Brief 94. Usbek an Rhedi, Venedig.
Ich habe niemals vom öffentlichen Recht reden hören, ohne daß man nicht eine genaue Untersuchung darüber angestellt hätte, welches der Ursprung der menschlichen Gemeinschaft sei. Das scheint mir lächerlich. Wenn die Menschen keine Gemeinschaft bildeten, wenn sie sich sonderten und mieden, dann müßte man nach dem Grund fragen und untersuchen, warum sie sich getrennt halten. Aber von ihrer Geburt an sind sie, alle mit allen, verknüpft. Ein Sohn kommt neben seinem Vater zur Welt und hält sich an ihn: das ist Gemeinschaft und der Ursprung der Gesellschaft.
Das öffentliche Recht ist in Europa bekannter als in Asien. Indessen kann man sagen, daß die Leidenschaften der Fürsten, die Geduld der Völker und die Schmeichelei der Rechtsschriftsteller alle seine Grundsätze entstellt haben.
Dies Recht, so wie es heute ist, ist eine Wissenschaft, die die Fürsten lehrt, bis zu welchem Punkt sie die Gerechtigkeit verletzen können, ohne ihre eigenen Interessen zu schädigen. Welch Unterfangen, lieber Rhedi, wenn man, um ihr Gewissen hart und fühllos zu machen, die Ungerechtigkeit in ein System bringt, ihr Regeln gibt, Grundsätze aus ihr ableitet, und Folgerungen aus ihr zieht!
Die unumschränkte Macht unserer erhabenen Sultane, die kein anderes Gesetz kennt als sich selbst, erzeugt nicht mehr Ungeheuer, als diese unwürdige Kunst, die die unbeugsame Gerechtigkeit zu beugen unternimmt.
Man sollte meinen, Rhedi, daß es zweierlei Gerechtigkeiten gibt, die voneinander ganz verschieden seien. Die eine regelt die Angelegenheiten der einzelnen und herrscht im bürgerlichen Recht. Die andere schlichtet die Streitigkeiten zwischen Volk und Volk und herrscht wie ein Tyrann im öffentlichen Recht – als wenn das öffentliche Recht nicht auch ein bürgerliches Recht wäre, freilich nicht mit dem Anspruch auf Gültigkeit für ein einzelnes Volk, sondern für die ganze Welt!
In einem anderen Briefe werde ich Dir meine Gedanken darüber auseinandersetzen.
Brief 95. Usbek an denselben. (Fortsetzung.)
Die Beamten sollen Recht sprechen zwischen Bürger und Bürger, jedes Volk soll es sprechen zwischen sich und jedem andern Volke. In dieser zweiten Rechtsprechung kann man keine anderen Grundsätze anwenden als bei der ersten.
Zwischen Volk und Volk bedarf es selten eines dritten, um ein Urteil zu fällen, weil die Gegenstände des Streites fast immer klar und leicht bestimmbar sind. Die Interessen zweier Nationen sind meist so getrennt, daß ein Volk, um das Rechte zu finden, es nur aufrichtig zu lieben braucht; ein Volk kann in eigener Sache kaum blind sein.
Es ist mit den zwischen Privatleuten auftretenden Streitigkeiten anders. Da sie in geselligen Beziehungen leben, sind ihre Interessen so vermengt und vermischt, es gibt deren so mannigfaltige, daß unvermeidlich ein dritter zu entwirren versuchen muß, was die Begehrlichkeit der Parteien verdunkeln möchte.
Es gibt nur zwei Arten von gerechten Kriegen, die einen, die geführt werden, um einen angreifenden Feind zurückzuweisen, die anderen, um einem angegriffenen Bundesgenossen zu helfen.
Keine Gerechtigkeit läge in einem Kriege, der unternommen würde, um private Streitigkeiten des Herrschers auszutragen, vorausgesetzt, daß der Fall nicht so schwer läge, daß er den Tod des Fürsten oder des Volkes verdiente, von denen das Unrecht begangen wäre. Also darf ein Fürst nicht einen Krieg wegen einer ihm verweigerten Ehrenbezeigung anfangen, auch nicht, weil man seinen Gesandten nicht in der gehörigen Weise begegnet ist, oder aus ähnlichen Gründen – so wenig wie ein Privatmann jemanden töten darf, der ihm den ihm gebührenden Vorrang streitig macht. Der Grund liegt darin, daß, da die Kriegserklärung immer ein Akt der Gerechtigkeit sein soll, bei dem die Strafe dem Vergehen entspricht, man immer prüfen muß, ob der, dem man den Krieg erklärt, den Tod verdient. Denn mit jemand Krieg anfangen, heißt, ihn mit dem Tode bestrafen wollen.
Im Staatenrecht ist der strengste Akt der Justiz der Krieg, weil er als Folge die Zerstörung eines Gemeindewesens haben kann.
Repressalien gehören ihrer Strenge nach zur zweiten Stufe.
Ein dritter Akt der Justiz besteht darin, einen fremden Fürsten der Vorteile zu berauben, die er aus unserm Lande ziehen kann, indem wir immer Strafmaß und Vergehen ins richtige Verhältnis setzen.
Der vierte Akt der Justiz, der der häufigste sein darf, besteht in der Kündigung des Bündnisses mit dem Volke, über das man sich zu beklagen hat.