Die Ausgestoßnen von Poker Flat

Bret Harte

Als Herr John Oakhurst, seines Zeichens Spieler, am Morgen des dreiundzwanzigsten November 1850 in die Hauptstraße von Poker Flat hinaustrat, merkte er, daß in deren moralischer Atmosphäre sich seit dem vorhergehenden Abende etwas geändert hatte. Zwei oder drei Männer, in eifrigem Gespräch mit einander begriffen, hörten bei seinem Näherkommen damit auf und wechselten bedeutsame Blicke. Es lag in der Luft eine sabbatliche Stille, die in einer an Sabbatseinflüsse nicht gewöhnten Niederlassung unheilverkündend aussah.

Mr. Oakhursts ruhiges, hübsches Gesicht verrieth über diese Anzeichen wenig Besorgniß. Ob er sich bewußt war, irgend eine Ursache zu Mißbehagen gegeben zu haben, ist eine andere Frage. »Ich glaube, daß sie hinter jemand her sind,« überlegte er sich; »kann leicht sein, daß ich dieser jemand bin.« Er steckte das Schnupftuch wieder in seine Tasche, mit dem er den rothen Staub von Poker Flat von seinen saubern Stiefeln abgeklopft hatte, und ließ in seinem Innern gleichmüthig alle weiteren Vermuthungen sein.

In der That war Poker Flat »hinter jemand her«. Es war in den letzten Tagen mehrerer tausend Dollars, zweier werthvollen Pferde und eines hervorragenden Bürgers verlustig gegangen. Es empfand ein krampfhaftes Aufzucken tugendhafter Entrüstung dagegen, welches ganz so ungesetzlich und unbotmäßig war wie irgend eine der Handlungen, die es hervorgerufen hatten. Ein geheimer Ausschuß hatte den Beschluß gefaßt, die Stadt von allen unsaubern Persönlichkeiten zu befreien. Dies geschah für die Dauer in Betreff von zwei Männern, welche in diesem Augenblicke bereits von den Aesten einer Platane herabhingen, die in der Schlucht stand, und auf Zeit durch die Verbannung gewisser anderer anstößiger Charaktere. Zu meinem Bedauern muß ich sagen, daß einige von diesen Damen waren. Indeß bin ich’s dem Geschlechte schuldig, zu constatiren, daß ihre ungebührliche Aufführung handwerksmäßig betrieben worden war, und daß Poker Flat nur in derartigen leicht festzustellenden Hauptfällen zu Gericht zu sitzen wagte.

Mr. Oakhurst hatte Recht mit der Vermuthung, daß er in diese Kategorie einbegriffen war. Einige Mitglieder des Ausschusses hatten dringend befürwortet, ihn zu hängen, was möglicherweise ein Exempel statuirt hätte und eine sichere Methode gewesen wäre, aus seinen Taschen die Summen wieder einzusäckeln, die er ihnen abgewonnen hatte.

»’s ist gegen alle Gerechtigkeit,« sagte Jim Wheeler, »diesen jungen Menschen da aus dem Brüllatenlager, einen ganz Fremden, unser Geld wegtragen zu lassen.«

Indeß wohnte ein gewisses Billigkeitsgefühl im Busen Derer, die so glücklich gewesen waren, von Mr. Oakhurst zu gewinnen, und dieses überstimmte jenes engherzigere Vorurtheil.

Mr. Oakhurst nahm sein Urtheil mit philosophischer Seelenruhe hin, und zwar war er nicht gerade weniger kaltblütig dabei, als er merkte, daß seine Richter unschlüssig gewesen waren. Er war zu sehr Spieler, um sich dem Schicksal nicht zu fügen. Bei ihm war das Leben im besten Falle ein ungewisses Spiel, und er erkannte hier den üblichen Procentsatz zu Gunsten des Bankhalters an.

Eine Schaar bewaffneter Männer begleitete die von Verbannung betroffne Gottlosigkeit Poker Flats nach den letzten Häusern der Ansiedelung. Außer Mr. Oakhurst, der als kaltblütiger, verzweifelter Mensch bekannt, und zu dessen Einschüchterung die bewaffnete Escorte bestimmt war, bestand die expatriirte Gesellschaft aus einem jungen Weibsbilde, welches den Spitznamen »die Herzogin« führte, aus einem andern Frauenzimmer, das sich den Titel »Mutter Shipton« erworben hatte, und »Onkel Billy«, der im Verdachte stand, die Goldwäschereien beraubt zu haben, und ein ausgemachter Trunkenbold war.

Die Cavalcade rief keine Bemerkungen von Seiten der Zuschauer hervor, auch äußerte sich die Escorte mit keinem Worte. Erst als die Schlucht erreicht war, welche die äußerste Grenze von Poker Flat bezeichnete, hielt der Führer eine kurze und bündige Ansprache. Man untersagte ihnen die Rückkehr bei Gefahr ihres Lebens.

Als die Escorte verschwand, machten ihre zurückgedrängten Empfindungen sich Luft, bei der Herzogin in einigen hysterischen Thränen, bei der Mutter Shipton in etlichen gemeinen Redensarten, bei Onkel Billy in einem wahrhaft parthischen Pfeilhagel von Schimpfereien. Der ruhige Oakhurst allein verhielt sich schweigsam. Gelassen hörte er zu, wie Mutter Shipton den Wunsch äußerte, einem gewissen Jemand das Herz ausschneiden zu können, wie die Herzogin wiederholt versicherte, sie würde auf der Straße sterben, und wie Onkel Billy während des Weiterreitens die entsetzlichsten Flüche ausstieß, als ob sie ihm jemand ausquetschte. Mit der Leichtherzigkeit und Gutgelauntheit, welche Leute seiner Haltung charakterisirt, bestand er darauf, sein eignes Reitpferd »Coeur-Fünfe« gegen das gebrechliche Maulthier zu vertauschen, welches die Herzogin ritt. Aber selbst diese Handlung brachte die Gesellschaft nicht in bessere Harmonie. Das junge Frauenzimmer zupfte sich ihren zerzausten Staat mit einer matten, welken Coquetterie in Ordnung. Die Mutter Shipton warf dem Besitzer der »Coeur-Fünfe« boshafte Blicke zu, und Onkel Billy schloß die ganze Gesellschaft in ein einziges, Alles wegfegendes Anathema ein.

Die Straße nach Sandy Bar – einem Lager, welches, da es die auf eine Neugeburt hinwirkenden Einflüsse Poker Flats noch nicht erfahren hatte, den Auswanderern einladend erscheinen mußte – führte über einen steil ansteigenden Gebirgszug. Es war eine starke Tagereise entfernt. In jener vorgerückten Zeit des Jahres gelangte die Reisegesellschaft bald aus den feuchten gemäßigt kalten Gegenden der Vorberge in die trockne, scharfe, schneidende Luft der Sierras. Der Pfad war schmal und beschwerlich zu steigen. Um Mittag rutschte die Herzogin aus ihrem Sattel auf den Erdboden und erklärte ihre Absicht, nicht weiter zu gehen, worauf die Gesellschaft Halt machte.

Die Stelle war eigenthümlich wild und eindrucksvoll. Ein waldbewachsenes Amphitheater, auf drei Seiten von schroff abstürzenden nackten Granitmassen umgeben, senkte sich sanft nach einem andern Abgrunde, der das Thal überragte. Es war ohne Zweifel der geeignetste Ort für ein Lager, wenn es räthlich gewesen wäre, ein Lager aufzuschlagen. Aber Mr. Oakhurst wußte, daß man kaum die Hälfte der Reise nach Sandy Bar zurückgelegt hatte, und die Gesellschaft war für einen Aufenthalt nicht gerüstet und nicht mit Lebensmitteln versehen. Diese Thatsache stellte er seinen Gefährten mit kurzen Worten und mit einem philosophischen Commentar über die Thorheit vor, die sie begehen würden, »wenn sie mit der Hand schon in die Höhe führen, wo das Spiel noch nicht ausgespielt wäre«. Aber sie waren mit Schnaps versehen, der ihnen in dieser Lage Essen, Feuerholz, Ruhe und Voraussicht vertrat. Trotz seiner Vorstellungen dauerte es nicht lange, so befanden sie sich mehr oder minder unter dessen Einflusse. Onkel Billy ging rasch aus einem Zustande kriegerischer Neigungen in den Zustand blöden Dusels über, die Herzogin wurde weinerlich gestimmt, und Mutter Shipton schnarchte. Mr. Oakhurst allein blieb aufrecht, lehnte sich an eine Felswand und betrachtete sie gleichmüthig.

Mr. Oakhurst war kein Trinker. Das störte einen Beruf, welcher kaltes Blut, Leidenschaftslosigkeit und Geistesgegenwart erforderte. Er »konnte«, um mit seinen eignen Worten zu reden, »so was nicht leisten«. Als er auf seine hingelagerten Mitverbannten blickte, fiel ihm die Vereinsamung, welche die Folge seines Paria-Handwerkes, seiner Lebensgewohnheiten und seiner Laster war, zum ersten Male schwer auf die Seele. Er beeilte sich, seine schwarzen Kleider abzustäuben, sich die Hände und das Gesicht zu waschen und andere Dinge, die seine ausgesucht saubern Gewohnheiten bezeichneten, zu besorgen, und vergaß für einen Augenblick seinen Verdruß. Der Gedanke, seine schwächeren und bemitleidenswertheren Gefährten zu verlassen, kam ihm vielleicht niemals in den Sinn. Doch konnte er nicht umhin, den Mangel an jener Erregtheit der Nerven zu empfinden, welche, seltsam genug, am meisten zu jenem ruhigen Gleichmuth führte, wegen dessen er berühmt war.

Er blickte auf jene düstern Felsenmauern, die sich steil an die tausend Fuß über den Halbkreis der Fichten um ihn herum erhoben, nach dem Himmel, der drohend bewölkt war, nach dem Thale drunten, das sich bereits in Schatten hüllte. Und indem er dies that, hörte er plötzlich seinen Namen rufen.

Ein Reiter kam langsam den Pfad herauf. In dem frischen, ehrlichen Gesichte des neuen Ankömmlings erkannte Mr. Oakhurst Tom Simson aus Sandy Bar, der sonst unter dem Namen »der Unschuldige« bekannt war. Er war ihm vor einigen Monaten »bei einem Spielchen« begegnet und hatte diesem arglosen Jüngling mit vollkommener Seelenruhe sein ganzes Vermögen abgenommen, welches in einigen vierzig Dollars bestand. Nachdem das Spiel beendigt war, zog Mr. Oakhurst den jugendlichen Speculanten hinter die Thür und redete ihn folgendermaßen an: »Tommy, Du bist ein guter kleiner Mann, aber Du kannst nicht um ‘nen Cent spielen. Versuch’s nicht wieder.« Er händigte ihm dann sein Geld wieder ein, schob ihn sanft aus der Stube und machte ihn dadurch zu seinem ergebenen Sklaven.

Es lag eine Erinnerung hieran in der knabenhaften und enthusiastischen Weise, mit der er Mr. Oakhurst begrüßte. Er hatte sich, wie er sagte, aufgemacht, um nach Poker Flat zu gehen und dort sein Glück zu versuchen.

»Allein?«

»Nein, allein nicht gerade.« In der That (er kicherte dazu), er wäre mit Piney Woods ausgerissen. Ob Mr. Oakhurst sich wohl auf Piney besänne? Sie, die im Mäßigkeitshause die Aufwärterin bei Tisch gemacht hätte? Sie wären schon lange mit einander versprochen gewesen, aber der alte Jake Woods hätte Einwendungen gemacht, und so wären sie davongelaufen und wollten nach Poker Flat, um Mann und Frau zu werden, und wie glücklich sich das träfe, daß sie einen Platz für ein Lager und Gesellschaft gefunden hätten!

Alles das erzählte der Unschuldige mit rascher Rede, während Piney, ein dralles nettes Mädel von fünfzehn Jahren, hinter dem Fichtenbaum, wo sie ungesehen erröthet war, auftauchte und nun an die Seite ihres Liebsten ritt.

Mr. Oakhurst kümmerte sich selten um Gefühlssachen, und noch weniger um Fragen des Anstandes. Aber er hatte eine dunkle Ahnung, daß die Lage keine glückliche war. Er bewahrte indeß seine Geistesgegenwart zur Genüge, um dem Onkel Billy, der etwas sagen zu wollen Miene machte, einen Fußtritt zu versetzen, und Onkel Billy war nüchtern genug, um in Mr. Oakhursts Fußtritt eine höhere Macht anzuerkennen, die nicht mit sich spaßen lassen würde. Er versuchte dann, Tom Simson abzureden, sich weiter aufzuhalten, aber vergeblich. Er machte sogar auf den Umstand aufmerksam, daß man keine Lebensmittel und nichts zur Errichtung eines Lagers habe. Aber unglücklicherweise begegnete der Unschuldige diesem Einwurfe mit der Versicherung, daß er mit einem mit Lebensmitteln beladenen Maulthiere versehen sei, und mit der Entdeckung eines rohen Versuchs zu einer Blockhütte nicht weit von dem Pfade.

»Piney kann bei Madame Oakhurst bleiben,« sagte der Unschuldige, indem er auf die Herzogin zeigte, »und ich kann mich für mich allein einrichten.«

Nichts als der mahnende Fuß Mr. Oakhursts rettete den Onkel Billy davor, in brüllendes Gelächter auszubrechen. Wie die Sache lag, sah er sich gezwungen, sich ein Stück in die Schlucht zurückzuziehen, bevor er seinen Ernst wieder zu gewinnen im Stande war. Hier vertraute er den Spaß den hohen Fichtenbäumen an, wozu er sich viele Male auf die Schenkel klopfte, allerhand Fratzen schnitt und die üblichen ruchlosen Witze riß. Als er aber zu der Gesellschaft zurückkehrte, fand er sie bei einem Feuer sitzen; denn die Luft war eigenthümlich rauh geworden, und der Himmel hatte sich bezogen. Dem Anschein nach unterhielten sie sich in freundschaftlicher Weise. Piney sprach geradezu in zuthulich anregender Art zur Herzogin, welche ihr mit einer Theilnahme und einer Lebhaftigkeit zuhörte, die sie viele Tage nicht gezeigt hatte. Der Unschuldige legte, offenbar mit gleichem Erfolge, gegen Mr. Oakhurst und Mutter Shipton los, die aus ihrer verbissenen Haltung zuletzt bis zur Liebenswürdigkeit erweichte.

»Ist das hier ein verdammtes Picknick!« sagte Onkel Billy mit innerlichem Hohne, indem er die Gruppe in der Waldlandschaft, das flackernde Feuer und die angepflöckten Thiere im Vordergrunde überblickte. Da mischte sich plötzlich ein Gedanke mit den Alkoholdünsten, die sein Gehirn verwirrten. Derselbe war offenbar scherzhafter Natur; denn er fühlte sich genöthigt, sich nochmals auf die Schenkel zu klopfen und sich die Hand in den Mund zu stopfen.

Als die Schatten langsam das Gebirge heraufkrochen, ließ ein leichtes Lüftchen die obersten Wipfel der Fichten sich schaukeln und stöhnte unten durch ihre langen düstern Säulengänge. Die verfallene Blockhütte, mit Fichtenzweigen ausgebessert und gedeckt, wurde den Damen allein überlassen. Als die Liebesleute sich trennten, tauschten sie ungezwungen einen Kuß aus, der so rechtschaffen und ehrlich gemeint war, daß man ihn über den im Winde sich wiegenden Fichten hätte hören können. Die schwächliche Herzogin und die boshafte Mutter Shipton waren vielleicht zu verblüfft, um über diesen jüngsten Beweis von Herzenseinfalt Bemerkungen zu machen, und wendeten sich deshalb, ohne ein Wort zu sagen, der Hütte zu. Das Feuer wurde mit neuem Brennstoff versehen, die Männer legten sich vor der Thür nieder und waren in wenigen Minuten eingeschlafen.

Mr. Oakhurst hatte einen leichten Schlaf. Gegen Morgen erwachte er durchfröstelt und taumelig. Als er das erlöschende Feuer anschürte, wehte ihm der Wind, der jetzt stark blies, etwas an die Wange, was ihm das Blut daraus entweichen ließ – Schnee!

Er sprang auf seine Füße in der Absicht, die Schläfer zu wecken; denn es war keine Zeit zu verlieren. Aber indem er sich der Stelle zukehrte, an der Onkel Billy gelegen hatte, fand er, daß er weg war. Ein Verdacht fuhr ihm durch das Gehirn und ein Fluch auf die Lippen. Er lief nach der Stelle, wo die Maulthiere angepflöckt gewesen waren; sie waren nicht mehr da. Ihre Spuren verschwanden bereits unter dem Schnee.

Einen Augenblick war Mr. Oakhurst in Aufregung. Aber als er zu dem Feuer zurückkam, hatte er seine gewohnte Gemüthsruhe wieder. Er weckte die Schlafenden nicht. Der Unschuldige schlummerte friedenvoll mit einem Lächeln auf seinem gutmüthigen, sommersprossigen Gesichte, die jungfräuliche Piney schlief neben ihren schwächeren Schwestern so süß, als ob himmlische Wächter ihrer warteten, und Mr. Oakhurst zog seine Wolldecke über die Schultern, zupfte sich seinen Schnurrbart zurecht und wartete auf die Morgendämmerung. Sie kam langsam an mit einem wirbelnden Nebel von Schneeflocken, welcher die Augen blendete und irre machte. Was von der Landschaft zu sehen war, erschien wie durch Zauber verändert. Er überblickte das Thal und faßte die Gegenwart und Zukunft in ein Wort zusammen – »eingeschneit«.

Eine sorgfältige Inventur über die Lebensmittel, welche zum Glück für die Gesellschaft innerhalb der Hütte untergebracht worden waren und so den verräterischen Fingern Onkel Billys entgingen, erschloß die Thatsache, daß sie bei überlegsamer und vorsichtiger Behandlung und Verwendung vielleicht für weitere zehn Tage ausreichen würden.

»Das heißt,« sagte Mr. Oakhurst mit leiser Stimme zu dem Unschuldigen, »wenn Sie gewillt sind, uns in Kost zu nehmen. Wo nicht – und sie thäten vielleicht besser daran – so können Sie warten, bis Onkel Billy mit Lebensmitteln zurückkommt.«

Aus irgend einer unbekannten Ursache konnte Mr. Oakhurst es nicht über sich gewinnen, die Schurkerei Onkel Billys offenbar zu machen, und so äußerte er die Vermuthung, daß er vom Lager weggeirrt sein und durch Zufall die Thiere veranlaßt haben möchte, in Masse davon zu laufen. Er ließ dazwischen einen Wink für die Herzogin und die Mutter Shipton fallen, die natürlich die Thatsache kannten, daß ihr Gefährte durchgebrannt war.

»Sie werden die Wahrheit über uns alle herausfinden,« setzte er bedeutsam hinzu, »wenn sie überhaupt etwas herausfinden, und es ist nicht Zeit, sie jetzt zu ängstigen.«

Tom Simson stellte nicht blos seinen gesammten weltlichen Besitz Mr. Oakhurst zur Verfügung, sondern schien sich sogar bei der Aussicht auf ihre gezwungene Absperrung von der Welt zu freuen.

»Wir werden eine Woche lang ein gutes Lager haben,« sagte er, »dann wird der Schnee schmelzen, und wir werden alle miteinander zurückgehen.«

Das vergnügte, heitere Wesen des jungen Mannes und Mr. Oakhursts Seelenruhe theilte sich den Andern mit. Der Unschuldige extemporirte mit Hülfe von Fichtenzweigen eine Bedeckung für die dachlose Hütte, und die Herzogin gab Piney in Betreff der Wiedererrichtung des Innern mit einem Geschmack und Takt Anweisung, vor denen diese Jungfer aus der Provinz ihre blauen Augen so weit aufriß, als sie nur aufgingen.

»Ich glaube, Ihr in Poker Flat seid jetzt an schöne Sachen gewöhnt,« sagte Piney.

Die Herzogin wandte sich rasch zur Seite, um etwas zu verbergen, was ihre Wangen durch ihre berufsmäßige Farbe hindurch erröthen ließ, und Mutter Shipton bat Piney, »solch Papperlapapp sein zu lassen«. Aber als Mr. Oakhurst von mühsamem Suchen nach dem Pfade zurückkehrte, hörte er den Schall glücklichen Lachens von den Felswänden her widerhallen. Er hielt einigermaßen beunruhigt im Gehen inne, und seine Gedanken richteten sich zuerst natürlich auf den Whiskey, den er vorsichtig versteckt hatte. »Und doch klingt das gar nicht wie Whiskey,« sagte der Spieler. Aber erst, als er das hell auflodernde Feuer und die um dasselbe lagernde Gruppe durch den noch immer blendenden Sturm zu Gesicht bekam, gewann er die volle Ueberzeugung, daß es »reiner Spaß« war.

Ob Mr. Oakhurst auch seine Karten als etwas, dem der freie Zutritt zu der Gesellschaft versperrt sein sollte, versteckt hatte, kann ich nicht sagen. Gewiß ist, daß er während dieses Abends, um mit der Mutter Shipton zu reden, »nicht ein einziges Mal das Wort Karten in den Mund nahm«. Der Zufall half, daß man sich mit einer Ziehharmonika die Zeit vertreiben konnte, die Tom Simson etwas selbstgefällig aus seinem Gepäck hervorgelangt hatte. Ungeachtet einiger Schwierigkeiten, die der Handhabung dieses Instruments im Wege standen, brachte Piney Woods es fertig, den widerhaarigen Klappen desselben, einige Melodien abzuquetschen, die der Unschuldige mit ein Paar beinernen Castagnetten begleitete. Aber die Krone des Festes dieses Abends wurde mit einem rauhen Liede erreicht, welches sonst bei frommen Lagerversammlungen im Freien gesungen wurde, und welches die Liebesleute, indem sie sich die Hände gaben, mit großer Andacht und lauter Stimme sangen. Ich fürchte, daß mehr ein gewisser trotziger Ton und Covenanter-Schwung in seinem Refrain, als irgendwelche gottesfürchtige Eigenschaft die Ursache waren, wenn es schnell die Uebrigen ergriff, die zuletzt in den Chor einfielen:

»Bin stolz, im Dienst des Herrn zu stehn,
In seinem Kriegsheer will ich sterben.«

Die Fichten wiegten sich, der Sturm strudelte und wirbelte über der unseligen Gruppe, und die Flammen ihres Altars züngelten himmelwärts, wie wenn sie das Gelübde mit einem Zeichen begleiten wollten.

Um Mitternacht legte sich der Sturm, die jagenden Wolken gingen von dannen, und die Sterne flimmerten hell über dem schlafenden Lager. Mr. Oakhurst, den seine Handwerksgewohnheiten in den Stand setzten, von dem möglichst kleinen Betrag von Schlaf zu leben, richtete es, indem er die Wacht mit Tom Simson theilte, in irgend einer Weise ein, daß ihm die größere Hälfte dieser Pflicht zufiel. Er entschuldigte sich gegen den Unschuldigen damit, daß er sagte, er sei »oft eine ganze Woche ohne Schlaf gewesen«.

»Was thaten Sie denn da?« fragte Tom.

»Poker spielen,« erwiderte Oakhurst feierlich. »Wenn Einem das Glück lacht – Niggerglück – so wird man nicht müde. Das Glück fällt zuerst ab. Glück,« so fuhr der Spielgauner fort, »ist ein höllisch wunderliches Ding. Alles, was man darüber Gewisses weiß, ist, daß es wechseln muß. Und zu merken, wenn es wechseln will, macht den Mann. Wir haben, seit wir Poker Flat verlassen haben, einen Schub schlechtes Glück gehabt – da kommen Sie des Weges, und wupp dich! – sitzen Sie auch mit drinnen. Wenn Sie Ihre Karten richtig dirigiren können, so wird mit Ihnen Alles in Ordnung kommen. Denn,« setzte der Spielgauner mit heiterer Unbekümmertheit hinzu:

»Bin stolz, im Dienst des Herrn zu stehn,
In seinem Kriegsheer will ich sterben.«

Der dritte Tag kam, und die Sonne sah, als sie durch das weißverhangene Thal schaute, die Ausgetriebnen ihren langsam abnehmenden Vorrath an Lebensmitteln für das Morgenmahl theilen. Es war eine der Eigenthümlichkeiten jenes Gebirgsklimas, daß ihre Strahlen eine freundliche Wärme über die winterliche Landschaft ausgossen, wie in mitleidigem Bedauern des Vergangenen. Aber sie enthüllte auch Wehe auf Wehe von Schnee hochaufgethürmt rings um die Hütte – ein hoffnungsloses, unvermessenes, pfadloses weißes Meer lag unter den Felsengestaden, an welchen die Ausgestoßenen noch immer hingen. Durch die wunderbar klare Luft sah man meilenweit in der Ferne den Rauch des Dörfchens von Poker Flat emporsteigen. Die Mutter Shipton sah ihn ebenfalls und schleuderte von einer entlegenen Zinne ihrer Felsenburg nach jener Richtung eine greuliche Verwünschung hinab. Es war ihr letzter Versuch zum Schimpfen, und vielleicht aus diesem Grunde war er mit einem gewissen Maße von Erhabenheit bekleidet. Es that ihr wohl, wie sie insgeheim der Herzogin mittheilte.

»Da, geh ‘mal ‘naus und sieh und verfluche sie,« sagte sie zu jener. Dann setzte sie sich und machte sich an die Aufgabe, »das Kind« zu erheitern; so nämlich gefiel es ihr und der Herzogin, Piney zu nennen. Piney war kein Backfisch mehr, aber es war für die Beiden eine tröstliche und originelle Theorie, sich auf diese Weise die Thatsache zu erklären, daß sie den Namen Gottes nicht unnützlich im Munde führte und sich nicht unanständig betrug.

Als die Nacht wieder durch die Schluchten heraufschlich, stiegen und sanken die leierigen Töne der Ziehharmonika in aufzuckenden Krämpfen und langgezognen Seufzern an dem flackernden Lagerfeuer. Aber die Musik genügte nicht ganz, die schmerzende Leere auszufüllen, welche unzureichende Nahrung zurückließ, und Piney schlug ein neues Auskunftsmittel vor – Geschichtenerzählen. Da weder Mr. Oakhurst noch seine weiblichen Begleiterinnen Lust hatten, ihre persönlichen Erlebnisse zum Besten zu geben, so würde dieser Plan gleichfalls in den Born gefallen sein, wenn der Unschuldige nicht gewesen wäre. Der war vor einigen Monaten auf ein verirrtes Exemplar von Pope’s geistreicher Uebersetzung der Ilias gestoßen. Er schlug jetzt vor, die Hauptereignisse dieses Gedichts zu erzählen, was, da er sich den Inhalt zwar gründlich gemerkt, die Worte aber munter vergessen hatte, in der Volkssprache von Sandy Bar geschehen mußte. Und so wandelten den übrigen Theil dieses Abends die homerischen Halbgötter wieder über die Erde. Der trojanische Großsprecher und der griechische Eisenfresser kämpften droben in den Winden, und die großen Fichten drunten in der Bergspalte schienen sich zu beugen vor dem Zorne des Peleussohnes. Mr. Oakhurst horchte mit stillem Wohlbehagen zu. Am meisten interessirte ihn das Schicksal des »Achiléus«, wie der Unschuldige beharrlich den »schnellfüßigen Achilleus« zu nennen fortfuhr.

So verging denn mit wenig Nahrung und viel Homer und Ziehharmonika eine Woche über den Häuptern der Ausgestoßnen. Wieder wandte sich die Sonne von ihnen ab, und wieder wimmelten von einem bleifarbnen Himmel die Schneeflocken auf das Land herab. Tag auf Tag enger zog sich um sie herum der schneeige Kreis, bis sie zuletzt aus ihrem Kerker über zusammengewehte Wälle von blendender Weiße sahen, die sich bis zur Höhe von zwanzig Fuß über ihre Häupter aufthürmten. Schwieriger und immer schwieriger wurde es, selbst von den neben ihnen umgefallnen Bäumen ihre Feuer mit Brennstoff zu versorgen, da jene halb in den Schneewehen verborgen waren.

Und doch klagte niemand. Die Liebesleute wendeten sich von dem traurigen Ausblick in die Ferne ab, schauten sich einander in die Augen und waren glücklich. Mr. Oakhurst fand sich kalten Blutes in die für ihn verloren gehende Spielpartie, die er vor sich hatte. Die Herzogin, vergnügter als sie jemals gewesen, nahm die Sorge für Piney auf sich. Nur Mutter Shipton, früher die Stärkste von der ganzen Gesellschaft, schien zu kränkeln und dahinzuschwinden. Um Mitternacht am zehnten Tage rief sie Oakhurst an ihre Seite.

»Mit mir ist’s aus,« sagte sie mit schwacher weinerlicher Stimme, »aber lassen Sie von der Sache nichts merken. Wecken Sie die jungen Dinger nicht auf. Nehmen Sie das Bündel da unter meinem Kopfe weg und machen Sie’s auf.«

Mr. Oakhurst that dies. Es enthielt die Lebensmittelrationen der Mutter Shipton für die letztvergangne Woche. Sie waren unberührt.

»Geben Sie sie dem Kinde dort,« sagte sie, indem sie auf die schlafende Piney hindeutete.

»Sie haben sich freiwillig todtgehungert,« sagte der Spieler.

»So nennen’s die Leute,« erwiderte das Weib kläglich, indem sie sich wieder hinlegte. Dann drehte sie ihr Gesicht der Wand zu und ging ruhig hinüber.

Die Ziehharmonika und die Castagnetten wurden an diesem Tage bei Seite gelegt, und Homer war vergessen. Als der Leichnam der Mutter Shipton dem Schnee übergeben war, nahm Mr. Oakhurst den Unschuldigen bei Seite und zeigte ihm ein Paar Schneeschuhe, die er aus dem Packsattel gefertigt hatte.

»Es giebt nur eine Möglichkeit von Hunderten, sie noch zu retten,« sagte er, auf Piney hindeutend. »Aber sie liegt da drüben,« setzte er hinzu, indem er nach Poker Flat hinwies. »Wenn Sie das in zwei Tagen erreichen können, so ist sie geborgen.«

»Und Sie?« fragte Tom Simson.

»Ich werde hier bleiben,« war die kurze Antwort.

Die Liebesleute trennten sich mit einer langen Umarmung.

»Sie gehen doch nicht auch?« fragte die Herzogin, als sie Mr. Oakhurst dem Anschein nach warten sah, um ihn zu begleiten.

»Nur bis in die Bergspalte,« erwiderte er. Dann wendete er sich plötzlich um und küßte die Herzogin, so daß ihr bleiches Gesicht Feuer und Flamme wurde und ihre zitternden Glieder vor Erstaunen erstarrten.

Die Nacht kam, aber nicht Mr. Oakhurst. Sie brachte den Sturm wieder und den wirbelnden Schnee. Dann fand die Herzogin, indem sie das Feuer nährte, daß jemand neben der Hütte genug Feuerholz aufgeschichtet hatte, um noch ein paar Tage auszureichen. Die Thränen wollten ihr in die Augen treten, aber sie verbarg sie vor Piney.

Die Frauen schliefen nur wenig. Als sie sich am Morgen in’s Gesicht blickten, lasen sie ihr Schicksal. Keine von beiden sagte ein Wort. Aber Piney näherte sich der Herzogin, indem sie die Stellung der Kräftigeren einnahm, und schlang ihren Arm um deren Taille. In dieser Haltung verblieben sie den ganzen Tag. In der Nacht erreichte der Sturm seine größte Wuth, und indem er die schützenden Fichtenzweige wegriß, drang er in die Hütte selbst ein.

Gegen Morgen sahen sie sich nicht mehr im Stande, das Feuer zu nähren, welches infolge dessen allmählig erlosch. Als die glühenden Kohlen schwarz wurden, kroch die Herzogin näher an Piney heran und brach das mehrstündige Schweigen mit den Worten:

»Piney, kannst Du beten?«

»Nein, Liebste,« sagte Piney einfach.

Die Herzogin fühlte sich hierdurch, ohne zu wissen warum, erleichtert, und indem sie ihren Kopf auf Pineys Schulter legte, sprach sie nichts mehr. Und indem sie so zurücksanken und die Jüngere und Reinere ihren jungfräulichen Busen dem Haupte ihrer befleckten Schwester als Ruhekissen darbot, schlummerten sie ein.

Der Wind ließ nach, als ob er sich fürchtete, sie aufzuwecken. Federartige Schneegebilde flogen, von den langen Fichtenzweigen herabgeschüttelt, wie weißbefiederte Vögel herzu und ließen sich auf die Schlafenden nieder. Der Mond blickte durch die zerrissenen Wolken auf das herab, was das Lager gewesen war. Aber alle menschliche Unreinheit, jede Spur irdischen Mühens war verhüllt unter dem fleckenlosen Mantel, der von droben darüber geworfen worden.

Sie schliefen diesen ganzen Tag und den nächsten. Auch erwachten sie nicht, als Stimmen und Fußtritte das Schweigen des Lagers unterbrachen. Und als mitleidige Finger ihnen den Schnee von den eingefallnen Gesichtern wischten, so hätte man nach dem gleichen Frieden, der auf beiden wohnte, kaum sagen können, welche Die war, die gesündigt hatte. Selbst das Gesetz von Poker Flat erkannte dies an, indem es sie so ließ, wie sie einander in die Arme geschlossen hatten.

Aber am obern Ende der Bergspalte fanden sie an einer der größten Fichten ein Coeur-Aß, das mit einem Bowiemesser an die Rinde geheftet war. Es trug folgende mit fester Hand geschriebne Bleistiftinschrift:

 


Unter diesem Baume
Liegt der Leib
Von
John-Oakhurst,
Welcher Unglück im Glücksspiel hatte
Am 23. November 1850
Und
Die Karten hinwarf
Am 7. December 1850.

 

Und pulslos und kalt, ein Derringer-Pistol an seiner Seite und eine Kugel in seinem Herzen, aber immer noch ruhig wie im Leben, lag unter dem Schnee. Der, welcher der stärkste und zugleich der schwächste unter den Ausgestoßnen von Poker Flat gewesen war.