Der fünfte Kalif aus dem ruhmreichen Geschlechte der Abassiden war Mehdis kluger Sohn Harun al Raschid.
Im Morgenland wissen sie noch viel von ihm zu berichten. Alle erzählen von ihm, von dem simplen Kameltreiber bis hinauf zum Statthalter, der im Namen des Schattens Gottes Recht spricht.
Aber auch im Abendlande, das er selbst nie gesehen, nur mit Gesandschaften beglückt hat, kennt man ihn. Nicht als mächtiger Herr von Bagdad, nicht als gewaltiger Kriegsheld, der dem byzantinischen Kaiser den Tribut abtrotzte, nicht als Freund Karls des Großen wäre sein Bild auf unsere Tage gekommen, wenn nicht jene schönen arabischen Erzählungen so gern von ihm handelten, jene wunderbare Sammlung von Märchen voll Geist, Witz und Farbenpracht, die unter dem Namen „Tausend und eine Nacht“ bekannt ist.
In den seltsamen Geschichten, die die liebliche Sultanin Schehersad dem grausamen Sultan Scheherban erzählt, die Mordlust des Tyrannen einzuschläfern, kehrt sie immer wieder, die sympathische Gestalt des großen Kalifen, der so gerecht wie klug war. Typisch für die Art, wie sich die braunen Wüstensöhne unter den schattenden Palmen der Oase bei Datteln und Hirsebrot gern das Bild ihres größten Fürsten heraufbeschwören, ist Schehersads Erzählung in der vierundsiebzigsten Nacht, in der das wunderliche Märchen von den drei Äpfeln und der zerstückelten Frau beginnt.
„Man behauptet, o König der Zeit und Herr der Äonen“, so fängt Schehersad in jener Nacht ihre Geschichte an — „der Kalif Harun al Raschid habe in der Nacht einmal seinen Wesir Djafar rufen lassen und ihm gesagt: Wir wollen miteinander in die Stadt gehen und hören, was es in der Welt Neues gibt. Wir wollen die Leute über die Urteile der Richter ausfragen und den absetzen, über welchen man sich beklagt, und den belohnen, den man lobt….“
— — — Mir fällt dabei nur eine kleine Geschichte ein, die einige Ähnlichkeit hat mit manchem Abenteuer des großen Kalifen Harun al Raschid, der unerkannt als geringer Mann verkleidet durch die Straßen von Bagdad ging und lauschte und erfuhr, was das Volk über ihn dachte.
Und wenn ich so lächelnd an jenes seltsame Begebnis zurückdenke, dann will’s mir vorkommen, als ob jeder von uns, wenn er nur lange genug atmet, seine vierundsiebzigste Nacht erleben könnte.
Man muß das für keine Absurdität halten, was ich da sage. Ich weiß sehr wohl, daß — schlicht arithmetisch genommen — die „vierundsiebzigste Nacht“ den Menschen noch als Säugling trifft, der mehr oder minder rasch und reinlich seine Milch verdaut und für die Geschehnisse der Außenwelt stumpf, blöd und ohne Teilnahme ist; obschon die Mutter — aber auch nur die Mutter — bereits ein gewinnendes, verständnisinniges Lächeln zuweilen bei ihm bemerken will. Ich fasse also die vierundsiebzigste Nacht — das sei allen Wortreitern und Silbenstechern angemerkt — im übertragenen Sinne, im Geist des Märchens vom Kalifen Harun al Raschid…
Es werden jetzt bald zehn Jahre, da stand ich an einem beträchtlich kalten Novemberabend auf dem Perron des Bahnhofs meiner süddeutschen Vater stadt und wartete auf den würdigen Hans Eduard Meßmann, wartete auf ihn mit dem ganzen freudigen Enthusiasmus, den meine Jugend und zwei Glas eben in der Restauration genossenen Grogs mir verliehen.
Hans Eduard Meßmann stand damals — so sagten die Zeitungen — auf der Höhe seines Ruhmes.
Er selbst sah die Sache anders an. Er wußte, daß sich bald vier arbeitsreiche Jahrzehnte sein liebes Vaterland und dessen gebildetes Publikum, für das er seine formvollendeten Epen und seine gedankenreiche Lyrik geschaffen, herzlich wenig um ihn bekümmert hatte. Besonders kluge und belesene Leute hatten ihn „stets geschätzt“. Er hatte glühende Verehrer, aber sie glühten im stillen. Die Buchhändler bliesen den Staub von den Bücherreihen auf den höchsten Regalen unter der Decke, wenn man nach ihm fragte. Die Inhaber von Leihbibliotheken zuckten bedauernd die Achseln: „Wird zu wenig gefragt.“ Und Professoren der neueren Literaturgeschichte schrieben seinen Namen nicht immer richtig, wenn sie ihn zu irgend einer Denkmalsspende oder einem patriotischen Aufruf heranziehen wollten.
Da kam sein siebzigster Geburtstag.
Wer es war, der Jahreszahl und Datum richtig entdeckte, bleibt dahingestellt. Jedenfalls es stimmte, Hans Eduard Meßmann wurde in jenem November siebzig Jahre alt.
Es bildete sich rasch ein Komitee.
Das ist das Schöne und Zuversichtliche bei uns Deutschen: man kann nicht immer wissen, was sich etwa sonst noch in der Zukunft bilden wird. Aber eins ist sicher: Komitees werden sich bilden. Mit einem ersten Vorsitzenden, einem zweiten Vorsitzenden und einem Schriftführer. Mit Leuten, die viel reden und wenig bezahlen; und mit anderen Leuten, die sehr viel bezahlen und den Mund zu halten haben.
Nach diesem altbewährten Rezept, das der Deutsche mindestens so heilig hält, wie die frommen Karthäuser der Grande Chartreuse das ihrige, bildete sich auch ein Komitee für die Feier des siebzigsten Geburtstages Hans Eduard Meßmanns, der, wie der schwungvolle Aufruf zur Teilnahme besagte, „in einem arbeitsreichen Leben die geistigen Schätze der Nation liebevoll gemehrt und durch seine unvergleichliche, echt deutsche Kunst, durch den Wohllaut seiner Lieder und die tiefe Bedeutsamkeit seiner epischen Gesänge sich die dauernde, heiße Dankbarkeit des Volkes erworben, das ihn voll Stolz aus seiner Mitte hervorgehen sah“.
Es war ein wirklich sehr schöner Aufruf. Und ein sehr schönes Komitee mit einem ersten Vorsitzenden, mit einem zweiten Vorsitzenden, mit zwei Beisitzern und zwei Schriftführern.
Nach mehrwöchentlichen Beratungen war man übereingekommen, des großen Hans Eduard Meßmann siebzigstes Wiegenfest in dem kleinen Odenwaldstädtchen zu feiern, das seine Heimat war und das er in seinem reizvollen Idyll „Die silberne Quelle im Odenwald“ in Sohnestreue verherrlicht hat.
Auch Verhandlungen, sein bescheidenes Geburtshaus anzukaufen, wurden eingeleitet. Ein Bankier aus der Bukowina zeichnete den Löwenanteil der dazu nötigen Summe. Leider stellte sich später heraus, daß man das verkehrte Haus in der Melibokusstraße gekauft hatte, nämlich Nr. 15 statt 17; ein baufälliges Haus, in dem der Schwamm war, und das nachher mit einem nicht unbedeutenden Verlust wieder veräußert werden mußte, was der verärgerte Bankier aus der Bukowina in einer stilistisch nicht einwandfreien, aber sonst recht groben Erklärung mit seinem Austritt aus dem Komitee beantwortete.
Der Glanzpunkt der Feier sollte ein Fest im „Roten Ochsen“ eben jenes Odenwaldstädtchens sein. Fünf Gesangvereine hatten ihre Mitwirkung zugesagt; und es wäre zu befürchten gewesen, daß ein Tag für all die Gesangsvorträge gar nicht genügt hätte, wenn nicht in letzter Stunde drei beleidigte Vereine abgesagt hätten, weil man ihnen das „deutsche Lied“ von Kalliwoda vom Programm gestrichen hatte. Das sangen nämlich die anderen beiden Vereine auch; und man befürchtete, daß es den siebzigjährigen Jubilar allzusehr anstrengen werde, fünfmal das „deutsche Lied“ von Kalliwoda zu hören.
Außerdem sollten einige zwanzig Adressen überreicht werden. Die Vorsitzenden von siebzehn literarischen Gesellschaften hatten sich zu Huldigungsansprachen gemeldet. Der Bürgermeister hatte eine längere Rede zugesagt. Einige Professoren der benachbarten Universitäten und neun studentische Deputationen wurden erwartet. Für die Festtafel waren elf offizielle Reden vorgemerkt. Einunddreißig Tischlieder waren eingegangen, von denen aber nur neunundzwanzig auf Büttenpapier gedruckt wurden. Eins war offenbar von einem Irrsinnigen; und ein anderes erwies sich als das freche Plagiat einer Klopstockschen Ode, an der nur kleine, nicht einmal geschmackvolle Änderungen vorgenommen waren.
Alles in allem, es mußte sehr festlich werden.
….. Ich stand auf dem Perron und wartete auf den gefeierten Dichter.
Ich zog noch einmal die Postkarte von heute Morgen hervor und las im Schein einer flackernden Laterne — damals war noch nicht alles elektrisch! — seine ehrenden Worte.
„Lieber junger Freund! Ich weiß, Sie fahren auch nach M., wo ich ‚gefeiert‘ werden soll. Mir graut ein wenig davor. Aber schließlich: ich darf die vielen Wohlmeinenden nicht um ihre Freude bringen, wenn auch ich selbst solchem fieberhaft ausbrechenden Enthusiasmus etwas mißtrauisch gegenüberstehe. Kommt hinzu, es ist böse Jahreszeit; die Zugverbindung ist schlecht; und ich — bin siebzig Jahre. Niemand weiß, daß ich schon heute abend dorthin reise. Aber morgen Bahnfahrt und Feier wäre mir zuviel. Wollen Sie mir einen großen Gefallen tun? Bilden Sie als einziger die Leibgarde des ‚triumphierenden Cäsar‘, zu deutsch: fahren Sie auch schon am Abend und lassen Sie mich unter dem Schutz Ihrer jüngeren Kraft dem ersten, vielleicht letzten Fest entgegenfahren, das mir meine zahlreichen, bis heute im verborgenen blühenden Verehrer spät, aber herzlich in meinem Vaterstädtchen bereiten wollen…“
Es stand noch einiges von wehmütiger Freundlichkeit klingende auf dem Blatt. Aber ich kam nicht weiter im Lesen.
Da war er!
In einen warmen, verschnürten Pelzrock gehüllt, der schon manches Jahr gedient haben mochte, eine etwas altmodische Reisetasche in der Hand, stand er vor mir. Sein gepflegter Patriarchenbart schien mir noch weißer, noch ehrwürdiger geworden zu sein in den letzten Wochen. Der Jubilar war sichtlich etwas nervös erregt.
„Ich habe schon geglaubt, ich komme zu spät. So was von einem Kutscher. Und dieses Pferd — ich glaube aus meinem Jahrgang. Jung gewesen sind wir bestimmt zusammen. Es ist übrigens lieb, daß Sie gekommen… nein, nein, ‚natürlich‘ ist das durchaus nicht! So ein alter Mann als Handgepäck ist lästig. Aber ich werde sehen, daß ich mich brav halte. Ist’s Ihnen recht, so nehmen wir ‚Nichtraucher‘. Ich kann nämlich seit Jahren nur noch den Dampf von Zigarren vertragen, die ich selbst rauche… Schaffner, bitte, haben Sie ein leeres ‚Nichtraucher‘? Zweiter, ja. Vielleicht einen Wagen, der nicht zu sehr stößt.“
„No, wir könne wege Ihne nicht dem Herzog von Cambridge sein Salohwage einstelle,“ erklärte der Grobian im breiten Dialekt meiner Heimat.
Ich schämte mich für ihn. Er wußte nicht, wen er da so barsch anließ. Er hatte offenbar das Zirkular nicht bekommen.
Als wir saßen, stellte der große alte Mann die Heizung sofort auf „Sehr heiß“.
„Siebzig Jahre brauchen Wärme, junger Freund. … Wissen Sie, ich bin hauptsächlich deshalb heute abend gefahren — ich schrieb’s Ihnen schon —, weil morgen der ganze Festtrubel — ich fürchte, es wird arg! — sich in den einzigen Frühzug ergießt. Und dann, wissen Sie, ich kenne die Leute fast alle nicht, die da kommen werden. Und die wenigsten kennen mich persönlich. Beim Bankett — na ja, da werd’ ich unter Bekannten sitzen. Aber in der Bahn, was soll ich mit den Leuten reden? Ich werde auch — uah — sehen Sie, da haben Sie’s schon, ich werde so leicht müde beim Fahren — uah — dieses Geschuckel und das dumpfe halbe Licht.. nehmen Sie mir’s nicht übel, wenn ich ein bißchen … schlafe?“
„Aber, Meister, nein, o nein! Wo denken Sie hin — —“
Er hatte meine Erlaubnis nicht abgewartet. Er schlief schon. Er schnarchte sogar. Recht kräftig für einen Siebzigjährigen.
Zu Anfang dieser Fahrt hatte mich nur der Stolz beseelt. Ich, ich allein fuhr mit diesem berühmten Mann zu seinem Ehrentag! Morgen würde der Telegraph zweifellos aller Welt verkündigen, wie er geehrt wurde von Vertretern der Nation. Vielleicht kam einer, dem besonders reichliche Depeschenspesen bewilligt waren, auf den preiswerten Einfall, zu drahten: „Wie ich erfahre, traf der gefeierte Jubilar schon mit dem Nachtzug in seiner Heimatstadt ein. Inkognito und nur begleitet von dem sympathischen jungen Schriftsteller…“
Ich fuhr mir stolzbeglückt durch die Haare, die ich mir damals noch wöchentlich einmal brennen ließ. Der „sympathische junge Schriftsteller“, der war also ich!
Ich nahm mir vor, sehr freundlich mit allen Leuten zu sein, in deren Besitz ich Depeschenformulare vermutete…
Allmählich wurde es unerträglich heiß im Coupé. Eine trockene, atembenehmende Hitze. Ich neige gar nicht zum Transpirieren, aber im Verlauf von einer halben Stunde war ich, mit Respekt zu vermelden, so naß wie ein Biber, der aus dem Wasser kommt.
Der große alte Mann vertrug offenbar die Hitze sehr gut. Er schlief mit offenem Mund und schnarchte.
Sonst beneidet das Alter die Jugend um ihren Schlaf. Diese Umkehrung der Regel war mir peinlich.
Der Zug hielt.
Ich sah hinaus, es war die Universitätsstadt Altburg. Auf dem Perron gewahrte ich bunte Mützen. Grüne, blaue und violette. Auch ein paar in Wachstuch gehüllte Fahnen. Bärtige Verbindungdiener liefen hin und her. Einer riß die Coupétüren auf.
„Hier, meine Herren, ist viel Platz. Es sitzen nur zwei Herren hier.“
„Na, Tönnchen, denn mal rin ins Vergnügen! Wenn’s dich aushält, kommen wir auch mit!“
„Tönnchen“ wurde mit vielem Jubel hineingeschoben. Er machte seinem Kneipnamen Ehre und hatte zwei Bänder auf der gewölbten Brust, die mit seinem kräftig karierten Anzug eine etwas üble Farbensymphonie ergaben.
Es erwies sich, daß man „Tönnchen“ zu heftig geschoben hatte. Er mußte sich an etwas halten; und es lag in der ungünstigen Platzverteilung, daß dieses Etwas das friedliche Gesicht des immer noch schlafenden Jubilars war.
„Bitte tausendmal um Vergebung…“
Tönnchen entschuldigte sich bei dem Erwachenden durchaus als Kavalier. Dann donnerte er hinaus: „Der Fuchs, das heimtückische ‚Herzblättchen‘, hat absichtlich zu feste geschoben. Fuchsmajor, laß mir den Kerl heut’ abend mal zwölf Ganze spinnen. Dir will ich helfen, Jungchen!… Na, Wolfram von Eschenbach, willst du etwa auf dem Perron übernachten?“
„Ne, ne! Vorgestern in der Kegelbahn, heute auf’m Perron — danke…“
„Du, Leibfuchs, sieh doch mal auf meiner Bude nach, da muß noch ein Brief an meine alte Dame liegen. Der ist wichtig. Wirf ihn ein. Kleb’ aber erst ’ne Groschenmarke auf. Du darfst sie dir von deinem nächsten Wechsel abziehen.“
„Einsteigen, Mohrenfürst, einsteigen!“
„Ist der Friedrich mit der Fahne in der ‚Dritten‘?“
„Ja. Er hat sich natürlich schon mit dem Zugführer in den Haaren. Die rote Mütze regt ihn auf.“
„Du, das sag’ ich dir, Leibfuchs, wenn mich morgen bei der Feier deine Lackstiefel drücken, dann telegraphier’ ich dir einen Bierjungen!“
„Du, Sophokles, halt’ den Köter fest. Ich kenn’ ihn; im letzten Augenblick springt er rein. Führ’ ihn morgen ’n bißchen spazieren, ja? Und erzähl’ ihm von mir. Er hört’s gern. Du, und dann, Sophokles, er ist mit dem Magen nicht ganz in Ordnung. Gib acht, daß ihm die Hessen-Friesen morgen beim Frühschoppen nicht wieder ein rohes Beefsteak dedizieren. Ja? Das machen sie immer, und er kann’s nicht vertragen.“
„Tönnchen, vergiß nicht, grüße den rasenden Roland von mir. Der ist sicher dort. Er hält sich für einen deutschen Dichter, seit die ‚Fliegenden‘ einen Gedankensplitter von ihm honoriert haben.“
So ging das hin und her.
Es war ersichtlich: das war eine Deputation zum siebzigsten Geburtstag Hans Eduard Meßmanns.
Ich weiß nicht, warum mir bei dieser Erkenntnis unbehaglich zumute wurde. Aber es wurde mir so.
Die drei jungen Leute, die da mit Kappen und Bändern zu uns einstiegen, waren ja sonst ganz nett und frisch. „Tönnchen“ jovial-fidel; „Wolfram von Eschenbach“ ein wenig müdmodern mit einem Stich in den Patentfatzke; „Mohrenfürst“ mit besonders dunklem Teint, der ihm seinen Kneipnamen verschafft haben mochte, und frischen Schmissen, die einen heftigen Jodoformgeruch verbreiteten.
Als sich eben der Zug in Bewegung setzen wollte, kam noch ein behäbiger, älterer Mann mit einer jungen Dame gesprungen.
„Freund Silen, hurra! Der Pflegevater des Dionys fährt auch mit!“ jubelte der Fuchs, der Tönnchens Köter, einen Hund von vielen Rassen, an einer knallgelben Lederstrippe führte.
„Evoë Bacche!“ ließ sich die ganze Mützenversammlung vernehmen.
„Hier herein, würdiger Herbergsvater!“ entschied Tönnchen.
Und er stieg ein, jubelnd begrüßt, der dicke alte Herr, pustend wie ein Böcklinscher Meerkentaur. Mit ihm das Töchterchen, reizlos, wie ein Bügelbrett, aber mit dem gewinnenden Lächeln, das viele Wirtstöchterlein im Beisein deutscher Musensöhne so anmutig kleidet.
Es war großes Hallo in unserm Wagen, als sich der Zug in Bewegung setzte. Es ergab sich aus all dem Ulk und Gerede, daß „Silen“ ein beliebter Weinwirt in Altburg war, und daß die Herren Studenten — besonders Tönnchen und der Mohrenfürst — sehr gut mit ihm standen.
Ich hatte mich neben den Jubilar, der inkognito reiste, gesetzt. Auf größere Entfernungen hätten wir uns nicht mehr verständlich machen können.
„Mir scheint, diese Studenten sind eine Deputation zu Ihrem Jubiläum“, sagte ich so leise, als es eben anging.
Der Dichter nickte, aber er sagte nichts.
„Kinder, hier ist aber eine Hitze, um einen Storch zu braten!“ Mit diesen Worten ließ Tönnchen das Fenster herunterrasseln.
Der Jubilar zog seinen Pelzkragen hoch. Aber er sagte noch immer nichts.
„Na, alter Silen, fahren Sie auch etwa..?“ Der Mohrenfürst schien das nicht annehmen zu wollen.
Der Silen aber nickte eifrig. „Ja, ja. Zu dem großen Zauber! Meine Tochter hat so gequängelt; na, und denn, man lernt auch immer was für’s Geschäft…“
„Das sind doch noch Grundsätze,“ lobte Tönnchen, indem er dem Silen kräftig aufs Bein schlug. „So hab’ ich’s gern. Werden Sie denn auch ’ne Rede halten, was?“
Silen, der offenbar leicht zu belustigen war, wollte sich ausschütten vor Lachen bei diesem Gedanken.
„Ich — eine Rede? Puh — was sollt’ ich da wohl sagen?“
„Na, Sie wissen doch,“ sagte Wolfram von Eschenbach ganz ernsthaft, „daß von diesem alten Hans Eduard Meßmann das schöne Lied von der ‚Wacht am Rhein‘ ist?“
Silen sah etwas unsicher nach seiner Tochter. Die hatte einen roten Kopf und lächelte.
„Ja —“ sagte er schließlich, „natürlich. Der Mann hat seine Verdienste!“
„Die hat er,“ bestätigte Tönnchen im Tone eines Leichenredners.
„Wenn ich bloß wüßte, was er außer der ‚Wacht am Rhein‘ noch gemacht hat?“ Der Mohrenfürst sah sinnend vor sich hin. „Und dann: ist eigentlich der Text oder die Musik von ihm?“
Nun platzten die beiden los.
„Erlaubt mal,“ wehrte der Mohrenfürst ärgerlich. „Das geht mich doch im Grunde auch gar nichts an. Ich bin doch Jurist.“
„Bist du auch sicher?“ ulkte Wolfram von Eschenbach. „Ich dachte, du wärst für Sanskrit und gotische Grammatik eingeschrieben?“
Tönnchen war selig. „Er ist Jurist!“ jubelte er. „Er hat auch bereits ‚juristische Medizin‘ gehört. Ich glaube, Mohrenfürst, du bist ein ‚Heimlicher‘! Du steigst am Ende übermorgen, wenn wir zurückkommen, vom Trittbrett direkt ins Examen, was?“
„Na Gott, ja, Tönnchen, du hast deinen witzigen Tag. Zugegeben,“ schmollte der Mohrenfürst. „Aber gut wär’s doch, wenn wir etwas von dem alten Meergreis wüßten, den wir feiern sollen.“
„Erlaube mal, das ist unlogisch. Man feiert am besten, wenn man gar nichts weiß. Wissen ist schon Kritik. Und alle Kritik ist der Gegensatz des Feierlichen.“
„Hand aufs Herz,“ bestätigte Wolfram von Eschenbach, „ich weiß von der ersten Liebe meiner Urgroßmutter väterlicherseits genau soviel wie von dem Jubelgreis.“
„Das heißt“ — Tönnchen zwinkerte listig mit den Augen — „bis auf die ‚Wacht am Rhein‘!“
„Ja, natürlich. Na, das weiß jeder.“ Und dann, zu dem begierig lauschenden Silen gewandt: „Es soll zuerst ein Roman gewesen sein — die ‚Wacht am Rhein‘ — nachher hat er ein Volkslied draus gemacht.“
„Ja, das ist gut,“ meinte der Weinwirt tiefsinnig. „Man merkt sich’s so besser. In Versen ist besser.“
„Richtig!“ billigte Tönnchen den weisen Ausspruch.
„Aber —“ Wolfram von Eschenbach hatte eine Idee. Er rückte näher zu der Tochter Silens und vollendete mit seelenvollem Augenaufschlag: „— aber vielleicht weiß das Fräulein besser Bescheid. Willst du genau erfahren, was alles in der Welt erdichtet wird, so frage nur bei edlen Frauen an, sagt Schiller…“
„Goethe!“
Der Jubilar hatte es ganz ruhig, aber laut vor sich hingesprochen.
Eine kurze Stille.
„Danke!“ sagte Wolfram von Eschenbach mit höflicher Verneigung. Dann wieder zu dem errötenden Mädchen: „Darf ich also nach diesem schönen Wort Goethes“ — abermalige Verbeugung nach dem Jubilar hin — „das Fräulein bitten, uns Barbaren aus dem Schatze seiner Weisheit zu belehren — —?“
„Ach nein,“ wehrte sie schüchtern, „ich weiß gar nichts. Ich bin ja morgen bloß Festjungfrau.“
Abermals tiefe Stille.
Dann ließ sich Tönnchen mit Würde vernehmen. „Es ist richtig. Festjungfrauen stehen außerhalb des Betriebes. Festjungfrauen haben niemals gewußt, worum es sich handelt.“
Der Mohrenfürst hatte seinen Humor wiedergefunden. Er erhob sich und tat, als ob er ein gefülltes Spitzglas hebe und einen Trinkspruch ausbringe:
„In diesem Sinne, meine Herren, erheben wir das Glas und trinken auf das Wohl aller hier im Coupé anwesenden Festjungfrauen!“ — und er zählte: „Eine, zwei, drei, vier, fünf —“ und dann mit Liebenswürdigkeit zu dem Jubilar und mir: „gestatten Sie, mein Herr, daß ich Sie mitzähle?“
„Bitte!“ nickte der Jubilar des morgigen Tages sehr freundlich.
„Also: sechs, sieben. Es leben die sieben hier versammelten ahnungslosen Festjungfrauen!“
„Hurra — hurra — hurra!“
Wir fuhren langsam in den Bahnhof ein. Den Bahnhof der Vaterstadt von Hans Eduard Meßmann, der sich „die dauernde Dankbarkeit des Volkes erworben, das ihn voll Stolz aus seiner Mitte hervorgehen sah.“ So sagte das Zirkular.
Sehen Sie, Hans Eduard Meßmann, der stets geschätzte Lyriker und große Epiker, wurde am nächsten Morgen siebzig Jahre alt.
Aber dies war erst seine vierundsiebzigste Nacht!
Ich bin kein Mathematiker, aber mir kommt vor, da stimmt was nicht.