Brief 24. (Der erste aus Paris.) Rica an Ibben, Smyrna.
Wir sind seit einem Monat in Paris und sind in einer ununterbrochenen Unruhe gewesen. Was für Umstände, bis man eine Wohnung hat, bis man die Leute aufgefunden hat, denen man empfohlen ist, und bis man alles Notwendige beieinander hat!
Paris ist so groß wie Ispahan, seine Häuser sind so hoch, als wenn lauter Sterngucker darin wohnten. Du kannst Dir vorstellen, daß eine Stadt, die so in die Luft hinaufgebaut ist, wo immer sechs oder sieben Häuser übereinander stehen, außerordentlich stark bevölkert ist, und wenn sich alle Leute auf die Straße begeben, ein schönes Gewirr herrscht.
Vielleicht glaubst Du’s mir nicht: aber in dem Monat, den ich nun hier bin, habe ich noch niemand gehen sehen. Es gibt kein Volk auf der Welt, das seine Bewegungsorgane besser ausnützt, als die Franzosen. Sie laufen, sie fliegen! Die langsamen Wagen des Orients, der gleichmäßige Schritt unserer Kamele würde sie in Krämpfe fallen lassen. Ich, der ich für solch langsames Tempo geschaffen bin und der ich oft zu Fuß gehe, ohne meine gewohnte Langsamkeit zu beschleunigen, werde manchmal rasend wie ein Christ. Es mag noch hingehen, daß man mich vom Kopf bis zu den Füßen vollspritzt, aber die Ellenbogenstöße, die ich mit zuverlässiger Regelmäßigkeit bekomme, kann ich den Parisern nicht verzeihen.
Der König von Frankreich ist der mächtigste Fürst von Europa. Er hat keine Goldminen wie sein Nachbar, der König von Spanien, aber seine Reichtümer sind größer, weil er sie aus der Eitelkeit seiner Untertanen zieht, die unerschöpflicher ist als Bergwerke. Man hat es erlebt, daß er Kriege unternahm, ohne andere Hilfsquellen zu besitzen, als den Verkauf von Titeln, und durch eine Wunderwirkung der menschlichen Eitelkeit waren seine Truppen bezahlt, seine Festungen gerüstet, seine Flotten ausgestattet.
Übrigens ist der König ein großer Zauberer. Sogar über den Geist seiner Untertanen übt er seine Herrschaft und zwingt sie zu denken, wie er will. Wenn er nur eine Million in seinem Schatz, zwei aber nötig hat, braucht er ihnen nur zu sagen, daß ein Taler zwei wert sei, und sie glauben es. Wenn er einen schwierigen Krieg zu führen, aber kein Geld hat, braucht er ihnen nur vorzureden, daß Papier Geld sei, und sie sind alsbald davon überzeugt. Er vermag ihnen sogar einzureden, daß er sie von allen Übeln nur durch seine Berührung heilt, so groß ist seine Gewalt über ihre Seelen.
Was ich von diesem Fürsten sage, darf Dich nicht wundern. Es gibt einen zweiten Zauberer, der noch mächtiger ist als er, der über seine Seele dieselbe Macht ausübt, wie er über die der anderen. Dieser Zauberer heißt der Papst: bald redet er ihm vor, daß drei nur eins sei, daß das Brot, das man ißt, kein Brot, und der Wein, den man trinkt, kein Wein sei, und tausend andere derartige Dinge.
Und um sie immer in Atem zu halten und sie die Gewöhnung des blinden Glaubens nicht verlieren zu lassen, gibt er ihnen, um sie in Übung zu halten, von Zeit zu Zeit gewisse neue Glaubensartikel. So schickte er ihnen vor zwei Jahren ein großes Schriftstück, das er Konstitution nannte, und wollte diesen Herrscher und seine Untertanen unter Androhung großer Strafen zwingen, alles, was darin enthalten war, zu glauben. Gegenüber dem Herrscher gelang ihm das. Dieser unterwarf sich und gab damit seinen Untertanen ein Beispiel. Aber einige von diesen empörten sich und sagten, sie wollten nichts von dem Inhalt dieser Schrift glauben. Die Frauen gaben den Anstoß zu dieser Empörung, die den Hof, das Reich und das ganze Land in zwei Lager teilt. Diese Konstitution verbietet den Frauen, ein Buch zu lesen, das nach Auffassung aller Christen ihnen vom Himmel herab gebracht worden, also genau gesprochen ihr Koran ist. Über diese ihrem Geschlecht zugefügte Kränkung waren die Frauen empört und erhoben sich gegen die Konstitution. Sie haben die Männer auf ihre Seite gebracht, die bei dieser Gelegenheit einmal kein Vorrecht vor ihnen haben wollten. Doch muß man zugestehen, daß dieser Mufti (der Papst) gar nicht so unrecht hat, und, beim großen Ali! er muß das aus unseren Gesetzen entnommen haben. Denn da die Frauen ihrer Erschaffung nach eine Stufe unter uns stehen und unsere Propheten uns sagen, daß sie nicht ins Paradies kommen, was sollen sie da auch ein Buch lesen, das nur geschrieben ist, um den Weg nach dem Paradies zu zeigen?
Ich habe vom König ganz wunderbare Dinge erzählen hören, und ich zweifle nicht, daß Du schwanken wirst, sie zu glauben. Man sagt, daß, als er gegen seine Nachbarn Krieg führte, die sich alle gegen ihn verbündet hatten, in seinem Reiche eine Anzahl unsichtbarer Feinde existierte, die ihn umgaben (die Jansenisten). Man fügt hinzu, daß er sie seit dreißig Jahren sucht und daß trotz des unermüdlichen Eifers einiger sein Vertrauen genießender Derwische (der Jesuiten) er noch nicht einen einzigen hat finden können. Sie leben mit ihm, sie sind an seinem Hofe, in seiner Hauptstadt, in seinem Heere, in seinen Gerichtshöfen, und doch sagt man, wird er den Kummer haben, sterben zu müssen, ohne sie entdeckt zu haben. Man möchte sagen, daß sie nur im allgemeinen, nicht im besonderen existieren, sie sind ein Körper, keine Glieder. Ohne Zweifel will der Himmel diesen Fürsten dafür strafen, daß er nicht maßvoll gegen seine von ihm besiegten Feinde gewesen ist; so gibt er ihm unsichtbare, deren Genie und Schicksal dem seinen überlegen ist.
Brief 29. Rica an Ibben, Smyrna.
Der Papst ist das Haupt der Christenheit. Er ist ein altes Idol, das man aus Gewohnheit beweihräuchert. Früher war er selbst den Fürsten gefährlich, denn er setzte sie ebenso ab, wie unsere erhabenen Sultane die Könige von Irimetta und Georgien absetzen. Er nennt sich den Erben eines der ersten Christen, der Sankt Peter hieß, und es handelt sich allerdings um eine reiche Erbschaft, denn er hat unendliche Schätze und ein großes Land unter seiner Herrschaft.
Die Bischöfe sind ihm untergeordnete Autoritäten. Unter seiner Aufsicht haben sie zwei sehr verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Wenn sie versammelt sind, machen sie wie er Glaubenssätze. Wenn sie getrennt sind, haben sie kaum eine andere Aufgabe, als von der Erfüllung des Gesetzes Dispens zu erteilen. Denn Du mußt wissen, daß die christliche Religion mit einer unendlichen Menge sehr schwer erfüllbarer Forderungen beladen ist, und da man gemeint hat, daß es weniger leicht ist, seine Pflichten zu erfüllen, als Bischöfe zu haben, die davon Dispens erteilen, so hat man im Interesse des öffentlichen Nutzens diesen letzteren Ausweg ergriffen. Will man daher den Rahmazan (den Fastenmonat) nicht innehalten, will man sich den Formalitäten der Eheschließung nicht unterwerfen, will man ein Gelübde brechen, will man unter Mißachtung der gesetzlichen Einschränkungen heiraten, manchmal sogar wenn man seinen Eid brechen will, so braucht man nur zum Papst oder zum Bischof zu gehen, der dann Dispens erteilt.
Die Bischöfe machen übrigens die Glaubensartikel nicht selbst. Es gibt eine Anzahl von Doktores, meistens Derwische (d. h. Jesuiten), die unter sich tausend neue Fragen über die Religion aufstellen. Man läßt sie streiten, und der Krieg dauert so lange, bis ein Entscheid ihn beendet.
So kann ich Dir auch versichern, daß es nie ein Reich gegeben hat, wo so viel Bürgerkriege getobt haben wie in Christi Reich.
Die, welche irgend eine neue religiöse Auffassung ans Licht bringen, werden zuerst »Ketzer« genannt. Jede Ketzerei hat ihren besonderen Namen, der für ihre Anhänger gleichsam eine Art Parole bildet. Aber man ist nicht so ohne weiteres Ketzer: man braucht sich nur über den Streitpunkt zu einigen und denen, die die Anklage auf Ketzerei erheben, eine Definition zu geben, und, was das auch für eine Definition ist, verständlich oder nicht, so macht sie ihren Mann weiß wie Schnee und man darf dann hingehen und sich »orthodox« nennen.
Was ich Dir sage, stimmt für Frankreich und Deutschland. In Spanien, so habe ich sagen hören, gibt es gewisse Derwische (die Jesuiten), die keinen Spaß verstehen und die einen Menschen wie Stroh verbrennen. Wenn man in die Hände dieser Leute fällt – glücklich der, der immer zu Gott gebetet hat mit kleinen aufgereihten Holzperlen in der Land, der zwei mit zwei Bändern zusammengeknüpfte Tuchstücke (d. h. ein Skapulier, wie die Mönche es trugen) bei sich getragen hat und der manchmal in einer Provinz gewesen ist, die man Galizien nennt (d. h. der eine Wallfahrt zu dem angeblichen Grabe des Apostels Jakobus in Santiago di Compostella gemacht hat). Ohne das ist ein armer Teufel recht in Verlegenheit. Wenn er auch so aufrichtig schwören würde wie ein Heide, daß er rechtgläubig sei, würde man dennoch an seiner Vollwertigkeit zweifeln und ihn als Ketzer verbrennen.
Brief 46. Usbek an Rhedi, Venedig.
Ich sehe hier Leute, die ohne Aufhören über die Religion disputieren. Aber es scheint, daß sie gleichzeitig darin wetteifern, wer in ihr am lässigsten zu sein vermöge.
Sie – diese Leute – sind nicht allein keine besseren Christen als die anderen, sie sind nicht einmal bessere Bürger, und das geht mir nahe. Denn in welcher Religion man auch leben mag, der Gehorsam gegen die Gesetze, die Liebe zu seinen Mitmenschen, die Liebe gegenüber seinen Verwandten machen immer die Grundlage jeglicher Religion aus.
Muß denn nicht tatsächlich eines jeden religiösen Menschen erste Pflicht sein, der Gottheit, die seine Religion gegründet hat, zu gefallen? Aber das sicherste Mittel, um das zu erreichen, besteht doch zweifellos darin, daß man die Bestimmungen der Gesellschaft und die Pflichten der Humanität erfüllt. Denn gleichviel in welcher Religion man lebt, man muß, sobald man eine gelten läßt, auch annehmen, daß Gott die Menschen liebt, da er eine Religion begründete, um sie glücklich zu machen; man muß ferner annehmen, daß, wenn er die Menschen liebt, man sicher ist, ihm zu gefallen, wenn man sie gleichfalls liebt, d. h. wenn man ihnen gegenüber alle Pflichten der Mildtätigkeit und Menschlichkeit erfüllt und die Gesetze nicht verletzt, unter denen sie leben.
Dadurch kann man Gott viel sicherer gefallen, als wenn man diese oder jene Zeremonie beobachtet. Denn die Zeremonien an sich haben keinen absoluten Wert. Sie sind gut nur insofern, als Gott sie angeordnet hat. Aber das ist eine schwierige Streitfrage, und man kann sich in ihr leicht irren, denn man muß die Zeremonien einer Religion unter denen von zweitausend auswählen.
Ein Mensch betete alle Tage zu Gott: »Herr, ich verstehe nichts von den Streitereien, die man unaufhörlich über dich erhebt. Ich möchte dir gern nach deinem Willen dienen, doch jeder, den ich befrage, verlangt, daß ich es nach seinem tun soll. Wenn ich bete, weiß ich nicht, in welcher Sprache ich es tun soll. Ich weiß auch nicht, welche Haltung ich annehmen soll: der eine sagt, ich müsse stehend zu dir beten, der andere will, daß ich sitzen soll, der dritte verlangt, daß ich kniee. Das ist noch nicht alles. Manche behaupten, daß ich mich alle Morgen mit kaltem Wasser waschen soll; andere behaupten, daß du mich mit Abscheu ansehen wirst, wenn ich mir nicht ein bestimmtes Stückchen Fleisch abschneiden lasse. Neulich begegnete es mir, daß ich in einem Gasthaus ein Kaninchen verzehrte: drei Männer, die sich in der Nähe befanden, jagten mir einen großen Schrecken ein. Sie behaupteten alle drei, daß ich dich schwer gekränkt hätte: der eine – ein Jude – weil dies Tier unrein wäre; der andere – ein Türke – weil es erstickt wäre; der dritte – ein Armenier – weil es kein Fisch wäre. Ein Brahmane, der vorbeikam und den ich zum Richter nahm, sagte mir: ›Die andern haben unrecht. Denn ersichtlich hast du das Tier nicht selbst getötet!‹ ›Doch!‹ erwiderte ich. ›Ach, dann hast du eine verabscheuenswürdige Tat begangen, die Gott dir nie vergeben wird,‹ sagte er mit strengem Ausdruck zu mir. ›Was weißt du, ob nicht deines Vaters Seele in dies Tier übergegangen war?‹ Alle diese Dinge, Herr, bringen mich in unbeschreibliche Verlegenheit. Ich kann nicht den Kopf drehen, ohne in Gefahr zu geraten, dich zu kränken. Und doch möchte ich dir wohlgefallen und dazu das Leben brauchen, das ich von dir habe. Ich weiß nicht, ob ich mich täusche, aber es scheint mir, daß das beste Mittel, um zu diesem Ziele zu gelangen, ist, als ein guter Bürger innerhalb der Gesellschaft zu leben, in die du mich durch meine Geburt versetzt, und als guter Vater in der Familie, die du mir gegeben hast!«
Brief 75. Usbek an Rhedi, Venedig.
Ich muß Dir gestehen, ich habe bei den Christen nicht die lebhafte Überzeugung von der Richtigkeit ihrer Religion beobachtet, die sich bei den Muselmanen findet. Es ist ein weiter Weg bei ihnen von dem Bekenntnis zum Glauben, vom Glauben zur inneren Überzeugung, von der Überzeugung zur Ausübung. Die Religion ist ihnen weniger ein Gegenstand der Heiligung, als ein Gegenstand des Wortstreites für jedermann. Die Hofgesellschaft, die Offiziere, sogar Frauen erheben sich gegen die Vertreter der Kirche und verlangen, daß sie ihnen beweisen sollen, was sie doch von vornherein entschlossen sind, nicht zu glauben. Nicht als ob sie sich aus überlegten Gründen entschieden oder die Mühe gegeben hätten, die Wahrheit oder die Irrigkeit der Religion zu prüfen, die sie verwerfen. Es sind Rebellen, die das Joch gedrückt hat und die es abgeschüttelt haben, ehe sie es recht kannten. Folglich sind sie auch in ihrem Unglauben nicht fester, als sie in ihrem Glauben waren. Sie leben in einem Hin und Her zwischen beiden. Einer von ihnen sagte neulich zu mir: »An die Unsterblichkeit der Seele glaube ich halbjahrweise. Meine Meinungen hängen ganz und gar von meinem körperlichen Befinden ab: je nachdem ich mehr oder weniger stark animalische Bedürfnisse habe, oder mein Magen mehr oder weniger gut verdaut, oder die Luft, die ich atme, schwerer oder leichter ist, die Fleischarten, von denen ich mich nähre, leichter oder schwerer sind, je nachdem bin ich Spinozist, Sozianer, Katholik, gottlos oder fromm. Sitzt der Arzt an meinem Bett, so hat mein Beichtiger leichte Arbeit. Ich weiß es zu verhindern, daß die Religion mir unbequem wird, solange ich mich gesund fühle. Aber ich gestatte ihr, mich zu trösten, wenn ich krank bin: wenn ich von der einen Seite nichts mehr zu hoffen habe, so gewinnt mich die Religion durch ihre Verheißungen. Es ist mir dann schon recht, mich ihr hinzugeben und in ihren Hoffnungen zu sterben.«
Schon vor langer Zeit ließen die christlichen Fürsten alle Sklaven ihrer Länder frei, weil, wie sie sagten, das Christentum alle Menschen gleich macht. Allerdings war diese fromme Handlung für sie zugleich von großem materiellen Nutzen: sie beugten dadurch die großen Herren, deren Macht sie das niedere Volk entzogen. Dann haben sie Eroberungen gemacht in Ländern, wo, wie sie einsahen, die Aufrechterhaltung der Sklaverei ihnen Nutzen versprach. Da gaben sie wieder Erlaubnis zum Sklavenhandel und vergaßen die Grundsätze ihrer Religion, die ihnen angeblich so am Herzen lagen. Was soll ich Dir sagen? Wahrheit heute, morgen Irrtum! Warum machen wir’s nicht wie die Christen? Wir Perser sind eigentlich recht töricht, Kolonien und Eroberungen unter glücklicheren Himmelsstrichen abzuweisen, weil dort das Wasser angeblich nicht rein genug ist, um uns darin nach den Vorschriften des Korans zu waschen.
Ich danke Gott dem Allmächtigen, der Ali, seinen großen Propheten, gesandt hat, dafür, daß ich mich zu einer Religion bekenne, die sich höher stellt als alle irdischen Interessen und rein ist wie der Himmel, von dem sie kam.
Brief 83. Usbek an Rhedi, Venedig.
Wenn es einen Gott gibt, mein lieber Rhedi, so muß er notwendigerweise gerecht sein. Denn wenn er das nicht wäre, so würde er das schlechteste und unvollkommenste aller Wesen sein.
Die Gerechtigkeit ist ein auf Übereinkunft beruhendes Verhältnis, das wirklich zwischen zwei Dingen besteht. Dies Verhältnis ist immer dasselbe, von welchem Standpunkte aus man es auch betrachtet, von dem Gottes, dem eines Engels oder schließlich dem eines Menschen.
Allerdings sehen die Menschen diese Verknüpfung der Dinge nicht immer. Oft sogar, wenn sie sie sehen, kümmern sie sich nicht darum, und ihr eigener Vorteil ist immer das, was sie am deutlichsten sehen. Die Gerechtigkeit erhebt wohl ihre Stimme, aber es wird ihr schwer, sich in dem Lärm der Leidenschaften Gehör zu verschaffen.
Die Menschen können Ungerechtigkeiten begehen, weil sie ein Interesse daran haben, sie zu begehen, und ihre eigene Befriedigung der Beglückung anderer vorziehen. Stets handeln sie aus irgend einer Rücksicht auf sich selbst: um der Sache selbst willen allein ist niemand schlecht. Ein Grund, der sie bestimmt, muß vorhanden sein, und der liegt immer in irgend einem selbstsüchtigen Interesse.
Daß aber Gott etwas Ungerechtes tut, ist nicht möglich. Vorausgesetzt, daß er das Gerechte erkennt, muß er es auch notwendigerweise tun. Denn da er für sich keine Bedürfnisse hat und sich selbst genügt, würde er das schlechteste aller Wesen sein, weil er es ohne eine materielle Rücksicht wäre.
Also, wenn es keinen Gott gäbe, müßten wir immer doch die Gerechtigkeit lieben, d. h. alle unsere Kräfte sammeln, um jenem Wesen zu gleichen, von dem wir eine so vornehme Vorstellung haben und das, wenn es existierte, notwendigerweise gerecht sein müßte. Frei von dem Joch der Religion, wie wir es sein würden, dürften wir es nicht von dem der Gerechtigkeit sein.
Das, lieber Rhedi, hat mich auf den Gedanken geführt, daß die Gerechtigkeit ewig ist und nicht von menschlichen Satzungen abhängt. Und wenn sie davon abhinge, so wäre das eine entsetzliche Tatsache, die man sich gar nicht eingestehen dürfte.
Wir sind von Menschen umringt, die stärker sind als wir. Sie können uns auf tausend verschiedene Arten schaden. Dreimal von viermal können sie es ungestraft tun: Welche Beruhigung für uns, zu wissen, daß es im Herzen aller dieser Menschen ein Prinzip gibt, das zu unseren Gunsten eintritt und uns gegen ihre bösen Absichten deckt!
Ohne das müßten wir in einer unaufhörlichen Angst sein. Wir würden an unsern Mitmenschen vorbeigehen wie an wilden Tieren und wir würden uns nicht einen Augenblick unseres Besitzes sicher fühlen, noch unserer Ehre, noch unseres Lebens.
Alle diese Erwägungen bringen mich gegen jene Gelehrten auf, die Gott als ein Wesen hinstellen, das von seiner Macht einen tyrannischen Gebrauch macht; die ihn in einer Weise handeln lassen, in der wir selbst nicht handeln möchten aus Besorgnis, ihn zu kränken; die ihn mit all den Unvollkommenheiten belasten, die er in uns straft, und die ihn in ihren widerspruchsvollen Äußerungen bald als ein böses Wesen darstellen, bald als eins, das das Böse haßt und straft.
Welche Genugtuung für den sich einer Selbstprüfung unterziehenden Menschen, wenn er sein Herz von Gerechtigkeitsliebe erfüllt findet! Diese Freude, so ernst sie ist, muß überwältigend sein. Er sieht sich ebenso hoch über denen, die nicht so sind, wie er über Tigern und Bären steht. Ja, Rhedi, wenn ich gewiß wäre, stets dieser Gerechtigkeit zu folgen, die mir so deutlich vor Augen steht, würde ich mich für den Ersten aller Menschen halten.
Brief 85. Usbek an Mirza, Ispahan.
Du weißt, Mirza, daß einige Minister von Cha-Soliman den Plan gefaßt hatten, alle Armenier in Persien zu zwingen, entweder das Königreich zu verlassen oder Mohammedaner zu werden, indem sie meinten, daß unser Reich immer befleckt sein würde, solange es diese Ungläubigen in seinem Schoß behalten würde.
Es wäre um die Größe Persiens geschehen gewesen, wenn der blinde Fanatismus bei dieser Gelegenheit die Oberhand behalten hätte.
Man weiß nicht, warum die Sache mißlang. Weder die, welche den Vorschlag gemacht hatten, noch ihre Gegner hatten Gelegenheit, seine Folgen kennen zu lernen. Der Zufall besorgte die Geschäfte der Vernunft und der Politik und rettete das Reich von einer Gefahr, die größer war als irgend der Verlust einer Schlacht oder die Einbuße zweier Städte.
Durch die Proskription der Armenier fürchtete man, an einem Tage alle Großkaufleute und fast alle Handwerker des Reiches zu vernichten. Ich bin sicher, daß der große Cha-Abas es vorgezogen hätte, sich beide Arme abzuschneiden, als solchen Erlaß zu unterzeichnen. Er hätte gemeint, wenn er seine arbeitsamsten Untertanen dem Mogul und den andern indischen Königen zutriebe, diesen die Hälfte seines Reiches zu schenken.
Die Verfolgungen, denen unsere eifrigen Mohammedaner die Parsen ausgesetzt haben, zwangen sie, massenhaft nach Indien auszuwandern, und beraubten Persien dieses Volkes, das so eifrig im Ackerbau und allein imstande war, durch seinen Fleiß die Unfruchtbarkeit unseres Bodens auszugleichen.
Es blieb dem Fanatismus noch ein zweiter Vorstoß auszuführen, nämlich die Industrie zu vernichten, das beste Mittel, um das Reich völlig niederzuwerfen und mit ihm eben dieselbe Religion, der man zur Blüte und Macht verhelfen wollte.
Wenn man ohne vorgefaßte Meinung an die Frage herantreten will, lieber Mirza, so weiß ich nicht, ob es nicht ein Segen ist, wenn in einem Reiche mehrere Religionen vorhanden sind.
Man macht die Beobachtung, daß die Anhänger geduldeter Religionen sich gewöhnlich ihrem Vaterlande nützlicher erweisen als die Anhänger der herrschenden. Denn, von den Ehrenstellen ausgeschlossen, können sie sich nur durch ihren Reichtum auszeichnen und sind somit darauf angewiesen, solchen durch emsige Arbeit zu erwerben und sich in den mühseligsten Erwerbszweigen zu betätigen.
Da übrigens alle Religionen ohne Unterschied sozial wertvolle Vorschriften enthalten, so ist es gut, wenn sie eifrig gepflegt werden. Welch besseres Mittel gibt es nun aber, um diesen Eifer anzustacheln, als wenn die Vielheit der Religionen ihn zum Wetteifer wandelt?
Das sind Rivalen, die sich nichts nachsehen! Die Eifersucht bemächtigt sich jedes einzelnen, jeder ist auf seiner Hut und scheut sich, Dinge zu tun, die seine Partei schädigen und sie der Verachtung oder unerbittlichen Verurteilung der Gegenpartei aussetzen könnten.
So hat man auch beobachtet, daß die Einführung einer neuen Sekte in einem Staat das sicherste Mittel ist, um alle Mißbräuche der alten zu beheben.
Was will die Behauptung besagen, es sei nicht im Interesse eines Fürsten, mehrere Religionen in seinem Lande zu dulden? Wenn sich alle Sekten der Welt darin sammelten, würde ihm das keinen Schaden tun, weil es keine gibt, die nicht den Gehorsam vorschreibt und nicht die Unterwürfigkeit predigt.
Ich gebe zu, daß die Geschichte voll ist von Religionskriegen. Aber man hüte sich, zu glauben, daß die Vielheit der Religionen diese Kriege hervorgerufen habe! Das war vielmehr immer der Geist der Unduldsamkeit, von dem die sich für herrschend haltende erfüllt war. Das war jener Trieb des Proselytentums, den die Juden von den Ägyptern übernommen haben und der von ihnen wie eine Volkskrankheit auf die Mohammedaner und die Christen übergegangen ist. Das war endlich jener Schwindelgeist, dessen Umsichgreifen nur als eine gänzliche Verdunkelung der menschlichen Vernunft betrachtet werden kann.
Denn schließlich, wenn selbst in der Beunruhigung fremder Gewissen keine Unmenschlichkeit läge, wenn selbst keine der zu tausend daraus hervorkeimenden schlechten Folgen einträte, eins kann niemand übersehen, wenn er anders bei gesundem Verstande ist: wer mich zu einem Religionswechsel veranlassen will, tut es sicherlich nicht, weil er selbst einem solchen Versuche nachgeben würde. Er findet es also sonderbar, daß ich nicht etwas tun mag, was er selbst vielleicht für alle Königreiche der Erde nicht tun würde.
Brief 35. Usbek an Gemchid, seinen Vetter, Derwisch in dem erhabenen Kloster von Tauris.
Was denkst Du von den Christen, erhabener Derwisch? Glaubst Du, daß es ihnen am jüngsten Tage so gehen wird wie den ungläubigen Türken, die den Juden als Esel dienen werden, um sie im Galopp in die Hölle zu tragen? Ich weiß wohl, daß sie nicht an den Aufenthaltsort der Propheten kommen werden und daß der große Ali nicht für sie erschienen ist. Aber glaubst Du, daß sie, weil sie bedauerlicherweise keine Moscheen im Lande haben, zu ewigen Strafen verurteilt sein werden, daß Gott sie strafen wird, weil sie eine Religion nicht angenommen haben, die er ihnen gar nicht offenbart hat? Ich kann Dir sagen, ich habe diese Christen oft prüfend ausgeforscht, ob sie von dem großen Ali, dem herrlichsten aller Menschen, eine Vorstellung hätten: ich habe gefunden, daß sie nie von ihm haben reden hören.
Sie gleichen nicht jenen Ungläubigen, die unsere Propheten über die Klinge springen ließen, weil sie sich weigerten, an die Wunder des Himmels zu glauben. Sie sind vielmehr wie jene Unglücklichen, die im Dunkel des Götzendienstes dahinlebten, ehe das göttliche Licht das Antlitz unseres großen Propheten erleuchtete.
Übrigens findet man bei genauerer Prüfung auch in ihrer Religion gleichsam Keime unserer Dogmen. Ich habe oft die geheimen Absichten der göttlichen Vorsehung bewundert, die auf diese Weise der allgemeinen Bekehrung zum Islam den Weg bereiten wollte. Ich habe von einem Buche ihrer Gelehrten, »Die triumphierende Vielweiberei« betitelt, reden hören, in dem bewiesen sei, daß den Christen die Vielweiberei anbefohlen ist. Ihre Taufe ist das Abbild unserer vorgeschriebenen Waschungen, und die Christen irren sich nur hinsichtlich der Wirksamkeit, die sie dieser ersten Waschung geben: sie soll nach ihrer Ansicht alle anderen ersetzen. Ihre Priester und ihre Mönche beten wie unsere siebenmal am Tage. Sie hoffen auf ein Paradies, wo sie durch eine Auferstehung des Körpers tausend Freuden genießen werden. Wie wir, haben sie festgesetzte Fasten, Kasteiungen, mit denen sie das göttliche Erbarmen zu erweichen hoffen. Sie verehren die guten Engel und mißtrauen den bösen. Sie haben eine heilige Gläubigkeit für die Wunder, die Gott durch das Werkzeug seiner Diener vollbringt. Sie erkennen wie wir die Unzulänglichkeit ihrer eigenen Verdienste an und daß sie eines Sachwalters vor Gott bedürfen. Überall finde ich den Mohammedanismus, obschon ich Mohammed selbst nicht sehe. Was hilft es: die Wahrheit macht sich doch immer Bahn und durchbricht die Schatten, die sie umhüllen. Ein Tag wird kommen, wo der Ewige auf Erden nur noch Gläubige sehen wird. Die Zeit, die alles verzehrt, wird auch die religiösen Irrtümer vernichten. Alle Menschen werden erstaunt sein, sich unter demselben Banner zusammenzufinden. Alles, auch das Gesetz, wird erfüllet sein, und seine göttlichen Niederschriften werden aufgehoben werden von Erden, um im himmlischen Archiv niedergelegt zu werden.
Brief 125. Rica an * * * *.
In allen Religionen ist man in Verlegenheit, wenn es sich darum handelt, eine Vorstellung von den Freuden zu geben, die der Menschen harren, die tugendhaft gelebt haben. Die Bösen schreckt man leicht durch eine lange Aufzählung der Strafen, die ihnen drohen. Aber was die Guten betrifft, weiß man nicht recht, was man ihnen versprechen soll. Es scheint in der Natur der Freuden zu liegen, daß sie von kurzer Dauer sind. Der Einbildungskraft fällt es schwer, sich andere vorzustellen.
Ich habe Beschreibungen vom Paradies gesehen, die allen vernünftigen Leuten den Geschmack daran verderben könnten: die einen lassen diese glückseligen Schatten den ganzen Tag Flöte spielen, andere verdammen sie zu der Qual, in alle Ewigkeit spazieren zu wandeln; andere endlich, die sie da droben von ihren Geliebten hier auf Erden träumen lassen, haben nicht bedacht, daß hundert Millionen Jahre lang genug sind, um ihnen den Gefallen an diesen verliebten Gedanken gründlich zu benehmen.
Ich entsinne mich bei dieser Gelegenheit einer Geschichte, die ein Mann erzählte, der im Lande des Mogul gewesen war. Sie zeigt, daß die indischen Priester in den Vorstellungen, die sie von den Freuden des Paradieses haben, nicht minder unfruchtbar sind, als die andern.
(Es folgt die Geschichte einer jungverwitweten Indierin, die sich nach altgeheiligter Sitte verbrennen lassen will. Ein Bonze bestärkt sie in diesem Beschluß, indem er ihr das Paradies verheißt. Als dessen höchste Freude weiß er aber nur anzuführen, daß sie dort ihren Mann wiederfinden und mit ihm von neuem eine Ehe eingehen wird. Da ruft sie aus: »Was sagst du? Ich soll meinen Mann wiederfinden? Ach, dann verbrenne ich mich nicht! Er war eifersüchtig, grämlich und übrigens so alt, daß, wenn Brahma ihn nicht umgestaltet hat, er meiner nicht bedarf+… Wenn Brahma mir weiter nichts anzubieten hat, verzichte ich auf diese Glückseligkeit.«)
Brief 57. Usbek an Rhedi, Venedig.
Die Lebemänner unterhalten hier eine Anzahl von Freudenmädchen, und die Frommen eine unendliche Zahl von Derwischen. Diese Derwische tun drei Gelübde: Gehorsam, Armut und Keuschheit. Man sagt, das erste hielten sie am besten. Vom zweiten kann ich Dir verbürgen, daß es nicht gehalten wird. Aber das dritte – das magst Du Dir selbst denken.
Aber so reich diese Derwische auch sind, sie verzichten nicht auf die Bezeichnung als Arme. Eher würde unser ruhmreicher Sultan auf seine stolzen und erhabenen Titel verzichten. Und sie haben recht: dieser Titel »Arme« bewahrt sie davor, arm zu sein.
Die Ärzte und einige dieser Derwische, die man Beichtväter nennt, sind hier immer entweder zu sehr geachtet oder zu sehr mißachtet. Indessen sagt man, daß die Erben sich eher mit den Ärzten als mit den Beichtvätern zu stellen wissen.
Neulich war ich in einem Kloster dieser Derwische. Einer unter ihnen, verehrungswürdig anzuschauen mit seinen weißen Haaren, empfing mich sehr liebenswürdig. Er zeigte mir das ganze Haus. Dann gingen wir in den Garten und hatten da folgende Unterhaltung.
»Mein Vater,« sagte ich zu ihm, »welche Beschäftigung haben Sie in der Gemeinde?«
»Mein Herr,« antwortete er mir, und seine Miene drückte große Befriedigung über meine Frage aus, »ich bin Kasuist.«
»Kasuist? Seit ich in Frankreich bin, habe ich von diesem Amt noch nicht reden hören.«
»Was, Sie wissen nicht, was ein Kasuist ist? Nun, dann will ich Ihnen eine Vorstellung davon geben, die nichts zu wünschen übrig läßt. Es gibt zwei Arten von Sünden: Todsünden, die durchaus vom Paradies ausschließen, und verzeihliche Sünden, die den lieben Gott zwar auch kränken, aber nicht so sehr, daß er uns deshalb die Seligkeit vorenthielte. Nun besteht unsere ganze Kunst darin, diese beiden Sorten Sünde gut zu unterscheiden. Denn mit Ausnahme einiger Wüstlinge wollen alle Christen ins Paradies kommen, doch möchte es jeder auch so billig wie möglich verdienen. Wenn man nun die Todsünden genau kennt, versucht man, sie nicht zu begehen, und erreicht so seinen Zweck. Es gibt nun auch Menschen, die nach einer so großen Vollkommenheit nicht streben, und da sie keinen Ehrgeiz besitzen, so beanspruchen sie auch nicht grade die ersten Plätze. So genügt es ihnen denn auch, wenn sie grade noch ins Paradies kommen. Wenn sie nur drin sind! Ihr Ziel ist, nicht mehr und nicht weniger zu tun! Das sind Leute, die den Himmel grade noch erschnappen und die zum Herrgott sagen: Herr, ich habe die Bedingungen vorschriftsmäßig erfüllt, du kannst nicht umhin, deine Versprechungen zu erfüllen. Da ich nicht mehr getan habe, als du verlangst, erlasse ich dir auch, mehr zu geben, als du mir versprochen hast. Wir sind also sehr notwendige Menschen, mein werter Herr. Doch ist das noch nicht alles. Ich werde Ihnen noch ganz etwas anderes sagen. Nicht die Handlung macht das Verbrechen aus, sondern die Kenntnis dessen, der es begeht. Wer ein Verbrechen begeht, hat so lange ein reines Gewissen, als er glauben kann, daß es keins ist, und da es eine Unzahl zweideutiger Handlungen gibt, so kann ein Kasuist ihnen einen Grad von Güte geben, den sie nicht haben, wenn er sie für gut erklärt, und vorausgesetzt, daß er davon überzeugen kann, daß sie kein Gift enthalten, so nimmt er es ihnen ganz. Damit teile ich Ihnen das Geheimnis eines Gewerbes mit, in dem ich alt geworden bin. Ich zeige Ihnen seine Feinheiten: Allen Dingen kann man eine Wendung geben, selbst denen, die am wenigsten danach aussehen.«
»Mein Vater,« sagte ich, »das ist alles recht schön. Aber wie finden Sie sich mit dem Himmel ab? Wenn der Sophi an seinem Hof einen Mann hätte, der ihm gegenüber so handelte wie Sie gegenüber Ihrem Gott, der seinen Befehlen die Bedingungslosigkeit nähme, der seine Untertanen belehrte, wann sie dieselben befolgen müssen und wann verletzen dürfen, würde er ihn sofort pfählen lassen.«
Damit grüßte ich meinen Derwisch und verließ ihn, ohne seine Antwort abzuwarten.