Mond versteckt und dabei mit seinen großen Augen geguckt und geblinzelt, und geblinzelt . . .«
»Ach, du!« rief Fedja, leicht zusammenfahrend und mit den Schultern zuckend. »Pfui . . .!«
»Wozu gibt es nur diese unsauberen Mächte in der Welt?« bemerkte Pawel. »Wirklich!«
»Schimpfe nicht, paß auf, sie hören dich noch«, bemerkte Ilja.
Wieder trat Schweigen ein.
»Schaut nur, schaut nur, Kinder«, erklang plötzlich Wanjas Kinderstimme. »Schaut nur auf die lieben Sternlein Gottes – wie die Bienen schwärmen sie!«
Er streckte sein frisches Gesichtchen unter der Bastdecke hervor, stützte es auf seine Faust und hob langsam seine großen stillen Augen zum Himmel. Alle Jungen hoben ihre Blicke gen Himmel und ließen sie nicht sobald sinken.
»Sag mal, Wanja«, begann Fedja freundlich. »Wie geht es deiner Schwester Anjutka, geht es ihr gut?«
»Es geht ihr gut«, antwortete Wanja kindlich lallend.
»Frage sie doch, warum sie nicht mehr zu uns kommt . . .«
»Ich weiß es nicht.«
»Sag ihr, sie möchte doch kommen.«
»Ich werde es ihr sagen.«
»Sag ihr, daß ich ihr was schenke.«
»Wirst du auch mir was schenken?«
»Ja, auch dir.«
Wanja holte tief Atem.
»Nein, ich brauche nichts. Gib es lieber ihr: Sie ist so gut.«
Wanja legte seinen Kopf wieder auf die Erde. Pawel stand auf und nahm das leere Kesselchen in die Hand.
»Wo willst du hin?« fragte ihn Fedja.
»Zum Fluß, Wasser schöpfen: Ich will Wasser trinken.«
Die Hunde erhoben sich und folgten ihm.
»Paß auf, fall nur nicht in den Fluß!« rief ihm Iljuscha nach.
»Warum soll er in den Fluß fallen?« versetzte Fedja. »Er wird sich doch in acht nehmen.«
»Ja, in acht nehmen. Es kommt verschiedenes vor: Er wird sich bücken und Wasser schöpfen, da wird ihn aber der Wassergeist bei der Hand packen und hinunterziehen. Später werden die Leute sagen, der Junge sei ins Wasser gefallen . . . Ja, ins Wasser gefallen . . .! Da ist er eben ins Schilf gestiegen«, fügte er hinzu, aufhorchend.
Man hörte wirklich das Schilf rascheln.
»Ist es wahr«, fragte Kostja, »daß die blöde Akulina um ihren Verstand gekommen ist, seit sie im Wasser war?«
»Ja, seit damals . . . Wie sieht sie jetzt aus! Man sagt aber, sie sei früher eine Schönheit gewesen. Der Wassergeist hat sie verdorben. Er hatte wohl nicht erwartet, daß man sie sobald herausziehen würde. Da hat er sie bei sich auf dem Grund verdorben.«
(Ich selbst habe diese Akulina mehr als einmal gesehen. In Lumpen gekleidet, furchtbar mager, mit einem kohlschwarzen Gesicht, trüben Blicken und ewig gefletschten Zähnen trappelt sie stundenlang irgendwo auf der Landstraße auf dem gleichen Fleck herum, die knöchernen Hände fest auf die Brust gepreßt und langsam von einem Fuß auf den anderen tretend, wie ein wildes Tier im Käfig. Sie versteht nichts, was man ihr auch sagt, und lacht nur zuweilen krampfhaft.)
»Man sagt auch«, fuhr Kostja fort, »Akulina hätte sich in den Fluß gestürzt, weil ihr Schatz sie betrogen hat.«
»Ja, darum.«
»Erinnerst du dich noch an Waßja?« unterbrach ihn Kostja traurig.
»An was für einen Waßja?« fragte Fedja.
»An den, der ertrunken ist«, antwortete Kostja, »in diesem selben Fluß. Das war eine Junge! Mein Gott, war das ein Junge! Seine Mutter Feklista liebte ihren Waßja so. Die Feklista ahnte wohl, daß er sein Ende im Wasser finden würde. Wenn Waßja mit uns anderen Jungen im Sommer an den Fluß zum Baden ging, so zitterte sie am ganzen Leibe. Die anderen Weiber waren ruhig und watschelten mit ihren Waschzubern vorüber; die Feklista stellte aber ihren Waschzuber auf die Erde und rief: ›Kehr zurück, kehr zurück, Liebster! Kehr zurück, mein Söhnchen!‹ Wie er aber ertrunken ist, das weiß nur Gott allein. Er spielte am Ufer, und seine Mutter harkte gleich in seiner Nähe das Heu zusammen; plötzlich hört sie, wie im Wasser Blasen aufsteigen; sie sieht hin, auf dem Wasser schwimmt aber nur noch Waßjas Mützchen. Seit damals ist auch Feklista nicht bei Sinnen: Sie geht an die Stelle, wo er ertrunken ist, legt sich, Brüder, auf die Erde und singt das Liedchen, das Waßja immer zu singen pflegte – ihr wißt es noch –, sie singt das Liedchen und weint dabei und klagt zu Gott . . .«
»Da kommt schon Pawluscha«, sagte Fedja.
Pawel kam mit vollem Kessel zum Feuer.
»Jungens«, begann er nach einem Schweigen, »die Sache ist schlimm.«
»Was gibt es denn?« fragte Kostja schnell.
»Ich habe Waßjas Stimme gehört.«
Alle fuhren zusammen.
»Was sagst du, was sagst du?« stammelte Kostja.
»Bei Gott. Als ich mich über das Wasser beugte, hörte ich, wie mich Waßjas Stimme unter dem Wasser rief: ›Pawluscha, Pawluscha, komm mal her.‹ Ich ging zurück. Aber ich habe doch Wasser geschöpft.«
»Ach, mein Gott! Ach, mein Gott!« riefen die Jungen, sich bekreuzigend.
»Dich hat doch der Wassergeist gerufen, Pawel«, versetzte Fedja . . . »Wir sprachen eben von ihm, von Waßja.«
»Ach, das ist ein schlimmes Zeichen«, sprach Iljuscha langsam.
»Nun, das macht nichts!« sagte Pawel entschlossen und setzte sich wieder. »Seinem Schicksal entgeht man nicht.«
Die Jungen verstummten. Die Worte Pawels hatten auf sie offenbar einen tiefen Eindruck gemacht. Sie fingen an, sich um das Feuer zu lagern, als wollten sie schlafen.
»Was ist das?« fragte plötzlich Kostja, den Kopf hebend.
Pawel horchte auf.
»Es sind die Schnepfen, die im Flug pfeifen.«
»Wo fliegen sie denn hin?«
»Dorthin, wo es keinen Winter gibt.«
»Gibt es denn solch ein Land?«
»Gewiß.«
»Ist es weit?«
»Weit, sehr weit, hinter den warmen Meeren.«
Kostja seufzte auf und schloß die Augen.
Es waren schon mehr als drei Stunden vergangen, seit ich mich zu den Jungen gesetzt hatte. Der Mond war endlich aufgegangen; ich hatte ihn nicht sogleich bemerkt; er war so klein und schmal. Diese mondlose Nacht schien ebenso prächtig wie früher . . . Aber viele Sterne, die erst vor kurzem hoch am Himmel gestanden hatten, neigten sich schon dem dunklen Rand der Erde zu; alles ringsum wurde so vollkommen still, wie es nur vor Tagesanbruch still wird: Alles schlief einen festen, unbeweglichen Morgenschlaf. Die Luft duftete nicht mehr so stark, sie schien wieder von Feuchtigkeit erfüllt . . . Kurz sind die Sommernächte . . .! Das Gespräch der Jungen erlosch zugleich mit den Feuern . . . Sogar die Hunde schlummerten; auch die Pferde lagen, soweit ich beim schwachflimmernden Licht der Sterne unterscheiden konnte, mit gesenkten Köpfen . . . Ein Vergessen bemächtigte sich meiner und ging in Schlummer über.
Ein frischer Lufthauch streifte mein Gesicht. Ich schlug die Augen auf: Es tagte. Der Himmel rötete sich noch nirgends, aber im Osten war es schon weiß. Alles ringsum wurde, wenn auch noch verschwommen, sichtbar. Der blaßgrüne Himmel wurde immer heller, kälter, blauer; die Sterne flimmerten bald schwach und verschwanden bald ganz; die Erde wurde naß, die Blätter schwitzten, hier und da erklangen lebendige Töne und Stimmen, und ein leiser Frühwind strich flatternd über die Erde. Mein Körper antwortete ihm mit einem leichten, freudigen Zittern. Ich stand schnell auf und ging zu den Jungen. Sie schliefen wie tot um das verglimmende Feuer herum; Pawel allein richtete sich halb auf und sah mich aufmerksam an.
Ich nickte ihm zu und ging, den dampfenden Fluß entlang, nach Hause. Ich hatte kaum zwei Werst zurückgelegt, als sich rings um mich herum über die weite Wiese und die grünenden Hügel von Wald zu Wald und hinter mir über die lange, staubige Landstraße, über die glitzernden, geröteten Büsche und über den Fluß, der unter dem sich verziehenden Nebel schamhaft blaute, erst hellrote, dann dunkelrote und goldene Ströme eines jungen, glühenden Lichts ergossen . . . Alles regte sich, alles erwachte, begann zu singen, zu rauschen, zu sprechen. Überall leuchteten wie strahlende Diamanten große Tautropfen; rein und heiter, wie von der Morgenfrische gewaschen, zogen mir Glockentöne entgegen, und plötzlich jagte die ausgeruhte, von den mir schon bekannten Jungen angetriebene Pferdeherde an mir vorbei . . .
Leider muß ich hinzufügen, daß Pawel noch im gleichen Jahr starb. Er ertrank nicht: Er stürzte von einem Pferd und schlug sich tot. Schade, er war ein prächtiger Junge!