Ueber einen ungezognen kleinen Jungen
Bret Harte
Der Gegenstand dieses Artikels lehnt sich dermalen an einen Baum gerade gegenüber meinem Fenster. Er trägt seine Mütze mit der falschen Seite nach vorn, offenbar zu keinem andern Zwecke als dem, der am meisten auf der Hand liegt – um mehr als die durchschnittliche Quantität von einem sehr schmutzigen Gesichte zu zeigen. Seine Kleider, die mit einer gewissen knopflosen Ungezwungenheit und Freiheit getragen werden, zeigen in der verschiedenen Qualität ihrer Obstflecken auf gefällige Weise die Aufeinanderfolge der Jahreszeiten an. Die Nase dieses ungezognen kleinen Jungen ist am Ende aufgestülpt. Ich habe dies bei verschiednen andern ungezognen kleinen Jungen bemerkt, obschon es keineswegs unwahrscheinlich ist, daß es jugendliche Ungezogenheit ohne diese Gesichtseigenthümlichkeit giebt. In der That, ich bin zu dem Glauben geneigt, daß es mehr das Ergebniß früh entwickelten Wissenstriebes, heimlichen Andrückens gegen Fensterscheiben, des Guckens über Zäune oder der Gewohnheit, hastig in große Aepfel zu beißen ist, als ein Zeichen von Spott und jugendlichem Nasenrümpfen. Der ungezogne kleine Junge ist merkwürdiger wegen seiner zudringlichen Familiarität. Es ist meine Erfahrung von seiner Anlage zu dieser Eigenschaft, die mich bewogen hat, diesen Artikel zu schreiben.
Meine Bekanntschaft mit ihm begann in einer schwachen Stunde. Ich habe eine unglückliche Vorliebe zur Cultivirung von Originalität bei den Leuten, selbst wenn sie von einem tadelnswerthen Charakter begleitet ist. Aber da es mir an der Festigkeit und dem Geschicke mangelt, welche gewöhnlich diesem Geschmack bei Andern sich beigesellen und sie befähigen, Bekanntschaften fallen zu lassen, wenn sie unbequem werden, so habe ich mich mit mehrern unprofitabeln Freunden umgeben, unter die ich den ungezognen kleinen Jungen zähle. Die Art, auf die er zuerst meine Aufmerksamkeit auf sich zog, war rein zufällig. Er spielte auf der Straße, und der Kutscher eines vorübergehenden Fuhrwerks gab ihm im Scherz eins mit seiner Peitsche. Der ungezogne kleine Junge erhob sich auf seine Füße und schleuderte seinem Peiniger einen einzigen Satz voll Beleidigung nach. Ich unterlasse, ihn zu wiederholen; denn ich fühle, daß ich ihm hier nicht gerecht werden könnte. Erinnere ich mich recht, so enthielt er in sehr wenig Worten eine Betrachtung über die Rechtmäßigkeit der Geburt des Kutschers, deutete einen Verdacht in Betreff der Rechtschaffenheit seines Vaters an, bestritt den guten Ruf seiner Mutter, ließ merken, daß er zu seiner gegenwärtigen Stelle nicht befugt sei, daß er persönlich nicht reinlich sei, und verrieth schwere Zweifel, daß er einst in den Himmel kommen werde. Als seine jugendlichen Lippen sich über der letzten Sylbe schlossen, begegneten die Augen des ungezognen kleinen Jungen den meinigen. Etwas in meinem Blick ermuthigte ihn, mir zuzublinzeln. Ich wies die Handlung nicht zurück und ebenso wenig die Mitschuld, die sie einschloß. Von diesem Augenblick an fiel ich in die Gewalt des ungezognen kleinen Jungen, und er hat mich seitdem nicht wieder losgelassen.
Er verfolgt mich auf Wegen und Stegen. Er redet mich, wenn ich in Gesellschaft von Freunden bin, mit widerwärtiger Dreistigkeit an. Er treibt sich am Thor meiner Wohnung herum, um mir aufzulauern, wenn ich ins Geschäft gehe. Die Entfernungen überwindet er durch eine kräftige Lunge, und so schreit er mir von der nächsten Straße zu. Neulich Abends traf er mich im Theater und Verlangte mein Billet mit der Miene eines jungen Straßenräubers. Thörichterweise gab ich’s ihm, aber als ich einige Zeit darauf wieder eintrat und mich behaglich ins Parquet setzte, traf mich’s wie ein Blitz, als ich meinen Namen von der Galerie mit einem spaßhaften Beiwort rufen hörte. Es war der ungezogne kleine Junge. Während der Vorstellung schleuderte er korkzieherförmig zusammengedrehte Theaterzettel in meiner Richtung und überließ sich einem fortwährenden Commentar über die Statisten, wenn sie eintraten.
Der heutige Tag ist offenbar ein langweiliger für ihn gewesen. Ich bemerke, daß er die Gassenhauer der Zeit weniger schrill und herzhaft pfeift. Die Vorsehung blickt ihm indeß nicht unfreundlich zu; denn sie überantwortet gleichsam seinen Händen zwei saubere Knaben, die sich in diesem Augenblick arglos in unsre Straße verirrt haben. Es sind Kinder mit hübsch weiß und rothen Gesichtern, die gleich angezogen sind und eine gewisse Säuberlichkeit und Vornehmheit zeigen, die allein schon genügt, um den Antagonismus des ungezognen kleinen Jungen zu erwecken. Ein Seufzer der Befriedigung entringt sich seiner Brust. Was thut er? Jeder andere Knabe würde sich damit begnügen, daß er ihnen einfach die Hüte von ihren respectiven Köpfen schlüge, und so seiner überströmenden Lebenskraft in einem einzigen Acte Luft machte, außerdem aber die Flucht des Feindes beschleunigte. Aber es giebt ästhetische Betrachtungen, die nicht übersehen werden dürfen; dem Unrecht, welches man zufügt, muß noch eine Beleidigung hinzugefügt, und in dem Sich-Sträuben des Opfers muß eine gewisse Rechtfertigung extremer Maßregeln gesucht werden. Die beiden saubern kleinen Knaben merken die Gefahr und drängen sich dichter an einander. Der ungezogne kleine Junge beginnt mit Ironie. Er thut, als wäre er ganz außer sich über die Pracht ihres Anzuges. Er redet mich (über die Straße und durch das geschlossne Fenster) an und erbittet sich Belehrung, ob sich eine Bereiterbude in der Nähe befindet. Er stellt liebreiche Erkundigungen nach der Gesundheit ihrer Eltern an. Er drückt eine mütterliche Angst in Betreff ihres Wohlergehens aus. Er erbietet sich, sie nach Hause zu bringen. Der eine saubere kleine Knabe lehnt das ängstlich ab. Aber ach! seine correcte Aussprache, seine grammatische Genauigkeit und seine maßvollen Ausdrücke rufen nur einen Strom von Hohn bei dem ungezognen kleinen Jungen hervor, der jetzt rasch seine Taktik ändert. Strauchelnd unter dem Gewicht seiner Schimpfreden, werden sie eine leichte Beute dessen, was er sein »Dächtelmächtel« nennen wird. Ein Klagegeheul geht durch unsre Straße. Da aber der Gegenstand dieses Artikels eine kräftigere Behandlung zu erfordern scheint, als ich ihm angedeihen zu lassen beabsichtigte, so finde ich’s nothwendig, meine gegenwärtige würdevolle Stellung aufzugeben, ergreife meinen Hut, öffne die Vorderthür und versuche es mit einer stärkeren Methode.