Pflastertretereien
Bret Harte
Von der Zeit, die mein Hingehen ins Geschäft und meine Rückkehr in Anspruch nimmt, habe ich immer gefunden, daß sie mir ein gewisses geistiges Behagen gewährt, welches kein andrer Theil der vierundzwanzig Stunden geben könnte. Vielleicht hat die physische Anstrengung als sanftes Reizmittel auf das Gehirn gewirkt, aber wahrscheinlicher gab immer das behagliche Bewußtsein, daß man von mir vernünftigerweise nicht erwarten konnte, ich werde irgendwas Anderes thun – zum Beispiel studiren oder meinen Geist fördern – meiner Phantasie eine fröhliche Freiheit. Einmal hielt ich’s für nöthig, diese Zwischenzeit mit Addiren auszufüllen – in welchem nützlichen Studium ich bedauerlich schwach beschlagen war und noch bin – aber nach ein paar Versuchen in peripathetischem Zusammenzählen gab ich’s auf. Ich bin überzeugt, daß der Welt viel Vergnügen verloren geht durch diese nervöse Begier, unsre Augenblicke der Muße nützlich zu verwenden, die gleich den »sonnenbeschienenen Stunden« des Doctor Watts unglücklicherweise die größten Gelegenheiten zu eitlen Vergnügungen bieten. Ich fühle tiefes Mitleid mit jenen mißleiteten Wesen, welche immer noch gezwungen sind, in Waggons, Omnibussen und Fährbooten Leitfaden mit sich zu führen, und welche es gewöhnlich fertig kriegen, sich um jene Zwischenpausen der Ruhe zu bringen, die sie am meisten bedürfen. Die Natur muß ihre Brachzeiten haben, wo sie ihre erschöpften Felder mit Blumen, statt mit Getreide bedeckt. Verweigere man ihr dies, und die nächste Ernte leidet darunter. Ich lege dieses Axiom dem Leser als eine Art Entschuldigung dafür vor, daß ich mich ihm mit einigen Speculationen aufdränge, die mein Gemüth während dieser täglichen Schlenderpartien beschäftigten.
Wenige Californier wissen anmuthig Pflaster zu treten. Geschäftsgewohnheiten und Rücksicht auf das Herkommen, selbst bei Denen, die kein Geschäft haben, geben jedem Fußgänger die Miene ruhelosen Jagens. Die Ausnahmen von dieser Regel verfallen leicht in das andere Extrem und tragen eine dreiste, unverschämte Art von Indolenz an sich, die an ebensoviel innere Unruhe und Unstetheit denken läßt. Die schlotterige Abgespanntheit eines Spielgauners wird nie mit dem Schlendern eines anständigen Menschen verwechselt werden können. Selbst die Börsenmänner, die auf Montgomery Street herumständern, sind keine Schlenderer. Besehe man sie sich näher, und man wird ein fieberhaftes, hastiges Wesen unter der Maske der Achtlosigkeit gewahr werden. Sie schlendern nicht herum – sie liegen auf der Lauer. Man kann, wie ich glaube, kein sichereres Zeichen unsrer eigenthümlichen Civilisation finden, als diesen Mangel an Ruhe in den Elementen, aus denen sie besteht. Man kann die Californier selbst bei ihren Vergnügungen nicht ruhig halten. Sie schlüpfen ins Theater, in die Oper, in den Saal des Vorlesers und wieder heraus, sie ziehen die Straßenwagen dem Gehen vor, weil sie in jenen rascher vorwärts zu kommen glauben. Der Unterschied der Ortsveränderung, der zwischen dem Broadway in Neuyork und der Montgomery Street in San Francisco herrscht, ist ein vergleichender Ueberblick zwischen östlicher und westlicher Gesittung.
Es giebt eine Gewohnheit, die Vielen beim Gehen eigenthümlich ist, und auf welche »Punch« vor einigen Zähren satirisch hingedeutet, die aber den Spott des Witzbolds überlebt hat. Es ist der Brauch, Freunde auf der Straße anzuhalten, denen wir durchaus nichts mitzutheilen haben, sondern die wir nur belästigen, um ihnen unsre Freundschaft zu bezeigen. Jones stößt auf seinen Freund Smith, den er fast an derselben Stelle erst vor ein paar Stunden getroffen hat. Während dieser Zwischenzeit hat sich höchst wahrscheinlich nichts von irgendwelcher Bedeutung für Smith oder Jones begeben, wovon Jones nach freundschaftlicher Auffassung glauben könnte, daß Smith ein Interesse daran hätte, noch wird sich wahrscheinlich etwas der Art begeben. Und doch bleiben beide Herren stehen und schütteln sich allen Ernstes die Hände. »Na, wie geht’s?« bemerkt Smith in einer vagen Hoffnung, daß sich etwas begeben hat. »So, so,« erwidert der beredte Jones, indem er sofort fühlt, daß die tiefe Leere, seines Freundes der seinen entspricht. Es folgt eine Pause, in der beide Herren sich mit einem einfältigen Lächeln und einem inbrünstigen Händedruck betrachten. Smith thut einen tiefen Seufzer und sieht die Straße hinauf, Jones seufzt schwer und sieht die Straße hinab. Noch eine Pause, in welcher beide Herren ihre respectiven Hände loslassen und sich ängstlich nach einer herkömmlichen Aussicht auf Entschlüpfen umschauen. Endlich stößt Smith, (indem er plötzlich thut, als habe er eine wichtige Zusage vergessen) heraus: »Na, ich muß fort,« – eine Bemerkung, die bei dem beweglichen Jones augenblicklich ein Echo findet, und diese Herren trennen sich, aber nur, um ihre erbärmliche Formel den nächsten Tag zu wiederholen.
Bei dem obigen Beispiel habe ich mitleidsvoll das gewöhnliche Abschiednehmen abgekürzt, welches in geschickten Händen zu einer Länge ausgedehnt werden kann, an die zu erinnern ich schaudernd unterlasse. Ich habe manchmal, wenn ich activer Theilnehmer an solchen entsetzlichen Verhandlungen war, in der Hoffnung verweilt, meinem Freunde etwas Natürliches sagen zu können, (indem ich fühlte, daß auch er in dem nebeligen Labyrinthe seines Gemüthes nach einem ähnlichen Ausdrucke herumtastete) bis ich die Empfindung hatte, daß wir von einem Schutzmann auseinandergetrieben werden müßten. Es ist erstaunlich, wie viel in solchen Fällen der elendeste Spaß gilt, und wie er gleichsam krampfhaft die beiden zusammenhängenden Partikelchen von einander losmacht. Ich habe (freilich hysterisch) über einen Kalauer, unter dessen Decke ich entschlüpfte, gelacht, obwohl ich fünf Minuten nachher in ihm auch nicht ein Körnchen Humor zu entdecken vermochte. Ich möchte jedem, der in diese klägliche Verlegenheit kommt, den Rath geben, daß nächst dem Auskunftsmittel, daß man sich einem vorüberfahrenden Karren in den Weg stellt und sich mit Gewalt loshenkeln läßt, ein Spaß das wirksamste ist. Auch eine fremdländische Phrase, zum Beispiel » Au revoir« kann mit Erfolg versucht werden.
Aber dies ist eine harmlose Gewohnheit verglichen mit einer gewissen tadelnswerthen Praxis, der sich verschiedene schwachköpfige junge Leute überlassen. Ich bin auf der Straße angehalten und in überschwänglicher Weise angeredet worden von einem jungen Stutzer, der mich in eine lebhafte Unterhaltung verwickelte, bis (ganz zufällig) eine gewisse junge Schöne vorbeiging, die mein Freund natürlich grüßte. Da dies infolge eines wunderlichen Zusammentreffens von Umständen im Laufe der Woche mehrmals passirte, und da die Unterhaltungsgabe meines jungen Freundes ohne Ausnahme nach dem Vorübergehen der Dame ermattete, so sehe ich mich zu dem Glauben genöthigt, daß der betrügerische junge Schlingel mich am Ende nur als passenden Hintergrund benutzte, um die Anmuth seiner Gestalt vor der vorüberwandelnden Schönen zu entwickeln. Als ich den Kniff entdeckte, richtete ich’s natürlich durch strategische Manöver so ein, daß mein Freund der jungen Dame den Rücken zukehren mußte, während ich ihr meine Verbeugung machte. Seitdem habe ich in Erfahrung gebracht, daß es unter diesen jungen Gelbschnäbeln regelmäßiger Brauch ist, sich mit erheuchelter Herzlichkeit einige Schritte vor der jungen Dame, die sie als Bekannte zu behandeln wünschen, gegenüber zu treten, so daß sie nicht thun kann, als sähe sie sie nicht. Die Ecke von California- und Montgomery-Street ist die Stelle, wo sie am liebsten spuken. Man kann sie leicht an dem verstohlnen Ausdruck in ihren Augen entdecken, der sie selbst auf der Höhe ihres scheinbaren Enthusiasmus verräth.
Da wir von Augen reden, so kann man sich über das durchschnittliche Anstandsgefühl und die Wohlerzogenheit der Leute, denen man auf der Straße begegnet, an der Art vergewissern, mit der sie unsern Blick erwidern oder vermeiden. »Ein Gentleman,« wie der Autokrat weise gesagt hat, »hat stets ein ruhiges Auge.« Es liegt in seinem Blicke just genug Innerlichkeit, um erkennen zu lassen, daß er Selbstgefühl und die Fähigkeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen, besitzt, aber er ist trotzdem ein ruhiger und unaufdringlicher Beobachter. Er sucht unsere Beachtung nicht, vermeidet sie aber auch nickt. Dicknasen und Gecken halten’s mit jenem, schüchterne und gemeine Leute mit diesem. Es giebt Leute, welche, wenn sie unserm Auge begegnen, sofort eine Miene annehmen, die von der, welche sie vorher zeigten, ganz verschieden ist, und welche, mag sie nun eine Verbesserung sein oder nicht, immer ein unangenehmes Bewußtsein über sich selbst verräth. Vielleicht bilden sie sich ein, daß sie etwas verrathen. Es giebt andere, die unsern Blick mit unnöthigem Trotz erwidern, was ein ähnliches Streben nach Verhüllung bekundet. Die Symptome des Auges werden gemeiniglich von der Gestalt unterstützt. Man verräth seinen Charakter sehr leicht durch die Art, wie man seinen Theil des Trottoirs sich aneignet. Der Mann, der sich entschlossen in der Mitte desselben hält und absichtlich an uns anrempelt, würde, dessen können wir sicher sein, an der Tafel des Hotels sich das letzte Stück Pastete nehmen und die Sahnkanne auf ihrem Wege nach unsrer Taste leeren. Der Mann, der neben uns vorbeischlüpft, indem er sich dicht an die Häuser hält und die bequemsten Planken sich aussucht, bringt es fertig, in derartiger Weise durchs Leben zu schlüpfen und seinen ernstesten Pflichten aus dem Wege zu gehen. Der grobe Mensch, der uns in den Weg läuft und uns auf den hinter uns kommenden Mann stößt und es auf diese Weise möglich macht, daß die harmonische Procession an einem ganzen Straßenviereck gestört wird, wird sehr leicht dasselbe im politischen und gesellschaftlichen Haushalt thun. Der neugierige Mensch, welcher mir Ueberlegung seinen Schritt kürzt, um an dem Vertrauen Antheil zu gewinnen, welches wir unserm Gefährten erweisen, hat ein Auge, welches mit Schlüssellöchern nicht unbekannt ist, und macht wahrscheinlich die Briefe seiner Frau auf. Der laute Mensch, welcher mit der Absicht, gehört zu werden, redet, ist derselbe Egoist auch anderwärts. Wenn Jago’s höhnischer Ausspruch, es gäbe Leute »so schwachen Sinns, daß sie im Schlaf von ihrem Treiben murmeln«, irgendwie berechtigt war, was soll man sagen von Leuten, die im Gehen Träumereien plappern! Ich habe Leuten begegnet, die offenbar »wie ein Zuckerplätzchen unter der Zunge« eine Rede zurechtkauten, die sie halten wollten, und andere, welche Flüche entwarfen. Ich erinnere mich, daß einmal, als ich hinter einem dem Anscheine nach achtbaren alten Herrn herschritt, er plötzlich den Ausruf that: »Na, hol’ mich der Teufel!« und dann ruhig seine frühere Manier wieder annahm. Ob er in jenem Augenblicke von echt orthodoxem Unglauben an seine schließliche Erlösung befallen worden oder einfach ärgerlich war, konnte ich nie sagen.
Ich habe einige Zeit gezögert, zu sprechen – oder, wenn überhaupt, von jenem liebenswürdigen und der Kritik Trotz bietenden Geschlecht zu sprechen, dessen helle Augen und zungenfertiges Geplauder nicht ohne Wirkung auf die Milderung der Härten in meinem peripatetischen Nachdenken gewesen sind. Ich bin von demüthigem Dank erfüllt, daß mir gestattet war, ihre glänzenden Kleider und jene reizenden Hüte zu sehen, welche die Vögel und Blumen des Frühlings in die öden Grenzen der Stadt gebracht zu haben scheinen, und – ich hoffe, man wird mich nicht für unfreundlich halten, wenn ich es sage – mein Vergnügen daran wurde nicht durch die Betrachtung vermindert, daß die Entwickelung dieses Staates, mich wenigstens, nichts kostete. Ich bin hinter, und ich fürchte, gelegentlich auf der Schleppe der Lieblichsten ihres Geschlechts hergewandelt, die vor mir ging. Wenn ich mich bisweilen fragte, warum zwei junge Damen stets lebhaft zu plaudern begannen, wenn sich irgend ein hübscher Bursch näherte, wenn ich mich gefragt habe, ob die spiegelartigen Eigenschaften aller großen Schaufenster überhaupt Einfluß auf ihre Neugier in Betreff von Seidenstoffen und Calicos übten, wenn ich jemals denselben ungentlemännischen Gedanken in Bezug auf Schaukästen von Photographen gehegt habe, wenn ich je den Blick, der zwischen zwei hübschen Frauen hinschoß, falsch gedeutet habe – diesen Blick, der fragender, erschöpfender und aufrichtiger als unser mattes Augenspiel ist –, wenn ich jemals diese oder andere Ungebühr verübt habe, so war es nur, um mich geschlagen und in Verwirrung zurückzuziehen und zu gestehen, daß die Philosophie der Männerwelt, während sie über den Sirius und den Ring des Saturn emporschwebt, vor der stählernen Peripherie Halt macht, welche das einfachste Schulmädchen umschließt.