Otto Julius Bierbaum
I.
München –Innsbruck.
München, am Abend Allerseelen 1902.
Sobald ich nach München komme, werde ich vergnügt. Liegt das nun an den 500 Metern über Meer? Oder an der »Kunstatmosphäre«? Oder an der »Gemütlichkeit«? Oder an dem, was ich hier Gutes erfahren habe von Freunden und Feinden? – Aber es ist mir hier schon so ergangen, wie ich das erstemal herkam als junger Student, der weder von wegen der Nerven auf Höhenklima reflektierte, noch einer Kunstatmosphäre oder bajuvarischer Gemütlichkeit bedurfte, um sich wohl zu fühlen, und der weder Freund noch Feind in dieser Stadt besaß. – Was war es also und was ist es? Ich glaube, es war und es ist ein wenig Autosuggestion dabei. München – das hieß für mich schon Heiterkeit, Freiheit, Frische, Natürlichkeit, eh’ ich es kannte. Ich ging hin, dies alles zu suchen, mit der Zuversicht im Herzen, daß ich es finden würde, und so fand ich es. Möglich, daß ich es mir manchmal erfand, aber gleichviel: ich kam auf die Rechnung meiner lebendigsten Wünsche. Und das wiederholt sich mir nun immer wieder. Schon im Hotelomnibus, der hier nicht weniger humpelt und knattert als anderswo, werde ich vergnügt, und, wenn ich dann in den Straßen herumstreife, erlebe oder ersehe ich mir wenigstens immer etwas, das mir Vergnügen macht. Das können Sachen sein, die man überall ebenso gut erleben oder sehen kann wie in München, aber ich für mein Teil finde, daß sie hier besonders Spaß machen. Heute war es dies: Auf dem völlig menschenleeren Karolinenplatz, an dem recht scheußlichen Obelisken, den der seltsame Logiker Ludwig der Erste seinen Bayern errichtet hat, die unter Napoleon in Rußland zugrunde gingen, weil auch sie »für des Vaterlandes Größe« gestorben seien (nicht weit davon steht das Haus, das er der Lola Montez errichtete, die er in den drolligsten Versen besungen hat, die jemals der »teutschen« Muse abgewaltsamt worden sind), also: am Fuße dieses sonderbaren Monuments stand ein bayrischer Infanterist, eng verbunden mit einem bayrischen »Kocherl«, dachte weder an des Vaterlandes Größe, noch an die deutsche Muse, noch an irgend etwas, sondern busselte nur ganz einfach seinen Schatz. Aber das geschah von beiden Seiten mit einer so vollkommenen Hingabe, so monumental intim, so gründlich und ordentlich, und der Wehrstand war mit dem Nährstand so innig verschlungen, das militärische Himmelblau mit dem Küchenweiß so lieblich enge gepaart, daß ich andächtigen Gemütes stehen blieb und meine liebe Seele die beiden mit einem herzlichen Spruche segnen ließ, der also lautete:
Und wenn die Welt voll Teufeln wär’
Und wollt mich gar verschlingen,
Und käm selbst der Herr Hauptmann her:
Es soll mir doch gelingen!
Hilf Gott, was ist die Liebe warm,
Wie geht die Brust, wie drückt der Arm!
Die Liebe, die Liebe, die ist nicht umzubringen!
Sonntag, den 2. November 1902.
Um Cléo de Merode zu sehen, beschlossen wir in die Blumensäle zu gehen, aber es war natürlich kein Platz mehr zu haben, denn sämtliche Münchener Künstler hatten vor uns das gleiche beschlossen. Recht ärgerlich verließen wir den Ort der Enttäuschung, aber siehe: unsere Blicke fielen auf ein kleines Biedermeierhäuschen mit Säulenportikus, und wir riefen aus: Es ist Ersatz gefunden! Denn im Giebelfelde dieses Häuschens ist, von zwei niedlichen Mädchen flankiert, Herr Kasperl Larifari zu sehen, der Letzte seines Stammes, aber nicht der Schlechteste, und das Häuschen ist Papa Schmidt Marionettentheater, ihm von der Stadt München erbaut und von Münchener Künstlern ausgeschmückt. Es war nachmittags um 1 Uhr, aber schon standen die kleinen Kunstenthusiasten, die nur den Preis des dritten Platzes, zwanzig Pfennige, erschwingen konnten, und harrten der Eröffnung, die um 3 Uhr stattfanden sollte. »Gibt’s noch Billetten?« fragte ich einen der kleinen Burschen. »Ja,« erwiderte er, (offenbar ein Habitué), »wenn’s Taferl »Ausverkauft« noch nicht bei der Abortfrau ihrem Fenster außihängt, gibt’s schon noch eine.« Das Taferl hing noch nicht außi, und so gingen wir zur Abortfrau. Aber, natürlich, wenn der Mensch schon einmal Pech gehabt hat, hat er’ s auch gleich ein zweites Mal: gerade wie wir eintraten, wurde die letzte Karte verkauft. »Alles weg?« »Freili. Am Sonntag!« – »Aber ich bin ein Rezensent und reise morgen weiter. Fragen Sie doch den Papa Schmid, ob wir nicht noch zwei Plätze haben können.« – »Schreiben tun’s?« – »Ja, für die »Zeit« in Wien.« – »Für a Wiener Blatt? Na, i frag halt. Warten’s a weng.« Und wir warteten im Vorzimmer der ersten Klasse mit Waschbecken und Extrahandtuch. Nicht umsonst, denn es wurde uns die angenehme Botschaft, daß wir zwei Extrastühle eingeschoben erhalten würden auf dem ersten Platz à 80 Pfennige. Wir freuten uns nicht weniger darüber, als wenn wir noch ein paar Plätze für die schöngescheitelte Cléo erhalten hätten, und waren punkt 3 Uhr zur Stelle, um das komische Zaubermärchen in drei Akten und sieben Bildern: »Fortunatus oder die Ohren der Prinzessin von Marokko« zu sehen. – Welch ein munteres Leben, welch laute und stille Erwartung in dem hübschen, kleinen Amphitheater! Ach, daß uns ein solches Premièrenpublikum irgendwo einmal beschieden wäre! Alle diese frischen Augen und Lippen lachten: Theater! Theater! wie schön wird das sein! – Plötzlich wird der Vorhang erleuchtet: erstes Ah! der Genugtuung. Ein Klavier (unsichtbares Orchester) spielt eine Polka: schon klatschen einige. Und nun das Klingelzeichen, – und eine Welle von entzückten Lauten geht durch das Publikum. Aber eine Stimme gebietet: »Ruhe!« und es wird gleich mäuschenstill. – So bleibt es während aller sieben Bilder, nur, daß hie und da ein ganz Kleiner, eine ganz Kleine ruft: »Mama, ich möchte mal ‘naus!« Pfst! Pfst! rufen die Größeren entrüstet, die, erfahrene Genießer, alles Nötige vorher abgemacht haben. – Wie schön, wie lustig war das aber auch alles. Welche Kostüme! Prinz Fortunatus zuletzt gar in einer goldenen Rüstung, und Kasperl Larifari kann alle Glieder bewegen und spricht münchnerisch! Gorilla, der Kaiser der Wildnis, tritt auf und mit ihm seine Frau, die Madam Meerkatze, nebst den »Kindern beider«, greulich ungezogenen Affen, die bloß pfauchen und Purzelbäume schlagen können. Knuzzimuzzi, der Leibsklave des Sultans von Marokko, ist ein richtiger Mohr, der sich voll Grazie auf den Bauch legen kann, wenn er seinen Gebieter begrüßt, aber die Prinzessin Zoraide ist, trotz ihrer goldenen Pumphosen, eine schlechte Person, der es ganz recht geschieht, daß sie Eselsohren kriegt. Uebrigens geht alles gut aus, und Prinz Fortunatus sieht ein, daß Weisheit besser ist als Reichtum. Quod erat demonstrandum – Wird auch das Publikum das einsehen? Werden Maxl und Linerl ihre Schulaufgaben nun mit größerem Eifer machen? Wer weiß! Doch eins ist sicher: in ihren Augen bleibt das schöne Bild, wie Fortunatus Gold regnen läßt, wie er, ritterlich in Gold geschient, reumütig und schön vor seinen lieben Eltern erscheint, wie Prinzessin Zoraide vor ihm niedersinkt und bekennt, daß ein gütiges Herz mehr wert ist als Schöntun und Falschsein. Und dann der lustige Kasperl, den man bloß anzusehen braucht, um zu lachen! Das Linerl wird noch als Frau Lina lächeln, wenn sie an den denkt und seine komische Lebensweisheit. – Ist das nicht viel? Ich wünsche jeder großen Stadt einen Papa Schmid.
Soll ich auch jeder großen Stadt die »Elf Scharfrichter« wünschen? Es kostet nichts, wenn ich es tue, aber es hilft auch nichts. Denn sie sind bloß in München möglich. In Berlin ist das Ueberbrettl als ein Witz entstanden und zugrunde gegangen, wie der Witz abgestanden war. Jeder Versuch, die ihm zugrundeliegende gute Idee eines lyrischen Theaters mit Varietécharakter ernsthaft auszuführen, mußte dort fehlschlagen, weil der Begriff des höheren literarischen Ulkes allzu eng mit ihr verknüpft war. In München fand sie ihre Verwirklichung durch Künstler, die von vornherein den gröberen sowohl wie den feineren Ulk, das Zugmittel für die Massen und Uebersatten, ablehnten und aufs Eigentliche des Gedankens eines Künstlerbrettls gingen. So war ihrem Unternehmen Dauer und reeller Erfolg beschieden in dem Augenblick, wo zu den guten künstlerischen Qualitäten eine ordentliche geschäftliche Leitung hinzukam. Freilich erfreuen sie sich dabei eines Vorteils, den in Deutschland nur München bietet: einer gar nicht engherzigen, vielmehr recht freien und gescheiten Zensur. Was hier Frank Wedekind singen darf, wäre in keiner anderen deutschen Stadt möglich. Aber mehr noch: Selbst wenn es zum Beispiel erlaubt würde – man würde es nicht mit anhören können angesichts eines Publikums, das derlei Freiheiten zu unerträglichen Frechheiten stempeln würde durch die Art der Aufnahme. Es würde als Zoten bewiehern, was in Wirklichkeit doch etwas beträchtlich Höheres ist und darum nicht als Unflätigkeit, sondern als Kunstwerk aufgenommen werden will. Es ist geradezu der Hauptvorteil der »Elf Scharfrichter«, daß ihr Zuschauerraum die Masse ausschließt. Sie spielen in einem Saal, der eigentlich nur ein Korridor ist und kaum mehr als 100 Zuschauer faßt. Damit ist auch die Intimität gewahrt, eine wesentliche Voraussetzung der richtigen Wirkung derartiger Proben literarischer Kleinkunst. Ein Kabinett – kein Theater. Daher auch der angenehme Mangel an Prätensionen. Alles primitiv, aber geschmackvoll. Kaum etwas, das als künstlerische »Leistung« prunken will, aber auch fast nichts, das einer künstlerischen Note völlig entbehrte. In der Tat: Ein künstlerisches Varieté und, weil derlei tatsächlich so nur hier geboten werden kann, eine Spezialitätenbühne künstlerischen Gepräges. Da spielen sie zum Beispiel jetzt eine satirische Farce »Die Verschönerungskommission« von Paul Schlesinger, ein köstlich ungeniertes Ding voll der offensichtlichsten Spitzen gegen die allerhöchste Person des Deutschen Reiches, das alles überbietet, was der Simplizissimus nur je gewagt hat, und ich möchte glauben, daß die allerhöchste Person selber vor Vergnügen klatschend auf den Schenkel schlagen würde, wenn die Reporter recht haben, die behaupten, daß sie auf diese Weise applaudiert. Eine glänzende Aristophanerie im kleinen.
Montag, den 3. November 1902.
Um zu bemerken, daß München eine Kunststadt ist, hat man nicht nötig, Atelierbesuche zu machen. Es genügt, durch die Stadt zu spazieren. Da ist es denn erfreulich, zu sehen, wie stark sich hier der Zug zu einer modernen ästhetischen Kultur bereits durchgesetzt hat. Die Architektur verschmäht fast ausnahmslos das armselige Kopieren alter Stile, ohne daß sie doch in den üblen Fehler verfällt, um jeden Preis, das heißt auch um den Preis der Vernunft und ruhig bedachten Geschmacks, neu und noch einmal neu und immer wieder bloß neu sein zu wollen. – Ferner alles, was mit der Innendekoration zusammenhängt: Teppiche, Tapeten, Vorhangstoffe, Schmuckgegenstände, Möbel, – ein Blick in die Schaufenster genügt, um das angenehme Gefühl zu erwecken: es gibt wieder ein gutes Geschmacksniveau, und auch der minderbemittelte Mensch von Geschmack findet hier, was er braucht, wenn er sich zu Hause mit schönen Dingen des täglichen Gebrauches umgeben will. Der schwere und dabei schwindelhafte Geist des Protzentums ist ebenso überwunden wie das Gefühl der Resignation: willst du was Schönes suchen, mußt du zum Trödler mit Antiquitäten gehen. – Besonders auffällig ist die künstlerische Höhe, die hier die Photographie erreicht hat. Nicht bloß bekannte Anstalten wie die Ateliers Elvira, Veritas, sondern auch kleine Anfängerfirmen leisten Erstaunliches. Hat man früher gesagt: wenn man in München gut speisen will, muß man nach Augsburg in die Drei Mohren fahren, so könnte man heute sagen: willst du dich in Berlin gut photographieren lassen, mußt du nach München reisen.
Von Ateliers konnte ich nur das Franz Stucks besuchen, das, auch wenn es ganz leer wäre, ein Augenlabsal ist in seiner heiter wundervollen Pracht. Ich fand den immer gleich zielbewußten, stetig vorwärts schreitenden Meister über einer kleinen Leinwand, auf der die Skizze eines großen Gemäldes zu sehen war, mit dem er sich, nach seinen eigenen Worten, wieder einmal eine Aufgabe stellen will, bei der er Gelegenheit hätte, »Schwergewichte zu stemmen«. Er will die Pest darstellen. Das ist freilich kein Thema für Jongleure, sondern für künstlerische Meister der schweren Athletik. Da sein künstlerischer Bizeps seinem physischen entspricht, zweifle ich nicht daran, daß es ein Werk voll Kraft, aber auch voll Schönheit wird.
Innsbruck, den 4. November 1902.
Acht Stunden lang unausgesetzt im gesund-regelmäßigen Viertakt eines Automobils durch einen unsagbaren schönen, sonnigen Herbsttag dahingefahren, – ein Genuß, der nicht zu schildern ist. Alle Lebenskräfte wachen auf, alles Verhockte, Verstockte, Faule, Grämliche wie weggeblasen, alle guten Geister der Kraft und Gesundheit mobil. Bewegung! Kraft- und Saftumsatz! Rhythmus und Raumüberwindung! Es ist eine rauschartige Steigerung des Lebensgefühls. Was konnte ich, dies auszudrücken, Besseres tun, als meiner Frau immer und immer wieder die Hände zu küssen?! Verse machen ist schön, – dies ist noch schöner. Was kann es Herrlicheres geben, als gemeinsam sich durch die wechselreiche Schönheit einer mit allen Reizen ausgestatteten Gegend dahintragen zu lassen, von einer durch Menschenhand bemeisterten Kraft, die rhythmisch tätig ist? Wer die Wollust dieses Dahinrollens kennt, ersehnt sich nicht mehr die Kunst des Fliegens. Fest auf der Erde, aber wie im Sturme dahin. Jede Falte des Geländes benützend, Hügel hurtig hinauf und brausend hinab, jetzt zwischen Wiesen und junger Saat, nun durch Wälder, Flüssen entlang, über Brücken hin, Felsentore hindurch, hinter davontrabenden Herden her, in das Gassenwinklicht einer alten Stadt hinein, über Märkte weg voll Buden und Gewimmel, Schlössern, Burgen, Parks vorüber und vorbei an Pflügern und Hirten – immer den Bergen zu und plötzlich vor ihnen, da man sie doch vor wenigen Stunden grau und verschwommen, wie in einer Ferne sah, die sich dem Hinstrebenden nur immer weiter zu entziehen schien. Wem ich gut bin, dem wünsch’ ich diesen Genuß, dieses Glück.
II.
Innsbruck– Bozen – Eppan.
Schloß Englar im Eppan, 7. Nov. 1902.
In Innsbruck hatten, als wir dort waren, eben die welschen Studenten von den deutschen Prügel gekriegt. Nicht aber auf der Mensur mit Schlägern oder Säbeln, sondern auf ganz primitive Manier, mit Fäusten und Spazierstöcken, was man als gemeiner »Finke« Holzkomment nennt, während sich der Leipziger Korpsstudent, führnehm, wie er nun einmal ist, über den Fall so äußern würde: »Die deutschen Studenten haben sich gegen die welschen »in Realavantage« gesetzt.« Ein ordentlicher, braver, wohlerzogener deutscher Korpsstudent tut so etwas nicht – wenn er es aber doch tut, so wird er auf vier Wochen aus dem Korps »gehängt«, muß statt der schönen, bunten Mütze einen ganz gewöhnlichen Filzhut tragen, entbehrt des erzieherischen Einflusses des Frühschoppens, des Renommierbummels, der Kneipe, und wird nur durch den Besuch des Fechtbodens daran erinnert, daß er immerhin noch Beziehungen zur Elite der akademischen Bürger hat. Eine grausame Strafe, aber berechtigt. Denn es ist wirklich nicht sehr nett von einem akademischen Bürger, wenn er einen anderen durchprügelt, ohne Sekundanten und Unparteiischen und ohne genaue Buchführung der »Blutigen«. Denn es muß Ordnung auch in der Keilerei sein, Kultur, Stil, höherer Gesichtspunkt. Warum, so frage ich mich verwundert, haben die Deutschen und Italiäner nicht eine P. P.-Suite ausgepaukt? Es ging ja im eigentlichsten Sinne pro patria?! Als auf den deutschen Universitäten noch die alten Landsmannschaften existierten, die wirklich die Vereinigungen der engeren Landsleute waren, da lieferten sich zuweilen Franken, Schwaben, Rheinländer derartige Schlachten, und aus jener Zeit stammt der Ausdruck: P. P.-Pauken. Aber freilich, man war einander nicht so böse, wie Deutsche und Welsche in Innsbruck, denn man war schließlich eines Blutes, und wenn man sich einander ein bißchen davon abzapfte, so geschah es nicht so sehr um der Feindschaft, als um der Freundschaft willen: Hau her, Bruder, daß ich wieder hinhauen kann! Ein etwas barbarischer Ausdruck gegenseitiger Hochachtung, aber immerhin gemütlich. – Davon ist nun hier leider die Rede nicht. Man ist sich bitter Feind. Keine Spur von Gemütlichkeit und kameradschaftlicher Gesinnung. Man prügelt sich, um einem hohen Senate der Universität und nicht minder einem hohen Ministerium des Unterrichtes ad oculos zu demonstrieren, daß man überhaupt nicht mehr wünscht, einander Kamerad zu sein. Darin sind beide einig, Deutsche und Welsche: daß man auseinander möchte. Das Wort: sich schlagen und sich vertragen, ist hier nicht am Platze, vielmehr schlägt man sich, um es recht deutlich auszudrücken: wir wollen uns nicht vertragen. – Hübsch ist das nicht, aber begreiflich. Eine Universität in Innsbruck kann wohl nicht gut anders als eine deutsche Universität sein, und von italiänischen Studenten kann man es kaum verlangen, daß sie deutsche Studenten werden. Freilich sollte eine jede Universität ein Kosmopolis sein, und akademische Bürger sollten, unbeschadet ihres Volkstums, den Ehrgeiz haben, sich auch als gute Europäer zu fühlen und dementsprechend zu betragen, aber an den Grenzen weht ein scharfer Wind und ein jeder fühlt sich hier auf Vorposten. Die Deutschen haben es nicht vergessen, daß die Italiäner schon mehr als einmal den Anspruch erhoben haben, ihre Grenze bis an den Brenner zu rücken, und man kann es ihnen nicht verdenken, daß sie bei dem Gedanken wild werden. Es handelt sich hier um eines der schönsten Stücke deutscher Erde; diesen köstlichen Zipfel Süden wollen wir Hyperboräer uns nicht abwelschen lassen, wenn wir auch sonst gar nicht zu den Signori-Fressern gehören, vielmehr alles dessen dankbarst eingedenk sind, was wir der großen Mutter europäischer Kultur, der schönen Italia, schuldig sind. Von hier ist uns der holdstarke Vogelweider gekommen, und hier hat der derbtüchtige Wolkensteiner in derselben Sprache gedichtet, die hier noch im Munde der deutschen Bauern lebt. Dies alles, bis hinauf gegen den Gardasee hin, der selber seinen Namen noch aus deutschem Sprachstamme hat, ist deutsch, wenngleich es mehr als eine Nuance von Italien hat. Deutsch und Welsch hat sich zu einer wundervollen Einheit mit deutscher Dominante verschmolzen. Auch die Landschaft drückt dies aus, denn sie hat zwar bereits die große italiänische Linie, aber den deutschen Wald. Wo dieser aufhört, da beginnt Italien. In der Architektur ist der italiänische Einfluß, der Einfluß der älteren und südlicheren Kultur, unverkennbar, aber sie hat dabei die intimsten Züge des Deutschtums, das beim Heimbau aufs deutlichste das zum Ausdruck bringt, wofür es dem Italiäner selbst am Worte fehlt: die Gemütlichkeit. Alle diese Edelsitze und Schlösser haben trotz ihrer italienischen Grundanlage viel mehr von der deutschen Burg als vom italienischen Castello. Erst von Trient an wird das anders. Dorthin würde eine italiänische Universität nicht übel passen, wie sich ja auch das Dante-Denkmal dort nicht übel ausnimmt, das Land Italien mit den Augen suchend, während es das Land Tirol mit der Rückseite begrüßt, die man, da Denkmäler nicht die Gabe haben, sich zu setzen, allerdings nicht die Gesäßseite nennen kann. Es ist ein ziemlich temperamentvolles Monument, dieses Trientiner Dante-Denkmal, und der Gegensatz zwischen den beiden Nationen, die hier in aller Taubentraulichkeit friedlich nebeneinander wohnen würden, wenn es bloß auf die Wünsche einer k. k. Regierung und abgeklärter Freunde des Menschengeschlechtes ankäme, könnte nicht packender ausgedrückt werden, als wenn man es neben das Bozener Walther-Denkmal stellen würde – dos-à-dos natürlich. Der Dante von Trient ganz Grimm und Leidenschaft, der Walther von Bozen ganz Sinnigkeit und Minnigkeit. So stellen die Völker in ihren geistigen Helden gerne sich selber dar nach dem Bilde, das sie sich von sich selber machen, und es kommt dabei weder eine geistige Porträtähnlichkeit der Helden noch der Völker heraus. Die Italiäner haben sich in ihrem Dante von Trient meinem Empfinden nach geschmackvoller geschmeichelt, als die Deutschen mit ihrem Walther von Bozen. So butterweich und zuckersüß sind wir denn doch nicht, selbst dann nicht, wenn wir Lyriker sind, und wir dürfen eigentlich verlangen, daß man, wenn in der südlichsten deutschen Stadt ein Sinnbild deutscher Art errichtet wird in Gestalt eines deutschen Dichters und Rittersmannes, nicht bloß den »Dichter« hervorkehrte, wie ihn sich schmachtsinnige »Mägdlein« vorstellen mögen, sondern auch den streitbaren Ritter und scharfen politischen Streiter, der nebenbei auch ein galanter Mann von Welt und Form gewesen ist, mindestens so graziös wie gefühlvoll.
8. November 1902.
Es ist gewiß eine gewaltige Sache, daß man die großen Schwellen zwischen den Stationen, deren schönste wohl der Brenner ist, gewissermaßen geebnet hat, indem man Schienenwege über sie weg und durch sie hindurch legte; das Eisen, das sonst im Verkehr der Völker vornehmlich die Aufgabe hatte, zu trennen oder zu unterwerfen, erfuhr damit die schönere Anwendung, zu verbinden, freundschaftlich nahe zu bringen. Aber die Kunst der Ingenieure, die dies Erstaunliche leistete, nahm doch auch, indem sie gab. Sie gab Schnelligkeit und nahm Schönheit. Ehe sie ihre Wunder schuf, kroch man langsam über die Berge, aber man fand Zeit dabei, ihre Schönheit zu genießen: von dem Augenblicke an, wo ihr bewundernswertes Werk fertig war, brauste man wie im Sturm über die Berge weg und jagte durch ihr Inneres, aber man sah meistens entweder nichts oder nur vorüberhuschende Bilder. Und dies wenige sah man als Gefangener. Denn auch die Freiheit wurde der Schnelligkeit geopfert. Das Eisenbahnbillett wurde nicht nur mit Geld, sondern auch mit der Aufgabe des Selbstbestimmungsrechtes für eine gewisse Zeit bezahlt. Wer sich in ein Eisenbahncoupé begibt, begibt sich auf eine Weile seiner Freiheit. Jede Fahrt auf der Eisenbahn ist ein Gefangenentransport; die Wärter nennt man Schaffner, was sie aber nicht immer veranlaßt, höflich zu sein; die Gefängnisordnung nennt sich Eisenbahnreglement, ist aber darum nicht weniger in einem Stil verfaßt, der seine Imperative ohne alle Artigkeitsfloskeln vorbringt; da das Einzellensystem zu kostspielig ist, werden die Gefangenen, wenn sie nicht sehr reich sind und sich eine Privatzelle leisten können, in mehr oder minder großen Mengen zusammen transportiert, wobei allerdings auf die Portemonnaieleistung einige Rücksicht genommen wird, und eine reinliche Scheidung zwischen Tabakkonsumenten und solchen Leuten statthat, die, wenn sie sich schon darein finden müssen, eine Luft voll Kohlenruß und Polsterstaub einzuatmen, doch Wert darauf legen, daß diese nicht gleichzeitig mit Tabakrauch der verschiedensten Gestanksgrade versetzt ist. Ach, welche Lust gewährt dies Reisen?! Aber nein, man soll dieses Wort auch nicht ironisch auf eine Sache anwenden, die so gut wie nichts mehr damit gemein hat. Reisen ist freie Bewegung, Genuß des Freiseins, Befreiung aus der Enge – Reisen ist Freiheit. Also läßt sich das Wort nicht auf eine Sache anwenden, die alle Merkmale der Unfreiheit an sich hat. Die Eisenbahn ist ein ausgezeichnetes Transportmittel, aber das Reisen hat mit ihrer allgemeinen Einführung so gut wie aufgehört. Mit der Möglichkeit, sich schnell von Ort zu Ort befördern zu lassen, stellte sich der Wunsch, ja die nervöse Begierde darnach ein – selbst in den Fällen, wo Schnelligkeit gar nicht der Hauptzweck ist. »Schnell weit weg« wurde die Devise auch für Vergnügungsreisen.
Aber die Technik stand nicht still und holte mit dem Automobil nach, was sie bei der Eisenbahn versäumt hatte, und sie schuf damit den idealen Reisewagen, die Voraussetzung zu einer neuen Kunst des Reisens. Der Laufwagen, der zu seiner Bewegung weder Zugtiere noch festgelegte Geleise braucht, vereinigt in sich alle Vorzüge des altmodischen Reisewagens und der Eisenbahn, ohne ihre Nachteile zu haben. Er gibt Schnelligkeit, Freiheit, Schönheit in einem. Wer nur einmal eine Reise in ihm gemacht hat, zweifelt nicht mehr daran, daß er der Reisewagen der Zukunft ist. Man denkt, hört man das Wort Automobil, freilich weniger an Reise- als an Rennwagen, und dieser Gedanke löst die Assoziation an wahnsinnige und lebensgefährliche Geschwindigkeiten aus – achtzig, hundert und hundertundzwanzig Kilometer in der Stunde, überfahrene Tiere und Menschen, Sturz in den Abgrund oder Ankunft in halbtotem Zustande. Diese abenteuerlichen Vergnügungen von Millionären, die sich die Situation der Lebensgefahr als besonderen Reiz leisten können, sind aber nur die Sportnuance des Automobilismus. Sie war, so lange fast nur Rennwagen gebaut wurden, eine Hauptsache, aber sie wird immer mehr Nebensache werden, seitdem große Fabriken in richtiger Erkenntnis der eigentlichen und bedeutsamen Perspektive der Sache, sich fast ausschließlich darauf beschränken, Reisewagen zu bauen, zu deren Erwerbung auch Leute von mittlerem Vermögen imstande sind. Ein derartiger Wagen ist keiner phantastischen Geschwindigkeiten fähig; mein Wagen »macht« zum Beispiel nur 35 Kilometer in der Stunde, aber nach mehr gelüstet mich auch nicht, denn, würde ich schneller fahren, würde ich weniger sehen. Und ich will so viel und so gut sehen, als nur möglich. Ich habe von Innsbruck bis Sterzing, wo wir Mittagspause machten, zwei und eine halbe Stunde gebraucht, aber diese Zeit hatte keine leere Minute, umschloß eine ununterbrochene Reihe wirklich geschauter, genossener Bilder. Wo es besonders schön war, hemmten wir den Lauf und bummelten, und als wir bei Franzensfeste in die südlichere Landschaft einfuhren, hielten wir wohl auch manchmal still und labten uns in aller Ruhe und Behaglichkeit an der üppigen Schönheit dieses südlichen Herbstes. Denn die höchste Schönheit will andächtig genossen sein.
Montag, den 10. November 1902.
Mein alter Freund Torggler, dessen grauhaariger Bauernschädel ein wahres Magazin von Volksschnurren ist, hat nicht ermangelt, mir seinen Besuch zu machen, und er hat mir als Gastgeschenk auch gleich ein paar hübsche Geschichten gespendet, die wohl wert sind, aufbewahrt zu werden. Nur schade, daß man die Sprache nicht mit wiedergeben kann.
»Kürzlich,« so etwa erzählte der Alte, »bin ich dem Baron Andre Dipauli begegnet, oben in Matschatsch (wo der Baron mitten im schönsten Buchenwalde ein kleines Schloß hat), und da hab ich ihn gefragt: Herr Baron, wissen Sie die Geschichte, wie der Herrgott mit dem Teufel hat prozessieren wollen? Nein, sagt der Baron. Also hab ich sie ihm erzählt. Nämlich, es hat einmal im Himmel sakrisch geraucht und der Herrgott hat zu einem Erzengel gesagt: »Du,« hat er gesagt, »was ist denn das heut wieder? Das ist ja schier nimmer zum Aushalten mit dem Gestank.« »Ja,« sagt der Gabriel, »das ist der verflixte Teufel da unten, bei dem ist wieder mal der Rauchfang nicht gekehrt worden und die große Mauer zwischen der Hölle und dem Himmel hat nix als Löcher.« – »Ja, die muß doch der Teufel vermörteln lassen,« sagt der Himmelsvater, »das ist doch ein für allemal ausgemacht?« »Freilich,« sagt der Gabriel, »ausgemacht is, aber der sakrische Hundsknochen tut ja nie, was er soll!« – »Also gut,« sagte der Herrgott, »verklagen wir ihn halt. Geh’, sei so gut und hol’ mir einen Advokaten.« Der Gabriel tut die Flügel auseinander und hui – fort.
Es dauert eine Weile, dann kommt er wieder. – »Na,« sagt der Himmelvater, »was is? Warum hast du den Advokaten nicht gleich mitgebracht.« – »Ja, mei’,« sagt der Erzengel und kraute sich hinterm Ohr, »das Prozessieren müssen wir uns aus dem Kopf schlagen, Himmlischer, – die Advokaten sind alle auf dem Teufel seiner Seite; bei uns im Himmel ist keiner zu finden.«
»Was hat denn der Baron Dipauli dazu gesagt?« fragte ich den Torggler.
»Gelacht hat er und mir dann eine andere Geschichte erzählt.«
»Auch so eine?«
»Ja. Einmal ist ein Müller in Eppan gestorben, hat er erzählt, ein recht gottloser Kerl und er ist ohne Beichte und Absolution abgefahren. So kommt er denn zum Petrus und begehrt Einlaß. Nix is, sagt Petrus, ungebeichtet kommt man hier nicht herein. – Na, so beicht ich halt hier oben, sagt der Müller. – Sagt aber Petrus: So gescheit wäre schon mancher vor dir gewesen, du Haderlump, – wenn wir nur einen Geistlichen im Himmel hätten . . .«
So predigt im heiligen Lande Tirol die Kirche Gottes, gemildert durch Humor, bei Bauern und Baronen.