DIE MUTTER DES VERRÄTERS
Maxim Gorky
Von den Müttern kann man endlos erzählen. Einige Wochen war die Stadt von dem engen Ring der in Eisen starrenden Feinde umschlossen; in der Nacht wurden Feldfeuer angezündet, die aus der schwarzen Finsternis mit tausend roten Augen auf die Mauern der Stadt starrten. Sie loderten drohend und schadenfroh empor und weckten finstere Gedanken in der belagerten Stadt.
Von den Mauern aus sah man, daß die feindliche Schlinge sich immer fester zusammenzog; man erkannte in der Nähe der Feldfeuer die dunklen Schatten der Feinde, man hörte das Wiehern der satten Rosse, das Klirren der Waffen, das laute Lachen und den fröhlichen Gesang der siegesgewissen Belagerer. Was aber ist schmerzlicher, als das Lachen und Singen des Feindes hören zu müssen?
Alle Bäche, die die Stadt mit Wasser speisten, waren von den Feinden mit Leichen gefüllt; sämtliche Weinberge vor der Mauer waren von den Belagerern niedergebrannt, die Felder waren zertreten, die Gärten zerstört: die Stadt lag nun von allen Seiten offen da, und es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht von den feindlichen Kanonen und Musketen mit einem Eisen- und Bleihagel überschüttet wurde.
Finster und kampfesmüde marschierten halbverhungerte Krieger durch die Straßen der Stadt; aus den Fenstern der Häuser schallte das Stöhnen und der Fieberschrei der Verwundeten, die Gebete der Frauen und das Weinen der Kinder. Man sprach halblaut und gedrückt miteinander und lauschte gespannt, ob der Feind nicht zum Sturme blies.
Am unerträglichsten wurde es jedoch am Abend, wenn das Stöhnen und Jammern lauter und deutlicher wurde, wenn aus den fernen Gebirgspässen schwarzblaue Schatten hervorkrochen, das feindliche Lager einhüllten und sich längs den halbzerstörten Mauern hin bewegten, während der Mond wie ein verlorenes, verbeultes Schild über den schwarzen Gebirgszacken emporstieg.
Ohne Aussicht auf Hilfe, geschwächt von Kampf und Hunger, blickten die Belagerten, deren Hoffnung mit jedem Tage zusammenschmolz, angsterfüllt auf den Mond, auf die scharfen Gebirgszacken, die schwarzen Gebirgspässe und das lärmende Lager der Feinde – alles erinnerte sie an den Tod, und kein Stern leuchtete, Hoffnung spendend, durch die Nacht.
In den Häusern fürchtete man sich, Licht zu machen, dichte Finsternis hüllte die Straßen ein, und durch diese Finsternis schlich, gleich einem Fisch in der Tiefe des Flusses, ein schweigsames Weib, den Kopf in ein dunkles Tuch gehüllt.
Die Leute, denen sie begegnete, fragten einander:
»Ist sie es?«
»Ja, sie ist es!«
Sie versteckten sich in den Torwegen oder eilten gesenkten Hauptes an ihr vorüber. Die Patrouillenführer aber warnten sie mit strenger Stimme:
»Ihr seid wieder auf der Straße, Donna Marianna! Seht Euch vor, man könnte Euch niederstechen, und niemand würde nach dem Schuldigen suchen …«
Sie richtete sich stolz empor und wartete, aber die Patrouille zog vorüber, ohne daß es jemand gewagt oder daß sich jemand entschlossen hätte, die Hand gegen sie zu erheben; die bewaffneten Leute mieden sie wie einen Leichnam, sie aber blieb im Dunkeln und wanderte still und einsam weiter durch die Straßen der Stadt, wie ein stummes, finsteres Symbol des Unheils, das die Stadt betroffen hatte; hinter ihr her aber kamen, Anklägern und Verfolgern gleich, Stöhnen und Jammern, die Gebete der Einwohner und die finsteren Gespräche der Soldaten hervorgekrochen, die alle Hoffnung auf einen Sieg verloren hatten.
Als Mutter und Bürgerin dachte sie an den Sohn und an die Heimat, denn an der Spitze der Männer, die die Stadt belagerten, stand ihr Sohn, ein schöner, fröhlicher, erbarmungsloser Jüngling, er, der noch vor kurzem ihr einziger Stolz gewesen war, den sie als wertvolles Geschenk, als segenspendende Kraft der Heimat zugedacht hatte, in der sie selbst geboren war und ihn großgezogen hatte. Hundert unzerreißbare Bande verknüpften ihr Herz mit den verwitterten Steinen, aus denen ihre Vorfahren diese Häuser und Mauern errichtet hatten, mit dem Erdboden, wo die Gebeine ihrer Blutsverwandten lagen, mit den Legenden, Liedern und Hoffnungen ihrer Nächsten. Nun aber hatte dieses Herz den Menschen verloren, der ihr am nächsten stand: von Tränen benetzt, schwankte es wie eine Wagschale auf und ab, aber vergebens suchte es, die Liebe zum Sohne und die Liebe zur Stadt gegeneinander abzuwägen, es vermochte nicht zu unterscheiden, welche Schale schwerer und welche leichter wog.
So wanderte sie nächtelang durch die Straßen der Stadt; viele Leute, die sie nicht erkannten, fuhren bei ihrem Anblick zusammen, denn erschrocken glaubten sie in der schwarzen Gestalt eine Verkörperung des Todes zu sehen, der sie alle bedrohte; erkannten sie sie jedoch, so wandten sie sich stumm von der Mutter des Verräters ab.
Einmal traf sie in einer stillen Ecke an der Stadtmauer mit einem anderen Weibe zusammen: unbeweglich, wie aus Stein gehauen, kniete es betend vor einem Leichnam, das leiddurchfurchte Antlitz gen Himmel zu den Sternen emporgerichtet; auf der Mauer über ihrem Haupte hörte man die Wachtposten miteinander plaudern, und die Waffen stießen leise klirrend gegen das Gestein.
Die Mutter des Verräters fragte:
»Dein Mann?«
»Nein.«
»Dein Bruder?«
»Mein Sohn. Meinen Mann haben sie vor dreizehn Tagen erschlagen und diesen hier – heute!«
Die Mutter des Getöteten erhob sich vom Erdboden und sprach demütig:
»Die Madonna sieht und weiß alles, und ich segne sie!«
»Wofür?« fragte die erste.
»Jetzt, wo er im ehrenhaften Kampfe für die Heimat gestorben ist, kann ich sagen, daß ich Furcht hatte um ihn: er war leichtsinnig und liebte es zu sehr, lustig zu leben, daher hatte ich Angst, er könnte deswegen die Stadt verraten, wie der Sohn Mariannas, der Führer unserer Feinde; verflucht sei er, und verflucht der Schoß, der ihn getragen hat!«
Marianna verhüllte ihr Gesicht und wandte sich ab. Am nächsten Morgen jedoch erschien sie vor den Verteidigern der Stadt und sprach:
»Tötet mich, weil mein Sohn euer Feind ward, oder öffnet mir das Tor, auf daß ich mich zu ihm begebe …«
Die Krieger entgegneten:
»Du bist ein Mensch, und die Heimat muß dir teuer sein; dein Sohn ist eben so sehr dein Feind, wie der unser aller.«
»Ich bin seine Mutter, ich liebe ihn und fühle mich schuldig, weil er geworden ist, was er ist.«
Sie aber berieten, was sie mit ihr tun sollten, und erklärten:
»Unsere Ehre verbietet es uns, dich um der Schuld deines Sohnes willen zu töten; wir wissen, daß nicht du ihm diesen furchtbaren Gedanken eingeben konntest, und wir begreifen, wie sehr du darunter zu leiden hast. Aber die Stadt bedarf deiner auch als Geisel nicht: dein Sohn kümmert sich nicht um dich, wir glauben sogar, daß dieser Teufel dich vergessen hat. Das sei deine Strafe, wenn du eine solche verdient zu haben glaubst! Das erscheint uns furchtbarer als der Tod!«
»Ja!« sprach sie. »Das ist furchtbarer als der Tod!«
Sie öffneten ihr das Tor und blickten ihr lange von den Wällen der Stadt nach. Sie schritt über den heimatlichen Boden, den ihr Sohn mit Blut getränkt hatte; sie schritt langsam dahin, ihre Füße mühsam von diesem Boden ablösend, sie neigte sich vor den Toten, die als Verteidiger der Stadt gefallen waren und stieß haßerfüllt die zerbrochenen Waffen mit dem Fuß weg, denn die Mütter hassen die Waffen der Angreifer und segnen nur die, die dazu dienen, das Leben zu schützen.
Sie schien einen bis zum Rande gefüllten Kelch unter ihrem Mantel zu tragen, und es war fast, als fürchte sie sich, seinen Inhalt zu verschütten; je mehr sie sich entfernte, desto kleiner wurde sie, und den Leuten, die ihr von den Wällen nachblickten, erschien es so, als verschwänden mit ihr zugleich die Trauer und die Trostlosigkeit, die auf der Stadt lasteten.
Sie sahen, wie sie auf halbem Wege haltmachte, die Kapuze zurückschlug und lange nach der Stadt zurückblickte. Inzwischen hatte man sie im feindlichen Lager bemerkt, und nun näherten sich ihr vorsichtig ein paar schwarze Gestalten.
Sie gingen auf sie zu und fragten sie, wohin sie ginge.
»Euer Anführer ist mein Sohn!« sprach sie, und keiner von den Soldaten zweifelte an der Wahrheit ihrer Worte. Sie schritten neben ihr her und priesen die Klugheit und Tapferkeit ihres Sohnes. Sie hörte sie stolz und erhobenen Hauptes an und wunderte sich nicht, – ihr Sohn konnte nicht anders als tapfer und klug sein!
Und nun stand sie vor ihm, den sie bereits neun Monate vor seiner Geburt gekannt und nie aus ihrem Herzen verbannt hatte. Er stand in Samt und Seide gekleidet vor ihr, und an seinen Waffen funkelten kostbare Edelsteine. Alles war, wie es sein mußte, – sie sah ihn vor sich, wie sie ihn unzählige Male im Traume gesehen hatte: reich, berühmt und von allen geliebt.
»Mutter!« sprach er und küßte ihre Hände. »Du bist zu mir gekommen, du hast mich also verstanden. Morgen will ich diese verfluchte Stadt erstürmen!«
»In der du geboren wurdest?« mahnte sie ihn.
Von seinen Erfolgen berauscht und von der Gier nach noch größerem Ruhme aufgepeitscht, erwiderte er mit der ganzen zügellosen Kühnheit der Jugend:
»Ich bin in der Welt und für die Welt geboren, um sie in Erstaunen zu setzen! Um deinetwillen habe ich diese Stadt geschont –, sie peinigt mich wie ein Dorn im Fuße und hindert mich, den Weg zum Ruhme so geschwind zu durchmessen, wie ich es wünsche. Doch nun will ich schon morgen dies eigensinnige Nest zerstören!«
»Wo jeder Stein dich kennt und dich an deine Kindheit mahnt?«
»Die Steine sind stumm, wenn der Mensch sie nicht zum Sprechen bringt. Mögen die Berge von mir erzählen –, das ist mein Wunsch!«
»Und die Menschen?«
»O Mutter, die habe ich nicht vergessen. Auch ihrer bedarf ich, denn nur im Gedächtnis der Menschen erringen die Helden ihre Unsterblichkeit.«
»Ein Held ist der,« sprach sie, »der im Kampf mit dem Tode neues Leben hervorbringt, ist der, der den Tod besiegt …«
»Nein!« widersprach er. »Die Zerstörer der Städte sind ebenso berühmt wie ihre Begründer. Wir wissen nicht, ob Äneas oder Romulus Rom gegründet haben, und doch kennen wir die Namen Alarichs und anderer Helden, die diese Stadt zerstörten, genau.«
»Die die Namen aller überlebt hat,« mahnte die Mutter.
Und er sprach zu ihr bis zum Sonnenuntergang, sie unterbrach seine wahnsinnigen Reden immer seltener und senkte das stolze Haupt immer tiefer auf die Brust.
Die Mutter ist das schaffende Prinzip, sie schützt das Bestehende; in ihrer Gegenwart von Zerstörung sprechen, heißt gegen sie ankämpfen. Er aber wußte es nicht und verleugnete den Zweck ihres Lebens.
Eine Mutter ist stets eine Feindin des Todes, und die Hand, die den Tod in die Häuser der Menschen hineinträgt, ist allen Müttern verhaßt und feindlich. Allein ihr Sohn erkannte das nicht, geblendet von dem kalten, herztötenden Schimmer des Ruhms.
Er wußte auch nicht, daß eine Mutter ein ebenso kluges wie erbarmungsloses und furchtloses Tier sein kann, wenn es sich um das Leben handelt, das sie, die Mutter, erzeugt und behütet.
Sie saß nach vorne gebeugt da und blickte durch die offene Leinwand des reichen Feldherrnzeltes nach der Stadt, wo sie zum ersten Male die süßen Schauer der Empfängnis, die schmerzlichen Zuckungen des Gebärens verspürt hatte; bei der Geburt des Kindes, das nun das Zerstörungswerk vollbringen wollte.
Die purpurnen Strahlen der Sonne färbten die Türme und Wälle der Stadt blutrot, die Fensterscheiben funkelten unheilverkündend, die ganze Stadt schien aus hundert Wunden zu bluten; die Strahlen verblichen, die Stadt ward dunkel wie ein Leichnam, und Begräbnisfackeln gleich flammten die Sterne über ihr auf.
Sie versetzte sich in die dunklen Häuser zurück, wo man sich fürchtete, Licht zu machen, um nicht die Aufmerksamkeit der Feinde auf sich zu lenken, in die finsteren, vom Leichengeruch geschwängerten Straßen, die mit dem Flüstern todesbanger Leute angefüllt zu sein schienen, – sie sah alles und alle; wie ein Blick ihres eigenen Ichs stand die Stadt vor ihr, stumm ihres Beschlusses harrend, und sie fühlte sich in diesem Augenblick als die Mutter aller Stadtbewohner.
Nun senkten sich von den schwarzen Bergesgipfeln Wolken herab und stürmten gleich Flügelrossen der dem Tode geweihten Stadt entgegen.
»Vielleicht werden wir schon jetzt zum Sturm blasen,« sprach der Sohn und prüfte seine Degenscheide, »wenn nur die Nacht dunkel genug ist! Wenn die Sonne leuchtet und der Waffenglanz die Augen blendet, ist das Morden schwer, und viele Stöße gehen fehl!«
»Komm her zu mir,« sprach die Mutter, »lehne den Kopf an meine Brust und ruhe dich aus. Entsinnst du dich, wie gut und fröhlich du warst, als du noch Kind warst, und wie alle dich lieb hatten?«
Er folgte ihrem Rufe, kniete vor ihr nieder und schloß die Augen:
»Ich liebe nichts als den Ruhm und dich, weil du mich geboren als den, der ich bin!«
»Und die Frauen?« fragte sie, über ihn gebeugt.
»Es gibt ihrer viele, und man hat sie schnell satt wie alles Süße.«
Und sie fragte ihn zum letzten Male:
»Wünschst du dir keine Kinder?«
»Wozu? Damit man sie mir tötet? Ein Mensch, der mir gleicht, wird sie töten, mich würde das sehr schmerzen, aber ich werde dann sicherlich schon zu alt und zu schwach sein, um sie zu rächen.«
»Du bist schön, doch unfruchtbar wie der Blitz,« sprach sie aufseufzend.
Er lächelte:
»Ja, wie der Blitz …«
Und er entschlummerte wie ein Kind, an die Mutterbrust gelehnt.
Sie bedeckte ihn mit ihrem schwarzen Mantel und stieß ihm den Dolch in die Brust. Er zuckte zusammen und hauchte im selben Augenblick sein Leben aus, – die Mutter wußte zu gut, wo das Herz ihres Sohnes schlug. Dann aber ließ sie den Leichnam zu den Füßen der fassungslosen Wache niedersinken und wandte ihr Antlitz der Stadt zu:
»Ich habe für die Heimat getan, was ich konnte, als Mutter aber bleibe ich mit meinem Sohne vereint! Es ist zu spät für mich, einen anderen zu gebären, und keinem sonst ist mein Leben nütze.«
Und sie stieß sich den Dolch, der noch warm von dem Blute ihres Sohnes war, mit fester Hand in die Brust. Sie traf auch sicher in ihr eigenes Herz – denn wenn es schmerzt, trifft man es leicht, stößt man nicht daneben.