Guy de Maupassant
I
Als die Leute im Hafen des kleinen provençalischen Städtchens Garandou am Meerbusen von Pisca zwischen Marseille und Toulon das Boot des Abbé Vilbois vom Fischfang heimkehren sahen, gingen sie an den Strand hinunter, um ihm zu helfen, sein Boot an Land zu ziehen.
Der Abbé saß allein darin und ruderte wie ein wirklicher Matrose, trotz seiner achtundfünfzig Jahre, mit seltener Kraftentfaltung. Die Ärmel hatte er über die muskulösen Arme zurückgeschlagen und das Priestergewand, unten aufgeschürzt und zwischen den Knieen eingeklemmt, auf der Brust etwas aufgeknöpft. Sein Dreimaster lag auf der Bank an seiner Seite. Statt dessen trug er auf dem Kopf einen mit weißer Leinwand überzogenen glockenförmigen Korkhut. Der Mann sah aus wie einer jener eigentümlichen, derben Geistlichen südlicher Länder, die mehr für allerlei Abenteuer gemacht scheinen, als um Messe zu lesen.
Ab und zu blickte er hinter sich, um den Punkt, wo er landen wollte, genau im Auge zu behalten. Dann begann er wieder zu rudern in rhythmischem, kräftig gleichmäßigem Schwung, um wieder einmal diesen schlechten Südlandsmatrosen zu zeigen, wie man im Norden sich in die Riemen legt.
Das Boot kam herangesaust, berührte den Sand und glitt darüber hin, den Kiel eingrabend, als wollte es den ganzen Strand hinauffahren. Dann blieb es mit einem Ruck stehen und die fünf Männer, die den Pfarrer kommen gesehen, traten, dem Geistlichen zufrieden entgegenlächelnd, heran.
– Na, – sagte der eine in stark provençalischen Accent, – haben Sie denn was gefangen, Herr Pfarrer?
Der Abbé Vilbois zog die Ruder ein, nahm den Glockenhut ab, setzte den Dreimaster auf, schlug die Ärmel über die Arme herunter, knöpfte seinen Rock zu, und nachdem er dann Haltung und Würde des Dorfgeistlichen wiedergefunden, antwortete er stolz:
– Natürlich! Natürlich! Viel gefangen: drei Wolfsbarsche, zwei Muränen und einige Girellen.
Die fünf Fischer hatten sich der Barke genähert, beugten sich über Bord und betrachteten mit Kennermiene die toten Tiere, die fetten Barsche, die Muränen mit dem platten Kopf, ekelhafte Meerschlangen, und die violetten Girellen, im Zickzack mit goldschimmernden Bändern von orange Farbe gestreift.
Einer von ihnen meinte:
– Ich will Ihnen die Tiere bringen.
– Danke, mein Alter.
Er drückte ihnen die Hände, und, von dem Mann gefolgt, ging er davon, während die anderen sein Boot in Ordnung brachten.
Er schritt mit langen Schritten kräftig und würdig hin. Da ihm noch warm war, weil er sich beim Rudern so angestrengt, nahm er ab und zu, wenn er unter den leichten Schatten von Olivenbäumen hindurchkam, den Hut ab, um der noch immer lauwarmen Abendluft, die nur durch einen leichten Wind vom Meer her etwas erfrischt war, den viereckigen Schädel auszusetzen, auf dem weiße Haare straff und aufrecht standen, mehr ein Offizierskopf als der eines Priesters. Nun erschien das Dorf auf einem Hügel mitten in einem breiten Thal, das sich allmählich zum Meer hinabsenkte.
Es war an einem Juliabend. Die strahlende Sonne, die nahe daran war, hinter einer zackigen fernen Hügelreihe zu verschwinden, zeichnete auf der weißen Straße, die durch den Staub wie in ein Leichentuch gehüllt war, endlos langgestreckt den Schatten des Geistlichen ab. Sein riesiger Dreimaster warf auf das benachbarte Feld einen großen dunklen Fleck, der wie spielend im Vorübergehen an allen Olivenbäumen hinaufzuklettern schien, um wieder zu Boden zu fallen und zwischen den Bäumen hinzugleiten.
Unter den Füßen des Abbé Vilbois erhob sich eine dünne Wolke jenes feinen Staubes, der im Sommer alle Wege der Provence bedeckt. Er stiebte um das Priesterkleid herum, umschleierte und bedeckte es unten mit feiner, immer weißer werdender Decke. Der Abbé ging jetzt erfrischt, die Hände in den Taschen, mit langsamen und festen Schritten hin, wie ein Bergsteiger, der einen Berg erklimmt. Seine ruhigen Augen blickten auf das Dorf, auf sein Dorf, wo er seit zwanzig Jahren Pfarrer war, das Dorf, das er sich ausgesucht und durch hohe Verbindungen auch erhalten, das Dorf, wo er auch sterben wollte. Die Kirche, seine Kirche, erhob sich über die darum liegenden Häuser, und ihre beiden dunklen Türme, viereckig und ungleich, zeichneten sich in dem schönen Südlandsthal mit ihren altertümlichen Umrissen ab, mehr wie Verteidigungstürme einer Festung, als Kirchtürme eines Heiligtums.
Der Abbé war guter Laune, denn er hatte drei Barsche, zwei Muränen und ein paar Girellen gefangen.
Das gab wieder einen Triumph bei seinen Beichtkindern, einen Triumph für ihn, den man hauptsächlich deshalb hochachtete, weil er trotz seines Alters vielleicht der stärkste Mann im ganzen Lande war. In diesen kleinen, menschlichen Eitelkeiten bestand sein größtes Glück. Er handhabte so sicher die Pistole, daß er Blumenstengel mit der Kugel zerschoß, focht manchmal mit seinem Nachbar, dem Tabakhändler, einem ehemaligen Feldwebel, und schwamm besser, als irgend jemand an der Küste.
Übrigens war der Baron Vilbois einst in der Gesellschaft ein sehr bekannter Mann und sehr elegant gewesen, der wegen eines Liebeskummers mit zweiunddreißig Jahren Geistlicher geworden war.
Er entstammte einer alten royalistischen, kirchlich gesinnten Familie aus der Picardie, die seit mehreren Jahrhunderten ihre Söhne Soldaten, Beamte oder Priester werden ließ. Zuerst hatte er in einen Orden eintreten sollen auf Wunsch seiner Mutter, dann aber hatte er sich auf Bitten seines Vaters entschlossen, nach Paris zu gehen, die Rechte zu studieren und darauf sich einen Beruf zu suchen.
Aber während er studierte, erlag sein Vater einer Lungenentzündung, die er sich auf der Wasserjagd geholt, und seine Mutter starb aus Kummer bald darauf.
Da er nun plötzlich ein großes Vermögen geerbt, verzichtete er auf eine Beamtenlaufbahn irgendwelcher Art, um nur von seinen Renten zu leben.
Er war ein schöner Kerl, klug, obgleich durch seine gläubigen Traditionen und seine Grundsätze, die erblich waren, wie seine provençalischen Junkermuskeln, etwas beschränkt. Er gefiel, hatte auch bei ernsten Leuten Erfolg und genoß als vernünftiger, reicher, junger Mensch sein Leben.
Da verliebte er sich in eine Schauspielerin, eine Conservatoristin, die mit Erfolg im Odeon zum ersten Male auftrat und die er ein paar Mal bei einem Freunde getroffen.
Er verliebte sich in sie mit der ganzen Kraft und Gewalt eines Menschen, der geboren ist, um alles, was er anfaßt, ganz zu thun. Er verliebte sich, als er sie in der romantischen Rolle sah, in der sie am Tag, an dem sie zum ersten Mal vor das Publikum getreten, einen großen Erfolg hatte.
Sie war hübsch, von Natur etwas verdorben, mit einem kindlich naiven Ausdruck, den er ihr Engelsangesicht nannte. Es gelang ihr, ihn vollkommen in Fesseln zu schlagen und aus ihm einen jener verrückten Gefangenen zu machen, einen jener Liebesrasenden, die ein Blick oder eine Schürze auf dem Scheiterhaufen der tötlichen Leidenschaft brennen läßt. Er begann also mit ihr ein Verhältnis, ließ sie vom Theater abgehen und liebte sie vier Jahre lang mit immer steigender Leidenschaft. Er hätte sie schließlich trotz seines Namens und der Traditionen seiner Familie geheiratet, wenn er nicht eines Tages die Entdeckung gemacht hätte, daß sie ihn seit langer Zeit schon mit dem Freunde, durch den er sie kennen gelernt, betrog.
Das Drama war um so schrecklicher, als sie sich Mutter fühlte und er die Geburt des Kindes erwartete, um sich zur Heirat zu entschließen.
Als er die Beweise, die Briefe, die er in einem Fach gefunden, in Händen hielt, warf er ihr ihre Untreue vor, ihre Niedertracht, ihre Schmach, mit der ganzen Roheit eines Halbwilden, der er immer geblieben. Aber sie, ein echtes Pariser Kind, ebenso unverschämt wie unzüchtig, des anderen genau so sicher wie dieses, und verwegen wie eine Tochter des Volkes, die aus reinem Übermut auf die Barrikaden klettert, trat ihm entgegen, beschimpfte ihn. Als er die Hand hob, deutete sie auf ihren schwangeren Leib.
Er hielt inne, erbleichte, überlegte sich, daß er hier angesichts eines Kindes stand, eines Kindes in diesem beschmutzten ekelhaften Leib, in dieser unreinen Kreatur, – vor seinem Kind. Da stürzte er sich auf sie, um sie beide zu zerschmettern, die doppelte Schmach auszulöschen. Sie hatte Furcht, sah sich verloren und, da sie unter seinen Fäusten zu Boden fiel, da sie seinen Fuß schon erhoben sah, um den Leib, in dem ein junges Menschenleben keimte, zu zertreten, rief sie ihm zu, indem sie ihm die Hände entgegenstreckte:
– Töte mich nicht, es ist nicht Dein Kind, es ist seines.
Er machte einen Satz rückwärts, so erschrocken, so erschüttert, daß seine Wut gebannt war, wie sein Fuß, den er niederzusetzen vergaß. Und nun stammelte er:
– Was sagst Du?
Sie war plötzlich toll vor Angst angesichts der Todesdrohung, die aus den Augen und der fürchterlichen Gebärde des Mannes leuchtete, und sie wiederholte:
– Es ist nicht Dein Kind, es ist seines.
Er flüsterte vernichtet zwischen den Zähnen:
– Das Kind?
– Ja.
– Du lügst.
Und von neuem erhob er den Fuß, als wollte er jemand zerschmettern, während seine Geliebte, auf den Knieen liegend, zurückzurutschen versuchte und stammelte:
– Ich sage Dir, es ist sein Kind. Wenn es Deines wäre, hätte ich es da nicht längst gehabt?
Dieser Beweisgrund traf ihn, wie die Wahrheit selbst. In einem jener Gedankenblitze, in dem alles Nachdenken plötzlich aufleuchtet, wie eine scharfe unumstößliche, zusammenfassende und unwiderstehliche Wahrheit, kam ihm die Überzeugung, die Sicherheit, daß er nicht der Vater dieses elenden Dirnenkindes sei, das sie unter dem Herzen trug. Und erleichtert, befreit, plötzlich beruhigt, dachte er nicht mehr daran, dieses infame Geschöpf zu mißhandeln.
Er sagte mit ruhiger Stimme:
– Steh auf, mach daß Du hinaus kommst und daß ich Dich nie wiedersehe.
Besiegt gehorchte sie und ging.
Er sah sie nie wieder.
Und auch er ging. Er reiste nach dem Süden, der Sonne entgegen und blieb zufällig in einem Thälchen am Strand des Mittelländischen Meeres. Ein Wirtshaus gefiel ihm, das den Blick auf die See hatte, dort nahm er ein Zimmer und blieb, blieb anderthalb Jahr dort wohnen in Verzweiflung, Kummer, in völliger Einsamkeit. Er wohnte dort mit dem verzehrenden Angedenken an die verräterische Frau, an ihren Reiz und ihre unwiderstehlichen Verführungskünste, und mit Schmerzen immer an ihre Gegenwart und ihre Liebkosung denkend.
Er irrte durch die Thäler der Provence, unter den grauen Blättern der Olivenbäume, durch die die Sonne schien, hin, wie von einem Gespenst verfolgt.
Aber seine einstigen frommen Gedanken, die ersten Glaubenskräfte, die nachgelassen hatten inzwischen, kamen nun wieder langsam ihm in dieser schmerzlichen Einsamkeit zu Sinnen. Die Religion, die ihm früher wie eine Weltflucht vor dem unbekannten Leben erschienen war, erschien ihm jetzt wie ein Schutz gegen das quälende, betrügerische Dasein. Er betete noch immer wie früher, und er legte all seinen Kummer in sein Gebet. Und oft kniete er in der dämmerigen Kirche, in der nur im Dunkel des Chors die ewige Lampe leuchtete, die heilige Wärterin des Tempels, das Symbol der Anwesenheit Gottes.
Diesem Gott, seinem Gott, vertraute er sein Leid an, klagte ihm all sein Unglück. Er bat ihn um Rat, Mitleid, Hilfe, Schutz, Trost, und in sein immer innigeres Gebet legte er immer tiefere Inbrunst hinein.
Sein gequältes Herz, das durch Weibesliebe gepeinigt worden, blieb wie eine offene Wunde, zitternd, immer liebebedürftig. Und allmählich durch Gebet, indem er – ein Einsiedler – in immer größerer Frömmigkeit lebte und sich jenem geheimen Verkehr gläubiger Seelen mit dem tröstenden Gott, der die Elenden über die Erde erhebt, verband, wuchs in ihm die mystische Liebe zu Gott und ward Herr über die andere.
Da kam er auf seine ersten Absichten zurück und beschloß der Kirche sein vernichtetes Leben, das er ihr hätte jungfräulich geben sollen, zu weihen.
Er wurde Priester. Durch seine Familie, durch seine Verbindungen gelang es ihm, hier in diesem provençalischen Dorf, wohin ihn der Zufall geführt, Pfarrer zu werden. Und nachdem er einen großen Teil seines Vermögens milden Stiftungen überwiesen und nur das behalten hatte, was ihn befähigte, bis zu seinem Tode den Armen zu helfen und zu nützen, floh er in das ruhige Dasein des Dienstes Gottes und seiner Nächsten.
Er wurde ein Priester mit engem Gesichtskreis, aber ein guter Mensch, eine Art religiöser Bannerträger, mit dem Temperament des Soldaten, ein Kirchenmann, der gewaltsam auf dem geraden Weg führte die Irrenden, Blinden in jenem Wald des Lebens, in dem alle unsere Instinkte, unsere Liebhabereien, unsere Wünsche nur Nebenpfade sind, auf denen wir uns verirren. Aber in ihm blieb doch viel von dem, was er früher gewesen. Er liebte noch immer körperliche Übungen, vornehmen Sport und Waffen, und er haßte die Frauen alle mit der Furcht eines Kindes vor einer mysteriösen Gefahr.
II
Der Matrose, der dem Priester folgte, fühlte das echt südliche Bedürfnis zu schwatzen. Er wagte es zuerst nicht, denn der Abbé übte auf die ihm anvertraute Herde große Gewalt. Endlich faßte er sich ein Herz:
– Nu, Herr Pfarrer, Sie fühlen sich also wohl in Ihrem Landhäuschen?
Das Landhäuschen war eine jener winzigen Behausungen, in die die Leute aus Stadt oder Dorf in der Provence sich im Sommer zurückziehen, um frische Luft zu genießen. Der Abbé hatte das Häuschen gemietet, das auf freiem Felde, fünf Minuten vom Pfarrhaus entfernt, lag. Der Pfarrhof war zu klein und mitten in der Gemeinde eng an der Kirche angebaut.
Dieses Landhaus bewohnte er nicht regelmäßig, nicht einmal im Sommer, nur ab und zu ging er ein paar Tage dorthin, um im Freien und Grünen zu leben und Pistole zu schießen.
– Ja, lieber Freund, – sagte der Priester, – ich befinde mich dort sehr wohl.
Das niedrige Haus kam in Sicht, mitten zwischen Bäumen, rosa bemalt, für das Auge in einzelne Stücke geschnitten, durch die Zweige und Blätter der Olivenbäume, mit denen ein nicht eingehegtes Feld beflanzt war, aus denen es herauswuchs wie ein großer Champignon in der Provence.
Jetzt gewahrte man eine große Frau, die vor der Thür hin- und herging, einen kleinen Tisch zum Essen deckte, auf den sie jedesmal wenn sie aus dem Haus kam, mit Langsamkeit Messer und Gabel, einen Teller, eine Serviette, ein Stück Brot und ein Glas setzte. Sie trug das kleine Häubchen der Frauen von Arles, ein spitzes Ding aus schwarzem Samt, auf dem etwas wie ein weißer Pilz saß.
Als der Abbé in Hörweite gekommen war, rief er:
– Nun Margarete!
Sie blieb stehen, blickte hin, erkannte ihren Herrn und antwortete:
– Ach nee. Sie sind’s Herr Pfarrer!
– Ja. Ich bringe schöne Fische mit. Sie müssen mir gleich mal einen Barsch auf den Rost thun. Ein Barsch, – nur in Butter, hören Sie?
Die Dienerin kam den beiden Männern entgegen und betrachtete mit Kenneraugen die Fische, die der Matrose trug.
– Wir haben aber schon Huhn mit Reis! – sagte sie.
– Das schadet nichts. Morgen schmeckt der Fisch nicht wie heute, heute muß ich mal schlemmen. Das passiert mir nicht allzu häufig, und dann ist’s auch keine große Sünde.
Die Frau suchte einen Wolfsbarsch aus, und als sie fortging und den Fisch mitnahm, drehte sie sich noch einmal um:
– Es ist auch schon drei Mal ein Mann dagewesen, der Sie sprechen wollte.
Er fragte gleichgültig:
– Ein Mann? Was für eine Art Mann?– Nu, einer der nicht sehr vertrauenswürdig aussieht.
– Also ein Bettler?
– Vielleicht, ich weiß nicht. Ich glaube eher ein Landstreicher.
Der Abbé Vilbois begann zu lachen, denn er kannte die ängstliche Natur Margaretens, die nie in dem Landhäuschen wohnen konnte, ohne sich den ganzen Tag hindurch und hauptsächlich nachts einzubilden, daß sie ermordet werden würden.
Er gab dem Seemann ein paar Kupfermünzen und sagte, da er alle seine früheren Gentlemansgewohnheiten beibehalten: – Ich werde mir noch etwas das Gesicht und die Hände waschen.
Margarete rief aus der Küche, während sie mit einem Messer den Rücken der Barsche schabte, deren etwas blutbefleckte Schuppen wie Goldstücke heruntergingen:
– Da ist er.
Der Abbé sah nach der Straße hinaus und gewahrte in der That einen Mann, der ihm von weitem schlecht gekleidet schien und der sich jetzt mit raschen Schritten dem Haus näherte.
Er erwartete ihn, immer noch lächelnd über die Furcht seiner Dienerin, und dachte: Na, der sieht allerdings wie ein Landstreicher aus.
Der Unbekannte näherte sich, die Hände in den Taschen, den Priester anblickend, ohne sich weiter zu beeilen, Er war jung und trug einen blonden Vollbart. Unter einem weichen Filzhut quollen Locken hervor; der Hut war so schmutzig und formlos, daß niemand Farbe oder Gestalt hätte erraten können.
Der Mann war mit einem langen, braunen Überzieher bekleidet, unter dem eine ausgefranzte Hose hervorschaute. An den Füßen trug er Ginsterschuhe, und das gab ihm einen schleichenden, lautlosen, beunruhigenden Gang, wie ihn die Stromer haben.
Als er ein paar Schritte vom Geistlichen stand, nahm er den Filz ab, den er auf dem Kopf trug, grüßte etwas theatralisch, so daß man einen ein wenig verlebten hübschen Kopf sah, der oben kahl war, das Zeichen von großen Strapazen oder übermäßigen Ausschweifungen, denn der Mensch war sicher nicht älter als fünfundzwanzig Jahre.
Sofort grüßte auch der Priester. Er ahnte und fühlte, daß es nicht ein gewöhnlicher Bummler sei, ein Arbeiter ohne Arbeit oder ein entlassener Sträfling, der zwischen zwei Strafzeiten herumirrt und kaum eine andere Sprache versteht, als den geheimnisvollen Jargon des Bagnos.
– Guten Tag, Herr Pfarrer! – sagte der Mann. Der Pfarrer antwortete einfach:
– Grüß Gott!
Er wollte diesen verdächtig zerlumpten Kerl nicht »Herr« nennen. Sie sahen sich gerade in die Augen, und Abbé Vilbois fühlte sich beim Blick dieses Landstreichers etwas verlegen, bewegt, wie angesichts eines unbekannten Feindes. Eines jener seltsamen Gefühle von Beunruhigung, die einem in einem Schauer über den Leib gehen und ins Blut zu treten scheinen, überlief ihn.
Endlich sagte der Bummler:
– Na, kennen Sie mich wieder?
Der Priester antwortete sehr erstaunt:
– Nein, nicht im geringsten. Ich kenne Sie nicht.
– Ach, Sie kennen mich nicht! Sehen Sie mich mal genau an.
– Ich kann Sie genau ansehen, ich habe Sie nie gesehen.
– Das ist richtig, – sagte der andere ironisch. – Aber ich will Ihnen mal jemand zeigen, den Sie besser kennen.
Er setzte den Hut wieder auf, knöpfte den Überzieher auf. Er hatte keinen Rock darunter, ein roter Gürtel, der um seinen mageren Leib geschlungen war, hielt die Hose auf den Hüften.
Er nahm einen Briefumschlag aus der Tasche, eines jener unwahrscheinlichen Couverts, das marmoriert ist von allen möglichen Flecken, einen jener Umschläge, worin Bummler und Landstreicher im Rock irgend welche falschen, gestohlenen oder eigenen Papiere tragen als unentbehrliche Verteidigungsmittel ihrer Freiheit gegenüber dem Landgendarm. Dem entnahm er eine Photographie, groß wie ein Brief, wie sie früher angefertigt wurden, vergilbt, verbraucht, lange Zeit überall mit herumgeschleppt, am warmen Leib dieses Mannes getragen und durch die Ausdünstung verblichen.
Er hob die Photographie in Augenhöhe und fragte:
– Den da kennen Sie doch?
Der Abbé trat zwei Schritte näher und blieb, bleich geworden, verstört stehen, denn es war sein Bild, einst in der fernen Zeit seiner Liebe für sie eigens angefertigt.
Er antwortete nichts, er begriff nicht.
Der Landstreicher sagte noch einmal:
– Kennen Sie’s nicht, das da?
Der Priester stammelte:
– Ja, gewiß.
– Wer ist das?
– Das bin ich.
– Nichtwahr, Sie.
– Gewiß.
– Nun sehen Sie mal uns beide an, Ihr Bild und mich.
Er hatte schon den elenden Kerl angeblickt, hatte gesehen, daß diese beiden Wesen, der auf dem Bild und der daneben lächelnd stand, sich ähnelten wie zwei Brüder. Aber er begriff noch immer nicht und stammelte:
– Na also, was wollen Sie denn von mir?
Da sagte der Bummler in unverschämtem Ton:
– Was ich will? Nun Sie sollen mich erst mal erkennen.
– Wer sind Sie denn?
– Wer ich bin? Fragen Sie das irgend jemand auf der Straße, fragen Sie es doch Ihre Köchin, oder wir wollen den Bürgermeister im Ort fragen; wenn Sie wollen, zeigen wir ihm das Bild. Das kann ich Ihnen sagen, die werden lachen. Sie wollen wohl nicht anerkennen, daß ich Ihr Sohn bin, Vater Pfarrer?
Da hob der alte Mann wie mit biblischer Verzweiflungsgebärde die Hände und stöhnte:
– Das ist nicht wahr!
Der junge Mann näherte sich ihm, und sie standen einander gegenüber:
– Hohoh, das ist nicht wahr! Hohoh, Pfarrer, hier wird nicht gelogen, verstehen Sie.
Er machte eine drohende Miene, ballte die Fäuste und sprach mit so heftiger Überzeugung, daß der Priester, abermals ein paar Schritte zurückweichend, sich fragte, wer von ihnen beiden in diesem Moment irre.
Aber er bestätigte noch einmal:
– Ich habe kein Kind gehabt.
Der andere gab zurück:
– Und auch keine Geliebte etwa?
Der Alte antwortete entschlossen ein einziges Wort, ein stolzes Geständnis:
– Allerdings.
– Und war diese Geliebte nicht in anderen Umständen, als Sie sie vor die Thür setzten?
Plötzlich zerbrach die alte Wut, die fünfundzwanzig Jahre erstickt, und doch nicht ganz erstickt im Herzen des Liebhabers geschlummert, die Fesseln des Glaubens, der Resignation, der ergebenen Fügung in das Schicksal, der Weltflucht, und außer sich rief er:
– Ich habe sie vor die Thür gesetzt, weil sie mich betrogen hatte, und weil sie ein Kind von einem anderen hatte. Sonst hätte ich sie totgeschlagen, mein Herr, und Sie mit ihr.
Der junge Mann zögerte, nun seinerseits erstaunt durch den aufrichtigen Zorn des Pfarrers. Dann antwortete er leiser:
– Wer hat Ihnen denn gesagt, daß es das Kind eines anderen war?
– Sie, sie selbst!
Da schloß der Landstreicher, ohne diese Versicherung zu bestreiten, mit dem gleichgiltigen Ton eines Lumpen, der über etwas urteilt:
– Nun, da hat eben die Mutter sich getäuscht als sie Sie verhöhnte, weiter wird’s nichts sein.
Nach der ersten Wut wurde der Pfarrer wieder Herr seiner selbst und fragte nun:
– Und wer hat Ihnen gesagt, daß Sie mein Sohn wären?
– Sie, Herr Pfarrer, auf dem Sterbebette, und dann das hier. – Und er hielt ihm die kleine Photographie unter die Augen.
Der alte Mann nahm sie und verglich langsam und lange, das Herz zusammengekrampft vor Kummer, diesen unbekannten Menschen hier mit seinem Bild von einst. Da zweifelte er nicht mehr daran: es war sein Sohn.
Unendliche Traurigkeit sank über seine Seele, eine unaussprechliche Bewegung, fürchterlich, wie Gewissensbisse über ein einstiges Verbrechen. Er begriff einiges und erriet den Rest. Er sah die brutale Trennungsscene wieder vor Augen. Um ihr Leben zu retten, das durch den zum Äußersten gebrachten Mann bedroht worden, hatte das niederträchtige, treulose Frauenzimmer ihm die Lüge an den Kopf geworfen. Und die Lüge hatte gesessen. Ihm war ein Sohn geboren worden, er war herangewachsen, und aus ihm war dieser zerlumpte Landstreicher geworden, der das Laster an der Stirn trug wie der Bock die Hörner.
Er flüsterte:
– Kommen Sie ein Stück mit, wir wollen die Sache besprechen.
Das andere lachte laut auf:
– Zum Teufel nochmal, dazu bin ich ja hier.
Nebeneinander schritten sie durch das Olivenfeld. Die Sonne war verschwunden, die Abkühlung, die im Süden eintritt, wenn die Dämmerung niedersinkt, hüllte das Feld wie in einen unsichtbaren eisigen Mantel. Der Abbé zuckte zusammen, blickte plötzlich auf mit seinem gewohnten priesterlichen Augenaufschlag rings auf das zitternde graue Blätterwerk des geheiligten Baumes, der einst mit seinem kargen Schatten den Herrn Jesus Christus in seinem größten Schmerz, zur bangsten Stunde seines Erdenwallens beschirmt.
Er stieß ein kurzes, verzweifeltes Stoßgebet aus, wie es der Gläubige nicht laut auf den Lippen trägt, sondern mit innerer Stimme zum Herrn sendet: – Mein Gott, mein Gott, hilf mir!
Dann wendete er sich zu seinem Sohn:
– Also Deine Mutter ist gestorben?
Als er die Worte sagte: »Deine Mutter ist gestorben,« erwachte neuer Kummer in ihm und zog ihm das Herz zusammen. Die seltsame körperliche Qual eines Mannes, der nie ganz vergessen hat, und ein grausames Echo der einstigen Leidenszeit durchzuckte ihn, vielleicht noch gewaltiger, schmerzlicher, weil sie tot war. Ein Nachzittern jenes sinnverwirrenden, kurzen Jugendglückes, von dem nichts mehr geblieben als die offene Wunde seiner Erinnerungen.
Der junge Mann sagte:
– Ja, Herr Pfarrer, meine Mutter ist gestorben.
– Ist das lange her?
– Ja, schon drei Jahre.
Ein neuer Zweifel überkam den Priester:
– Und warum haben Sie mich nicht früher aufgesucht?
Der andere zögerte:
– Ich konnte nicht . . . ich war . . . verhindert. Aber darf ich die Beichte, die ich Ihnen später so genau, wie Sie es wünschen, ablegen werde, erst einmal unterbrechen, um zu sagen, daß ich seit gestern morgen nichts gegessen habe.
Tiefes Mitleid übermannte den Greis, und plötzlich streckte er ihm beide Hände entgegen mit den Worten:
– Mein armer Junge!
Der junge Mann ergriff die großen ausgestreckten Hände, die sich um seine schmalen, warmen, fiebrigen Finger legten.
Dann antwortete er in jenem spöttischen Ton, in dem er zu reden pflegte:
– Na, ich denke, wir werden uns schon verständigen.
Der Pfarrer ging weiter:
– Wir wollen essen, – sagte er. Und plötzlich dachte er mit instinktiver kleiner Freude, seltsam und kaum einzugestehen, an den schönen Fisch, den er gefangen, der außer dem Huhn mit Reis für den armen Jungen heute ein prächtiges Essen gäbe.
Die Arlesianerin wartete schon unruhig und brummig vor der Thür.
– Margarete, – rief der Pfarrer, – nehmen Sie den Tisch fort und decken Sie im Zimmer. Aber schnell, schnell. Zwei Teller, – recht schnell.
Die Dienerin blieb ganz verstört stehen im Gedanken daran, daß ihr Herr mit diesem Bummler essen wollte.
Da half der Abbé Vilbois selbst den für ihn gedeckten Tisch forttragen und in den einzigen Raum im Erdgeschoß bringen.
Fünf Minuten später saß er dem Landstreicher gegenüber vor einer Suppenterrine voll Kohlsuppe, die zwischen ihre beiden Gesichter eine Wolke kochenden Dampfes legte.
III
Als die Teller gefüllt waren, begann der Landstreicher eiligst seine Suppe auszulöffeln. Der Abbé hatte keinen Hunger und kostete bloß langsam die schöne Kohlsuppe, ließ aber das Brot auf dem Grunde des Tellers liegen.
Plötzlich fragte er:
– Wie heißen Sie?
Der Kerl begann zu lachen, glücklich, seinen Hunger stillen zu können, und sagte:
– Da der Vater unbekannt ist, so habe ich eben keinen anderen Familiennamen als den meiner Mutter bekommen, den Sie wahrscheinlich noch nicht vergessen haben. Dafür habe ich zwei Vornamen, die mir übrigens nebenbei gesagt nicht passen: Philipp August.
Der Abbé erbleichte und fragte mit gepreßter Stimme:
– Warum haben Sie diese beiden Namen erhalten?
Der Landstreicher zuckte die Achseln:
– Das können Sie doch wohl erraten. Nachdem Mama mit Ihnen auseinander war, hat sie Ihren Nebenbuhler glauben machen wollen, daß ich sein Kind sei. Und er hat es geglaubt, bis ich etwa fünfzehn Jahr alt war. Aber da wurde meine Ähnlichkeit mit Ihnen zu groß, und der Lump hat mich verleugnet. Man hatte mir also die beiden Vornamen Philipp August gegeben, und wenn ich das Glück gehabt hätte, niemandem ähnlich zu sehen, oder vielleicht der Sohn eines dritten Wilddiebs zu sein, der nicht wieder zum Vorschein gekommen wäre, hieße ich wahrscheinlich heute: Vicomte Philipp August de Pravallon, anerkannter Sohn des Senators und Grafen selbigen Namens. Ich selbst habe mich »Schlemihl« getauft.
– Woher wissen Sie das alles?
– Mein Gott, weil die Sachen vor mir auseinandergesetzt worden sind. Und in einer Art, sage ich Ihnen, na! Aber durch so was lernt man das Leben kennen.
Etwas, peinlicher und quälender als alles, was er seit einer halben Stunde gefühlt und erduldet, lastete auf dem Priester. Eine Art Erstickungsanfall überkam ihn, der immer stärker wurde und ihn zu töten drohte. Und das kam nicht so sehr durch die Dinge, die er da hörte, als durch die Art und Weise, wie sie gesagt wurden, und durch das Verbrechergesicht des Lumpen, das den Kommentar dazu lieferte. Zwischen diesem Mann und ihm, zwischen seinem Sohn und sich, fühlte er jetzt diesen Abgrund von moralischem Schmutz, der für manche Seelen tötliches Gift ist. Das sollte sein Sohn sein? Er konnte es nicht glauben. Er wollte erst alle Beweise haben, alle, alles wissen, alles hören, alles durchmachen und leiden. Er dachte wieder an die Olivenbäume, die sein kleines Haus umgaben, und flüsterte zum zweiten Mal: – Mein Gott, mein Gott, hilf mir!
Philipp August war mit seiner Suppe fertig und fragte:
– Nun, Pfarrer, giebt’s nicht mehr zu essen?
Da die Küche in einem Nebenflügel des Hauses lag und Margarete die Stimme des Pfarrers nicht hören konnte, pflegte er sie durch ein paar Schläge auf ein chinesisches Gong, das hinter ihm an der Mauer hing, zu rufen.
Er nahm also den Lederklöppel und schlug mehrere Male gegen die runde Metallscheibe. Zuerst klang ein leiser Ton, wuchs, wurde scharf, vibrierte, wurde spitz, gellend, ohrenzerreißend, die fürchterliche Klage des getroffenen Metalls.
Die Dienerin erschien. Sie hatte ein ganz verstörtes Gesicht und warf wütende Blicke auf den Landstreicher, als ob sie mit dem Instinkt eines treuen Hundes das Verhängnis fühlte, das über ihren Herrn hereinbrach. Sie hielt den gerösteten Wolfsbarsch in der Hand, von dem ein köstlicher Geruch von geschmolzener Butter aufstieg. Der Pfarrer teilte mit dem Löffel den Fisch von einem Ende zum anderen und bot dem Kind seiner Jugend das Rückenstück des Fisches an.
– Ich habe ihn vorhin gefangen, – sagte er mit einem Rest von Stolz, der noch in seine Traurigkeit hineinklang.
Margarete ging nicht fort.
Der Priester sagte:
– Bringen Sie mal Wein, guten Wein, den Weißwein vom Cap Corse.
Sie war fast empört, und er mußte mit energischem Ausdruck wiederholen:
– Vorwärts, zwei Flaschen!
Wenn er jemand, was selten geschah, Wein anbot, leistete er sich selbst auch immer eine Flasche.
Philipp August brummte strahlend:
– Verflucht nochmal! Das ist eine famose Idee! So gut habe ich lange nicht gegessen.
Die Dienerin kam nach zwei Minuten wieder, die dem Pfarrer lang vorkamen wie zwei Ewigkeiten, denn jetzt quälte ihn der Wunsch, alles zu erfahren, wie höllisches Feuer.
Die Flaschen waren entkorkt. Aber das Mädchen blieb stehen, die Augen auf den Kerl geheftet.
– Es ist gut! – sagte der Pfarrer.
Sie that, als hätte sie es nicht gehört.
Er sagte noch einmal fast hart:
– Ich hab Ihnen gesagt. Sie sollen uns allein lassen.
Da ging sie.
Philipp August schlang den Fisch hinunter wie ein Raubtier, und sein Vater sah ihn immer überraschter, immer trauriger an über all das Gemeine und Niedrige, das er in diesem Antlitz las, das ihm doch so ähnlich sah.
Die kleinen Bissen, die der Pfarrer Vilbois an die Lippen führte, blieben ihm im Munde stecken, sein zusammengepreßter Schlund ließ sie nicht hinab. Er kaute lange und suchte unter all den Fragen, die ihn jetzt bedrängten, die aus, deren Beantwortung er am sehnlichsten wünschte.
Endlich flüsterte er:
– Woran ist sie gestorben?
– Sie war brustkrank.
– Ist sie lange krank gewesen?
– Ja, anderthalb Jahr.
– Woher kam denn das?
– Das wußten wir nicht.
Sie schwiegen. Der Pfarrer dachte nach. So viel Dinge bedrückten ihn, die er wissen wollte. Denn seit dem Tage ihres Bruches, seit dem Tage, wo er sie beinah getötet hätte, hatte er nie wieder etwas von ihr gehört. Allerdings wollte er auch nichts hören, denn mit Entschlossenheit hatte er sie und die Tage seines Glückes in das Meer der Vergessenheit versenkt. Aber nun fühlte er plötzlich, nun, wo sie tot war, ein quälendes Bedürfnis, alles zu erfahren, einen eifersüchtigen Wunsch fast wie den eines Liebhabers.
Er fragte von neuem:
– Sie war nicht allein, nicht wahr?
– Nein. Sie lebte immer mit ihm zusammen.
Der Greis zitterte:
– Mit ihm, mit Pravallon?
– Ja, natürlich.
Und der einst verratene Mann überdachte es, daß diese selbe Frau, die ihn einst betrogen hatte, mehr als zwanzig Jahre mit seinem Nebenbuhler gelebt hatte.
Fast gegen seinen Wunsch fragte er:
– Waren sie glücklich zusammen?
Grinsend antwortete der junge Mann:
– Na, manchmal mehr, manchmal weniger. Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre es ganz gut gegangen. Ich war immer der Störenfried.
– Wieso denn? Warum? – fragte der Priester.
– Das habe ich Ihnen schon erzählt. Weil er glaubte, ich sei sein Sohn, bis ich etwa fünfzehn Jahr alt war. Aber der Alte war nicht dumm, er hat die Ähnlichkeit ganz allein herausgekriegt. Da gab’s Scenen! Ich habe an der Thür gehorcht. Er behauptete, Mama hätte ihn ‘reingelegt. Mama antwortete: Da kann ich doch nichts dafür; als Du mich nahmst, hast Du doch genau gewußt, daß ich mit dem anderen ein Verhältnis hatte. Und der andere, das waren Sie.
– Sprach sie denn manchmal von mir?
– Ja. Aber sie haben Sie niemals in meiner Gegenwart erwähnt; außer ganz am Ende, in den letzten Tagen, als Mama wußte, daß es aus war. Aber sie trauten doch dem Frieden nicht.
– Und Sie, haben Sie denn schon früh gemerkt, daß mit Ihrer Mutter nicht alles in Ordnung war?
– Na, mein Gott, ich bin nicht so naiv gewesen. Hören Sie mal, das war ich nie. So was riecht man gleich, wenn man nur ein bißchen die Menschen kennen lernt.
Philipp August goß sich unausgesetzt ein. Seine Augen leuchteten, das lange Fasten machte ihn schnell trunken.
Der Priester merkte es. Er wollte ihn hindern zu trinken, dann kam ihm der Gedanke, daß die Trunkenheit unvorsichtig macht und schwatzhaft. Er nahm die Flasche und goß dem jungen Mann von neuem ein.
Margarete brachte das Huhn mit Reis. Sie stellte es auf den Tisch und betrachtete wieder den Landstreicher. Dann sagte sie empört zu ihrem Herrn:
– Aber sehen Sie doch, Herr Pfarrer, er ist ja betrunken.
– Lassen Sie uns in Ruhe, – antwortete der Priester, – und machen Sie, daß Sie fortkommen.
Sie ging hinaus und schlug die Thür zu.
Er fragte: – Was hat Ihre Mutter über mich gesagt?
– Na, was man gewöhnlich über einen Mann sagt, der einen sitzen läßt. Sie wären nicht gerade sehr bequem gewesen, sogar oft sehr unangenehm für eine Frau. Sie hätten ihr das Leben bei Ihrer Denkungsweise verflucht sauer gemacht.
– Hat sie das oft gesagt?
– Ja, manchmal. So unter der Blume, damit ich’s nicht verstehen sollte, aber ich verstand doch alles.
– Und wie hat man Sie in dem Haus behandelt?
– Mich? Zuerst sehr gut und dann sehr schlecht. Als Mama merkte, daß ich ihr die Stellung verdarb, hat sie mich ‘rausgeschmissen.
– Wieso denn?
– Wieso? Sehr einfach. Als ich so was sechzehn Jahr alt war, habe ich ein paar dumme Streiche gemacht. Da hat die Bande mich in eine Besserungsanstalt gesteckt, um mich los zu werden.
Er stemmte die Ellbogen auf den Tisch, stützte die Wangen in beide Hände, und nun, ganz trunken, den Sinn vom Wein entzündet, packte ihn plötzlich jenes unwiderstehliche Bedürfnis, von sich selbst zu reden, das den Trunkenen dazu bringt zu renommieren.
Er lächelte niedlich, mit fast weiblichem Liebreiz, einem verdorbenen Liebreiz, den der Priester wiedererkannte. Er erkannte ihn nicht nur, sondern er fühlte diese schmeichelnde Anmut, die ihm einst das Herz bezwungen und sein Unglück geworden. In diesem Augenblick sah das Kind der Mutter am meisten ähnlich, nicht durch die Gesichtszüge, sondern durch den falschen verführerischen Blick und vor allem durch das Gewinnende des lügnerischen Lächelns, das den Mund allen Gemeinheiten des Innern zu öffnen schien.
Philipp August erzählte:
– Hoho! Hoho! Ich habe ein Leben geführt, seitdem ich in der Besserungsanstalt war. Ein komisches Leben! Wenn ich das erzählen wollte, gäbe ein Romanschreiber Gott weiß was dafür! Es ist wirklich wahr, Dumas Vater hat in seinem Monte Christo nichts Besseres erfunden, als was mir passiert ist.
Er schwieg mit der philosophischen Würde eines Trunkenen, der nachdenkt, und dann sagte er langsam:
– Wenn man will, daß aus einem Jungen was wird, sollte man ihn, er mag ausgefressen haben, was er will, nie in eine Besserungsanstalt schicken wegen der Bekanntschaften, die er dort macht. Ich hatte eine großartige Bekanntschaft gemacht. Aber die Geschichte ging schief. Als ich mich eines Abends mit drei Kameraden herumtrieb, wir waren alle vier ein bißchen angeraucht, ‘s war so gegen neune, auf der großen Chaussee, kommt uns ein Wagen entgegen, worin alles schlief, der, der fuhr, und seine Familie auch. Es waren Leute aus Martinon, die in der Stadt gegessen hatten. Da nehm ich das Pferd beim Zügel, laß es auf die Fähre gehen und stoße die Fähre mitten in den Strom. Bei dem Lärm wacht der Kerl, der gefahren hat, auf, sieht nichts, haut auf seinen Gaul los, das Pferd geht durch und springt mit dem Wagen ins Wasser. Alle ersoffen. Die Kameraden haben mich angezeigt. Zuerst lachten sie riesig, als sie das Unglück sahen. Wir hatten weiß Gott nicht gedacht, daß die Sache schief gehen würde, wir dachten nur, die Leute würden ein Bad nehmen, daß man sich mal tüchtig ausfeixen könnte. Na, seitdem habe ich noch bessere Dinge formiert, um mich zu rächen wegen der ersten Geschichte, die wirklich die Strafe nicht wert war, auf mein Wort. Aber das lohnt sich gar nicht zu erzählen. Ich will Ihnen nur mal die letzte Geschichte erzählen, die wird Ihnen Spaß machen, das glaube ich sicher. Ich habe Sie nämlich gerächt, Papa!
Der Priester sah seinen Sohn mit entsetztem Blick an, und der Bissen quoll ihm im Munde.
Philipp August begann wieder zu sprechen.
– Nein, – sagte der Priester, – jetzt nicht, später.
Er wendete sich um, schlug gegen das Gong, daß es dröhnte.
Margarete erschien sofort.
Und ihr Herr befahl mit so rauher Stimme, daß sie erschrocken gehorchend den Kopf senkte:
– Bringen Sie uns die Lampe, und alles, was wir noch bekommen, setzen Sie auf den Tisch. Und dann kommen Sie nicht wieder, bis ich nicht auf das Gong schlage.
Sie ging hinaus, kam zurück und stellte eine Lampe aus weißem Porzellan mit grüner Glocke auf den Tisch, dann ein großes Stück Käse und Früchte. Darauf entfernte sie sich.
Und der Abbé sagte entschlossen:
– So, nun höre ich zu.
Philipp August füllte ruhig seinen Teller und sein Glas. Die zweite Flasche war fast leer, obgleich der Pfarrer nichts angerührt.
Der junge Mann fuhr stotternd, den Mund voll Essen, in seiner Trunkenheit fort:
– Die letzte Geschichte, die ist so. Das ist aber eine verfluchte Sache. Ich war nach Haus gekommen und blieb, obgleich sie ‘s nicht haben wollten, weil sie Angst vor mir hatten . . . Angst vor mir . . Man muß mich nicht ärgern, wenn man mich ärgert, bin ich zu allem fähig, verstehen Sie. Sie lebten zusammen und doch nicht zusammen. Er hatte zwei Wohnungen, eine als Senator und eine als Liebhaber. Aber er lebte mehr bei Mama, als bei sich, denn er konnte ohne sie nicht mehr sein. O Mama, die war aber gerissen, verflucht nochmal! Die hat den Kerl hochgenommen. Sie hatte ihn gepackt bei Leib und Seele und bis zum letzten Augenblick behalten. Nee, sind die Männer dumm. Na, ich war also heimgekehrt und hatte sie eingeschüchtert durch die Furcht. Wenn’s sein muß, bin ich ein heller Kopp. Und an Bosheit und mit den Fäusten nehme ich’s mit jedem auf. Da wurde Mama krank, und er brachte sie auf eine hübsche Besitzung bei Meulan, mitten in einen großen Park, wie ein Wald so groß. Das hat anderthalb Jahr gedauert, wie ich Ihnen schon erzählte. Dann fühlten wir, daß es zu Ende ging. Er kam täglich von Paris, und er war traurig, wirklich traurig.
Da hatten sie eines Morgens beinah eine Stunde zusammen geschwatzt, und ich fragte mich, worüber sie nur so lange kolken könnten. Da endlich riefen sie mich, und Mama sagte zu mir:
– Ich werde bald sterben, und ich möchte Dir, obgleich der Graf dagegen ist, etwas mitteilen. (Sie nannte ihn immer den Grafen, wenn sie von ihm sprach.) Ich will Dir den Namen Deines Vaters nennen. Er ist noch am Leben.
Ich hatte sie gewiß mindestens hundertmal, mehr wie hundertmal, nach den Namen meines Vaters gefragt, und sie hatte sich immer geweigert, ihn zu nennen. Ich glaube, ich habe ihr sogar ein paar ‘runtergehauen, damit sie reden sollte, aber es half nichts. Und dann hat sie mir gesagt, um mich los zu werden, Sie wären gestorben und hätten nicht einen Groschen hinterlassen. Mit Ihnen wäre nichts los. Sie wären ein Jugendirrtum von ihr, so eine Mädchenliebe. Und sie hat mirs so vorgesohlt, daß ich wirklich drauf ‘reingefallen bin, daß Sie tot wären.
Sie sagte also zu mir: – Ich will Dir den Namen Deines Vaters nennen.
Der andere, der in einem Lehnstuhl saß, rief drei Mal: – Das ist nicht recht! Das ist nicht recht, Röschen!
Mama setzte sich im Bett auf – ich sehe sie noch mit ihren roten Backen und den glänzenden Augen – denn sie hatte mich trotz alledem lieb – und sagte zu ihm: – Dann thu etwas für ihn, Philipp.
Wenn sie mit ihm sprach, nannte sie ihn Philipp und mich August.
Er brüllte wie ein Gefolterter:
– Für das Mistvieh da – nie, für den Thunichtgut, dieses Gefängnisfrüchtchen?
Und er fand Namen für mich, als ob er sein ganzes Leben bloß danach geforscht hätte.
Ich wollte bös werden, aber Mama beruhigte mich und sagte zu ihm:
– Du willst also, daß er Hungers sterben soll? Ich habe doch nichts.
Er meinte, ohne sich zu bedenken:
– Röschen, ich habe Dir seit dreißig Jahren jährlich fünfunddreißigtausend Franken gegeben, das macht mehr als eine Million. Durch mich hast Du wie eine reiche Frau, eine geliebte Frau und, ich wage es zu sagen, eine glückliche Frau gelebt. Diesem Lump, der uns unsere letzten Jahre verbittert hat, bin ich nichts schuldig, und er bekommt nichts von mir. Du brauchst kein Wort zu verlieren. Nenne ihm seinen Vater, wenn Du willst. Ich würde das bedauern, aber ich wasche meine Hände in Unschuld.
Da wendete sich Mama zu mir, und ich sagte mir: »Gut, ich werde also meinen richtigen Vater finden, und wenn der Kerl Kröten hat, bin ich fein ‘raus.«
Sie fuhr fort:
– Dein Vater, Baron Vilbois, heißt heute Pfarrer Vilbois und ist Pfarrer in Garandou bei Toulon. Er war mein Liebhaber, und ich habe ihn dieses Mannes wegen verlassen. – Und nun hat sie mir alles erzählt, nur nicht, daß sie Sie ‘reingelegt hat wegen ihrer Schwangerschaft. Aber wissen Sie, die Weiber sagen eben nie die Wahrheit.
Er nahm sich nicht mehr zusammen und grinste, indem er rücksichtslos all seinen Unrat von sich gab. Dann trank er wieder mit immer lächelnden Gesicht und fuhr fort:
– Mama starb zwei Tage später. Wir, er und ich, sind ihrem Sarg zum Kirchhof gefolgt. Ist das nicht verrückt? Nun sagen Sie mal. Er und ich und drei Bedienstete, das war alles. Er heulte wie eine alte Kuh. Wir stolperten nebeneinander wie Vater und Sohn.
Dann kamen wir nach Haus, wir beide allein, und ich sagte mir: »Na ich muß mich nun drücken und habe keinen Dreier.« Fünfzig Franken hatte ich gerade noch. Was konnte ich jetzt anstellen, um mich zu rächen.
Er legte mir die Hand auf den Arm und sagte:
– Ich muß mit Dir sprechen.
Ich folgte ihm in sein Zimmer. Er setzte sich an den Tisch und meinte, indem er seine Thränen herunterschluckte, daß er gegen mich nicht so böse sein wollte, wie er es Mama gesagt und bat mich, ich sollte Sie in Ruhe lassen. Das ist nun unsere Sache. Und er bietet mir einen Tausendfrancsschein an, tausend, was soll ich denn mit tausend Francs anfangen, ich, ein Mann wie ich. Ich sah, daß noch andere im Fach lagen, ein ganzer Haufen. Und der Anblick von den Lappen machte mir Lust, gleich zuzufassen. Ich streckte die Hand aus nach dem Lappen, den er mir geben wollte. Aber statt sein Almosen zu nehmen, springe ich auf den Kerl, schmeiße ihn zu Boden, drücke ihm die Kehle zu, bis er halb tot ist. Als ich sah, daß er krepieren mußte, kneble ich ihn, binde ihn, ziehe ihm die Kleider runter, dreh ihn um und dann ha, ha, ha . . . . . . . . Ich habe Sie eklig gerächt.
Philipp August hustete, so überkam ihn das Lachen. Und immer fand um seinen Mund, um den ein wilder lächelnder Ausdruck gegraben lag, Abbé Vilbois das frühere Lächeln der Frau wieder, die ihm einst den Verstand geraubt.
Dann fuhr er fort:
– Ha, ha, ha! Im Kamin brannte helles Feuer – es war im Dezember tüchtige Kälte als sie starb, die Mama, – großes Kohlenfeuer. Da nahm ich einen Feuerhaken, machte ihn rotglühend und dann habe ich ihm auf den Rücken Kreuze eingebrannt, acht, zehn, ich weiß nicht wie viel. Dann habe ich ihn ‘rumgedreht und ebensoviel auf die andere Seite. Ist das nicht verrückt? Was, Papa? So zeichnete man früher die Galeerensträflinge. Er wand sich wie ein Aal. Aber ich hatte ihn gut geknebelt, schreien konnte er nicht. Dann nahm ich die Bankscheine, zwölf, und meinen dazu, dreizehn. Aber das hat mir Unglück gebracht. Und dann bin ich fortgegangen, nachdem ich der Dienerschaft noch gesagt hatte, sie sollten den Herrn Grafen allein lassen, weil er schliefe.
Ich glaubte, er würde nichts sagen, aus Furcht vor dem Skandal, weil er doch Senator ist. Aber ich hatte mich geirrt. Vier Tage später nahmen sie mich in einem Restaurant in Paris fest. Ich bekam drei Jahre Gefängnis. Deshalb konnte ich Sie nicht früher aufsuchen.
Er trank wieder und stotterte, daß er kaum mehr die Worte herausbrachte;
– Nun Papa, Papa Pfarrer. Ist doch furchtbar komisch, einen Pfarrer zum Vater zu haben. Haha! Ich muß verflucht nett mit dem Alterchen sein, denn das ist kein gewöhnliches Alterchen, weil er auch was fertig gekriegt hat, nichtwahr, der Alte.
Dieselbe Wut, die den Abbé Vilbois einst angesichts der Geliebten, die ihn verraten, gepackt, überkam ihn jetzt angesichts dieses elenden Schuftes.
Er, der im Namen Gottes so viel verziehen hatte, die niedrigsten Geheimnisse, die ihm unter dem Siegel der Beichte zugeflüstert worden, fühlte sich jetzt ohne Mitleid, ohne Duldsamkeit in eigener Sache und rief nicht mehr den helfenden, den barmherzigen Gott zu seiner Rettung an, denn er begriff, daß kein göttlicher oder menschlicher Schutz auf dieser Erde denen helfen kann, denen ein solches Unglück wiederfährt.
Der ganze Zorn seines leidenschaftlichen Herzens und seines leicht erregten Blutes, das durch die Priesterwürde nur gedämpft ward, entzündete sich in einem unwiderstehlichen Wutausbruch gegen diesen Schurken, der sein Sohn war, gegen diese Ähnlichkeit mit ihm und mit der Mutter, mit der jammervollen Mutter, die ihm ihre Züge verliehen, und gegen das unglückliche Schicksal, das diesen Lumpen an sein Vaterherz fesselte, wie die Kugel an den Galeerensklaven.
Er sah alles vor sich, mit einer plötzlichen Klarheit, durch diesen Anprall aus seiner fünfundzwanzigjährigen frommen Beschaulichkeit und Ruhe jäh herausgerissen.
Er begriff plötzlich, daß er alle Kraft zusammennehmen mußte, um diesen Missethäter mit dem ersten Wort in Furcht zu setzen. Und er sagte ihm, in der Wut die Zähne aufeinander gepreßt und nicht mehr daran denkend, daß der andere trunken war:
– Nun, nachdem Du mir alles erzählt hast, höre mich an. Du wirst Dich morgen früh fortmachen, in eine Gegend, die ich Dir bezeichne und die Du nie verlassen darfst ohne meine Erlaubnis. Ich werde Dir eine Summe zahlen, die Dir zum Leben genügt, eine kleine, denn ich habe kein Geld. Und wenn Du ein einziges Mal nicht gehorchst, ist’s aus, und dann bekommst Du es mit mir zu thun.
Trotz seiner Trunkenkeit verstand Philipp August die Drohung, und der Verbrecher, der in ihm schlummerte, erwachte plötzlich. In abgerissenen Sätzen stammelte er die Worte:
– O Papa, damit fängst Du mich nicht. Du bist Pfarrer. Ich habe Dich in meiner Gewalt, und Du wirst schon ganz kusch werden wie die anderen.
Der Pfarrer sprang auf. Und in seinem einst herkulischen Körper zucke eine unwiderstehliche Lust auf, dieses Monstrum zu packen, es zu zerbrechen wie einen Stecken, ihm zu zeigen, daß er zu gehorchen hatte.
Er brüllte ihn an, indem er den Tisch packte und ihn gegen den andern schleuderte:
– Nimm Dich in Acht! Nimm Dich in Acht! Ich fürchte mich vor keinem Menschen.
Der Trunkene verlor das Gleichgewicht und kippte mit dem Stuhl. Er fühlte, daß er fallen würde und daß er in der Gewalt des Priesters war. Und mit dem Blicke eines Mörders streckte er die Hand aus nach einem Messer, das auf dem Tischtuch lag. Der Pfarrer Vilbois sah die Bewegung und gab dem Tisch einen Stoß, daß sein Sohn auf den Rücken fiel und am Boden liegen blieb. Die Lampe stürzte mit und erlosch.
Ein paar Augenblicke klang daß Klirren von zerbrochenen Gläsern in der Dunkelheit. Dann war es, als rollte ein weicher Körper auf dem Boden hin. Endlich war alles still.
Durch das Zerbrechen der Lampe waren sie so plötzlich in Dunkelheit gehüllt, so unerwartet und so tief, daß sie erschraken, als wäre etwas Fürchterliches passiert. Der Trunkene lag an der Wand und bewegte sich nicht. Der Priester blieb auf dem Stuhl sitzen in der Finsternis, die seinen Zorn verlöschte. Und dieser dunkle Schleier, der über ihn gebreitet lag, hemmte auch seine Wut, lähmte den Zornausbruch seiner Seele. Andere Gedanken kamen ihm, schwarz und traurig wie das Dunkel.
Es wurde still wie in einem geschlossenen Grabe, in dem nichts mehr zu atmen und zu leben schien. Auch von draußen kam kein Laut, kein Wagenrollen in der Ferne, kein Hundegebell, nicht einmal ein Rauschen in den Zweigen beim leisen Windhauch.
Das dauerte lange so, sehr lange, vielleicht eine Stunde. Dann klang plötzlich das Gong, klang von einem einzigen, kurzen, starken Schlag und ihm folgte ein seltsames Getöse wie ein schwerer Fall und das Umstürzen eines Stuhles. Margarete, die auf der Lauer gelegen, stürzte herbei. Aber sobald sie die Thür geöffnet hatte, blieb sie entsetzt angesichts der undurchdringlichen Dunkelheit stehen. Dann rief sie zitternd, mit klopfendem Herzen, mit leiser, keuchender Stimme:
– Herr Pfarrer! Herr Pfarrer!
Niemand antwortete, nichts regte sich.
Mein Gott, mein Gott, dachte sie, was haben sie denn nur gethan? Was ist denn nur geschehn?
Sie wagte nicht, näher zu treten, wagte nicht zurückzugehen und ein Licht zu holen. Und eine tolle Angst davonzulaufen, sich zu retten, zu schreien packte sie, obgleich sie ihre Kniee wanken fühlte, daß sie keinen Schritt mehr thun konnte. Und sie stammelte immer wieder:
– Herr Pfarrer, Herr Pfarrer, ich bin’s, Margarete.
Aber plötzlich überkam, trotz ihrer Angst, ihre Seele der Mut der Verzweiflung, der unwillkürliche Wunsch, ihrem Herrn zu helfen, einer jener Tapferkeitsmomente, die eine Frau manchmal zu heroischem Mut führen. Sie lief zur Küche und holte Licht.
An der Thür blieb sie stehen. Zuerst gewahrte sie den Landstreicher an der Wand hingestreckt, der schlief oder zu schlafen schien, dann die zerbrochene Lampe, darauf unter dem Tisch die beiden schwarzen Füße und die in schwarzen Strümpfen steckenden Beine des Abbé Vilbois, der wohl auf den Rücken gefallen war, als er mit dem Kopf gegen das Gong gestoßen.
Bebend vor Entsetzen, mit zitternden Händen rief sie wieder:
– Mein Gott, mein Gott! Was ist denn?
Und als sie mit kleinen Schritten langsam nähertrat, glitt sie in etwas Fettigem aus und wäre beinah gefallen.
Da beugte sie sich nieder und sah auf der roten Ziegeldiele etwas Rotes dahinfließen, das sich um ihre Füße schlängelte und sich bis zur Thür ausbreitete. Sie erriet, daß es Blut sei.
In wahnsinnigem Schreck lief sie davon, warf das Licht fort, um nichts mehr zu sehen, stürzte ins Feld hinaus, dem Dorf zu. Sie lief dahin, stieß an die Bäume, immer nur den starren Blick auf die entfernten Lichter des Dorfes gerichtet und schrie laut.
Ihre schrille Stimme klang in der Nacht, wie der dunkle Schrei eines Käuzchens und tönte ununterbrochen.
– Der Landstreicher, der Landstreicher, der Landstreicher!
Als sie an die ersten Häuser kam, erschienen bestürzte Männer und umringten sie. Aber sie machte sich von ihnen los, ohne zu antworten, denn sie hatte ganz den Kopf verloren.
Endlich begriff man, daß ein Unglück im Landhaus des Pfarrers geschehen sein mußte, und eine Anzahl Leute bewaffnete sich, um zu Hilfe zu eilen.
Das kleine rosa bemalte Landhaus lag unsichtbar und schwarz in der tiefen, stummen Nacht, mitten in dem Olivenfelde. Seitdem der Schein aus dem einzigen erleuchteten Fenster, wie ein Auge das sich geschlossen hat, erloschen war, blieb es im Dunkel liegen, verborgen in der Finsternis, für jeden anderen als einen Einheimischen unauffindbar.
Bald irrten Lichter am Boden auf der Erde hin, zwischen den Bäumen durch, und näherten sich dem Haus. Sie warfen auf das Sonnen-verbrannte Gras einen langen gelben Lichtschein. Und bei der irrenden Beleuchtung sahen die gewundenen Stämme der Ölbäume ab und zu wie große Ungetüme aus, wie gewundene, geringelte, eiserne Schlangen. Der Lichtschein, der in die Ferne fiel, beleuchtete ab und zu in der Dunkelheit einen unbestimmten helleren Fleck, und bald wurde die niedrige viereckige Mauer des kleinen Hauses rosig beim Schein der Laternen, die ein paar Bauern trugen. Zwei Landgendarmen gingen nebenher, die den geladenen Revolver in der Hand hielten. Dann kam der Feldhüter, der Bürgermeister und Margarete, die zwei Männer führten, denn sie drohte ohnmächtig zu werden.
Vor der offengebliebenen Thür zögerten sie einen Augenblick. Aber der Brigadier nahm eine Laterne und trat ein, von den andern gefolgt.
Das Mädchen hatte nicht gelogen. Das jetzt geronnene Blut bedeckte den Boden wie einen Teppich. Es war bis zu dem Landstreicher gelaufen, und netzte eines seiner Beine und eine Hand.
Vater und Sohn schliefen. Der eine mit durchschnittener Kehle den ewigen Schlaf, der andere den Rausch der Trunkenen. Die beiden Gendarmen warfen sich auf diesen, und ehe er erwacht war, hatten sie ihn schon gefesselt. Er rieb erschrocken, Wein-verstört die Augen, und als er den Leichnam des Priesters sah, schien er ganz vernichtet, als begriffe er nicht, was vor sich gegangen.
– Wie ist’s nur möglich, daß er nicht ausgerissen ist? – sagte der Bürgermeister.
– Er war zu besoffen, – antwortete der Brigadier.
Und alle waren seiner Ansicht, denn keinem wäre der Gedanke gekommen, daß sich Pfarrer Vilbois vielleicht selbst den Tod gegeben hätte.