DIE SPHINX OHNE RÄTSEL

Oscar Wilde

Deutsch von Franz Blei
und Felix Paul Greve

Eine Radierung

Eines Nachmittags saß ich vor dem Café de la Paix, sah auf den Glanz und die Schäbigkeit des Pariser Lebens und verwunderte mich bei meinem Wermut über das sonderbare Diorama von Pracht und Armut, das an mir vorbeizog. Da hörte ich jemand meinen Namen rufen. Ich schaute mich um und sah Lord Murchison. Wir waren einander nicht mehr begegnet seit unsern gemeinsamen Collegetagen, zehn Jahre wars fast her, und so freute ich mich, ihn wiederzusehen, und wir begrüßten uns herzlich. Auf Oxford waren wir dicke Freunde gewesen. Ich hatte ihn riesig gern – er war so hübsch, so lebhaft und so hochanständig Wir sagten damals immer von ihm, er wäre der allerbeste Kerl, wenn er nicht immer die Wahrheit spräche; aber ich glaube, wir bewunderten ihn eigentlich deswegen um so mehr. Ich fand ihn ziemlich verändert. Er sah bekümmert und verlegen aus und schien mir über irgendwas unsicher. Der moderne Skeptizismus konnte es nicht sein, denn Murchison war durchaus überzeugter Tory und glaubte an den Pentateuch so fest wie an das House of Peers. Also schloß ich, daß es ein Weib war, und fragte ihn, ob er jetzt verheiratet sei.

»Ich versteh mich nicht genug auf Frauen«, gab er zur Antwort.

»Mein lieber Gerald,« sagte ich, »Frauen sind dazu da, daß man sie liebt, nicht daß man sie versteht.«

»Ich kann nicht lieben, wo ich nicht trauen kann«, meinte er.

»Ich glaube, Sie haben ein Erlebnis in diesen Affären. Gerald, erzählen Sie mirs doch.«

»Wir wollen eine Wagenfahrt machen,« sagte Murchison, »hier sind zu viel Menschen. Nein, nicht einen gelben Wagen, jede andere Farbe, nur nicht – da, der dunkelgrüne«; und ein paar Minuten später rollten wir den Boulevard hinunter in der Richtung auf die Madeleine.

»Wohin wollen wir?« fragte ich.

»Wohin Sie wollen, meinetwegen in das Restaurant des Bois; wir können da dinieren, und Sie erzählen mir Ihr Leben.«

»Erst möchte ich das Ihre hören«, sagte ich. »Erzählen Sie mir doch die mysteriöse Geschichte.«

Er zog aus seiner Tasche ein kleines silberbeschlagenes Lederportefeuille und reichte es mir. Ich schlug es auf. Es enthielt die Photographie einer Frau. Ein schöner, abweisender Kopf und sonderbar pittoresk mit den großen, vagen Augen und dem losen Haar. Wie eine Hellseherin sah sie aus und trug reiches Pelzwerk.

»Was sagen Sie zu dem Gesicht? Ist es aufrichtig?« Ich studierte es eingehend. Es schien mir das Gesicht eines Menschen, der ein Geheimnis bewahrt, ob ein gutes oder ein schlimmes, konnte ich nicht sagen. Seine Schönheit war eine Schönheit wie aus vielen Geheimnissen gebildet, eine psychologische Schönheit, keine plastische, und das vergehende Lächeln auf den Lippen war zu fein, um wirklich lieb und süß zu sein.

»Nun, was sagen Sie?«

»Sie ist die Gioconda in Zobel,« antwortete ich, »erzählen Sie mir doch, was Sie über sie wissen.«

»Nicht jetzt, nach dem Diner«, und er begann von was anderem zu reden.

Als der Kellner den Kaffee und Zigaretten brachte, erinnerte ich Gerald an sein Versprechen. Er stand auf, schritt ein paarmal durchs Zimmer, ließ sich in einen Lehnstuhl fallen und erzählte mir die folgende Geschichte:

»Eines Abends ging ich so gegen fünf Bond Street hinunter. Es war ein schreckliches Gewirr von Wagen und Menschen, man kam kaum vorwärts. Ganz hart gegen das Trottoir stand ein kleiner gelber Zweisitzer, der aus irgendeinem Grund meine Aufmerksamkeit erregte. Als ich daran vorbeiging, da sah dieses Gesicht heraus, das ich Ihnen vorhin zeigte. Es faszinierte mich sofort. Die ganze Nacht mußte ich daran denken und den nächsten Tag. Auf und nieder wanderte ich die verdammte Straße, guckte in jeden Wagen und wartete auf den gelben Zweisitzer; aber ich konnte ma belle inconnue nicht finden und dachte schließlich, daß ich sie bloß geträumt hatte. Eine Woche später dinierte ich bei Madame de Rostail. Das Diner war auf acht Uhr angesagt, aber um halb neun warteten wir noch immer im Salon. Endlich meldete der Diener Lady Alroy. Es war die Frau, die ich so gesucht hatte. Sie trat ganz langsam ein, sah aus wie ein Mondstrahl in grauen Spitzen, und zu meiner großen Freude sollte ich sie zu Tisch führen. Nachdem wir uns gesetzt hatten, bemerkte ich ganz harmlos: ›Ich glaube, ich habe Sie schon einmal flüchtig gesehen, Lady Alroy, vor einiger Zeit in Bond Street.‹ Sie wurde ganz blaß und sagte leise: ›Bitte, sprechen Sie nicht so laut, man könnte Sie hören.‹ Mein verunglücktes Debüt verstimmte mich nicht wenig, und ich stürzte mich mit Todesverachtung in eine Unterhaltung über französische Possen. Sie sprach sehr wenig, immer mit der gleichen weichen, musikalischen Stimme und schien wie in Angst, jemand könnte lauschen. Ich verliebte mich leidenschaftlich, sinnlos, und die undefinierbare Atmosphäre des Mysteriösen, die sie umgab, erregte heftig meine Neugierde. Beim Abschied – sie ging sehr bald nach dem Diner – fragte ich sie, ob ich sie besuchen dürfe. Sie zauderte einen Augenblick, sah leicht umher, ob niemand in der Nähe wäre, und sagte dann: ›Ja; morgen ein Viertel vor fünf.‹ Ich bat Madame de Rostail, mir von ihr zu erzählen; aber alles, was ich erfahren konnte, war, daß sie eine Witwe mit einem schönen Hause in Park Lane sei, und als ein wissenschaftlicher Schwätzer eine Dissertation über Witwen begann, stand ich auf und ging heim.

Nächsten Tages war ich sehr pünktlich in Park Lane, wo man mir sagte, Lady Alroy sei schon ausgegangen. Ich ging ganz unglücklich und ohne zu wissen, was darüber denken, in den Klub und schrieb ihr nach langem Überlegen einen Brief, ob sie mir erlauben möchte, ein andermal mein Glück zu versuchen. Ein paar Tage vergingen, da bekam ich ein paar Zeilen, sie würde Sonntags um vier zu Hause sein, und dieses ungewöhnliche, merkwürdige Postskriptum:

›Bitte schreiben Sie mir nicht mehr; ich will es Ihnen erklären, wenn wir uns wiedersehen.‹

Am Sonntag empfing sie mich und war entzückend; aber als ich mich verabschiedete, bat sie mich, wenn ich ihr etwas zu schreiben hätte, meine Briefe zu adressieren: ›Mrs. Knox, p. A. Whitachers Buchhandlung, Green Street. Es sind Gründe da, weshalb ich in meinem Haus keine Briefe empfangen kann.‹

Ich besuchte sie die ganze Zeit über sehr oft, und nie verließ sie diese geheimnisvolle Atmosphäre. Manchmal dachte ich, sie wäre in der Gewalt eines Mannes, aber sie sah so unnahbar aus, daß ich es nicht glauben konnte. Es war wirklich sehr schwierig für mich, zu irgendeinem Schluß, zu einem Urteil zu kommen, denn sie war wie diese merkwürdigen Kristalle, die man in Museen sieht – einmal sind sie ganz klar, im nächsten Augenblick ganz wolkig.

Ich beschloß, um ihre Hand anzuhalten; ich war krank und war es müde, dieser unausgesetzten Qual des Heimlichen, das sie von allen meinen Besuchen verlangte, und von den paar Briefen, die ich ihr schrieb. Ich schrieb ihr also in die Buchhandlung, ob sie mich am nächsten Montag um sechs empfangen wolle. Sie sagte zu, und ich war im siebenten Himmel. Ich war einfach verblendet von ihr, trotz des Mysteriösen, wie ich dachte, infolge des Mysteriösen, wie ich jetzt weiß. Nein … Es war das Weib, das Weib allein, das ich liebte. Das Mysteriöse irritierte mich, machte mich verrückt. Warum brachte mich der Zufall auf seine Spur!«

»Sie entdeckten also das Geheimnis?« fragte ich.

»Ich fürchte: ja. Aber urteilen Sie selbst. Als der Montag kam, ging ich mit meinem Onkel frühstücken und fand mich gegen vier Uhr auf Marylebone Road.

Mein Onkel wohnt, wie Sie wissen, Regents Park. Ich wollte Picadilly zu und schnitt den Weg ab durch eine Menge schmutziger kleiner Straßen. Plötzlich sah ich vor mir Lady Alroy, tief verschleiert; sie ging sehr schnell. Beim letzten Haus in der Gasse blieb sie stehen, stieg die paar Stufen hinauf, zog einen Schlüssel, sperrte auf und trat ein. ›Hier ist das Geheimnis‹, sagte ich mir, lief vor und musterte das Haus. Es sah aus wie eines, in dem Zimmer vermietet werden. An der Türschwelle lag ihr Taschentuch, das sie verloren hatte. Ich hob es auf und steckte es ein. Dann dachte ich nach: Was tun? Ich kam zu dem Schluß, daß ich kein Recht hätte, sie auszuspionieren, und begab mich in den Klub. Um sechs Uhr war ich bei ihr. Sie lag auf einem Sofa, in einem Teagown von Silbergewebe, von ein paar sonderbaren Mondsteinen gehalten, die sie immer trug. Entzückend sah sie aus. ›Ich freue mich so, daß Sie da sind,‹ sagte sie; ›ich war den ganzen Tag daheim.‹ Verblüfft starrte ich sie an, zog das Tuch aus meiner Tasche und überreichte es ihr. ›Sie haben das heute nachmittag in der Ammor Street verloren, Lady Alroy‹, sagte ich ganz ruhig. Sie sah mich voll Schrecken an, aber nahm das Taschentuch nicht. ›Was machten Sie denn da?‹ fragte ich. – ›Was für ein Recht haben Sie, mich danach zu fragen?‹ – ›Das Recht eines Mannes, der Sie liebt; ich kam heute, Sie um Ihre Hand zu bitten.‹ Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und brach in Tränen aus. ›Sie müssen mir es sagen‹, bestand ich. Sie erhob sich, sah mir ins Gesicht und sagte: ›Lord Murchison, da ist nichts zu sagen.‹ – ›Sie haben da jemanden getroffen, das ist Ihr Geheimnis!‹ Sie wurde ganz bleich: ›Ich habe da niemanden getroffen.‹ – ›Können Sie denn nicht die Wahrheit sagen?‹ rief ich. – ›Ich habe sie gesagt!‹ Ich war verrückt, toll; ich weiß nicht, was ich ihr sagte, aber es waren schreckliche Dinge. Schließlich stürzte ich davon. Am nächsten Tag kam ein Brief von ihr; ich schickte ihn uneröffnet zurück und reiste mit Alan Colville nach Norwegen. Als ich nach einem Monat zurückkam, war das erste, was ich in der Morning Post sah: die Todesanzeige von Lady Alroy. Sie hatte sich in der Oper eine Erkältung zugezogen und war fünf Tage darauf an einer Lungenentzündung gestorben. Ich gab jeden Verkehr auf. Ich hatte sie so wahnsinnig geliebt. Herr Gott, wie habe ich diese Frau geliebt!«

»Sie waren in der Straße, in dem Hause, nicht?« fragte ich.

»Ja. Eines Tages ging ich nach der Ammor Street. Ich mußte; Zweifel marterten mich. Ich klopfte, und eine respektabel aussehende Frau öffnete mir. Ich fragte, ob sie vielleicht Zimmer zu vermieten habe. ›Ja, mein Herr,‹ sagte sie, ›die Vorderräume sind zu vermieten; ich habe die Dame seit drei Monaten nicht gesehen, die sie gemietet hatte.‹ – ›Ist das die Dame?‹ fragte ich und zeigte ihr die Photographie. – ›Ja, das ist sie, und wann kommt sie wieder?‹ – ›Die Dame ist tot‹, antwortete ich. – ›Nicht möglich!‹ rief die Alte. ›Sie war meine beste Mieterin. Drei Guineen zahlte sie die Woche, bloß dafür, manchmal in dem Zimmer zu sitzen.‹ – ›Sie traf hier mit jemandem zusammen?‹ fragte ich; aber die Frau versicherte mir, daß sie immer allein war, nie mit jemandem kam und nie mit jemandem zusammen war. ›Aber was tat sie denn da?‹ rief ich. – ›Sie saß ganz einfach in ihrem Zimmer und las Bücher; manchmal nahm sie den Tee hier.‹ – Ich wußte nichts darauf zu sagen; ich gab der Alten ein Geldstück und ging. Und nun: was sagen Sie dazu? Glauben Sie, daß sie die Wahrheit gesagt hat?«

»Sicher.«

»Aber wozu ging denn Lady Alroy dahin?« »Mein lieber Gerald, Lady Alroy war ganz einfach eine Frau mit einer Manie für das Mysteriöse. Sie mietete das Zimmer, um das Vergnügen zu haben, tiefverschleiert hinzugehen und sich für die Heldin eines Abenteuers zu halten. Sie hatte eine Passion für das Geheimnisvolle, und sie selbst war nichts weiter als eine Sphinx ohne Geheimnis.«

»Glauben Sie wirklich?«

»Es ist meine feste Überzeugung.«

Lord Murchison zog sein Lederportefeuille heraus, öffnete es und schaute die Photographie an. »Merkwürdig«, sagte er schließlich.