Gedichte in Prosa 

Oscar Wilde 

Deutsch von Franz Blei 

und 

Felix Paul Greve 

Der Lehrer der Weisheit 

Noch ein Kind, war er voller Erkenntnis Gottes, und da er noch ein Knabe  war, waren heilige Männer und Frauen, die in seiner freien Geburtsstadt  wohnten, zu Staunen bewegt von der tiefen Weisheit seiner Rede. 

Als ihm seine Eltern das Kleid und den Ring der Mannbarkeit gegeben  hatten, küßte er sie und verließ sie, um in die Welt zu gehen, der Welt von  Gott zu reden. Denn in jener Zeit gab es viele, die Gott nicht kannten oder  schlecht kannten, oder die falsche Götter anbeteten, die in Hainen wohnen  und sich um ihre Verehrer nicht kümmern. 

Er wandte sich gegen die Sonne und schritt dahin, ohne Sandalen an den  Füßen, wie er die Heiligen hatte gehen sehen, und an seinem Gürtel trug er  einen kleinen Sack und eine tönerne Kürbisflasche. 

Er zog die Landstraße dahin voller Freude, die aus der vollkommenen  Kenntnis Gottes wird, und ohne Aufhören sang er sein Lob; nach einer Zeit  kam er in ein fremdes, städtereiches Land. Durch elf Städte kam er. Einige  davon waren in Tälern, andere auf dem Ufer großer Flüsse, und wieder  welche auf Bergen. In jeder Stadt fand er einen Schüler, der ihn liebte und  ihm folgte, und so folgte ihm auch aus jeder Stadt eine große Menge Volkes,  und die Erkenntnis Gottes breitete sich aus im ganzen Lande; viele  Hauptstädte bekehrten sich, und die Priester der Götzentempel sahen die  Hälfte ihrer Einkünfte verloren, und wenn sie des Mittags auf ihre Trommeln  schlugen, kamen nur ganz wenige Gläubige mit Steuern und Gaben aller Art. 

Und doch: je mehr Volk ihm nachfolgte und je größer die Zahl seiner  Schüler wurde, desto größer wuchs sein Schmerz. Und er wußte nicht,  weshalb sein Schmerz so groß war. Denn immer sprach er von Gott und  entzündete sich an der völligen Erkenntnis Gottes, die Gott ihm gegeben  hatte. 

Eines Abends ging er aus der elften Stadt, die eine armenische Stadt war,  und seine Schüler und eine große Menge Leute folgten ihm; er stieg auf  einen Berg, ließ sich auf einen Felsen nieder, der auf dem Berge war, und  seine Schüler scharten sich um ihn, und die Menge kniete im Tale. 

Er legte sein Haupt in seine Hände und weinte; und er sagte zu seiner  Seele: »Warum bin ich voll von Schmerz und Kummer, und warum ist jeder  meiner Schüler ein Feind, der im Lichte wandelt?«

Und seine Seele antwortete: »Gott hat dich mit seiner vollkommenen  Erkenntnis erfüllt, und die hast du andern gegeben. Die preislose Perle hast  du geteilt, und das Kleid ohne Naht hast du zerschnitten. Der die Weisheit  gibt, die er besitzt, der entäußert sich selbst. Er gleicht jenem, der einem  Diebe seine Schätze gibt. Ist Gott nicht weiser als du? Wer bist du, daß du  das Geheimnis preisgibst, das Gott dir anvertraut hat? Einstmals war ich  reich, und du hast mich arm gemacht. Einstmals sah ich Gott, nun hast du  ihn mir verborgen.« Und er weinte von neuem, denn er wußte, daß seine  Seele die Wahrheit gesprochen hatte, und daß er die vollkommene  Erkenntnis Gottes den andern preisgegeben hatte, und daß er wie einer war,  der sich an das Kleid Gottes klammert, und daß sein Glaube ihn verließ, weil  andere an ihn glaubten. Er sagte zu sich: »Ich will nicht mehr von Gott reden.  Der, der seine Weisheit gibt, beraubt sich selbst.« 

Nach einigen Stunden kamen seine Schüler zu ihm, fielen vor ihm nieder  und sagten: »Herr, sprich uns von Gott, denn du hast die vollkommene  Kenntnis Gottes, und keiner sonst als du besitzt sie.« 

Er antwortete ihnen: »Von allem will ich zu euch reden, was im Himmel und  auf Erden ist, aber ich werde euch nicht von Gott reden.« 

Da wurden sie unwillig gegen ihn und sagten: »Du hast uns in die Wüste  geführt, damit wir dich hören; und schickst uns und die Menge, die du dir  folgen machtest, heim in Hunger?« 

Er antwortete ihnen: »Ich werde euch nicht von Gott sprechen.« Da murrte die Menge gegen ihn und sprach: »Du hast uns in die Wüste  geführt und hast uns keine Nahrung gegeben. Sprich uns von Gott, und es  wird uns genug sein.« 

Aber er sagte darauf kein Wort mehr. Denn er wußte, er beraubte sich  seines Schatzes, wenn er von Gott redete. 

Und seine Schüler gingen traurig von dannen, und die Menge zog heim.  Viele starben auf dem Weg. 

Als er allein war, erhob er sich, wandte sein Antlitz gegen den Mond – und  wanderte sieben Monde lang, sprach zu keinem und gab keinem Antwort. Am Ende des siebenten Mondes erreichte er die Wüste, welche die Wüste  des großen Stromes ist. Er fand eine Höhle, die ehemals ein Zentaur  bewohnt hatte, nahm sie zu seinem Wohnort und machte sich darin aus  Schilf ein Lager. Er wurde ein Eremit. Und zu jeder Stunde lobte der Eremit  den Herrn, daß er ihm erlaubt habe, noch einige Erkenntnis von ihm zu  behalten, von ihm und seiner unendlichen Größe. 

Da der Eremit eines Abends vor seiner Höhle saß, sah er einen jungen,  schönen Menschen, der ein schlechtes Leben führte, vorübergehen, scheu  und mit leeren Händen. Jeden Abend ging der junge Mensch, die Hände leer,  vorüber, und jeden Morgen kam er zurück, die Hände gefüllt mit Purpur und  Perlen. Denn er war ein Räuber, der die Karawanen der Kaufleute plünderte.

Der Eremit blickte ihn an und hatte Mitleid mit ihm. Aber er sprach kein  Wort, denn er wußte, daß der seinen Glauben verliert, der spricht. Eines Morgens, da der junge Mensch, die Hände voll Purpur und Perlen,  wieder vorbeikam, blieb er stehen, zog die Brauen, stieß mit dem Fuß auf  den Sand und sagte zum Eremiten: »Warum siehst du mich so an, wenn ich  vorübergehe? Was ist das, was ich in deinen Augen sehe? Nie hat mich ein  Mensch so angesehen, und es ist ein Dorn für mich und eine Qual.« 

Der Eremit sagte darauf: »Was du in meinen Augen siehst, ist das Mitleid.  Es ist das Mitleid, das dich mit meinen Augen ansieht« 

Der junge Mensch schlug ein verachtendes Gelächter auf und sagte: »Ich  habe Purpur und Perlen in meinen Händen, und du hast nichts als eine Streu  von Schilf zum Lager. Was für ein Mitleid kannst du mit mir haben, und  weshalb hast du dieses Mitleid?« 

»Ich habe Mitleid mit dir,« sprach der Eremit, »weil du nicht die Erkenntnis  Gottes besitzest.« 

»Ist diese Erkenntnis Gottes etwas Kostbares?« fragte der junge Mensch  und kam ganz nahe an die Höhle heran. 

»Sie ist viel kostbarer als aller Purpur und alle Perlen der Welt«, sagte der  Eremit. 

»Und du besitzest sie?« sagte der Räuber und trat noch näher. 

»Einmal ja«, antwortete der Eremit, »besaß ich die vollkommene  Erkenntnis Gottes. Aber in meiner Torheit habe ich sie weggegeben und an  die anderen verteilt. Doch was mir davon noch blieb, auch dies ist mir  wertvoller als der Purpur und die Perlen.« Als der junge Räuber das hörte,  warf er den Purpur und die Perlen hin, die er in seinen Händen trug, zog ein  spitzes, krummes Schwert und rief: »Gib mir auf der Stelle diese Erkenntnis  Gottes, die du besitzest, oder ich töte dich! Weshalb soll ich den nicht töten,  der einen Schatz bewahrt, größer als der meine?« 

Der Eremit öffnete die Arme und sprach: »Ist es nicht besser für mich, ich  gehe bis ans äußerste Ende des Reiches Gottes und lobe ihn, statt in einer  Welt zu leben, die ihn nicht kennt? Töte mich, wenn du es willst. Aber ich  werde dir nicht meine Erkenntnis Gottes geben.« 

Der junge Räuber kniete nieder und bat, aber der Eremit wollte ihm nicht  von Gott reden, wollte ihm nicht seinen Schatz geben; der junge Räuber  stand auf und sagte zum Eremiten: 

»Sei es, wie du wünschest. Ich aber will in die Stadt der Sieben Sünden  gehen, die drei Tagreisen von hier ist, und für meinen Purpur wird man mir  da Vergnügen geben, und für meine Perlen verkaufen sie mir Freude.« Und  er raffte Purpur und Perlen zusammen und eilte davon.

Der Eremit rief ihn, eilte ihm nach und beschwor ihn. Drei Tage lang folgte  er dem jungen Räuber, bat ihn, umzukehren und nicht in die Stadt der Sieben  Sünden zu gehen. 

Von Zeit zu Zeit wandte sich der junge Räuber um und sagte: »Willst du  mir diese Erkenntnis Gottes geben, die wertvoller ist als Purpur und Perlen?  Wenn du mir sie geben willst, dann gehe ich nicht in die Stadt.« 

Und jedesmal antwortete der Eremit: »Alles was ich habe, will ich dir geben,  nur dieses einzige nicht. Denn dies dir zu geben, ist mir nicht erlaubt.« Und im Morgendämmern des dritten Tages kamen sie an die scharlachnen  Tore der Stadt der Sieben Sünden. 

Und aus der Stadt kam der Lärm großer Freude, dem der junge Räuber mit  seiner Freude antwortete, und er hob die Hände, um ans Tor zu schlagen.  Da lief der Eremit auf ihn zu, zog ihn bei seinem Gewand und sagte: »Breite  die Hände aus und lege die Arme um meinen Nacken; drücke dein Ohr fest  an meine Lippen: ich will dir geben, was ich noch von der Erkenntnis Gottes  habe.« 

Der junge Räuber blieb stehen. Und nachdem der Eremit seine Erkenntnis  Gottes gegeben hatte, sank er zu Boden und weinte, und eine große  Finsternis verbarg ihm Stadt und Räuber, daß er sie nicht mehr sah. 

Und da er weinend lag, wußte er, daß einer neben ihm stand. Und der  neben ihm stand, hatte eherne Füße, und sein Haar war wie von feiner Wolle.  Und er hob den Eremiten auf und sagte zu ihm: »Bis heute hattest du die  vollkommene Erkenntnis Gottes. Nun hast du die vollkommene Liebe Gottes.  Weshalb weinst du also?« 

Und er küßte ihn. 

Das Haus des Gerichts 

Das Schweigen herrschte im Haus des Gerichts, und der Mensch trat, nackt,  vor Gott. 

Und Gott öffnete das Lebensbuch des Menschen. 

Gott sprach zu dem Menschen: »Dein Leben ist ein schlechtes gewesen,  du zeigtest dich grausam gegen jene, die der Hilfe bedurften, und gegen  jene, die eines Führers bedurften, hattest du ein bitteres und hartes Herz.  Die Armen riefen dir zu, und du hast sie nicht gehört, und dein Ohr war  verschlossen dem Schrei meiner Heimgesuchten. Du hast für dich das Erbe  der Waisen genommen und hast Füchse in den Weinberg deines Nachbars  geschickt. Du hast das Brot der Kinder genommen und gabst es den Hunden  zu essen, und meine Aussätzigen, die in den Sümpfen wohnten, in Frieden  lebten und mich lobten, du hast sie auf die Landstraßen gejagt, und auf  meine Erde, aus der du geformt bist, hast du unschuldiges Blut vergossen.«

Der Mensch antwortete: »Alles das habe ich getan.« 

Und abermals schlug Gott das Lebensbuch des Menschen auf. Und Gott sprach zu dem Menschen: »Dein Leben ist ein schlechtes  gewesen, und die Schönheit, die ich den schauenden Augen geschenkt, der  hast du nachgeforscht, und das Gute, das ich verborgen hatte, du hast es  nicht beachtet. Die Wände deines Gemaches waren mit Bildern bemalt, und  vom Bett deiner Schandtaten erhobst du dich beim Klang der Flöten. Du hast  sieben Altäre errichtet für die Sünden, um die ich gestorben bin, und du hast  gegessen, was nicht gegessen werden darf, und der Purpur deines  Gewandes war bestickt mit den drei Zeichen der Schande. Deine Götzen  waren nicht aus Gold und nicht aus Silber, die dauern, sie waren aus Fleisch,  das stirbt. Du hast ihre Haare in Düfte getaucht und gabst Geruchäpfel in ihre  Hände. Du badetest ihre Füße in Safran und breitetest Teppiche vor ihnen  aus. Mit Antimon hast du ihre Brauen gefärbt, und ihre Körper bestrichest du  mit Myrrhe. Du fielst vor ihnen nieder, und die Throne deiner Götzen waren  errichtet in der Sonne. Du zeigtest der Sonne deine Schande und dem  Monde deine Narrheit.« 

Der Mensch antwortete: »Alles das habe ich getan.« 

Und zum drittenmal schlug Gott das Lebensbuch des Menschen auf. Und  Gott sprach zu dem Menschen: »Das Böse war dein Leben. Du hast das  Gute mit Bösem vergolten und warst denen schädlich, die gut zu dir waren.  Die Hände, die dich nährten, du hast sie verstümmelt, die Brüste, die dich  stillten, du hast sie verhöhnt. Der zu dir mit Wasser gekommen ist, ging  durstig von dir, und die Vogelfreien, die sich in ihren Zelten verbargen zur  Nacht, du hast sie vor Tagesanbruch verraten. Dein Feind, der dich schonte,  du hast ihn in einen Hinterhalt gelockt, und den Freund, der mit dir wanderte,  hast du um Geld verkauft, und die dir die Liebe brachten, denen gäbest du  dafür die Ausschweifung.« 

Der Mensch antwortete: »Alles das habe ich getan.« 

Gott schloß das Lebensbuch des Menschen und sagte: »Ich will dich sicher  zur Hölle schicken; ja, zur Hölle will ich dich schicken.« 

Der Mensch rief: »Du kannst nicht!« Gott sprach zu dem Menschen:  »Weshalb kann ich dich nicht zur Hölle schicken?« 

»Weil ich in der Hölle mein Leben verbracht habe«, antwortete der Mensch. Und das Schweigen herrschte im Hause des Gerichts. Dann sprach Gott  und sagte zu dem Menschen: »Da ich dich nicht zur Hölle senden kann, so  will ich dich in den Himmel weisen; ja, in den Himmel will ich dich weisen.« Der Mensch rief: »Du kannst nicht!« 

Und Gott sprach zu dem Menschen: »Weshalb kann ich dich nicht in den  Himmel senden?«

»Weil ich nie und nirgends mir den Himmel denken konnte«, antwortete der  Mensch. 

Und das Schweigen herrschte im Hause des Gerichts. 

Der Künstler 

Eines Abends da kam in seine Seele das Verlangen, ein Bildnis zu machen:  Die Lust des Augenblickes. Und er ging in die Welt, nach Bronze zu suchen.  Denn er konnte nur in Bronze denken. 

Doch alle Bronze der ganzen Welt war verschwunden, und keine andere  war in der ganzen Welt zu finden als die des Bildnisses: Ewiglastende Sorge. Und dieses Bildnis hatte er selbst gefertigt mit seinen eigenen Händen und  es auf das Grab des einzigen, das er im Leben liebte, gesetzt. Auf das Grab  des einzigen, das er vor allem und allein in der Welt liebte, hatte er dies  Bildnis gesetzt, daß es für ein Zeichen nie endender Menschenliebe diene  und für ein Symbol der Menschensorge, die nie endet. Und es war in der  ganzen Welt keine andere Bronze als diese. 

Und er nahm das Bildnis, das er gemacht hatte, setzte es in einen großen  Tiegel und gab es dem Feuer. 

Und aus der Bronze »Die ewiglastende Sorge« machte er das Bildnis »Die  Lust des Augenblickes.« 

Der Mittler 

Es war Nacht, und Er war allein. 

Und Er sah weit in der Ferne die Mauern einer runden Stadt, und Er ging  der Stadt zu. 

Und da Er näher kam, hörte Er in der Stadt die Fußschritte der Freude und  das Lachen vom Munde der Fröhlichkeit und den lauten Lärm vieler Flöten.  Und Er klopfte an das Tor, das Ihm die Wächter öffneten. 

Da nahm Er ein Haus wahr, das war von Marmor, und Marmorsäulen  standen davor, über die hingen Blumengewinde, und innen und außen  leuchteten Fackeln aus Zedernholz. In dieses Haus ging Er hinein. 

Und da Er durch die Halle aus Chalzedon und die Halle aus Jaspis  geschritten war, kam Er in ein großes festliches Gemach und sah hier auf  einem purpurnen Lager einen, dessen Haar rote Rosen kränzten und dessen  Lippen von Wein rot waren. Und Er trat hinter ihn, berührte seine Schulter  und sprach zu ihm: »Weshalb lebst du so?«

Und der junge Mann wandte sich um, erkannte Ihn und gab zur Antwort:  »Ich war ein Aussätziger, und Du heiltest mich – wie sonst soll ich leben?« Und Er verließ das Haus und ging wieder auf die Straße. Und nach einer  kleinen Weile sah Er eine, deren Gesicht und Kleider waren bemalt und  deren Füße beschuht mit Perlen. Und hinter ihr kam ein junger Mensch,  langsam, leise wie ein Jäger, und sein Kleid war zwiefarben. Das Gesicht  des Weibes aber war wie das liebliche Gesicht einer Gottheit, und die Augen  des Jünglings leuchteten vor Lust. 

Und Er folgte schnell, berührte die Hand des Jünglings und sagte ihm:  »Warum siehst du auf diese Frau und mit solchen Blicken?« Und der  Jüngling wandte sich um, erkannte Ihn und sprach: »Ich war blind, und Du  gabst mir das Gesicht. Auf was sonst soll ich schauen?« 

Und Er lief vor und berührte das gemalte Kleid der Frau und sprach zu ihr:  »Ist kein anderer sicherer Weg als der Weg der Sünde?« 

Und die Frau wandte sich um, erkannte Ihn und sagte: »Doch Du vergabst  mir meine Sünden, und der Weg ist ein lustiger Weg.« 

Da ging Er die Stadt hinaus. 

Und da Er vor der Stadt war, erblickte Er einen jungen Menschen, der saß  am Wegrand und weinte. 

Und Er ging auf ihn zu, berührte die langen Locken seines Haares und  sagte zu ihm: 

»Warum weinest du?« 

Und der junge Mensch sah auf, erkannte Ihn und antwortete: »Ich war  gestorben, und Du wecktest mich vom Tode auf. Was sonst soll ich tun als  weinen?« 

Der Meister 

Nun, als Dunkelheit über die Erde kam, entzündete Joseph von Arimathia  eine Fackel aus Fichtenholz und stieg den Hügel hinab ins Tal, denn er hatte  im eigenen Hause zu tun. 

Und im Tale der Betrübnis sah er auf den spitzen Steinen einen Jüngling  knien, der war nackt und weinte. Sein Haar war honigfarben, und sein Leib  war eine weiße Blume, doch hatte er seinen Leib mit Dornen verwundet und  auf sein Haar Asche gesetzt als eine Krone. 

Und der Reiche sagte zu dem Jüngling, der nackt war und weinte: »Ich bin  nicht verwundert, daß dein Kummer so groß ist, denn sicher war Er ein  gerechter Mann.« 

Und der Jüngling gab die Antwort: »Nicht um Ihn weine ich, ich weine um  mich selber. Auch ich habe Wasser in Wein verwandelt und heilte die 

Aussätzigen und gab den Blinden das Gesicht wieder. Ich bin über den  Wassern gewandelt, und aus den Grabhöhlen vertrieb ich die Teufel. Ich  habe die Hungrigen in der Wüste gespeist, da keine Nahrung war, und  weckte die Toten aus ihren engen Häusern auf, und auf mein Gebet und vor  einer großen Menge Volkes vertrocknete ein fruchtbeladener Feigenbaum.  Alles was dieser Mensch getan hat, habe auch ich getan. Und doch haben  sie mich nicht gekreuzigt.« 

Der Schüler 

Als Narziß starb, da wandelte sich der Teich seiner Freude aus einem Becher  süßen Wassers in einen Becher salziger Tränen, und die Oreaden kamen  weinend den Wald daher, um dem Teiche zu singen und ihn zu trösten. 

Und als sie sahen, daß sich der Teich aus einem Becher süßen Wassers  in einen Becher salziger Tränen verwandelt hatte, da lösten sie die grünen  Flechten ihres Haares, schrien weinend auf und sagten: »Wir sind nicht  verwundert, daß du in solcher Weise über Narziß trauerst, so schön war er.« 

»War denn Narziß schön?« sagte der Teich. 

»Wer wüßte das besser als du«, antworteten die Oreaden. »An uns ging er  immer vorüber, aber dich suchte er auf, um an deinem Ufer zu liegen, auf  dich hinabzuschauen und in dem Spiegel deines Wassers seine eigene  Schönheit zu spiegeln.« 

Und der Teich antwortete: »Ich aber liebte den Narziß, wenn er an meinem  Ufer lag und auf mich niederschaute, denn in dem Spiegel seiner Augen sah  ich immer meine eigene Schönheit.«

<< zurück