DIE NACHBARSKINDER
Von Hans C. Andersen
In der großen Stadt, wo so viel Leute beisammenwohnen, daß nicht alle ein Gärtchen haben können, sondern viele sich mit Blumentöpfen begnügen müssen, lebten einst zwei arme Kinder, die einen etwas größeren Garten als einen Blumentopf besaßen. Sie waren nicht Bruder und Schwester, hatten einander aber eben so lieb, als ob sie es wären. Ihre Eltern wohnten in unmittelbarer Nachbarschaft. Sie bewohnten zwei Dachkammern, da, wo das Dach des einen Nachbarhauses das des andern berührte und die Wasserrinne zwischen den Dächern entlang lief. Dort hinaus blickte aus jedem Hause ein Fenster. Man brauchte nur über die Rinne zu schreiten, um von dem einen Fenster nach dem andern zu gelangen.
Jedes Elternpaar hatte draußen einen hölzernen Kasten angebracht, in welchem die nötigsten Küchenkräuter gezogen wurden. Auch befand sich in jedem Kästchen ein kleiner Rosenstock und beide wuchsen und gediehen herrlich. Nun gerieten die Eltern auf den Gedanken, die Kästen quer über die Rinne so auszustellen, daß sie fast von dem einen Fenster bis zu dem andern reichten und sich völlig wie zwei Blumenwälle ausnahmen. Erbsenranken hingen über die Kästen hinunter und die Rosenstöcke trieben lange Zweige, rankten sich um die Fenster, neigten sich einander zu und bildeten fast eine Laube, und die Kinder erhielten oftmals die Erlaubnis, hinauszuklettern und unter den Rosen miteinander zu spielen.
Im Winter war ja dies Vergnügen vorüber. Die Fenster waren dann oft ganz zugefroren. Doch dann wärmten sie Kupferdreier auf dem Ofen, hielten sie gegen die gefrorene Scheibe und dann bildete sich dort ein prächtiges Guckloch, so rund, o so rund; dahinter strahlte ein glückliches sanftes Auge, eines hinter jedem Fenster. Das war der kleine Knabe und das kleine Mädchen. Er hieß Kay und sie hieß Gerda. Im Sommer konnten sie rasch bei einander sein, im Winter aber mußten sie die vielen Treppen hinunter und hinauf. — Draußen wirbelte der Schnee.
„Jetzt schwärmen die weißen Bienen!“ sagte die alte Großmutter.
„Haben sie auch eine Bienenkönigin?“ fragte der kleine Knabe.
„Die haben sie!“ sagte die Großmutter, „sie fliegt immer dort, wo sie am dichtesten schwärmen. Sie ist die größte von allen Schneeflocken, und nie ist sie ruhig auf Erden, sie fliegt gleich wieder zu der schwarzen Wolke empor. Manche Winternacht fliegt sie durch die Straßen der Stadt und guckt zu den Fenstern hinein, und dann gefrieren diese so wunderbar, als wären sie mit Blumen besäet.“
„Ja, das habe ich gesehen!“ riefen beide Kinder, und nun wußten sie, daß es Wahrheit wäre.
„Kann die Schneekönigin hereinkommen?“ fragte das kleine Mädchen.
„Laß sie nur kommen,“ sagte der Knabe, „dann setze ich sie auf den warmen Kachelofen und sie muß zerschmelzen!“
Aber die Großmutter strich ihm das Haar glatt und erzählte andere Geschichten.
Des Abends, als der kleine Kay zu Hause und halb ausgezogen war, kletterte er auf den Stuhl am Fenster und guckte zu dem kleinen Loch hinaus. Ein paar Schneeflocken fielen draußen und eine derselben, die allergrößte, blieb auf dem Rande des einen Blumenkastens hängen. Die Schneeflocke wuchs und wuchs, bis sie sich zuletzt in eine vollständige Frau verwandelte, in den feinsten weißen Flor gehüllt, der wie von Millionen sternartiger Flocken zusammengesetzt war. Sie war schön und fein, aber von Eis, dem blendenden, blinkenden Eis, doch war sie lebendig. Die Augen funkelten wie zwei helle Sterne, aber unstät rollten sie umher ohne Ruh und Rast. Sie nickte nach dem Fenster zu und winkte mit der Hand. Der kleine Knabe erschrak und sprang vom Stuhle hinunter. Da war es, als flöge ein großer Vogel draußen an dem Fenster vorüber.
Am folgenden Tag war klares Frostwetter — — und dann begann es zu thauen, der Lenz hielt seinen Einzug, die Sonne schien, die Spitzen der Grashälmchen sproßten hervor, die Schwalben bauten Nester, die Fenster wurden geöffnet, und die kleinen Kinder saßen wieder in ihrem Gärtchen hoch oben in der Dachrinne über allen Stockwerken.
Die Rosen blühten während dieses Sommers besonders schön. Das kleine Mädchen hatte ein Lied gelernt und sang es dem Knaben vor und er sang mit:
„Ich liebe die Rosen in all ihrer Pracht,
Doch mehr noch den Heiland, der selig uns macht!“
Kay und Gerda saßen und sahen sich das Bilderbuch mit den vielen Tieren und Vögeln an, da war es — die Uhr auf dem großen Kirchturme schlug gerade fünf — daß Kay sagte: „Au! es ging mir wie ein Stich durch das Herz! Und jetzt ist mir etwas ins Auge geflogen!“ Das kleine Mädchen faßte ihn um den Hals; er blinzelte mit den Augen: nein, es war durchaus nichts zu sehen.
„Ich denke, es ist fort!“ sagte er, aber fort war es nicht. Es war gerade einer von diesen Glassplittern, die von dem Spiegel abgesprungen waren, dem Zauberspiegel. Wir entsinnen uns desselben wohl noch, der bewirkte, daß alles Große und Gute, welches sich darin abspiegelte, klein und häßlich wurde, und jeder Fehler an einer Sache sich sofort bemerkbar machte. Der arme Kay, ihm war ein solches Splitterchen auch gerade in das Herz eingedrungen. Das sollte nun bald wie ein Eisklumpen werden. Nun that es zwar nicht mehr wehe, aber da war es.
„Weshalb weinst du?“ fragte er. „So siehst du häßlich aus. Mir fehlt ja durchaus nichts! Pfui!“ rief er plötzlich aus, „die Rose da ist ja vom Wurme angefressen! Und sieh, jene ist gar nicht gerade gewachsen. Das sind eigentlich recht häßliche Rosen. Sie sind ebenso garstig wie die Kasten, in denen sie stehen!“ Und dann stieß er heftig mit dem Fuße gegen den Kasten und riß die beiden Rosen ab.
„Kay, was thust du!“ rief das kleine Mädchen; und als er ihr heftiges Erschrecken bemerkte, riß er noch eine Rose ab und sprang dann in sein Fenster hinein.
Wenn sie später mit dem Bilderbuche kam, spottete er darüber und wenn die Großmutter Geschichten erzählte, kam er stets mit einem Aber dazwischen; zuweilen schlich er sich hinter ihr her, setzte ihre Brille auf und ahmte ihre Stimme nach. Er konnte bald allen Leuten in der Straße Gang und Redeweise nachahmen und besonders das Unschöne wußte er treffend zu kopieren. Aber daran war das Glas schuld, welches ihm in die Augen geflogen war, das Glas, welches ihm in dem Herzen saß. Daher kam es, daß er sogar die kleine Gerda neckte, die ihn von ganzer Seele lieb hatte.
Seine Spiele nahmen jetzt einen ganz anderen Charakter an, sie wurden mehr verständig. An einem Wintertage, als Schneegestöber eingetreten war, kam er mit einem Vergrößerungsglase, hielt seine blauen Rockzipfel hinaus und ließ die Schneeflocken darauf fallen.
„Sieh nun einmal in das Glas, Gerda!“ sagte er, und jede Schneeflocke wurde ungleich größer und nahm sich wie eine prächtige Blume oder ein zehnzackiger Stern aus. Es gewährte einen herrlichen Anblick.
„Siehst du, wie kunstreich!“ rief Kay aus; „das bietet weit mehr Vergnügen und Stoff zum Nachdenken dar, als die wirklichen Blumen! Auch ist kein einziger Fehler an ihnen, sie sind ganz regelmäßig; wenn sie nur nicht schmelzen würden!“
Nicht lange darauf kam Kay mit großen Fausthandschuhen und seinem Schlitten auf dem Rücken. Er flüsterte Gerda in die Ohren: „Ich habe Erlaubnis bekommen, auf den großen Platz zu fahren, wo die Andern spielen!“ und fort war er.
Dort auf dem Platze banden mitunter die kecksten Knaben ihre Schlitten an die Bauernwagen und fuhren dann eine tüchtige Strecke mit. Das ging gerade recht lustig. Als das Spiel im vollen Gange war, kam ein großer, weiß angestrichener Schlitten. Eine Person saß in demselben, die in einen weißen, rauhen Pelz eingehüllt und mit einer weißen Pelzmütze bedeckt war. Der Schlitten fuhr zweimal um den Platz herum und Kay gelang es, seinen kleinen Schlitten an denselben festzubinden und nun fuhr er mit. Rascher und immer rascher ging es gerade in die nächste Straße hinein. Der Führer des Schlittens wandte den Kopf und nickte ihm so freundlich zu, als ob sie mit einander bekannt wären. So oft Kay seinen kleinen Schlitten abbinden wollte, nickte die Person abermals und dann blieb Kay sitzen; sie fuhren gerade zum Stadtthore hinaus. Da wurde das Schneegestöber so heftig, daß der kleine Knabe nicht die Hand vor den Augen mehr erkennen konnte, während er gleichwohl weiter fuhr. Endlich ließ er den Strick fallen, um sich von dem großen Schlitten los zu machen, aber es half nichts, sein kleines Fuhrwerk hing fest und es ging mit Windeseile. Da rief er ganz laut, aber niemand hörte ihn, und der Schnee wirbelte und der Schlitten flog vorwärts. Mitunter gab es einen Stoß, als ob man über Gräben und Hecken führe. Er war ganz entsetzt, wollte sein Vaterunser beten, konnte sich aber nur noch auf das große Einmaleins besinnen.
Die Schneeflocken wurden größer und größer, zuletzt sahen sie wie große weiße Hühner aus. Plötzlich sprangen die Pferde zur Seite, der Schlitten hielt und die Person, welche ihn fuhr, erhob sich; Pelz und Mütze waren von lauter Schnee. Es war eine Dame, hoch und schlank, blendend weiß, es war die Schneekönigin.
„Wir sind wacker vorwärts gekommen,“ sagte sie. „Aber ist das etwa ein Wetter zum Frieren? Komm, krieche mit in meinen Bärenpelz hinein!“ und sie setzte ihn in den Schlitten an ihre Seite und schlug den Pelz um ihn, daß es ihm vorkam, als versänke er in einen Schneehaufen.
„Frierst du noch?“ fragte sie und küßte ihn dann auf die Stirn. Huh, das war noch kälter als Eis, das ging ihm gleich bis ans Herz, welches ja schon halb und halb ein Eisklumpen war. Ihm war zu Mute, als sollte er sterben; — aber nur einen Augenblick, dann that es ihm gerade gut. Er empfand nichts mehr von der Kälte um sich.
„Meinen Schlitten! vergiß meinen Schlitten nicht!“ Dessen erinnerte er sich zuerst. Er wurde auch auf eins der weißen Hühner gebunden, welches mit dem Schlitten auf dem Rücken hinterher flog. Die Schneekönigin küßte Kay noch einmal und dann hatte er die kleine Gerda und die Großmutter und alle daheim vergessen.
Kay fürchtete sich gar nicht vor der Schneekönigin; er erzählte ihr, daß er im Kopfe rechnen könne und sogar mit Brüchen, daß er die Größe und Einwohnerzahl der Länder wüßte und sie lächelte zu allem. Und sie flog mit ihm, flog hoch hinauf zu der schwarzen Wolke und der Sturm sauste und brauste, als sänge er alte Lieder. Sie flogen über Wälder und Seen, über Meere und Länder. Unten in der Tiefe sauste der kalte Wind, heulten die Wölfe, flimmerte der Schnee und über denselben flogen die schwarzen, schreienden Krähen hinweg, aber über ihnen glänzte der Mond groß und klar und zu ihm schaute Kay auf, die lange, lange Winternacht hindurch. Am Tage schlief er zu den Füßen der Schneekönigin.