Otto Julius Bierbaum

I.

(Erste Dezemberhälfte 1907.)

Nun wieder, nach drei Jahren, hier: Nachbar der Franziskaner; zwischen Mauern, deren Grund die alten Etrusker gelegt haben; unweit dem römischem Theater; gegenüber dem Hügel von Trespiano mit seinem Friedhofe, zu dem sich die toten Florentiner nachts mit Fackeln begleiten lassen. Zwischen mir und ihm der Mugnone. Noch will ich den Fluß nicht überschreiten. Noch danke ich für diesen Fackelzug, obgleich die Reise hierher einem Krankentransport sehr viel ähnlicher war, als einer Lustfahrt.

Doch war ich immer noch lebendig genug, mich auf der Talferpromenade in Bozen des helleren Lichtes dankbar und stark zu erfreuen, das die Sonne zu spenden beginnt, sobald man die Brennerhöhe hinter sich hat.

Der alte Noë (ein Schriftsteller, der sehr berühmt gewesen wäre, wenn er für Engländer und nicht für Deutsche hätte schreiben dürfen) hat versucht, zu erklären, warum die Sonne südlich des Brenners ihre Sache soviel besser macht, als nördlich dieses Bergzuges. Hartleben, der den Alten (ihm wahlverwandt in mehr als einem Betracht) persönlich gekannt hat, meinte einmal zu mir, das sei eine rationalistische Erklärung gewesen, zu deren Verständnis man in einem unerlaubten Maße nüchtern sein müsse. Daher er (und Noë selber) sie niemals ganz verstanden habe. Es sei das aber auch überflüssig, denn der eigentliche Grund dieser Erscheinung liege im Menschen und nicht bei der Sonne. Nicht, als ob es etwa vom Weine käme: sondern es käme von der Gnade des Südens, einem durchaus mystischen Phänomen, das sich jedem als Lohn mitteilte, der, einer sehr menschenfreundlichen Aufforderung Seiner Majestät folgend, den Staub des glorreichen Germaniens von den Pantoffeln geschüttelt habe.

Otto Erich hat so unrecht nicht gehabt. Nietzsches »Unschuld des Südens« meint Aehnliches.

Ich muß immer an Hartleben denken, wenn ich »Franzensfeste, das Tor des Frühlings«. passiere. (Dieses Gedicht, das mehr Schmiß als Poesie hat, ist dennoch ein gutes Gedicht. Nur wirkliche Poeten sind imstande, gute Gedichte dieser ästhetisch nicht einwandfreien Art zu finden. Weil nur wirkliche Poeten im rechten Momente auf schöne Weise banal sein können.) Auch auf der Talferpromenade dachte ich an ihn. Wir waren uns Freund und Feind zugleich, standen uns sonderbar nahe und sonderbar fremd gegenüber; ein wunderliches Verhältnis. Ich glaube, wir hätten uns später doch einmal kennen gelernt.

*

Auf der Talferpromenade, die überhaupt allzu sehr aufs Renommieren hergerichtet worden ist (Palmen, die im Winter in Baumwolle gewickelt werden), steht jetzt ein Monument aus Marmelstein: Held Dietrich, wie er den Zwergkönig Laurin unter sich gekriegt hat. Kein Wunder: wenn der eine so groß und der andere so klein ist. Da man nur dies im Augenscheine vor sich hat, wirkt die Tat, die hier verewigt werden soll, nicht eben imposant. Das (im übrigen gut komponierte) Bildwerk braucht einen Kommentar, ist also als Monument mangelhaft. Ein alter deutscher Steinmetz hätte im Zwerg die boshafte Kanaille, den hinterlistigen Zauberer gezeigt, der überdies um sich gebissen und gekratzt hätte, und man würde dann, auch ohne die Hilfe des Herrn Baedeker, gewußt haben, warum es sich verlohnte, seine Niederlage in Stein auszuhauen Von den neueren Deutschen würde es Ignaz Taschner so gemacht haben.

»Der arme Zwerg!« sagte ein italiänisches Fabrikmädchen zu einer Kollegin, »warum malträtiert ihn der große Lümmel so?«

Und da wollen die Italianissimi, daß alles Land bis zum Brenner italienisch sein soll und Bozen (nein: Bolzano) die Hauptstadt des Alto Adige! Wenn doch die braunen ragazze nicht einmal in der Rosengartensage Bescheid wissen. Doch ist es keine scherzhafte Angelegenheit, daß die Signori allen Ernstes ihren Ruf: Haec est Italia diis sacra jetzt schon auf der Höhe des Brennerpasses ausstoßen, der ianua barbarorum, wie sie ihn freundlich heißen. Das ist doch wohl ein bißchen unbescheiden. Auch wenn man sich zu den Guten Europäern rechnet und vom Geruche deutscher Jägerwäsche nicht ohne weiteres in patriotische Wallungen versetzt wird, dürfte man es mit einigem Rechte impertinent finden, daß uns unser schönes Südtirol einfach weggeographiert werden soll, weil mit der großen Wasserscheide der Zentralalpen als Grenze das Regno mächtiger konsolidiert dastünde in Europa. Quod non! Italien beginnt positiv nicht am Brenner, wenn es sich auch auf der Landkarte bequem und mit einem Anschein von geographischer Logik so konstruieren läßt. Selbst Napoleon war nicht imstande, diese allzu primitive Konstruktion aufrecht zu erhalten. Blutscheide ist wichtiger als Wasserscheide. Erst mit dem Trentino beginnt »Italien«. Die paar Zypressen und Edelkastanien, die sich ein bißchen weiter nördlich hinauf gewagt haben, müßt ihr uns schon lassen, oh ihr Nachkommen der edlen Römer (und nicht weniger edler Germanen): auch schon deshalb, weil wir sie besser zu schätzen wissen als ihr. Italien beginnt, wo der Wald aufhört. Viel Gutes, das wir nicht haben, fängt dafür an, z. B. der Oelbaum, die Reiskulturen und eure schöne Sprache (obwohl sie im Trentino toskanischen Ohren keineswegs lieblich klingt). Ich denke: wir lassen es dabei: soweit die deutsche Zunge klingt (und dazu gehört das obere Etschgebiet), ist deutsches Land. Laßt das Si mit dem Ja ehrlich und in Frieden kämpfen, richtiger gesagt: das Schi mit dem Jo. Euer Gerede von der lateinischen Rasse, die ein Recht auf alles Land bis zum Brenner habe, ist ein Unsinn, weil es diese Rasse gar nicht gibt. Das echteste römische Blut in Tirol (die Ladiner) hält überdies zu den Deutschen, die dort aber auch ihrerseits so wenig reine Germanen sind, wie ihr reine Romanen seid. Es sind Tiroler, Signori: ein Mischvolk, das aber, indem es, dank dem Vorwiegen deutschen Blutes, deutsche Mundart annahm, auch deutschen Geistes geworden ist. Diese Tiroler haben eine harte Zunge, aber auch einen harten Kopf. Der Wall, den diese harten Köpfe bilden, ist die Grenze zwischen euch und uns. Daran wird eure konstruktive Geographie zuschanden werden, Illustrissimi, verlaßt euch darauf.

*

Daß ich auf diese Dinge gekommen bin, daran trägt der ewige Regen schuld und der infame Scirocco, den sie hier auch vento vallombrosiano nennen, weil er von Vallombroso herüberkommt. Er hat aber nichts von der herrlich herben Frische der Wälder da oben (die ein kostbares Vermächtnis der so heftig verabscheuten Großherzöge aus dem Erzhause Habsburg sind), sondern ist widerlich weich, – eine pomadige Luft, die melancholisch, unlustig, ja selbst böse macht. Ich glaube, daß die Etrusker nicht bloß aus Gründen der Sicherheit alle ihre Städte auf Bergeshöhen angelegt haben, sondern auch wegen der frischen Luft in der Höhe. Geht man jetzt in Florenz herum, wo es bald lau nebelt, bald lau regnet, so ist es wie ein Hin- und Herkriechen in einem Flaumfedersack. Kein Wunder, daß die Inseratenseiten der hiesigen Zeitungen in der Hauptsache Mittel gegen Neurasthenie anzeigen. Auch meine Nerven schnurren ärgerlich wie schlapp gespannte Darmsaiten einer alten Baßgeige. Und ich tremoliere, Apolln und allen neun Musen zum Trotz:

Unglücklich bin ich! Unglücklich bin ich!

Hol mich der Teufel: unglücklich bin ich!

Ich bin so unglücklich, daß es mir beinah Spaß macht,

So unglücklich zu sein, so über alle Maßen unglücklich:

Unglücklich!

Unglücklich!

Ah, welche Wonne, so un-glück-lich zu sein.

Nichts gefällt mir, – alles tut mir weh.

Nichts gelingt mir, – alles geht mir schief.

Was? diese laue Heringslauge nennt sich Tee?

Ogottogottogottogott: fiel je

Ein Mensch so tief?

In meinem Garten stehn Besen, keine Bäume;

Alle meine Blumen sind welk und alt;

Meine Frau ist unerträglich; sie quält mich;

Alle ihre Worte sind spitz und kalt.

Der Himmel ist ein alter Aufwaschlappen, grau;

Draus träufelt schmutziges Spülichtwasser; an:

Gottverdammich! Dieser Kies!

Jeder Sztein ßticht mich wie ein Szpieß.

Aber das alles ist noch gar nichts: Auf mein Herz

Reimt sich Schmerz.

Jetzt heul ich entweder wie ein Hund,

Oder ich lach mich wie ein Teufel gesund.

*

Es mag ein Mißbrauch von Reim und Rhythmus sein, diesen schauerlichen Zuständen auf den Flügeln so schauerlicher Verse zu entfliehen, aber es ist ein Mittel, das ich zuweilen probat gefunden habe.

Nur hält es, wie alle Stimulantien, nicht lange an und hat, wie jedes Interim, den Schelm hinter ihm: eine Art moralischen Katzenjammers.

 

II.

(Zweite Dezemberhälfte 1907.)

Wohl dem, der keine »Nerven« hat!

Aber: Wer wäre heute, der keine hätte?

Es ist, wie Max Halbe treffend gesagt hat: die »Verwünschung dieser Zeit«, nervös zu sein. Von Künstlern kenne ich nur drei, die nicht nervös sind: Stuck, Gulbransson, Liliencron.

Verbindet sich Nervosität mit Geldsorgen, so ist es eine Hölle, neben der die von Dante gesehene als Idylle wirkt.

»Der Geier des Ehrgeizes richtet den Schnabel

Immer nur gegen den eigenen Nabel«

sagt (ich stehe nicht für die Worte, aber für das kühne Bild des benabelten Vogels ein) der sonderbare Ornithologe in Alt-Rahlstätt. Ist das richtig, so decken sich Ehrgeiz und Nervosität in einer wesentlichen Eigenschaft. Sichselbstzerreißenwollen ist Nervosität. Zum Glück (Glück?) macht sie aber auch feig. Erst wenn sie geradezu und völlig Verrücktheit wird, bringt sie die Courage auf zu Gift, Dolch, Strick oder Revolver.

*

Die Italiener müssen früher nervös gewesen sein als wir. Ihr Wort für Langeweile (noia) hat eine dunkle Begriffsschattierung, die sich fast mit dem deckt, was ich als Langeweile der Neurasthenie bezeichne: die krankhafte, zerrige Verdrießlichkeit, die nur um Haaresbreite von Lebensüberdruß entfernt ist. Dieses Wetter jetzt nennen sie noioso, und sie wollen damit keineswegs bloß sagen, daß ewiger Regen langweilig sei. Man muß nur Ohren haben, zu hören, wie sie das aussprechen: tempo noioso, und man fühlt, wieviel Last, Qual, Ekel sie auf das vorletzte o häufen.

Die Deutschen haben den schönen Tropus dafür: »Es ist zum Auswachsen,« was wohl so viel heißt, wie: »Es ist zum Buckligwerden.« Aber da ist schon Humor dabei, – Galgenhumor: Nervenhumor.

*

Nachdem es zwei Wochen lang lau geregnet hat und, ungeheuren weißen quabbligen Mehlwürmern vergleichbar, unausgesetzt Nebelschläuche den Mugnone hinab nach Florenz gekrochen sind, raffte ich mich endlich auf und ging in die Uffizien, wie man in ein Sanatorium geht. Ich wollte endlich etwas Schönes sehen, etwas, das nie noios werden kann, da es nicht aus der noia geboren ist, sondern aus der gioia, und ich meinte, meine alten Nothelfer Cimabue und Giotto würden mich über all diese dumme, dumpfe Trübsal wegtrösten. – Schauerliche Enttäuschung: Sie haben mich verhöhnt! Diese beiden Frommen haben mich verhöhnt wie niederträchtige Teufel. Ich stand vor ihnen wie ein Kunstgelehrter und kriegte die vergleichende Krankheit. Der Teufel des Blödsinns selber setzte sich mir auf die Schultern, bohrte mir seine zwei Zeigefinger wie Zügel zwischen die Lippen, schlug seine Hufe mir wider die Weichen und ließ mich unter lautem Herausstoßen des gräßlichen italienischen Hü-Rufes, der wie ein viehisches Rülpsen (üip!) klingt, gleich einem gepeinigten Esel durch alle Säle, Kabinette und Korridore trabrennen. Höllischer Unfug! Idiotenhaftes Benehmen! Aber ach, – ich war nicht der einzige Esel, der sich so am Geiste der Kunst versündigte. Eine ganze Schar rannte mit mir, und sie war nicht einmal vom Teufel blödsinniger Nervosität geritten, sondern von dem unausstehlichen Brillenaffen der Gelehrttuerei: Auf ihnen saß der Geist der Baedekerei und hieb sie so gewaltig mit seinem Schulmeisterbakel über den Hintern, daß sie fast noch unsinniger rannten als ich. Einige aber waren bedächtiger. Wie sie an den meisten Bildwerken vorüberstorchten, ohne auch nur einen Blick auf sie zu werfen, indem sie lediglich die Nummerntafeln ablasen, während sie andere, deren Nummern in ihrem roten Buche einen Stern hatten, mit abscheulicher Geschäftsmäßigkeit beschnoberten, kamen sie mir vor wie Hunde, die an zwanzig Ecksteinen vorüberrennen, um am einundzwanzigsten das Bein zu heben. Während aber Hunde, wenn sie so tun, wenigstens nicht bellen, so begannen diese Schauderhaften auch noch zu reden, indem sie schnoberten. Sie baedekerten. Die rote Reisepest der Deutschen müffelte aus ihnen.

Wann endlich wird dieses entsetzliche Magisterbrevier ausgetilgt werden aus der deutschen Kultur, der es wahrhaftig schweren Schaden lange genug zugefügt hat! Es steht mir nicht zu und liegt mir ferne, die Gelehrtheit der Leuchten deutscher Kunstwissenschaft in Zweifel zu ziehen und gering anzuschlagen, die in diesen roten Büchern ex cathedra der jeweils herrschenden Schule die letzten Wahrheiten kritischer Kunstforschung predigen, – aber was, um Gottes willen: was soll diese Professorenweisheit in der Hand von Leuten, die doch wohl nicht reisen, um Kunstgeschichte zu lernen, sondern um ihren Alltag aufzuhöhen im Lichte der Schönheit, die hier aus früherer: ästhetischer Kultur ein paar Strahlen für uns Arme übrig gelassen hat. Sie kann nur Unheil anstiften: das Unheil dünkelhafter Oberflächlichkeit, die urteilen will, ehe sie gelernt hat zu sehen, zu empfinden. Die Herrschaft Baedekers ist kein Beweis des wissenschaftlichen Geistes der Deutschen, sondern deutscher Barbarei. Die Vandalen, die ehemals antiken Götterbildern Nasen, Arme, Beine abschlugen, haben sich im Grunde weniger barbarisch aufgeführt als diese frechen Touristen, die es sich unterstehen, mit ihrer elenden Scheinbildung, die eine vollkommene ästhetische Gefühllosigkeit aufs jämmerlichste bemäntelt, über künstlerische Offenbarungen aus Zeiten zu Gerichte zu sitzen, zu deren organischen Bestandteilen die Kunst gehörte, als welche in der unseren nur eine mehr oder weniger hübsche Applikationsarbeit, ein aufgesetzter schöner Flicken ist. Die Vandalen handelten wenigstens aus einem ehrlichen Glauben; sie verschimpfierten die Schönheit aus Religion, weil sie sie als heidnisch haßten: was sie vollzogen, war der scheußliche Akt einer gewissen historischen Logik. (Die Bilderstürmer in der Reformationszeit handelten aus einem verspäteten, aber gleichen Instinkte. So auch der widerwärtige »Hund Gottes« Savonarola.) Die heutigen Maulvandalen aber, die der Kunst mit »wissenschaftlichem Apparate« zu Leibe rücken und sie zu einem Versuchsobjekte für ihren (ach so seichten) kritischen Verstand herabwürdigen, handeln aus einem durchaus irreligiösen, gottlosen Instinkte: aus der infamen Einbildung des Philisters, er könne sich alles, selbst das Göttliche, zu eigen machen, indem er es verstandesmäßig (mit dem Vokabularium) »klein kriegt«. Diese Unverschämtheit ist Barbarenart. Es gibt keinen greulicheren Barbaren, als den »gebildeten« Philister.

Ein gutes Antidotum gegen Baedeker ist Ruskin. Auch er rückt der Kunst mit dem Verstande zu Leibe. Aber hinter diesem Verstand steht Religion, und dieser Verstand will die Kunst nicht klein kriegen, sondern, indem er sie zergliedert (aber: wie fein, wie behutsam, mit welcher Andacht!), will er den Reichtum des Ganzen, das Gesetz seines Lebens, will er das organisch Göttliche der Kunst intensiver fühlbar machen. Es ist ein gutes Werk des Straßburger Verlags von Eduard Heitz, daß er aus Ruskins Werken einige ganz, andere in Bruchstücken deutsch herausgegeben hat. (»Auslese aus den Werken von John Ruskin.« Bis jetzt acht kleine Bände.) Ruskins »Sechs Morgen in Florenz« haben mir in diesen Regenwochen (jetzt ist es die dritte, – o noia!) die Sonne, soweit das möglich ist, ersetzt. Was für ein angenehmer Engländer das ist (obwohl er auch »sehr unangenehm« sein kann)! Wohl eine Schulmeisternatur und demnach unter anderem auch rechthaberisch, eine Spur verdreht, mit moralischen Nutzanwendungen immer bei der Hand, ein bißchen kahl manchmal. Aber: der gute Schulmeister im alten Sinne: durchaus wohlmeinend; ganz aufgehend im Lehren, Beweisen, Warnen, Fördern; kein Wort aus dem Gehege der Zähne lassend, wofür er nicht die Hand ins Feuer zu legen bereit wäre: ein Fanatiker der Wahrhaftigkeit in jedem Sinne. Viel weniger Kunstgelehrter als forschender Kunstpraktiker. Ueber die Güte einer Malerei weiß er Bescheid, »wie der Schuster über sein Leder«. Läßt sich Gerüste vor Fresken bauen und untersucht die Malerei Zoll für Zoll aus der Nähe, so daß er nun genau anzugeben weiß, Strich für Strich, was alt und echt, was Uebermalung ist. Aber, indem er nicht nur Baum für Baum, sondern Zweig für Zweig, Blatt für Blatt sieht, übersieht er vor all dem doch den Wald nicht. Und mehr noch: er hört auch sein Schweigen, – dieses Schweigen, das den meisten Kunstgelehrten so stumm, ach so stumm ist. Dann wird er (wer würde es nicht dann!?) zum Dichter. Freilich: er bleibt in der Didaktik hängen. Aber immerhin: Didaskalos poieta, während die gelehrten Herren (ein paar wirklich Große unter ihnen, wie Burkhardt, ausgenommen) immer bloß Magister bleiben. Darum eignet er sich auf seinem eigentlichen Gebiete (dem der frühen, noch echt christlichen Kunst) zum Kunsterzieher wie kaum ein anderer.

*

Da es noch immer regnet, und der Wind immer noch nicht vom Montesenario kommen will als der ersehnte Tramontano, der zwar Kälte, aber klaren Himmel und den Nerven neue Spannkraft bringt; da meine Rosen nun, von allzu vieler Feuchte schwer, die Köpfe ganz trübselig und katarrhalisch triefend hängen lassen, die Chrysanthemen auf der Gartenmauer aber aussehen, wie schlecht frisierte liederliche Vorstadtweiber (ciana nennt der Florentiner so was, – der Schlesier sagt Miststücke); da der Blick auf Florenz hinab immer noch wie der Blick auf ein riesiges Bleidach und das Wandeln in der »Stadt der Blumen« ein Wandeln zwischen lauter Regenschirmen ist: so schmachtet meine Seele immer noch in der Grundsuppe einer fürchterlichen noia, und der Geist der Schwere, identisch mit dem Dämon des Scirocco, ist Herr über mich. Ich komme mir vor wie ein alter Pelz, in dem die Motten sind.

Muß man einen solchen alten Pelz nicht ausklopfen?

Ich hab’s getan, und schonungslos. Aber lustig wird man bei dem Geschäfte auch nicht. Was hilft es mir, daß ich jetzt felsenfest von meiner Miserabilität überzeugt bin? Daß ich weiß: dieser da, hier, der an dem Schreibtische da, ist ein schlechtes Subjekt: träge, wohllebig, schwankend, gottlos, frevelhaft, jähzornig, willensschwach, stolz, rachsüchtig, eitel, ungebärdig, ehrsüchtig, leichtsinnig, verschwenderisch, zügellos? Was hilft das, da ich schon jetzt auch weiß, daß es ebenso unrichtig wie wahr ist, d. h. daß jede dieser Eigenschaften als Gegenwage ihren Gegensatz in demselben Subjekte hat? Dieser Träge ist (und allzuoft) ein Arbeiter, der die Feder erst dann aus der Hand legt, wenn ihn der Schreibkrampf dazu zwingt; dieser Genüßling und Freund bequemer Subsellien (et rerum caeterarum nach dem Geschmacke Friedrichs von Gentz und anderer Leute von stark angezweifelter Gesinnungstüchtigkeit) kann beliebig lange auf jede Behaglichkeit verzichten, wenn es darauf ankommt; sein Schwanken wird zuweilen just am äußersten Punkte der Schwingung zu einem trotzigen Verharren; gottlos, wie er ist, kann er sehr andächtig vor allen Gattern knien, in deren Anhauch er, der Frevelhafte, fromm wird und demütig, wie nur irgendein lyrischer Mönch, sei es Beato Angelico oder Angelus Silesius; sein schwacher Wille straffte sich in Leidenschaft oder Not oder Begeisterung immer federkräftig genug; sein Stolz hat sich noch stets gebeugt vor wirklicher Größe; den Rachsüchtigen entwaffnet eine Gebärde; der Eitle weiß über nichts so belustigt zu lachen, wie über seine Eitelkeit; wie häßlich es einen Mann kleidet, ungebärdig zu sein, gleich einem schlecht erzogenen Knaben, weiß dieser Ungezogene so gut, daß er sich keine Ungebärde straflos hingehen läßt; und gibt sich redlich Mühe, seine Ehrfurcht nach Zielen zu lenken, so hoch er sie nur zu sehen vermag; und büßt seinen Leichtsinn, wenn auch nicht reuig, so doch recht bitter und oft in Stunden schwersten Blutes, blutigsten Ernstes; und wird aus einem Verschwender manchmal gar ein Geizkragen; und seine Ziellosigkeit steht still im Augenblick, wenn sich’s ernstlich geziemt, Selbstzucht zu üben auch bis zur Entsagung, – sei es in der Kutte, sei es im Harnisch.

Alles in allem: Auch der Scirocco vermag mich nicht völlig davon zu überzeugen, daß dieser alte Pelz ausrangiert zu werden verdient. Aber das ist gewiß: wenn ich mich einmal umbringe, so wird es bei Süd-Ost geschehen.

Doch wird es nicht geschehen, glaube ich. Denn es gibt Ablenkungen von schwarzen Gedanken, die ich als durchaus probat erfunden habe. Z. B.: einen starken Spazierstock überm Knie zerbrechen. Das tut weh und wohl und bringt zur Besinnung. Oder: Goethe lesen. Wenn man bedenkt, daß selbst der verzweifeln und wüten konnte . . . Oder: laufen, laufen, laufen, bis man weit weg von allen Menschen ist und ungestört laut aufschreien kann, sich und die Welt verfluchen und dann, lauter noch: lachen, lachen, lachen. Oder (nach dem Rezepte des heiligen Franziskus): sich prügeln lassen, windelweich sich prügeln und beschimpfen lassen. (Wer aber tut einem diesen Gefallen, wenn man nicht einen anderen – Heiligen dazu zur Hand hat?) Oder: alte Musik hören. (Mozart bringt immer zur Vernunft. Man schämt sich, unglücklich zu sein, wenn man Mozart hört.) Oder: mit Hunden, Katzen oder Kindern spielen. (Hunde und Katzen in der Wirkung sicherer.) Oder: an seine Feinde denken. Dies ist ein unfehlbares Mittel. Gewissermaßen rein logischer Natur: Man müßte sich feige vorkommen, wollte man ihnen den Platz räumen, und man würde damit auch bestätigen, daß die Gesellschaft recht hatte (wenigstens für Momente). Auch sagt man sich wohl: Was? Diese Braven sollen’s weiter treiben dürfen, und du willst verzichten? Du willst dich um die Möglichkeit des Genusses bringen, sie vor dir abtreten zu sehen? Bist du wirklich schon so ganz marode, daß du dir nicht die Kraft zutrauen kannst, sie noch eine hübsche Weile weiter zu ärgern, indem du ruhig und munter bei deiner Art bleibst, die ihnen, grazie a Dio, grundzuwider ist? Und da man sich schließlich auch vom dicksten Scirorro nicht alle Illusionen rauben läßt, denkt man am Ende auch daran, daß es immerhin möglich ist, den einen oder anderen, der aus Unverstand oder Irrtum mit in das übeltönende Horn der Verleumdung, Verkleinerung, Verzerrung stößt, einmal davon zu überzeugen, daß seine Katzenmusik am falschen Platze war.

Indessen gehört zur Benutzung all dieser Mittel freilich das eine: daß man noch kräftig genug ist, sie anzuwenden. Und vor allem: man muß noch richtig verzweifeln können. Man muß noch die Kraft haben, das Gefühl momentaner Insuffizienz mit äußerster Bitterkeit bis in die Hefe durchzufühlen: an sich so grimmig zu leiden, daß schließlich das Bewußtsein dieses Leidenkönnens zum Beweise für das bloß Momentane jener Insuffizienz wird. Dann helfen die Mittel bestimmt. Denn sie bestätigen deine Kraft; sei es primitiv und roh, wie der zerbrochene Spazierstock, sei es mehr spirituell, wie die Fähigkeit, auf Goethe, Mozart zu reagieren, oder schließlich als Instinktkomplex, wie die Reaktion auf das rote Tuch der Feinde. Es kommt dann nur noch darauf an, ob einer Stier oder Truthahn ist . . .

*

Der Dezember meines Mißvergnügens ist vorüber. Der Tramontano hat alle Wolken und Nebel verjagt. Der Himmel ist wieder toskanisch: wie aus der hellen, feinblauen Florentiner Seide gewoben, die etwas starr (wie der Charakter des Toskaners), aber höchst edel und vornehm ist. Die Chrysanthemen sind kaput, aber die gelben und roten Rosen tun, als habe es ihnen nie in die Krone gesegnet. Und, o willkommenes Wunder: in einem besonders sonnigen Winkel an der Mauer des Franziskanergartens hat sich, wie ein Schwatzkränzchen hübscher junger Mädchen, eine Gesellschaft von Narzissen zusammengefunden, die mit den dunkelroten Beeren und den graugrünen Blättern der Stechmaus (pugnitopo: Mäusedorn) zusammen ein sehr hübsches Bukett ergeben. Auch anderes Bunte wird nun sichtbar: die zartrosarote Angelika (Engelwurz); die dunkelrote Frucht des Erdbeerbaums (corbezzola: Meerkirsche); Kamelien; Nelken, – auch schon ein paar (mir ganz neue) gelbe Anemonen. Wer denkt da noch an Autovivisektion und Mittel gegen Selbstmordgedanken?

Man setzt sich auf eine Straßenmauer und läßt sich von der Sonne Verse ins Notizbuch scheinen:

Angelika, die röselrote, hängt

Auf dunklem Efeu ruhend über die Terrasse

Verlangend nieder zu dem Rosenbusch

Mit seinen gelben Blüten, die im Winde

Leis auf und nieder gehn, wie zärtliche Gedanken

Im Herzen eines Mädchens, das halb träumt,

Halb wacht. – Schwarz, wie ein Trotz aus alter Zeit,

Wächst die Badia aus dem Silbergrau

Des sanften Oelbaumhügels. Hinter mir

Babbelt ein Bettler seinen leeren Spruch

Vom Paradiese, Jesus, Seligkeit

Und hält den alten Hut mir zitternd hin:

Ein altes Kind, rotnasig: lächerlich

Und rührend. Zehn Centesimi erhöhn

Ihm seine Lebensfreude sichtbarlich. –

Die Sonne brennt. Fräulein Angelika

Sehnt sich noch immer nach den roten Rosen.

Zwei Lodenröcke sächseln mir vorbei.

Hier ist gut ausruhn. Hier vergißt sich schnell,

Was, ach, im Norden überlästig wird

Und klettenklammrig lange kleben bleibt:

Der Geist der Schwere. Satanas, der Sorgen

Schieläugiger König, mit dem Peitschenstiel

In haariger Faust, entweicht, den Schwanz verklemmt,

Und wird in San Domenico zum Vetturino,

Der dich: »Signor, vuole? Due Lire

Fin al Firenze!« bloß ein bißchen langweilt.

III.

(Anfang Januar 1908.)

Es gibt keine Gerechtigkeit. Meine gute Mutter in Berlin und die Pasinger Freunde berichten von krachender Kälte, Nebel und Sturm, und hier verschwendet sich die Sonne, ist es klar und warm. – Man konnte also wohl zufrieden sein. Indessen: »man« ist es nicht. Weil man sehr unbescheiden und ein Nörgler ist. – Ein Nörgler? Wirklich? . . .

Als ich noch sehr jung war, frisch in die Freiheit entlassen aus dem Grammatikkäfig des Gymnasiums, erhielt ich zum Geschenke einen Operngucker, der sehr niedlich aussah, aber infam schlecht war. Seine Kraft, zu vergrößern und nahe zu rücken, war lächerlich klein, und er versammelte kein helles, scharfes Licht auf die Dinge, die man durch ihn betrachtete, sondern umgab sie mit einem farbigen Rande. Eine Unart das von einem Fernglase. Aber gerade sie gefiel mir, denn sie entsprach meinem damaligen Auge, das gar kein Verlangen hatte, die Dinge besonders nahe, groß, hell, scharf zu sehen, und selber die Kunst besaß, einen schmeichlerischen Regenbogenrahmen um die Realität zu legen.

Wie manches andere, das positiv nicht viel taugte, aber sehr gut zu meiner schwärmerischen Jugend paßte und mir viel Vergnügen gemacht hat, habe ich auch diesen angenehm miserablen Operngucker verloren. (Vielleicht auch versetzt und nicht eingelöst, oder es hat ihn mir jemand gestohlen. Gleichviel.) Ich bin nicht weiter traurig deswegen. Mein Zeiß-Doppelfeldstecher ist unendlich viel besser. (Heute sah ich damit einen Bauern, der gut 500 Meter von mir entfernt war, seinen Olivengarten ohne Anwendung irgendwelcher fremder Produkte auf jene uralt primitive und höchst persönliche Weise düngen, die schon Adam im Paradiese angewandt hat.) Aber alles hat seine zwei Seiten, und auch das höchst Mangelhafte besitzt Reize. Der Zeiß-Doppelfeldstecher kennt keine bunten Ränder. Er ist mit Recht stolz darauf, und ich selber ziehe heute Schärfe und Helligkeit vor. Aber das exakte, scharfe, klare Sehen, das Sehen ohne bunten Flimmerrahmen ist keineswegs immer vergnüglich.

So würde ich z. B., wenn ich heute zwanzig Jahre jünger wäre, Florenz genau so sehen, wie es sich ein dreiundzwanzigjähriger Student in Leipzig einbildet, dem schon das Wort Florenz wie eine wunderbare Südfrucht ist. Mein Jugendoperngucker, die jugendlich schwärmerische Art, ersehnte Dinge so zu sehen, wie sie in der Sehnsucht aussahen, würde einen bunten Rand darum, ja, einen flimmernden bunten Schleier darüberlegen. Auch in der Nähe wäre mir Fiorenza, was sie heute nur noch aus der Entfernung ist: eine ungeheure Blüte, ein reinem Lotoskelch, rosagelblich leuchtend, edel in allen Linien – die Stadt der Blumen selber eine Blume ehrwürdig holder Schönheit. Ich würde es sehen, wie es vor etwa zehn, zwölf Jahren Rainer Maria Rilke sah, als er mir darüber schrieb: mit weißer Farbe auf hellblauem Papier. Aber ich fürchte: selbst R. M. R. würde es heute nicht mehr so sehen. Denn ich glaube. nicht bloß der Verlust meiner bunträndrigen und schwärmerischen Optik ist daran schuld, daß mir Florenz in der Nähe gar nicht mehr gefällt.

Traurig, aber wahr: Das alte, edle herrliche Florenz ist in die Hände von Barbaren geraten, die mit scheußlicher Konsequenz erfolgreich am Werke sind, es zu verschandeln. Die Liga, die sich zu seiner Verteidigung gegründet hat, scheint machtlos zu sein, es zu verhindern, daß die Geburtsstadt der italienischen Malerei, die Vaterstadt Dantes und Michel Angelos, ästhetisch verwüstet wird. Sie vermag nichts wider den »Zeitgeist«, der unter der Fahne des »progresso« über alles Schöne wegtrampelt, von allem Vornehmen fortschreitet in eine erbärmliche, häßliche Gewöhnlichkeit.

Daß man wüst eingerissen hat, ohne es zu verstehen, dafür auch nur anständig aufzubauen, davon soll nicht einmal die Rede sein. Die »modernen« Paläste von Florenz hat Thomas Theodor Heine in seiner Weise höchst treffend durch eine Frage gekennzeichnet, die er an Hartleben richtete, als er mit ihm an einigen dieser Machwerke vorbeikam: »Nicht wahr, Herr Hartleben: das hier sind künstliche Paläste?« (Gestern sah ich unweit der Porta romana einen Neubau, der aufs gräßlichste an die Baugreuel der achtziger Jahre in Deutschland erinnerte. Selbst beim Villenbau, für den hier Tausende klassischer Muster vorhanden sind, beginnt eine Art Perversität des Geschmacks einzureißen. Schon kann man spitze Giebel und Holzfachwerk wie bei Schweizerhäusern sehen. Die Signori, die derartigen Unfug treiben, wollen damit offenbar sagen: »Seht, was wir alles auf unseren Reisen gesehen haben, ihr elenden Popolanen, die ihr nie über Toskana hinausgekommen seid!« Doch hat das Volk, wie es scheint, den alten etruskischen Instinkt für Baukunst noch nicht verloren. Mein Vetturino sagte angesichts einer dieser Villen: »Was für ein häßlicher Vogelbauer!«) Die Nachkommen des gewaltigen Baumeistervolkes der Etrusker sind offenbar einem ausgesogenen Boden zu vergleichen, der früher so ungeheuer viel hervorgebracht hat, daß er nun kümmerlich, wenn nicht steril geworden ist. Man muß sich damit abfinden. Aber scheußlich ist es, daß die maßgebenden Leute in Florenz nicht einmal Respekt vor den gewaltigen Leistungen ihrer Vorfahren und keinen Sinn für die Schönheit, den ästhetischen Charakter ihrer Stadt haben. Augenblicklich sind sie dabei, die ganze Stadt, auch die innere, mit einem Netz von Trambahnlinien zu bedecken, deren Drahtwerk in der Luft alle architektonischen Linien zerfetzt. Ruskin hielt sich darüber auf, daß vor dem Tore des Campanile die Haltestelle der Droschken und Omnibusse war, so daß man »unmöglich einen Augenblick in dessen Nähe stehen konnte, um die Skulpturen anzusehen«. Was würde er heute sagen, wenn an derselben Stelle die meisten Trambahnlinien ihren Ausgangspunkt haben. Der ganze Dom ist wie eingeschnürt von Gleisen und Drähten, und der scheußliche Lärm, mit dem hier die Trambahnwagen verkehren, dringt bis ins Innere der herrlichen Kirche. Und, wie beim Dom, so bei Santissima Annunziata, San Marco, Santa Maria Novella. In den engen, alten Straßen ist kaum mehr Platz, sich vor den häßlichen, schlecht gehaltenen und unsinnig schnell und lärmhaft, mit fortwährendem Geklingel und einem abscheulichen Gekreisch an den Biegungen, vorbeirasenden Fahrkästen zu retten. Da der Italiäner den Lärm liebt, so scheint ihm auch dieser Spektakel Spaß zu machen. Auch die vielen Unglücksfälle trüben seine Freude an dem neuen Spielzeug des »progresso« offenbar nicht wesentlich. Aber, da in Florenz keine Industrie annähernd die Bedeutung hat, wie das Geschäft mit den Fremden, die Fremdenindustrie, so wird die Freude vermutlich doch bald etwas abnehmen, denn schon mehren sich die Zeichen dafür, daß es den Forestieri nicht mehr recht gefällt in der modern geschändeten Arnostadt. Schon ziehen sich nicht wenige der angebeteten Inglesi (denen man, wie vieles andere, so auch dies nachgemacht hat) nach dem ruhigeren Siena und Perugia zurück. Ein old florentine schrieb kürzlich an den Florence Herald die folgenden Zeilen:

Twenty years ago, Florence was delightful; delightful, because unspoilt. It was a quiet, beautiful, picturesque city, where foreigners came for tranquil study, enjoyment of art, and association with artistic and intellectual people. What is it at present? A noisy, bustling, crowded place, invaded by illmanaged and unnecessary trams, ablaze with cinematographs, bereft of intellectual life, aping the worst styles of modern architecture, crammed full of drinking-shops, and presenting all the symptoms of being on the downgrade which leads to utter philistinism and vulgarity. From what I gather, you appear to be leading a movement the object of which is to attract visitors whose greatest pleasure is found in music halls, casinos and circuses. Let such people go to Margate! In Florence we care for something better. The place is terribly vulgarized already.

Der Kinematographenunfug in Florenz ist wirklich abscheulich, denn er geht mit einem greulichen Mißbrauch von Grammophonen einher, die ganze Stadtviertel mit ihrem blechheiseren Gegröle erfüllen. Eine Folge der Kinematographenmanie scheint es auch zu sein, daß das Florentiner Theaterleben schändlich verdürftigt ist, – in dem Grade, daß schon auswärtige italienische Zeitungen sich darüber aufhalten. Die Stadt, für die es ehedem ein Ereignis war, wenn Cimabue eine neue Madonna gemalt hatte, scheint sich nur noch für die Filmsrollen zu interessieren, die Pariser Amüsements und Londoner Moritaten, gestellt von Varietékomödianten, abhaspeln. Die Italiäner, die so lange das Höchste in der Kunst geleistet haben, sind offenbar völlig kunstmüde und schätzen nur noch die »Wunder der Mechanik«. Ihre krankhafte Vorliebe für die Schauspiele der lebenden Photographie hängt vielleicht auch damit zusammen, daß sie wenig reisen und nun fremde Länder in einer Art lebendiger Abbilder nahegerückt erhalten. Doch interessieren sie sich mehr noch für die gewissen Romane, Dramolets, Feerien, die diese vervollkommnete Laterna magica ihnen vorführt: Erfindungen stummer Dichter von meist recht populärer Phantasie, nicht unähnlich der, die sich in den Hintertreppenromanen austobt, mit denen sich unsere Dienstmädchen um einen Teil ihrer Nachtruhe bringen. In ihnen findet er seine geliebte Pantomime wieder, und es fehlt auch nicht die melodramatische Musik dazu. Da wird geliebt, betrogen, gemordet, daß es eine Art hat. Aber, ach, alles ist so schauderhaft schlecht natürlich, so kunstverlassen »wahr«, es fehlt nicht nur das Wort, es fehlt auch der Geist, und wäre es gleich der Geist eines schlechten Dichters. Auch begreift man nicht, wie dieses sinnliche Volk, das sich so leidenschaftlich gerne vom großen Klang einer lebendigen Stimme, von den sprechenden Blicken eines schönen Auges, von den Bewegungen, Gesten, Posen der Schauspieler hinreißen läßt, sein Genüge an diesen gespensterhaften Totentänzen des Lebens auf der weißen, kalten, öden Leinwand finden kann. Vielleicht liegt gerade darin ein Reiz, und vielleicht ist die Phantasie dieser Menschen so groß, daß sie es vermag, diese Schatten mit Blut zu erfüllen. Auch soll (und braucht) nicht verschwiegen zu werden, daß die Kunst der Dunkelkammer Möglichkeiten besitzt, im Leben Unmögliches wie mit einer wunderbaren Kraft vorzutäuschen (und darin liegen, wie H. H. Ewers mit Recht zum Lobe der Kinematographie vorgebracht hat, Perspektiven in ein neues, weites und reiches Land phantastischer Augenweide), aber hier, in Italien, spürt man von diesem Besten, das die abrollenden Films zu bieten vermögen, so gut wie nichts. Die an allen Ecken und Enden von Florenz etablierten Kinematographen bieten nichts weiter als Surrogate für theatralische Kunst. Und so sind sie ein böses Zeichen für den Geschmacksverfall dieses Volkes, dessen Vorfahren im Schaffen und Genießen lebendiger Kunstwerke einen so starken, edlen, reichen Geschmack bewährt haben, daß unsere Bewunderung für sie zur Ehrfurcht wird.

Es gibt auch alte Florentiner nicht englischer Abkunft, die empört darüber sind, wie frevelhaft gefühllos in Florenz gegen den alten Charakter der Stadt gesündigt wird. Es bleibt ihnen nichts übrig, als auf ihre Villen hinauszufliehen, wo die alte unvergleichliche Schönheit einer entzückenden, durch Kunst noch gehobenen Natur ruhig weiterlebt.

Welch ein Kunstwerk sind die Hügel von Fiesole mit ihren Villen, Gärten, Terrassen, Mauern. Das Wort wunderbar, das wir so oft eitel nennen, stellt sich hier mit seinem ganzen Sinne ein.

Aber man muß sich, die einzige Schönheit dieses Freiluftkunstwerks größten Stiles zu genießen, nicht damit begnügen, die Trambahn zu nehmen und zur Piazza di Mino in Fiesole hinaufzufahren. Und man muß auch nicht meinen, Fiesole sei bloß ein besonders schöner Aussichtspunkt auf Florenz, so daß man etwa seiner Touristenpflicht genügt hätte, wenn man zu den Franziskanern hinaufgestiegen ist, von wo aus man in der Tat einen herrlichen Blick auf die Stadt und das Arnotal genießt. Oder ein Besuch des römischen Theaters sei das Wichtigste. Oder man müsse die Kathedrale gesehen haben. Oder das malerische und (»Gott, wie dreckig!«) höchst interessante »echt italienische« Winkelwerk der Via dei caldani bestaunen (voll Dankbarkeit im Herzen, daß »so was in Deutschland denn doch unmöglich ist«). Selbst die Fahrt über Castel di Poggio und Castel Vingiliato nach Settignano und so nach Florenz zurück, durch die sich der Wissende vor den Unerfahrenen auszeichnet, die einfach (und billiger) wieder mit der Trambahn zum Domplatz zurückkehren, genügt nicht. Sie zeigt viel Schönes, aber nicht das Schöne, das aus der ganzen Welt nur Fiesole zu zeigen hat: die Komposition diesem Hügelgemeinde aus Villen und Gärten, Terrassen und Mauern, Frucht- und Blumenfeldern, Olivenanpflanzungen und Gehölzen. Will man eine Ahnung davon gewinnen, so muß man entweder vom höchsten Stadtteile Borg’unto aus, oder hinterwärts der Kathedrale den Weg überm Mugnone zurückgehen und dann, abseits von der Trambahnstraße, den alten Fahrweg zwischen den großen unteren Villengartenmauern bis nach Florenz verfolgen. Wer dies getan hat, unterläßt es gewiß, am nächsten Tage im häßlichen Gekreische von Florenz herumzusteigen. Er hat den Zauber der wunderbarsten etruskischen Kunst gespürt: aus einem Stück Natur ein Stück lebendigster Kunst zu machen, die Natur dem Menschen nicht bloß materiell, sondern ästhetisch zu unterwerfen: die Natur zum Gedichte zu bewältigen, ohne ihr Zwang anzutun. Und er wird zurückkehren, sich näher in dieser nicht verkünstelten, sondern zur Kunst sublimierten Natur umzusehen.