Maxim Gorky
Die Geschichte eines Müllers
I
. . . Nachdem er sein Abendgebet gesprochen hatte, zog sich Tichon Pawlowitsch langsam aus und kratzte seinen Rücken. Dann trat er ans Bett, das von einem bunten, weiten Kattunvorhang halb verdeckt war.
»Und gib uns deinen Segen, Herr,« flüsterte er noch einmal gähnend und machte das Zeichen des Kreuzes über seinem Munde. Und dann schob er den Vorhang weg und betrachtete die breite, mächtige Gestalt seiner Frau, die von den weichen Falten des Bettuches bedeckt war.
Tichon Pawlowitsch zog streng die Brauen zusammen und musterte eingehend und aufmerksam die unbewegliche, vom Schlaf überwältigte Fettmasse.
»’ne Maschine,« murmelte er halblaut.
Er ging an den Tisch zurück, löschte die Lampe aus und brummte wieder:
»Hab ich ihr nicht gesagt, der Hexe: komm in den Heuschober schlafen. Nein, sie wollte nicht. So ‘n Eichenklotz. Na also, schieb dich ein bissel.«
Er schob seine schlafende Ehehälfte vorsichtig mit der Faust zur Seite und streckte sich neben ihr aus, ohne sich mit dem Bettuch zuzudecken, und dann stieß er sie noch einmal, nichts weniger als zärtlich, mit dem Ellbogen. Sie stieß einige unartikulierte Laute aus und bewegte sich heftig; schließlich drehte sie sich, laut schnarchend, auf die andere Seite.
Tichon Pawlowitsch seufzte bekümmert und blinzelte durch eine Falte des Bettvorhanges zur Decke hinauf. Zitternde Schatten bewegten sich dort oben, die das Mondlicht hervorrief und die ewige Lampe, die in der Ecke des Schlafzimmers vor einem Heiligenbilde hing. Durch das offene Fenster drang der stille, laue Nachtwind aus dem Garten herein, und mit ihm kam das leise Rauschen der Blätter, der Erdgeruch und der Geruch von frischem Fell. Man hatte es heute dem Braunen abgezogen, und nun hing es an der Speicherwand zum Trocknen. Von dem Mühlrad fielen mit einem weichen Laut einzelne Tropfen und im Walde hinter dem Damm schrie eine Rohrdommel. Leise glitt der tiefe, stöhnende Ton durch die Luft, und wenn er aufhörte, rauschten die Blätter noch stärker und von irgendwoher kam das summende Lied einer Mücke.
Tichon Pawlowitsch verfolgte die Schatten am Plafond, bis ein Schein in der vorderen Ecke des Zimmers seinen Blick anzog. Das Flämmchen der ewigen Lampe zuckte dort leise im Winde, und das dunkle Gesicht des Heilands trat bald hellerleuchtet hervor, bald wurde es noch dunkler. Einen großen, schweren Gedanken schien es zu denken, und Tichon Pawlowitsch seufzte und bekreuzte sich inbrünstig.
Ein Hahn krähte.
»Ist’s denn schon zwölf?« fragte sich Tichon Pawlowitsch. Jetzt krähte ein zweiter Hahn, ein dritter, und so ging es fort, bis endlich hinter der Wand der Rote aus Leibeskräften aufkreischte; aus dem Hofe antwortete der Schwarze, und jetzt war der ganze Geflügelhof wach und feierte laut und eifrig die Mitternacht.
»Teufel,« fluchte Tichon Pawlowitsch wütend, »ich kann nicht schlafen, daß euch . . .«
Nach dem Fluchen wurde ihm etwas wohler. Die entsetzliche, unerklärliche Schwermut, die ihm das Herz abdrückte seit seiner letzten Fahrt in die Stadt, quälte ihn weniger, wenn er böse war; und wenn er wütend wurde, verschwand sie ganz. Aber in den letzten Tagen lief alles im Hause so ruhig und glatt ab, daß er seiner bedrängten Seele nicht einmal durch einen herzhaften Fluch Luft machen konnte. Kein Mensch und kein Ding gaben einen richtigen Anlaß; man hatte gemerkt, daß der Hausherr bei schlechter Laune war und man richtete sich danach. Und Tichon Pawlowitsch sah, daß das ganze Haus sich vor ihm fürchtete und ein Unwetter erwartete, und er fühlte sich gewissermaßen vor allen schuldig, was ihm noch nie passiert war. Er schämte sich förmlich, weil alle im Hause plötzlich so schweigsam waren und vor ihm davonliefen, und das schwere, unverständliche Gefühl, das er aus der Stadt mitgebracht hatte, quälte ihn mehr und mehr.
Nicht mal Kusma Kociak, der neue Müllerknecht, ließ sich bei einer Sünde ertappen. Er war ein frischer, junger Bursch, kräftig und rauflustig. Seine Augen waren heiß und blau; regelmäßige, kleine Zähne hatte er, weiß wie Schaum waren sie und immer zu einem etwas frechen Lächeln gefletscht. Aber jetzt schlich er förmlich, wurde dienstfertig und ehrerbietig; seine lustigen Lieder, die er sonst so gerne sang, hatten aufgehört und die Witzworte, die er sonst nach allen Seiten schleuderte, verstummten. Und Tichon Pawlowitsch merkte das alles und dachte im stillen: Ich muß nett geworden sein, Teufel auch. Und immer mehr fühlte er sich in der Macht von einem dunkeln, unbestimmten Etwas, das ihm am Herzen nagte.
Tichon Pawlowitsch liebte es, mit sich und seinem Leben zufrieden zu sein, und wenn ihn dies Gefühl überkam, war er immer noch bemüht, die Stimmung künstlich zu erhöhen. Er dachte dann an seine Wohlhabenheit, an die Achtung, die die Nachbarn vor ihm hatten, und an alles andere, was ihn in seinen Augen erhöhen konnte. Alle im Hause kannten diese Schwäche des Hausherrn, die vielleicht nicht einmal Ehrgeiz war, sondern nur der Wunsch eines gesunden, satten Wesens, das Gefühl seiner Gesundheit und Sattheit noch mehr zu genießen. Diese Stimmung brachte Tichon Pawlowitsch zu einer gewissen Gutmütigkeit den Menschen und Dingen gegenüber, und wenn er sich auch nie etwas in seiner Würde vergab, so hatte er unter seinen Bekannten doch den Ruf eines gutherzigen Mannes. Und nun war plötzlich dies lebensfrohe, beharrliche Gefühl verschwunden, fortgeflogen, erloschen, und an seiner Stelle stand etwas Neues, Schweres. Und es war so dunkel und unbegreiflich, dieses Neue.
»Pfui, Teufel, daß dich . . .« flüsterte Tichon Pawlowitsch und lauschte auf die stillen Seufzer der Nacht. Er lag noch immer neben seiner Frau, und ihm wurde unerträglich heiß unter dem dicken, weichen Deckbett; unruhig warf er sich hin und her, wünschte seine Gattin zu allen Teufeln und ließ schließlich die Beine auf den Boden hinuntergleiten. Dann setzte er sich auf den Bettrand und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.
Im Dorf, das fünf Werst von der Mühle entfernt lag, schlug die Glocke des Nachtwächters. Die traurigen Metalltöne schwangen sich vom Kirchturm herab, langsam segelten sie durch die stille Luft, um dann spurlos zu verschwinden. Im Garten knisterte ein Zweig und im Walde schrie wieder die Rohrdommel. So dumpf und trübe klang das und dabei doch höhnisch, als wollte die Rohrdommel Tichon Pawlowitsch auslachen.
Er stand auf und setzte sich in einen Ledersessel, der am Fenster stand. Er hatte ihn unlängst bei einer Nachbarin, einer alten verkrachten Gutsbesitzerin, für zwei Rubel erstanden, und wie das kühle Leder jetzt seinen Leib berührte, zuckte er zusammen und sah sich scheu um.
Es war schwül. Durch die Blumentöpfe auf dem Fensterbrett und die Zweige des Ahorns, der vor dem Fenster stand, drangen die Mondstrahlen ins Zimmer und zeichneten ein zitterndes, schattenhaftes Muster auf der Diele. Einer der Flecke, gerade in der Mitte, sah aus wie der Kopf der alten Gutsbesitzerin. Wie damals beim Handel schwankt der alte Kopf in der dunklen Pelzmütze vorwurfsvoll hin und her und die alten Lippen bewegen sich lispelnd.
»Fürcht dich vor Gott, Müller. Mein Seliger hat den Stuhl kurz vor seinem Tode für achtzehn Rubel gekauft. Und ist’s denn lange her, daß er tot ist? Der Stuhl ist ganz neu, und du bietest anderthalb Rubel?«
Und da liegt auch schon der Selige, Fiodor Petrowitsch, neben ihr auf dem Fußboden; ganz deutlich sieht Tichon Pawlowitsch den zottigen Kopf mit dem dichten, langen Schnurrbart.
»Gott steh mir bei,« seufzte Tichon Pawlowitsch und stand vom Stuhle auf. Dann hob er die Blumen vom Fensterbrett, stellte sie auf den Fußboden und setzte sich selbst an ihre Stelle. Die Schatten auf der Diele wurden schärfer und heller.
Hinter dem Fenster war’s still und trübe. Unbeweglich standen im Garten die Bäume, wie zu einer dunkeln, dichten Mauer zusammengekeilt, hinter der etwas Schreckliches vorgehen mußte. Und vom Mühlrad tropfte das Wasser so monoton und dabei doch helltönend, als wollte es etwas reinwaschen. Unmittelbar unter dem Fenster schwankten die langen Stiele der Malven. Tichon Pawlowitsch bekreuzte sich und schloß die Augen. Und da erstand langsam in seiner Phantasie wieder jene Geschichte in der Stadt, die ihn um seine Ruhe gebracht hatte.
Über die staubige, von grellen Sonnenstrahlen durchglühte Straße bewegt sich langsam ein Leichenzug. Die Ornate des Geistlichen und des Diakons blenden die Augen mit ihrem Glanz; das Weihrauchfaß in den Händen des Diakons schwankt, und kleine, blaue Wölkchen zerfließen in der Luft.
»Hei-ei-li-«, singt der kleine, graue Geistliche mit dünner Tenorstimme.
»-ger«, ergänzt der tiefe Baß des Diakons den Gesang. Der Diakon ist ein großer, stämmiger Mann mit einem Kranz dichter, schwarzer Haare über dem Gesicht und großen, guten Augen, die fortwährend lächeln.
»Gott,« fließen die beiden Stimmen ineinander und steigen zusammen in die wolkenlose, blendende Höhe auf, wo alles so still und leer ist.
»Unsterblicher,« brüllt der Diakon, und seine mächtige Stimme übertönt alle Geräusche der Straße: das Kreischen der Wagenräder und das Scharren der Füße auf dem Pflaster und das halbunterdrückte Gemurmel der zahlreichen Menge, die den Toten begleitet. Und wieder brüllt er und reißt die Augen auf so weit er kann, und dann dreht er sein bärtiges Gesicht nach den Leidtragenden um, als wollte er sagen:
»Eh, diesen Ton hab ich aber gut rausgebracht.«
Im Sarge liegt ein Herr in einem Überrock. Das Gesicht ist spitz und mager und es ist in einem so ruhigen und ernsten Ausdruck erstarrt.In Rußland wird der Sarg offen über die Straße getragen und erst am Friedhof der Deckel darüber geschraubt.Der Sarg wird ungleichmäßig getragen und der Kopf des Toten fällt bald auf die eine und bald auf die andere Seite. Tichon Pawlowitsch wirft einen Blick in dies Gesicht und bekreuzt sich seufzend, und dann folgt er dem Zuge, von der Menge mitgezogen und lebhaft durch die mächtige Stimme und Gestalt des Diakons angezogen. Der Diakon geht und singt, und wenn er gerade nicht singt, plaudert er ruhig mit einem der neben ihm herschreitenden. Der Mann, der da im Sarge liegt, scheint in dem Diakon keine traurigen Gedanken zu wecken, und er denkt wohl nicht daran, daß man ihn auch einmal so über die Straße tragen wird, um ihn in die Erde zu verscharren, und daß er dann keinen einzigen Ton mehr wird singen können, auch den allerniedrigsten nicht.
Und in Tichon Pawlowitsch steigt ein unangenehmes Gefühl gegen den lustigen Diakon auf. Er bleibt stehen und läßt eine ganze Menge Leute vorgehen. Und dann wendet er sich an einen Gymnasiasten:
»Wer wird da begraben, mein Lieber?«
Der Gymnasiast schaut ihn groß an und antwortet gar nichts. Das beleidigt Tichon Pawlowitsch . . .
»So ein kleiner Bursch und hat keine Spur von Achtung vor älteren Leuten. Hauen müßt man euch. Meinst, ich werde nicht erfahren, was ich wissen will? So ‘ne Bande!«
Er geht weiter und kommt wieder an den Sarg. Den tragen vier Männer, aber sie gehen rasch und halten nicht Schritt, so daß dem einen fortwährend der Zwicker von der Nase herunterfällt. Und wenn er ihn wieder auf seinem Nasenbein festklemmt, schüttelt er seine dichte, rote Mähne.
»Der Selige muß nicht schwer sein,« denkt Tichon Pawlowitsch, »’n Beamter wahrscheinlich, die sind immer so ‘n bißchen hager . . .«
Der ganze Zug bewegt sich so rasch, als wenn der Tote schon bei Lebzeiten allen entsetzlich überdrüssig geworden wäre, so daß man jetzt froh ist, ihn endlich loszuwerden. Tichon Pawlowitsch bemerkt es.
»Wie sie laufen!« denkt er. »Und warum haben sie solche Eile? Auch Menschen das. War er nicht auch ein Geschöpf Gottes und hat das getan und jenes getan? Und wenn er tot ist, schmeißen sie ihn mir nichts dir nichts in die Grube. ›Geh, wir haben keine Zeit‹.«
Und Tichon Pawlowitsch wird ganz elend zumute. Die Zeit wird kommen, wo man auch ihn so schleppen wird. Vielleicht ist sie nicht mal ferne. Er ist siebenundvierzig Jahre alt.
»Und was ist denn das?« fragt er sich selbst. Auf dem Sargdeckel liegen Kränze, Bänder mit goldenen Buchstaben und Blumen.
»N’ ja . . . es muß doch eine wichtige Persönlichkeit gewesen sein. Aber die Leidtragenden sehen doch alle ‘n bißchen ärmlich aus. Es ist doch lauter Elend . . . Wer wird denn da begraben?« fragt der Müller einen wohlgestalteten Herrn mit einer Brille und gekräuseltem Bart.
»Ein Schriftsteller,« antwortet der Herr leise, und dann läßt er einen Blick über die Gestalt Tichon Pawlowitsch’ gleiten und fügt erklärend hinzu: »ein Mann, der Bücher geschrieben hat.«
»Wir verstehen schon,« antwortet Tichon Pawlowitsch rasch, »auf die ›Niwa‹ sind wir auch abonniert und das Töchterchen liest sie alle. War der Selige einer von den Bedeutenden?«
»Nein . . . keiner von den Bedeutenden,« lächelt der Herr mit der Brille.
»So . . . das macht nichts . . . doch ein verdienstvoller Mensch . . . Die Sonne hat einen andern Ruhm als der Mond und nicht alle Sterne glänzen gleich . . . Aber Kränze sind doch da. Und heiß ist’s heute.«
Tichon Pawlowitsch tut das Herz weh, er weiß nicht warum, aber ihm tut das Herz weh . . . als wenn ihn jemand mit Zangen kniffe, und es drückt so.
Und die tiefe Stimme des Diakons singt noch immer . . .
»Heiliger, Unsterblicher . . .«
Und der zitternde Tenor des Geistlichen bricht sich mühselig Bahn durch die tiefen Baßwellen des Diakons und fleht leise und schüchtern:
»Erba–arm dich unser.«
Die Füße der Leidtragenden schlagen dumpf gegen den Boden und wirbeln Staub auf; der Verstorbene schüttelt den Kopf und darüber spannt sich hoch der heiße, klare Julihimmel.
Tichon Pawlowitsch fühlt sich sonderbar bedrückt. Er will weder denken noch sprechen. Er paßt sich dem Schritt der Nachbarn an und läßt sich von der allgemeinen trüben Stimmung mitreißen. Er geht mit, und tief drinnen in der Brust sitzt ihm dieser saugende Gram, und er hat weder Luft noch Kraft genug, ihn zu verjagen.
Man kommt auf den Friedhof, bleibt am Grabe stehen und stellt den Sarg auf den Hügel Erde, der neben der Grube aufgeworfen ist. Und das geschieht alles so ungeschickt, so sonderbar! Der Verstorbene bekommt einen Ruck und wendet sich halb nach dem Grabe um, dann fällt er wieder in seine frühere Stellung zurück. Es ist, als hätte er Umschau gehalten und sei jetzt froh, daß man nun bald aufhören werde, ihn zu rütteln und in der Sonne zu braten. Und der Diakon brüllt noch immer aus Leibeskräften, der Geistliche müht sich, nicht hinter ihm zurückzubleiben; irgend jemand aus der Menge singt dumpf mit. Die Töne steigen über dem Friedhof auf; sie verfangen sich zwischen den Kreuzen und den ausgemergelten Bäumen, und sie bedrücken Tichon Pawlowitsch.
Und jetzt kommt die Hauptsache.
Der wohlgestaltete Herr, den Tichon Pawlowitsch nach dem Verstorbenen gefragt hatte, tritt an den Rand des Grabes, fährt sich mit der Hand durchs Haar und sagt:
»Meine Herrschaften! . . .«
Er sagt das so, daß der Müller zusammenschrickt und den Blick noch fester auf ihn richtet. Die Augen des Herrn glänzen sonderbar. Er senkt sie erst auf das offene Grab zu seinen Füßen, dann läßt er sie über das Publikum gleiten, und die Pause zwischen dem ersten Ausruf und der eigentlichen Rede ist so lang, daß alle, die am Friedhof sind, Zeit haben, still zu werden und vor Erwartung förmlich zu erstarren. Und dann beginnt eine weiche Baßstimme zu sprechen, eine träumerische, fast traurige Stimme. Der Redner begleitet seine Worte mit weiten Handbewegungen und seine Augen leuchten hinter den Brillengläsern. Tichon Pawlowitsch versteht nicht alles, was der Herr sagt, aber er begreift doch, daß der Verstorbene arm gewesen ist, obwohl er zwanzig Jahre für das Wohl seiner Mitmenschen gearbeitet hatte, und er hat keine Familie gehabt, niemand hatte ihn geliebt und niemand hatte ihn geschützt. Bis er vor Ermattung im Spital gestorben war, einsam, wie er sein lebelang gewesen war.
Tichon Pawlowitsch tut der verstorbene Schriftsteller leid und das Weh in seiner Brust wird noch größer. Er sieht den Toten scharf an, er mißt dies magere, eingefallene Gesicht mit den Augen und dann die kleine, dünne, gerade Gestalt, und plötzlich findet er, daß der Selige wie ein Nagel aussieht. Und er lächelt über seinen Gedanken. In diesem Augenblick erhöht der wohlgestaltete Herr seine Stimme und ruft: »Ein Schicksalsschlag nach dem andern traf dieses Haupt, bis es endlich erschlagen wurde. Da liegt er, ein Mann, der sein ganzes Leben der undankbarsten, der schwersten Arbeit geweiht hat: ein gutes Leben bereiten auf Erden für alle Menschen, für alle Menschen ohne Ausnahme . . .«
Die Augen des Redners bleiben in diesem Augenblick gerade an Tichon Pawlowitsch’ Gesicht hängen. Sie fangen das Lächeln auf und schleudern einen zornigen Blick auf den Müller. Und Tichon Pawlowitsch überkommt eine gewisse Verlegenheit und er zieht sich um einen Schritt zurück, er fühlt sich beinahe schuldig vor dem Verstorbenen und vor diesem Manne, der von ihm spricht.
Die Sonne brennt unbarmherzig, der blaue Himmel blickt so ruhig auf das Totenfeld hinunter und auf die Menge um das Grab, und die Stimme des Redners spricht noch immer, traurig und die Seele ergreifend.
Tichon Pawlowitsch wendet leise den Kopf und sieht die finsteren Gesichter der andern. Er ist nicht der einzige, den der Gram erfaßt hat.
»Wir haben unsere Seelen mit dem Unrat der kleinlichsten Sorgen erstickt und haben uns gewöhnt, ohne Seele zu leben, wir haben uns so sehr daran gewöhnt, daß wir nicht einmal mehr merken, wie hölzern und gefühllos und tot wir alle geworden sind. Und wir verstehen Menschen, wie ihn, nicht mehr.«
Und Tichon Pawlowitsch hört zu.
»Er,« das ist der Tote; aber sie sind ja alle tot, wenn man diesem wohlgestalteten Herrn glauben soll, alle, alle, denn sie haben ja ihre Seelen mit Unrat erstickt.
»Richtig,« sagte er jetzt zu sich selber, »das ist wahr . . . hab ich denn nicht meine Seele vergessen, großer Gott?« Tichon Pawlowitsch seufzte und öffnete wieder die Augen. Eine Welle der warmen Nachtluft ergoß sich durch das geöffnete Fenster, und sie überschüttete den träumenden Mann mit dem Duft des taufrischen Grases und der Blumen. Aber auch der Geruch des muffigen, stehenden Wassers aus dem Teiche kam mit hinein.
Die Schatten auf der Diele erzitterten noch stärker, als wollten sie versuchen, sich zu erheben und fortzufliegen. Der Müller stand vom Fensterbrett auf, schob den Lehnstuhl wieder auf seinen alten Platz und trat ans Bett zurück. Seine Frau hatte das Deckbett im Schlaf abgeworfen, sie schnarchte und schnaufte und hatte die fleischigen Arme auseinandergeworfen. Diese Arme und die entblößte Brust seiner Frau schienen Tichon Pawlowitsch in dieser Nacht nicht am Platze, sie verhöhnten ihn förmlich. Wütend warf er das Leintuch über den Leib des Weibes, nahm ein Kissen und ging wieder ans Fenster. Er setzte sich wieder in den Lehnstuhl, legte das Kissen aufs Fensterbrett und stützte sich darauf.
Und wieder begann er zu grübeln.
Seit jenem Begräbnis lebte ein Gefühl in ihm, das ihn zwang, sich selbst wie einen ganz fremden Mann zu betrachten, den er zwar kannte, der ihm aber gleichzeitig ganz neu war.
»Aj, aj, aj, Tichon, aj, aj, aj,« murmelte er kopfschüttelnd, »was ist denn das mit dir, Bruderherz?« Er machte sich Vorwürfe, ohne sich recht klar darüber zu werden, was er meinte, sein früheres Leben oder dies neue, grämliche. Und plötzlich fiel ihm eine Schar weißer Tauben ein, die an jenem denkwürdigen Begräbnistag hoch am Himmel über dem Friedhof geschwebt hatte. Er schloß die Augen und stellte sich ganz deutlich die weißen Punkte an dem blauen Himmel vor . . . und wieder machte er sich Vorwürfe . . .
»Was, Bruder, hat’s jetzt ‘n bißchen Not bei dir? Nun, und leb jetzt so, quäl dich.«
Ringsum war alles so deutlich hell und dabei doch beängstigend still, als erwarte er etwas. Und die unruhigen, sonderbaren Gedanken, Gedanken, die den Lauf des täglichen Lebens unterbrechen, bewegten sich noch immer durch das ungeübte Hirn des Müllers. Sie kamen und schwanden und kamen wieder, aber in noch größeren Massen, noch schwerer. So fliegt an Sommertagen ein Wölkchen über den Himmel und schwindet und wächst irgendwo in den Strahlen der Sonne . . . aber dann kommt noch eines und noch . . . und noch . . . und über die Erde kriecht schließlich eine grollende, unheilschwere Gewitterwolke. Von den vielen Gedanken hatte sich bei dem Müller eine neue, sonderbare Eigenschaft entwickelt. Er merkte alles und behielt alles, und bei allem stellte er sich die Frage: Wozu ist das nötig?
Niemand von uns ist vor einem solchen Anprall von Gedanken sicher, die das gewohnte tägliche Leben erschüttern, und jeden kann die ernste Frage: »Warum?« zur gleichen Kümmernis bringen.
»Wir ersticken unsere Seele.« Tichon Pawlowitsch fielen wieder die Worte des Redners ein, und er krümmte sich förmlich. Dieser Mann hatte ihm das mit so gerührter Stimme zugerufen und hatte so traurig dazu gelächelt. Und Tichon Pawlowitsch fühlte die Wahrheit dieser Worte.
»Es ist richtig,« dachte er jetzt wieder, »meine Seele lebt nicht, Geschäfte, immer Geschäfte, das ist die Hauptsache. Ich habe keine Zeit, an meine Seele zu denken. Und nun ist sie plötzlich und wahrhaftig auferstanden . . . Jetzt hat sie eine günstige Stunde abgepaßt und ist wieder heraufgekommen . . . Also, da hast du’s. Das sind Geschäfte. Und wozu viel Geschäfte machen, wenn man doch sterben muß? Für den Tod? . . . Womit treten wir vor Gottes Antlitz? Und da rüttelt die Seele uns auf: ›Ermanne dich, Mensch, denn du weißt nicht, wann deine Stunde kommt . . . Herr, erbarme dich . . .‹« Über Tichon Pawlowitsch’ Leib lief ein Schauer, er bekreuzte sich und blickte scheu nach der Ecke, wo das Bild des Heilands hing. Immer noch zitterten die Schatten der ewigen Lampe auf seinem Gesicht; es war noch immer so dunkel und ernst und schien seinen großen Gedanken zu denken, immer, in Ewigkeit . . . Den Müller überlief es ganz kalt . . . Und was, wenn er plötzlich jetzt . . . oder nein, morgen . . . was, wenn er morgen plötzlich stirbt . . . Das passiert. Man ist erst gar nicht krank, aber man legt sich einfach nieder und stirbt . . . fertig.
»Anna,« rief Tichon Pawlowitsch laut, »Anna, ich kann sie nicht packen, die Worte zu meinen Gedanken . . . Wache wenigstens für einen Moment auf, um Gottes Barmherzigkeit willen . . . Ein Mensch quält sich und sie schläft!«
Aber seine Frau hörte nicht, vom Schlaf überwältigt. Und ohne ihre Antwort abzuwarten, stand Tichon Pawlowitsch auf und zog sich an. Er ging auf die Veranda hinaus, blieb dort einen Moment stehen und schritt in den Garten.
Es tagte schon. Im Osten wurde es hell und unter einer grauschwarzen Gewitterwolke, die sich schwer, fast unbeweglich, am Horizonte streckte, kam ein hellroter Streifen hervor. Die Wipfel der Linden und Ahornbäume schwankten leise; in kleinen, dem Auge unsichtbaren Tropfen fiel der Tau. In der Ferne schlug ein Wachtelkönig und im Walde, hinter dem Teiche, pfiff melancholisch ein Star. Es war frisch, und den Star fror wohl.
»Und einen Kopf hat der Herr,« dachte Tichon Pawlowitsch. »Große Gedanken hat er . . . Mit ihm könnte ich über die Seele reden . . . Er würde mir alles erklären, was und wie . . . Kann ich denn selbst was? Mein Kopf ist dazu überhaupt nicht eingerichtet.«
Und der Müller ließ traurig seinen großen, nicht zum Denken eingerichteten Kopf hängen und fuhr doch fort zu grübeln:
»Sollte ich vielleicht zum Lehrer nach Jamki fahren? Das ist auch so einer . . ., so ein Nagel. Der Pope Aleksej sagt, er hat über mich in Zeitungen geschrieben . . . So ‘ne gelbmäulige Natter.«
Und Tichon Pawlowitsch fiel ein, wie er sich geschämt hatte, als seine Tochter in der Zeitung von seiner gelungenen Operation mit den Kiriuschensker Bauern gelesen hatte. Sie hatte das Gesicht hinter der Zeitung versteckt und leise gefragt:
»Papachen, war das wirklich so?«
Da war er wütend geworden.
»Ist dein Vater denn ein Menschenquäler? War das wirklich so! Was lernst du eigentlich im Gymnasium, Schaf du?«
Und es war doch so gewesen, wie der Lehrer es beschrieben hatte. Aber das konnte er doch der Tochter nicht eingestehen. Was verstand denn die? Jetzt ist er überhaupt quitt mit den Kiriuschenskern. Als das Wasser seinen Damm beinahe fortriß und sie bei ihm arbeiteten, haben sie’s zur Hälfte wieder eingebracht . . . Drei Silberrubel pro Tag und Kerl hat er zahlen müssen. Richtiger Krieg . . . Keiner hatte es billiger gemacht . . . Da hast du den Deckel . . . Ja. Und der Lehrer war auch dabei gewesen . . .
»Na, Kaufmann,« hatte er gefragt, »hat man Euch auch ein bißchen gegen die Wand gedrückt? . . .« Und dabei hatte er gelacht. So ein gelbes, trockenes Gesicht hatte der Lehrer. Und streng war’s . . . oh!
»Ihr seid schlecht, Kaufmann . . . Und gierig seid Ihr . . .«
Der Müller ärgerte sich jetzt und fühlte doch: es war so. Gierig ist er, das ist wahr, und schlecht ist er, das ist auch wahr.
»Wird’s denn noch nicht bald Tag, Herrgott,« dachte er. »Wann wird’s denn endlich hell?« Der rote Streifen unter der Gewitterwolke wurde breiter und heller.
In der Nähe flüsterten Menschen. Der Müller trat an den geflochtenen Zaun und legte sich auf die Bank, die daneben stand, denn er war ganz elend vor Schlaflosigkeit. Und die Stimmen kamen immer näher, mit hellem Klang in der frischen, klaren Morgenluft.
»Bitte nicht, Motria. Verschwende deine Worte nicht umsonst, ich bleib nicht.«
Tichon Pawlowitsch fuhr zusammen und erhob sich halb, wobei er sich auf seinen Ellbogen stützte. Die Stimmen waren jetzt ganz nah, in den Holunderbüschen hinter dem Zaun. Und es war Kuska Kosiak, der Müllerknecht, und noch jemand.
»Bitte nicht, sag ich. Ist nicht in meiner Macht, daß ich hierbleibe. Ich gehe hinter die Kuban . . .«
»Und ich, Kusia, was tu ich? Denke nach, wie soll ich ohne dich sein? Ich liebe dich ja, mein Falke, ich hab dich so gern, mein freier Vogel du,« antwortete Kuska eine tiefe Frauenstimme.
»Eh! Motria, mich haben schon viele geliebt, von allen noch hab ich Abschied genommen, und es ging immer noch. Sie haben geheiratet und sind in der Arbeit versauert. Manchmal begegnet man ihnen wieder mal und schaut und traut seinen Augen nicht. Sind das denn wirklich die, die ich mal geküßt und liebgehabt habe . . . Eine schaut immer hexenmäßiger aus als die andere. Nein, Motria, nein. Mir ist’s nicht beschieden, zu heiraten, du kleine Närrin du. Mein freies Leben tausch ich für keine Frau ein und für keine Hütte. Geboren bin ich hinter einem Zaun und sterben werd ich hinter einem Zaun. Das ist schon mal mein Schicksal. Bis zu meinen grauen Haaren werd ich hin und her wandern . . . Immer am Fleck bleiben kann ich nicht . . .«
»Und ich, Kusia, und ich? Was soll ich tun ohne dich? Denk einmal nach? Hast du mich denn gar nicht mehr lieb? Tu ich dir denn gar nicht leid? Was fängst du denn mit mir an?«
»Du, was ich mit dir anfange! Dich laß ich hier . . . du sollst den Witwer Tschekmarew heiraten. Kinder hat er, das ist wahr, aber er ist ein guter Bauer.«
»Du liebst mich nicht,« seufzte die Frauenstimme. Die Worte schienen von selbst aus ihr aufzusteigen, ohne daß sie sie sagte.
»Ich liebe dich nicht . . . Ich muß dich doch liebhaben, wenn ich hier mit dir stehe und rede. Wenn ich dich nicht lieb hätte, würd ich mich nicht um dich kümmern. Mit den Mädels verliert man seine Zeit nur, wenn man sie lieb hat, und wenn man sie nicht lieb hat, was soll man denn mit ihnen? . . . Und leid tust du mir auch, aber wie leid einem ein Mensch auch tut, sich selbst hat man noch lieber. Schau, es war doch noch viel schlimmer, wenn wir beide uns zum Abschied zanken wollten. Nicht wahr? Und jetzt ist alles gut und zärtlich und in Frieden. Ich, heißt es, gehe meinen Weg und du gehst deinen Weg. Wie’s einem das Schicksal bestimmt . . . Ech, was ist da viel zu reden? Küß mich noch ‘mal, meine Taube.«
Das Geräusch von Küssen berührte Tichon Pawlowitsch’ Ohr und erstarb dann im Rauschen der Blätter. Der Star sang lauter und lustiger, die Hähne hinter der Mühle begrüßten das Morgenrot. Und immer höher stieg es auf, der erwachenden Erde entgegen.
»O, du, mein Kusia, mein Liebster . . . mein Einziger, du . . . nimm mich mit, deine Taube,« flüsterte das Mädchen wieder.
»Also da hast du’s! Fängst du schon wieder an? . . . Ich küsse sie und hab sie lieb wie ‘n gescheites Mädel, und sie hängt mir wie ein Stein am Hals, ach Mädel, Mädel! Und immer ist das so ein Getue mit euch.«
»Bin ich denn kein Mensch? . . .«
»Nu, ‘n Mensch! Nu? Und ich? Bin ich denn kein Mensch? Wie sie redet . . . Wir waren zusammen, weil wir uns lieb hatten . . . und jetzt ist’s Zeit, Abschied zu nehmen . . . Das werden wir auch in Liebe und Freundschaft tun. Du mußt leben und ich auch. Stören wollen wir uns nicht . . . Leben muß man so und so, wie’s einem zusteht . . . Und du lamentierst, Närrchen. Du, denk lieber daran: ist es süß, mich zu küssen? Nu? Ach . . . du . . . Süße!«
Wieder kam das Geräusch von Küssen, von leidenschaftlichem, atemlosem Geflüster unterbrochen, und dazwischen tiefe, stöhnende Seufzer.
Und plötzlich erzitterten die Wipfel der Bäume und der Himmel selbst zitterte mit und lächelte mit so einem rosigen, frischen Lächeln – jetzt schaute der erste Sonnenstrahl auf die Erde hinunter, und wie um ihn zu begrüßen, rauschte leise der schläfrige Garten und bewegte sich und ein frischer, leichter Wind wehte, voll der verschiedensten Düfte.
Kuska Kosiak war so durchdrungen von seinem guten Recht und in seinen Worten klang so ein Ton selbstbewußter Unabhängigkeit, und dazwischen die schmerzbebende, leidenschaftliche Stimme des Mädchens. Tichon Pawlowitsch’ Gram legte sich bei diesen Tönen.
»Ach du, Teufel,« dachte der Müller, »Mädchenjäger du.«
Etwas wie Neid stieg in ihm auf gegen diesen lustigen, freien Menschen. Wie der zu leben verstand und wie überzeugt er war von seinem Recht! Und dann schämte sich der Müller plötzlich, er wußte selbst nicht recht warum: halb, weil er gelauscht, und halb, weil er neidisch gewesen war. Er stand auf, seufzte noch einmal schwer und wollte ins Haus gehen.
»Es ist Zeit, Motria. Ich muß zur Arbeit. Also komm dann.«
»Ich würde kommen. Aber ich kann nicht kommen, du, mein Falke,« stöhnte das Mädchen.
»Weine nicht, du. Die Zeit kommt und vergeht und trocknet die Tränen. Und bis dahin werden wir beide uns noch mehr als einmal sehen. Nicht so? Leb wohl, mein Süßes.«
Hinter Tichon Pawlowitsch’ Rücken knarrte der Zaun
»Wie im Wind
Die Steppe« . . .
»Ech . . . Guten Morgen, Herr!«
Tichon Pawlowitsch zog seine Mütze und schaute verwirrt seinen Arbeiter an.
»Morgen!«
Kuska Kosiak blieb vor ihm stehen in einer freien, kraftstrotzenden Stellung. Unter dem roten, halboffenen Hemd sah man die breite, braune Brust, sie atmete tief und regelmäßig; die rötlichen Schnurrbartspitzen bewegten sich spöttisch; darunter glänzten die weißen, regelmäßigen Zähne, und die großen, blauen Augen zwinkerten listig. Tichon Pawlowitsch kam sein Knecht plötzlich wie eine ungeheuer wichtige und stolze Persönlichkeit vor. Und er empfand das Bedürfnis, sich so rasch als möglich zu entfernen, damit Kuska nicht seine Überlegenheit über seinen Herrn merke.
»Lumpst du immer?«
»Wenn Zeit und Lust da ist, warum nicht ein bissel lumpen? Wenn die Arbeitszeit kommt, tu ich auch das. Wessen schütten wir heute auf? Soll ich des Popen Roggen fertigmachen oder was? Und die Grobkornmaschine ist auch nicht mehr in Ordnung. Sie mahlt und mahlt; aber sie geht zu tief, man schüttet Graupen hinein und sie gibt Staub wieder.«
»Ja, das geht . . . ich werde bald . . .« antwortete Tichon Pawlowitsch, und plötzlich, fast wider Willen, fuhr er fort . . . »Ich, Bruder, lag hier auf der Bank und hab gehört, wie du da . . . wie du mit dem Mädel umgegangen bist . . . Flink bist du mit ihnen . . .«
»Bekannte Geschichten,« sagte Kuska und zupfte seinen Schnurrbart.
»Und du hast schon viel Mädels so verdorben, was?«
»Hab nicht gezählt. Und was heißt verdorben? Ich verstümmle sie nicht.«
»Das schon, aber doch . . . zum Beispiel, tut dir, Kuska, denn das Mädel nicht leid?«
»Natürlich, es tut mir immer leid, so ein Mädel, aber sich selbst hat man halt noch lieber.«
»Und wenn zum Beispiel ein Kind kommt . . . Ist doch auch schon passiert, was?«
»Ist wohl schon passiert. Wer weiß das viel?«
Kuska begann das Verhör offenbar zu langweilen. Er trat von einem Fuß auf den andern, kniff brummig die Lippen zusammen und räusperte sich.
Aber Tichon Pawlowitsch gefiel es, den Knecht durch seine Fragen in Verlegenheit zu bringen; er zog die Brauen zusammen und fuhr fort:
»Und eine Sünde ist es . . . Was tust du mit der Sünde?«
»’ne Sünde?«
»So zu handeln, ja.«
»Aber die Kinder werden doch egal geboren, ob sie vom Mann kommen oder von einem Vorübergehenden,« sagte Kuska und spuckte skeptisch aus.
»Das sagst du ganz falsch. Vom Mann – da ist das Kind ganz in Ordnung, und von dir . . . wie kommt’s denn von dir? Und wenn das Mädel aus Scham das Kind in den Teich wirft, dann kommt die Sünde über dich.« Der Müller kanzelte seinen Knecht herunter und empfand ein gewisses Vergnügen dabei.
»Ja, aber Herr, wenn man ein bissel tiefer nachdenkt,« begann Kuska ernst und trocken, »dann kommt doch raus, daß man immer sündigt, was man auch tut. So ist’s sündhaft und so ist’s sündhaft.« Kuska wies mit dem Arme erst nach rechts und dann nach links. »Wenn man spricht, kann’s sündhaft sein, und wenn man schweigt, kann’s sündhaft sein. Und wenn man was tut, kann’s eine Sünde werden, und wenn man nichts tut, kann’s auch eine sein. Findet sich denn ein Mensch da zurecht? Oder soll man ins Kloster gehen? Dazu fehlt einem doch die Lust.«
Sie schwiegen. Kuska schauerte in der Morgenfrische.
»Du hast ein lustiges Leben, Bruder,« seufzte Tichon Pawlowitsch, »ein leichtes.«
»Beklag mich nicht,« anwortete Kuska achselzuckend.
»Ein angenehmes Leben . . . N’ ja . . . also . . . Also geh und schütt’ auf.
»Des Popen Roggen?«
»Schütte des Popen Roggen. Ich komm später hin . . . Und wie einfach du denkst . . . Wirklich. Alles ist sündhaft . . . N’ ja . . . Leicht bist du, Kuska, wie ‘ne Blase.«
»’ne Blase, na, vielleicht auch wie ‘ne Blase.«
Kuska betrachtet seinen Herrn aufmerksam.
»Weiß Gott! Mein Mitjka macht sie so. Er bläst auf ‘nem Strohhalm und dann wird sie so groß und bunt wie ein Regenbogen und fliegt und fliegt und platzt zuletzt.«
Kuska lächelte.
»Womit Ihr mich aber auch vergleicht, Herr!«
»Ist aber ganz richtig . . . Und du gehst fort von mir?«
»Ich werd gehen.«
»Ja, wohin treibt’s dich? . . . Wenn du bleibst, geb ich dir noch Zulage.«
»Brauch sie nicht. Es ist eng hier. Ich muß doch fort.«
»Ist mir leid um dich. Du bist ein guter Arbeiter,« sagte Tichon Pawlowitsch nachdenklich.
»Nein, ich werde doch lieber gehen. In die Steppe muß ich . . . dort ist’s so frei . . . Ach du, mein . . . Mir wird’s ja auch um Euch leid tun, Herr . . . Hab mich eingewöhnt hier . . . Und ich werde fortgehen, weil’s mich zieht. Mit sich selbst soll der Mensch sich nicht zanken. Wenn jemand mit sich selbst in Streit kommt, kann man ihm getrost auf die Stirn schreiben: Der Mensch geht zugrund!«
»Das ist richtig, Kuska, ach, wie richtig das ist!« Tichon Pawlowitsch stieg sogar das Blut zu Kopfe und er kniff die Augen zusammen . . . »Ich bin auch mit mir im Streit . . .«
»Tichon Pawlowitsch, komm Tee trinken!« rief seine Frau aus dem Hause.
»Ich ko–omme. Geh auch du, Kuska, und fang an mit Gott.«
Kuska schaute blinzelnd und halbverstohlen in des Herrn Gesicht und entfernte sich pfeifend.
* * *
In dem großen, sauberen Zimmer stand ein Tisch vor dem Fenster und auf ihm ein summender Samowar, daneben ein rundes, weißes Brot und ein Krug Milch. Hinter dem Tisch saß des Müllers Frau, sie sah rotbäckig und frisch und gesund aus, und die ganze Stube war von heller Morgensonne durchflutet.
Tichon Pawlowitsch trat langsam ins Zimmer und ebenso langsam an den Tisch. Er betrachtete mürrisch den Rücken seiner Frau, hielt die Hände auf dem Rücken und kaute an seinem Bart.
»Guten Morgen, Pawlytsch,« sagte sie, mit liebenswürdigem Lächeln den Kopf nach ihm umdrehend. »Warum hast du denn heut nacht wieder nicht geschlafen? Du mußt was dagegen tun. Ich bin schon ganz nachdenklich geworden . . .«
»Also vor lauter Denken hast du die ganze Nacht wie eine Fabrikröhre musiziert,« lächelte der Müller. – »Und ich hab schon nachgedacht, warum pfeift meine Anna denn so? Also das kommt vom Denken.«
»Was du nicht für Witze machen kannst. Aber gottlob, du hast doch wenigstens gelächelt, und die letzten Tage hast du gar nicht mehr gelacht, dein Lachen war wie verschwunden . . . Und immer warst du so böse.«
»Das Lachen kann auch verschwinden bei solch einem Leben,« antwortete Tichon Pawlowitsch halblaut.
»Ist was im Geschäft nicht in Ordnung?« fragte die Frau ängstlich.
»Nicht um Brot allein, steht in der Schrift geschrieben . . . Nein also, das ist an mir zur Wahrheit geworden . . . Am Herzen hat’s mich gepackt und drückt . . ., und es wird drücken, bis ich meine Seele befreie . . . Wir haben unsere Seele erstickt mit allem möglichen Dreck und jetzt stöhnt sie und hat keine Luft.«
»Man muß der Kirche was schenken, dann wird das wieder vergehen,« rief seine Frau.
Der Müller schwieg und dachte an den Popen. Väterchen Aleksej war ein gieriger Pope, sehr gierig. Wenn der Müller mit den Bauern in der Umgegend Geschäfte machte, hatte ihm das Väterchen oft schon ein Bein gestellt.
»Oder man könnte eine Waise ins Haus nehmen,« rief die Frau weiter.
»Ja, das vielleicht. Bei den Diabilking zum Beispiel.«
»Soll ich dir noch Tee einschenken? Warum hast du das Glas zugedeckt?«
»Ich will nicht mehr.«
Tichon Pawlowitsch schaute seiner Frau ins Gesicht, und sie kam ihm plötzlich so fett und so dumm vor. Warum in aller Welt lächelte sie denn fortwährend?
»Und den Doktor müßte man doch holen lassen. Ja, soll ich?«
»Scher dich fort mit dem Doktor zusammen,« sagte der Müller wütend und ging ins Nebenzimmer, wo er auf seinen Sohn stieß, der auf dem Fußboden schlief. Tichon Pawlowitsch blieb stehen und begann, aufmerksam das schwarze Lockenköpfchen zu betrachten, das sich tief in die Kissen eingewühlt hatte. Auf den braunen Backen des Kindes und auf der Stirne standen kleine Schweißtropfen.
»Wie er schläft,« dachte Tichon Pawlowitsch, »und wie er dabei schnarcht. Was weißt du, was für ein Weg dir im Leben bereitet ist? . . .«
»Tichon Pawly–ytsch, Kuska ruft Euch!«
Das war die Stimme der schiefmäuligen Marfutka. Ohne es zu wollen, hatte der Müller im vorigen Jahr ihre ganze Familie zugrunde gerichtet, und es fiel ihm jetzt ein, als er ihre Stimme hörte. Marfutkas Vater, Foma, war Arbeit suchen gegangen, irgendwohin, aber vorher war er noch einmal zum Müller gekommen und hatte sich vor der Veranda aufgepflanzt:
»Also du gibst uns keinen Aufschub? So–o! Nun, auch gut. Also leb’ wohl, Pawlytsch. Gott ist dein Richter. Man muß annehmen, unsere Tränen werden noch über dich kommen. Auch du, mein Freund, wirst einmal weinen. Leb wohl.«
Und lange hatte Foma noch vor dem Hause gestanden, hatte sich bald den Rücken und bald die Seiten gekratzt und mit verzerrtem Gesicht immer dieselben Worte wiederholt:
»Also du gibst uns keinen Aufschub? So–o!« Bis ihn der Müller davongejagt hatte.
»Ja, allerhand Dinge gibt’s,« dachte Tichon Pawlowitsch jetzt. »Und manches ist wirklich nicht nach Gottes Gebot. Aber man kann nicht anders, sonst schadet man seiner Reputation.«
Aber diese Erwägungen beruhigten ihn nicht. Immer mehr Gedanken stiegen auf und bedrückten ihm die Brust, so schwer, so tief.
»Ich fahr nach Jamki,« entschloß er sich plötzlich. »Marfa, sag Jegor, er soll das Pferd anspannen.«
In der Tür der Graupenkammer stand Kuska, ganz weiß von Mehlstaub, und schaute pfeifend zum Himmel hinauf. Unter den leuchtenden Strahlen der Sonne verzogen sich gerade die letzten Überbleibsel der Gewitterwolke. In der Graupenkammer war alles in Bewegung und lärmte entsetzlich. Hinter der Mühle liefen eilig die silbernen Wasserwellen und zischten und brausten. Die Luft war von den schweren, ächzenden Tönen erfüllt und über allem lag der Staub wie ein dünner Nebel.
»Tichon Pawlowitsch, der Riemen reißt gleich in Stücke,« sagte Kuska und spuckte aus.
»Dann hol einen neuen bei meiner Frau,« sagte Tichon Pawlowitsch. »Na, wie geht’s mit der Arbeit? . . .« Er hatte noch nie so freundlich mit seinem Arbeiter gesprochen, und es fiel ihm selbst auf.
»Es geht,« antwortete Kuska und beobachtete den Herrn halb mißtrauisch.
»Nun gut, und du, heißt es, bist eine Blase.«
»Nun ja, eine Blase, wenn Ihr wollt,« sagte Kuska unwillig und zuckte die Achseln.
»Und ein leichtes Leben hast du . . . ja . . .«
»Und wozu sollte man es sich schwermachen?«
»Das ist richtig,« nickte der Müller und seufzte. Er konnte das, wonach er Kuska so gern fragen wollte, unmöglich in Worte fassen, und er fühlte, daß er sich viel in seiner Würde vergab, wenn er so schweigsam und mit gesenktem Kopf vor seinem Arbeiter stand.
»Und wenn’s zum . . . Sterben kommt, . . . was dann?«
»Wenn’s dazu kommt, dann legen wir uns hin und sterben,« antwortete Kuska und betrachtete seinen Herrn immer mißtrauischer.
»So–o. Und die andern Menschen?«
»Die andern? Wenn ihre Stunde kommt, werden auch sie sterben.«
»Ja–a,« seufzte Tichon Pawlowitsch. »Das ist so. Alle sterben. Und das ist traurig für den Menschen . . .«
Kuska zupfte leicht seinen Schnurrbart, versenkte eine Hand in seine roten, dichten Haare, die andere in seine Hosentasche und trat von einem Fuß auf den andern. Plötzlich ging ein breites Lächeln über sein Gesicht:
»Ihr solltet in die Stadt fahren, Herr, und Euch mal ordentlich austoben. Das wird Euch am besten helfen. Denn in Eurer Seele schaut’s aus wie beim Schornsteinfeger unterm Gürtel. Nicht wahr?«
Und Kuska berührte die Schulter seines Herrn mit der Hand und lachte. Diese Bewegung und sein Lachen frappierten den Müller. Er lächelte den Arbeiter blöde an und fühlte sich doch gleichzeitig verletzt. Es war beinah wie ein körperlicher Schmerz.
»Ach du, Kuska . . . Was sagst du? Nach Jamki werd ich fahren, zum Lehrer . . . ich muß mit ihm sprechen.«
»Fahrt zu. Duniaschka Dikowa wird Euch dort mit solchen Gesprächen kommen, daß Euch die Gedanken aus dem Kopf springen werden, wie die Wanzen aus dem Feuer,« murmelte Kuska dem Müller nach.
Fünf Minuten später trabte der satte Braune Lukitsch gemächlich über den weichen, gekrümmten Weg, der von beiden Seiten dicht von Haselbüschen und Vogelbeeren eingefaßt war. Die schmiegsamen Zweige berührten Tichon Pawlowitsch’ Kopf und guckten ihm ins Gesicht, und wenn ihm ein Blatt in den Mund kam, spuckte der Müller es aus und wandte den Kopf. Aber immerfort dachte er an sein zerrüttetes Leben.
»Schlimm, alles ist schlimm,« murmelte er tiefseufzend. Warum alles schlimm war, wußte er nicht, aber er fühlte es. Alles war schlimm.
»Auch ein Leben . . . Man lebt wie alle Menschen und weiter nichts . . . Und plötzlich überkommt einen ein solches Nachdenken und dreht alles um, von oberst zu unterst.«
In sonderbarer, springender Reihenfolge zogen die Gedanken durch das schwerfällige Hirn des Mannes, und sie waren ihm alle so ungewohnt und fremd und neu. Ihm taten die früheren, ruhigen Tage leid, als alles noch hell und froh war.
Nach dem Abendtee hatte er früher oft auf der Veranda gesessen mit Frau und Tochter und Sohn, und Mitjka hatte schreckliche Geschichten aus der »Reise um die Erde« vorlesen müssen. Ringsumher war alles dann so still gewesen und friedlich. Und die Seele war rein und ruhig, man hatte an nichts zu denken. Manchmal kam ein hübsches Bild in dem Buch vor! Bäume waren darauf gemalt mit riesigen Zweigen und daneben ein Fluß. Weit war das und groß und viel Raum gab’s; aber nicht so einsam und langweilig wie unsere russischen Gegenden, sondern so verlockend sah das aus. Und die Familie begann dann zu überlegen: »Hier könnte man aber eine Mühle aufstellen.« Und wenn sie darüber geredet hatten, verfielen sie in so ein liebes, warmes Schweigen, weich wie ein Federbett. Kein Mensch wollte mehr den Mund öffnen. So gut war das gewesen . . ., ohne Gedanken . . .
Jetzt zeigte sich Jamki. Die Getreidedarren und Kornkammern und kleinen Hütten kletterten an einer leicht ansteigenden Anhöhe empor, wie von Riesenhand zur Erde geschleudert, und es war, als bückten sie sich zitternd und verschüchtert und wagten es nicht, sich in einer geraden Linie aufzupflanzen. Über ihnen breitete sich ruhig, teilnahmslos der blaue Himmel. Und unter dieser blendenden Hülle sahen die grauschmutzigen, elenden kleinen Gebäude noch ärmlicher und jämmerlicher aus.
»Ach du, mein Gott, das sind auch menschliche Wohnungen,« dachte Tichon Pawlowitsch, sich dem Dorfe nähernd. »Und in jedem von diesen Käfigen leben menschliche Seelen, wenn’s auch ausschaut, wie für Mücken gebaut. Na, also. Lukitsch, beweg dich!«
»Ich fahre zum Lehrer . . . Und wozu? . . . Um mit ihm zu sprechen . . . Was soll denn das für ein Gespräch werden? Er wird mir Vorwürfe machen, wird sagen: Mensch, denk an deine Seele! und wird mir alles erklären. Und ich werde sagen: Nur weiter . . . sprich, und scheue dich nicht . . . Ich bereue . . . Ich bin ein sündiger Mensch . . . In der Zeitung hast du richtig geschrieben . . . ich habe sie gerupft. Sie haben mich zwar auch gerupft, aber sie mich nur einmal und ich sie dreimal. Willst schreiben – schreibe! Nur zu. Aber erst erkläre mir das: Warum hab ich früher gelebt und war ganz ruhig, und schau, was jetzt aus mir geworden ist. Ist das eine Grenze, die dem Menschen gesetzt ist, oder sein eigner Unverstand? Ist’s vom Schicksal beschert, oder denkt er sich das selber aus? . . . Nu–u, Lukitsch!«
Lukitsch wieherte, denn der Staub setzte sich ihm in die Nasenlöcher, schüttelte den Kopf und bewegte rüstig seine Beine. So brachte er seinen sündigen Herrn nach Jamki.
Da war auch schon die Schule. Sie sah allerdings eher wie eine umgestülpte Fähre, als wie ein Tempel der Wissenschaft aus. An einem der drei Fenster saß der Lehrer und schnitzelte an einem Stock. Gleichgültig schaute er jetzt den Müller an, der vor dem Hause hielt.
»Guten Tag, Alexander Iwanowitsch. Ich bin zu dir zu Besuch gekommen, nimmst mich auf?«
»Seien sie willkommen!« antwortete der Lehrer und trat vom Fenster zurück.
Der kalte Ton des Lehrers und sein ernstes, mageres Gesicht verwirrten Tichon Pawlowitsch, und sein Herz krampfte sich, unangenehm berührt, zusammen.
Er machte sich lange beim Wagen zu schaffen und band die Zügel umständlich am Sitz fest, bevor er ins Haus trat. Als er an einem der Fenster vorüberging, sah er gerade den Lehrer ein Buch auf den Boden stellen, und er tat das mit einem beißenden Lächeln.
»Nochmals guten Tag,« sagte der Müller, als er ins Zimmer trat, mit etwas gezwungener Heiterkeit, und streckte dem Lehrer die Hand entgegen. »Uff, ist das heiß !«
Der Lehrer streckte ihm schweigend seine kalten, knochigen Finger entgegen, nickte sonderbar mit dem Kopf und sagte kurz:
»Setzen Sie sich.«
»Setzen wir uns,« willigte der Müller ein und setzte sich auf die Fensterbank, auf der vorher der Lehrer gesessen hatte, der jetzt hustend und die Hände auf dem Rücken, im Zimmer umherging, mit immer rascheren Schritten.
Einen Moment lang herrschte drückendes Schweigen. Tichon Pawlowitsch saß auf der Fensterbank und rieb sich mit der linken Hand das Knie; mit den Fingern seiner Rechten glättete er seinen Bart. Er betrachtete aufmerksam die ärmliche Einrichtung des kleinen Stübchens, das zwei Türen aufwies; die eine führte in den Korridor, die andere in die große, scheuerartige Schule. Als Möbel standen in der Kammer nur ein Tisch, zwei Stühle, eine Schlafbank, ein Bord mit einigen Büchern und die Bank, auf der Tichon Pawlowitsch saß.
Jetzt trat der Lehrer ans Bord und musterte die Bücher, als wollte er sich überzeugen, ob es auch dieselben Bücher seien, die vor der Ankunft des Gastes dagestanden hatten.
Beiden war unbehaglich zumute, und sie fühlten das ganz deutlich, wodurch ihnen noch unbehaglicher wurde.
Und noch immer schwiegen sie.
Endlich trat der Lehrer vom Bord zu dem Gast.
»Brauchen Sie was von mir?« fragte er und schaute den Müller scharf an. Seine Stirn war gerunzelt und die Brauen finster zusammengezogen. Er hätte husten müssen, hielt aber aus irgendeinem Grunde den Husten zurück und preßte die Lippen krampfhaft aufeinander, wodurch dunkelbraune Flecke in seinem Gesicht entstanden und seine magere, eingefallene Brust sich nervös emporhob.
»Hm, hm,« brummte der Müller und wandte seine Augen vom Lehrer ab, während er unwillkürlich dachte:
»Was für ‘n Jammerlappen! Lange wirst du nicht mehr husten, Bruderherz.«
Ihm fiel der »Nagel« ein, über den der wohlgestaltete Herr so eine lange Rede gehalten hatte.
»Wie soll ich dir das erklären, Alexander Iwanowitsch?«
Und während er sprach, mußte der Müller fortwährend denken:
»An dessen Grab wird man nicht mal ‘ne Rede halten. So im stillen wird er eintrocknen. Die Bauern werden ihn in die Erde verscharren, und – fertig. Weiter nichts . . . Und er schreibt doch auch . . . Eine schwache Lunge muß er haben . . . Er schreibt – und lebt im Dorf. Wie soll man da eine Unterhaltung beginnen?«
»Trinken Sie vielleicht Tee?« fragte der Lehrer wieder. Jetzt brach der Husten doch los, mit furchtbarer Gewalt, und der Lehrer griff mit beiden Händen nach seiner Brust. Sein Gesicht wurde ganz grau; er krümmte und wand sich, und in seiner Brust schnarrte und pfiff und knarrte es, als wenn dort eine alte Wanduhr versteckt wäre, die jetzt zum Stundenschlagen ausholte.
»Wir können auch Tee trinken,« entschied Tichon Pawlowitsch. »Aber wie du hustest, Alexander Iwanowitsch. Und woher kommt das, zur Sommerszeit . . . ah . . .?«
»Ja, das ist mal so,« antwortete der Lehrer und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Aber in seiner Stimme klang etwas unendlich Trauriges. Der Müller fühlte, wie’s ihn ganz kalt überschauerte bei diesen einfachen, nichtssagenden Worten.
»Iwanowna, machen Sie den Samowar zurecht,« rief der Lehrer zum Fenster hinaus. Bald darauf klirrte etwas Eisernes im Korridor, und Tichon Pawlowitsch wußte wohl, daß es die Samowarröhre war, die so klirrte. Aber wie er das Gespräch mit dem Lehrer beginnen solle, wußte er nicht.
Der schwieg auch und zog die Brauen zusammen und senkte die gerunzelte Stirn. Wieder dauerte das Schweigen lange und wieder ärgerte es sie beide.
»Die Röhre ist umgefallen,« begann Tichon Pawlowitsch endlich. Der Lehrer stand auf und ging an die Türe:
»Iwanowna, die Röhre ist umgefallen.«
»Das weiß ich schon. Ich bin ja hier,« antwortete eine brummige Frauenstimme.
Aber das Fallen der Röhre ermutigte diese beiden Menschen förmlich, die schon anfingen, beängstigend aufeinander zu wirken.
»Nun ja, also,« begann der Lehrer und rieb seine linke Seite. »Sie wollen also mit mir reden? . . .«
»Ja . . .« bestätigte der Müller, mit dem Kopfe nickend.
»Gut . . . Ich kann mir denken, um was es sich handelt.«
»Nu . . .« Tichon Pawlowitsch zog die Brauen in die Höhe und lächelte ungläubig.
»Natürlich darum, daß ich in der Zeitung über Sie geschrieben habe,« fuhr der Lehrer fort und zog die Brauen noch mehr zusammen, wobei die Stirne sich noch mehr runzelte.
»Ich hab mir doch gedacht, daß du das geschrieben hast,« rief der Müller, »ach du! . . .«
Der Lehrer hatte einen solchen Ausruf offenbar nicht erwartet. Er riß die Augen weit auf und starrte seinem Gast ins Gesicht:
»Haben Sie’s gedacht?«
»Ich hab’s gedacht. Natürlich, dachte ich, das ist er, denn das können nur zwei . . . Er und der Pope Aleksej . . . Der ist auch böse auf mich.«
»Das heißt? Was ist das eigentlich?« wunderte sich der Lehrer. »Bin ich denn auf Sie böse?«
»Was denn sonst?«
»Ja, aber warum denn?«
»Das mußt du wissen. Du hast’s geschrieben – und fertig. Und ich versteh’s jetzt wie ich will . . .«
»Erlauben Sie. Ich habe das nicht infolge einer persönlichen Abneigung gegen Sie geschrieben, sondern aus einem Gefühl der Gerechtigkeit heraus.« Der Lehrer zitterte heftig und geriet immer mehr in Hitze; jetzt fügte er noch mit lauter Stimme hinzu:
»Sie haben kein Recht, zu behaupten, ich hätte das geschrieben, weil ich böse bin auf Sie, jawohl!«
»Red nur zu,« antwortete der Müller mit einer skeptischen Handbewegung. »Warum hast du’s dann geschrieben?«
»Darum, weil Sie mit den Kiriuschensker Bauern nicht . . . nicht ehrlich vorgegangen sind.«
»Sieh mal einer an. Nicht ehrlich. Und wie mein Damm verbessert werden mußte, sind deine Bauern da mit mir ehrlich vorgegangen? Aber über sie hast du nicht geschrieben, was, Alexander Iwanowitsch?«
»Aber erlauben Sie.« Der Lehrer geriet immer mehr in Hitze.
Sein Gesicht bedeckte sich mit Flecken und er begann sonderbar zu stottern. Offenbar wollte er viel sagen, wußte aber nicht, womit beginnen. Seine Ohren zitterten eigentümlich, die Augen glänzten und das magere, nervöse Gesicht veränderte sich von Minute zu Minute.
Und der Müller schaute ihn an und wurde ebenfalls wütend.
»Was ist da zu erlauben? Hast über mich geschrieben – dann schreib auch über sie. Bin ich mit ihnen gewissenlos vorgegangen, so weißt du, daß sie’s mit mir nicht anders gemacht haben. Warst selbst dabei. Aber da schweigst du. Und du sagst, aus Gerechtigkeit! Ach du . . .«
»Nun, und was weiter?« fragte der Lehrer und krümmte sich noch mehr, und plötzlich begann er hastig, die Worte halbverschluckend und fortwährend hustend:
»Sie begreifen nicht . . . ich konnte nicht . . . das heißt, ich . . . Weiß der Teufel, wessen Sie mich verdächtigen . . . Was für eine Feindschaft soll ich denn gegen Sie haben? . . . Das heißt, nein . . . diese Feindschaft ist vorhanden . . . Sie wird immer da sein.« Jetzt schrie der Lehrer laut.
»Na also, siehst du wohl? Du sagst, aus Gerechtigkeit. Was ist das für eine Gerechtigkeit, wenn du ‘ne Wut hast gegen mich? Ach du! Lang leben kannst du nicht mehr und quälst die Leute. Meine Tochter hat mich beschämt mit deinem Geschreibsel. Die eigene Tochter, verstehst du? Warum? frag’ ich dich.«
»Erlauben Sie.« Die Stimme des Lehrers war jetzt gellend laut. »Was geht mich Ihre Tochter an? Ich sage nicht, daß ich Sie persönlich hasse . . . Ich hasse Ihre ganze Gruppe, die Klasse . . .«
»Sprich mir nicht mit so klugen Worten. Ist nicht nötig. Ich versteh dich auch so gut.«
»Nein, ich . . . Sie beleidigen mich mit Ihren Verdächtigungen. Sie können mich mit Tatsachen widerlegen, wenn das möglich ist, mir beweisen, daß ich die Tatsachen falsch aufgefaßt habe, daß ich unrecht habe, aber sagen . . .«
»Ich kann dir alles sagen.« Der Müller schlug sich mit der Hand gegen die Brust und stand im Vollgefühl seines Wertes vom Stuhle auf . . . »Ich bin wer . . . Auf hundert Werst in der Runde kennt und achtet man mich, und du bist achtzehn Rubel monatlich wert . . .«
»Ich will nicht,« stampfte der Lehrer mit dem Fuß auf. Er erstickte förmlich vor Aufregung und neuen Hustenanfällen. Und während er hustete und sich stöhnend wand und nach Luft schnappte, stand Tichon Pawlowitsch mit Siegermiene vor ihm und fuhr laut und deutlich zu sprechen fort. Sein Gesicht war rot und erregt; er war von seinem Recht und seinem Edelsinn überzeugt, und er wollte auch den Lehrer davon überzeugen, denn er fühlte sich jetzt sehr großmütig und wollte verzeihen.
»Ach, du gerechter Mensch, du. Bevor du andere Menschen überführst, überfuhr dich doch selbst. Was für ‘nen Wert hast du denn danach? Ich bin zu dir gekommen wie zu einem klugen Menschen und wollte mit dir reden . . . über die Seele wollte ich mit dir reden, was und wie, denn meine Seele ist mir in Aufruhr gekommen . . . Und womit fängst du an? . . . Hast du mich vielleicht verstanden? . . . Hast geschrieben? Nun, und was, wenn du geschrieben hast? Wer hat’s denn gelesen? Kein Mensch außer dem Popen . . . Ich bin noch immer so wie ich war, bin ganz so geblieben wie ich war, n’ ja . . . Ich komme zu dir mit meiner Seele und nicht mit Feindschaft, und du redest nur von deinem Zeug und schreist mich noch an. Kannst du denn auf mich schreien? Achtzehn Rubel monatlich bekommt er, lebt allein wie ‘n kleiner Finger, und der spricht von Gerechtigkeit! Ech! Leb wohl, Bruder. Ich nehme dir deine Frechheit nicht übel, aber du tust mir leid, du tust mir sehr leid . . . Leb wohl. Du hast ein schlechtes Leben und wir müssen alle sterben . . . das darf man nicht vergessen . . . ja.«
Am Schlusse seiner Rede wurde Tichon Pawlowitsch sehr traurig und ihm kamen beinahe die Tränen. Den Lehrer schüttelte ein entsetzlicher Hustenanfall, er saß gebückt auf seinem Stuhle und zitterte am ganzen Leibe; den Kopf ließ er tief herunterhängen, die eine Hand hatte er an die schmerzende Lunge gedrückt, mit der andern fuchtelte er aufgeregt, krampfhaft in der Luft herum, wahrscheinlich in dem ohnmächtigen Wunsche, den Müller zu unterbrechen.
Er tat dem Müller schrecklich leid, und gleichzeitig wollte er für sein Leben gern etwas Gefühlvolles sagen, so etwas, was des Lehrers Herz beklemmt hätte, mit demselben Gefühl, von dem seines, des Müllers Herz schon voll war. Aber nichts Derartiges kam heraus. Er fand solche Worte nicht, wenn auch seine Stimme zitterte und sich in niedrigen, fast weinenden Tönen verlor. Der Müller war sich bewußt, daß alles, was zwischen ihm und dem Lehrer vorgefallen war, sehr beleidigend war, für ihn und für den Lehrer, und er wollte diese schwere Szene so rasch als möglich abbrechen.
»Leb wohl . . . Denk nicht im Bösen an mich . . . Du kommst vor Gottes Gericht . . .« Er winkte noch einmal mit der Hand, drückte seine Mütze tief in die Stirne und ging hinaus.
»Nein, erlauben Sie,« hörte er die heisere, erregte Stimme des Lehrers hinter sich.
»Auch gut,« brummte der Müller in sich hinein und machte die Zügel los.
»Kommen Sie zurück . . . Wir müssen . . .« Der Lehrer erschien wieder am Fenster. Er beugte sich halb auf die Straße hinaus, wobei er sich mit der einen Hand an den Pfosten klammerte und mit der andern heftig gestikulierte.
»Niemand muß was . . . Wir sind alle Menschen . . .« brummte Tichon Pawlowitsch wieder und setzte den einen Fuß in den Wagen.
»Kommen Sie zurück,« schrie der Lehrer.
Er schrie sehr sonderbar. Tichon Pawlowitsch drehte sich um und schaute ihn an. Sein Gesicht war schrecklich, die Augen trübe; die Stirne stand in Schweiß und der Hals war krampfhaft zusammengezogen.
Dem Müller ging es durch und durch.
»E . . . ich komme ein andermal. Ganz egal.«
Noch einmal winkte er mit der Hand und versetzte Lukitsch einen mächtigen Hieb, der den Wagen sofort im Galopp fortriß. Der Lehrer schrie ihm noch etwas nach.
»Fahr zu,« schrie Tichon Pawlowitsch und schlug das Pferd noch einmal; er knirschte sogar mit den Zähnen, als wollte er das bittere Gefühl, das in ihm aufstieg, ersticken.
Als er das Dorf hinter sich hatte, wurde er allmählich ruhiger. Lukitsch lief noch immer eilig über den staubigen Weg, der sich jetzt zwischen den goldigen Flächen reifenden Kornes schlängelte. Vor ihnen am Horizont ballte sich langsam eine Gewitterwolke zusammen. Dunkle, schwarzblaue Wolkenfetzen stauten sich zu einer großen schwarzen Masse, die langsam dem Müller entgegenzog und einen tiefen Schatten auf die Erde warf. Und auch auf die Seele legten sich ihm wieder Schatten. Und die Wolke senkte sich immer tiefer, als wollte sie ihm den Weg verstellen. Der Müller zog die Zügel an und lenkte das Pferd unwillkürlich nach links, auf eine breitere und ausgefahrenere Straße. Jetzt blieb die Wolke rechts und vor ihm in den gelben Getreidewogen tauchte wie eine kleine, dunkle Insel der Wald auf. Durch die hügelige Ebene, die noch grell von der Sonne beschienen war, zogen sich hier und da, wie breite, schwarze Bänder, schon aufgepflügte Äcker; traurig stachen sie von den gelben, reichen Feldern ab. Dem Müller war, als stiege aus diesen traurigen Äckern etwas auf, was ihm verwandt war.
Der Wind bewegte die Ähren und sie neigten sich flüsternd auf und nieder, als wollten sie mit dem blauen Himmel sprechen. Lukitsch lief und die schwarze Waldinsel rückte ihnen näher und näher; allmählich wurde sie grün und hob sich deutlicher und reliefartiger von dem grellen Gelb der Felder und dem verschwommenen Blau des Himmels ab.
»Aber ich fahre ja zur Eisenbahnstation,« dachte der Müller, als hinter einem Hügel eine Reihe Telegraphenstangen auftauchte und die braune Hütte des Bahnwächters, die in einem Erdhaufen, der um sie aufgeworfen war, fast verschwand.
»Und warum sollte ich nicht in die Stadt fahren?« dachte der Müller. »Das Pferd schick ich mit irgend jemand von der Station nach Hause . . . N’ ja. Beim Lehrer bin ich gewesen und hab mit ihm gesprochen. Che, che, ‘n Lehrer. Kannst ja lehren, meinetwegen, aber lern du selber auch was, versteh, was um dich vorgeht, was und wie. Was für ein Teufel hätte mich denn zu dir gebracht, wenn meine Seele mich nicht gedrängt hätte! Und du, Lehrer, müßtest immer auf so einem Punkt stehen, daß der Mensch dich erreichen kann, ohne sich zu verstümmeln. Und so . . . was so? Mit seiner Strenge ist der höher hinaufgeklettert als ‘ne Ofenröhre und predigt von dort . . . fertig. Nun, und versteh dich selbst, Bruder, wenn du kannst, ich kann’s nicht . . . Auch so ‘n Wohltäter, so ein hundertpfündiger . . . Und was, wenn ich reden will und ich hab keine Worte?«
Je länger er nachdachte, je klarer wurde ihm, daß der Lehrer an allem schuld war. Wie war denn die Sache gewesen? Er, Tichon Pawlowitsch, hatte ja mit Fleiß das Gespräch über die Zeitungsnotiz aufgenommen, um den harten Lehrer zu beschämen und zu erweichen und um ihm zu zeigen, wie sehr er, der Müller, von Schuldgefühl durchdrungen sei und wie schwer es ihm auf der Seele liege. Und wäre der Lehrer ein weicherer Mensch, so hätte er ihm seine Gedanken auseinandersetzen können. Aber es war so herausgekommen, daß der Lehrer bis zu den Wolken hinaufgestiegen war . . . Als der Müller sich überzeugt hatte, daß sich alles wirklich so und nicht anders zugetragen hatte, fühlte er sich sehr gekränkt und beleidigt.
»Ach, Menschen! Ihr könnt euch um einen anderen nicht kümmern, wenn ihr ihn nicht braucht und ihr euch nicht vor ihm fürchtet. Ist das gut!? Und noch gar Lehrer, gelehrte Menschen. Man sieht schon, eure eigene Strenge ist euch mehr wert als eine fremde Seele . . .«
Und als er fühlte, wie frei und rasch sich jetzt plötzlich die Gedanken in seinem Kopfe formten, rief Tichon Pawlowitsch laut:
»Jetzt sollten wir miteinander kämpfen, Lehrer; wer weiß, wer jetzt siegen würde.«
Lukitsch lief wacker auf die Station zu, die jetzt ganz hinter dem Hügel hervorkam, und ihm entgegen kam, pfeifend und schwere Rauchmassen ausstoßend, der Zug und erfüllte die Luft umher mit dumpfem Geräusch.
Dem Geräusch, das der Eisenbahnzug machte, antwortete wie ein Echo der Donner. Die Gewitterwolke kam immer näher und bedeckte schon fast zwei Drittel des Himmels . . .
Einige Minuten später saß Tichon Pawlowitsch schon im Waggon und ließ sich durch die Steppe tragen. Mit den Augen verfolgte er die langen, gelben Kornfelder und die aufgepflügten schwarzen Ackerstreifen.
Den schwarzen Himmel durchzuckten unaufhörlich Blitze und der Donner rollte über dem rasch dahineilenden Zug. Das Klirren der eisernen Ketten und das Knirschen der Räder auf den Schienen ging in dem Getöse des Gewitters unter und die grellen Lichter der Blitze blendeten die Augen.
»Wohin fahre ich?« dachte Tichon Pawlowitsch und drückte sich schüchtern in eine Ecke.
Dort draußen zitterte und wankte alles und bewegte sich, als ginge eine gigantische Zerstörungsarbeit vor sich . . .
»Was hab ich in der Stadt zu tun?« fragte der Müller sich traurig.
Es schüttelte und rüttelte ihn durch und durch. Der Blitz zwang ihn, die Augen zu schließen, und wenn der Donner kam, zitterte er und machte das Zeichen des Kreuzes. Endlich schlief er ein, kläglich in seine Ecke gedrückt.