Brief 128. Rica an Usbek.
Neulich ging ich mit einem Freunde über den Pont-Neuf. Da traf dieser einen Bekannten, der, wie er mir sagte, Mathematiker war. Und alles in seinem Äußeren stimmte dazu, denn er war tief in Gedanken. Mein Freund mußte ihn lange am Ärmel zupfen und ihn schütteln, um ihn auf die platte Erde zu bringen, so beschäftigte ihn die Berechnung einer Kurve, die ihn vielleicht seit acht Tagen plagte. Sie begrüßten sich mit vielen Liebenswürdigkeiten und tauschten einige literarische Neuigkeiten aus. Diese Gespräche führten sie bis zur Tür eines Cafés, wo ich mit ihnen eintrat.
Ich bemerkte, daß unser Mathematiker dort von jedermann mit eifriger Zuvorkommenheit empfangen wurde, und daß die Kellner ihm viel mehr Aufmerksamkeit widmeten, als zwei Musketieren, die in einer Ecke saßen. Auch ihm merkte man an, daß er sich behaglich fühlte, denn sein Gesicht hellte sich etwas auf, und er begann heiter zu lachen, als wenn er nie mit Mathematik zu tun gehabt hätte.
Aber sein an Regelmäßigkeit gewöhnter Geist vermaß prüfend alles, was in der Unterhaltung gesagt wurde. Er glich dem Manne, der in seinem Garten allen Blumen die Köpfe abhieb, die länger waren als die anderen. Ein Märtyrer seiner Genauigkeit, fühlte er sich von jedem Seitensprung gekränkt, wie ein zu empfindliches Auge von einem zu grellen Lichte geblendet wird. Nichts war für ihn gleichgültig, wenn es eine Wahrheit darstellte. So war denn auch seine Unterhaltung seltsam genug. Er kehrte an dem Tage grade vom Lande zurück mit einem Herren, der seinerseits ein stolzes Schloß und prächtige Gärten gesehen hatte. Er dagegen hatte nur ein Gebäude von 60 Fuß Länge und 30 Fuß Breite gesehen und ein oblonges Boskett von 10 Klaftern. Er hätte gewünscht, die Gesetze der Perspektive wären in dem Garten derartig angewendet worden, daß alle Gänge gleichlang erschienen wären, und er hätte auch eine unfehlbare Methode dazu angeben können. Er schien von einer Sonnenuhr sehr entzückt, die er dort entdeckt hatte, und geriet gegen den mich begleitenden Gelehrten sehr in Hitze, als ihn dieser fragte, ob die Uhr babylonische Stunden anzeigte. Ein Neuigkeitskrämer sprach von der Beschießung des Schlosses von Fontarabia und der Mathematiker gab uns plötzlich die Formel für die von den Bomben beschriebenen Flugbahnen, und, zufrieden, das zu wissen, wollte er von der Wirkung nichts hören. Ein Anwesender beklagte sich, im vergangenen Winter von einer Überschwemmung heimgesucht zu sein. Da sagte der Mathematiker: »Was Sie da mitteilen, ist mir sehr interessant. Ich sehe, daß ich mich in meinen Beobachtungen nicht getäuscht habe, und daß mindestens zwei Zoll mehr Wasser auf der Erdoberfläche gefallen ist, als vergangenes Jahr.«
Einen Augenblick später verließ er das Café und wir folgten ihm. Da er ziemlich rasch ging und nicht vor sich sah, so traf er gradenwegs mit einem andern Manne zusammen. Der Stoß war heftig und jeder prallte zurück im umgekehrten Verhältnis ihrer Massen und Geschwindigkeiten. Als sie sich ein wenig von ihrer Betäubung erholt hatten, führte der andere Mann seine Hand zur Stirne und sagte zu dem Mathematiker: »Ich freue mich, daß Sie gegen mich gerannt sind, denn ich habe Ihnen eine große Neuigkeit mitzuteilen: ich habe eben Horaz der Öffentlichkeit übergeben.« »Wie?« sagte der Mathematiker, »der ist ja schon seit zweitausend Jahren veröffentlicht!« »Sie verstehen mich nicht«, erwiderte der andere, »es handelt sich um eine Übersetzung dieses alten Dichters, die ich veröffentlicht habe; ich beschäftige mich seit zwanzig Jahren damit, Übersetzungen zu machen.«
»Was, werter Herr?« sagte der Mathematiker, »seit zwanzig Jahren haben Sie das Denken aufgegeben? Sie sprechen für die andern und jene denken für Sie?« – »Wie?« sagte der Gelehrte, »meinen Sie, daß ich dem Publikum keinen großen Dienst geleistet habe, indem ich ihm die Lesung guter Schriftsteller ermöglichte?« – »Das will ich nicht grade sagen. Ich schätze die großen Ingenia, die Sie umgestalten, wie nur einer. Aber Sie werden ihnen nie gleichen, denn Sie wird man nie übersetzen. Die Übersetzungen gleichen jenen Kupfermünzen, die wohl denselben Zahlwert haben wie die Goldmünzen und fürs Volk sogar wohl brauchbarer sind. Aber sie bleiben immer minderwertig und von geringem Feingehalt. Sie wollen, wie Sie sagen, die berühmten Toten unter uns wieder zum Leben erwecken, und ich gestehe, daß Sie ihnen auch einen Körper geben. Aber Sie geben ihnen nicht das Leben mit: es fehlt immer der Geist, um ihnen Leben einzuhauchen. Warum bemühen Sie sich nicht um die Aufdeckung der zahlreichen schönen Wahrheiten, die uns eine leichte Rechnung täglich finden läßt?«
Nach dieser kleinen Auseinandersetzung trennten sie sich, wie ich glaube, sehr unzufrieden von einander.