Edgar Allan Poe
Holla, holla! Der Bursc-he tanzt wie toll!
Es hat ihn die Taran-tula gebis-sen.
All in the Wrong
Vor vielen Jahren stand ich in nahen Beziehungen zu einem Herrn William Legrand. Er entstammte einer alten Hugenottenfamilie und war einst wohlhabend gewesen; durch allerlei Unglücksfälle aber war sein Vermögen zusammengeschmolzen, so daß er nur noch das Nötigste hatte. Um Demütigungen auszuweichen, verließ er Neu-Orleans, die Heimat seiner Väter, und ließ sich auf Sullivans Insel nahe bei Charles-ton in Südkarolina nieder.
Diese Insel ist recht merkwürdig. Sie besteht fast ganz aus Seesand und ist etwa drei Meilen lang. Ihre Breite beträgt nirgends mehr als eine Viertelmeile. Vom Festland ist sie durch einen schmalen Meeresarm getrennt, der sich durch eine Wildnis von Schilf und Schlamm mühsam seinen Weg sucht und ein Lieblingsaufenthalt des Marschhuhns ist. Die Vegetation ist, wie sich denken läßt, spärlich und zwerghaft. Größere Bäume gibt es nicht; doch findet sich am Westende, da, wo Fort Moult-rie steht, die stachlige Zwergpalme. Auch einige Holzhäuser stehen hier, Sommerwohnungen von Charlestoner Bürgern, die dem Staub und dem Fieber zu entfliehen trachten. Der ganze übrige Teil der Insel, mit Ausnahme des harten weißen Strandes, ist dicht bewuchert von der wohlriechenden Myrte, die bei englischen Gärtner sehr gesucht ist. Der einzelne Strauch erreicht hier oft eine Höhe von fünfzehn bis zwanzig Fuß und bildet ein undurchdringliches Buschwerk, das die Luft in wei-tem Umkreis mit Wohlgerüchen tränkt.
Mitten in diesem Myrtendickicht, nicht weit von der einsamen Ostküs-te der Insel, hatte Legrand sich eine kleine Hütte gezimmert, die er damals bewohnte, als ich ihn rein zufällig kennenlernte. Wir wurden bald zu Freunden, denn der Einsiedler gewann mir Achtung und Inte-resse ab. Ich fand in ihm einen gebildeten Mann von hervorragenden Geistesgaben, nur war er sehr menschenscheu und abwechselnd krankhaften Anfällen von Begeisterung und von Schwermut unterwor-fen. Er hatte viele Bücher bei sich, von denen er aber selten Gebrauch machte. Sein Hauptvergnügen war Fischen und Jagen; doch schlen-derte er auch gern am Strand entlang, um Muscheln zu suchen, oder durchforschte das Myrtendickicht nach seltenen Insekten. Von letzteren besaß er eine Sammlung, um die selbst ein Swammerdam ihn beneidet hätte. Bei seinen Wanderungen begleitete ihn in der Regel ein alter Neger namens Jupiter, der von der Familie seines Herrn, als diese noch wohlhabend gewesen, die Freiheit erhalten hatte, aber weder durch Drohungen noch Versprechungen zu bestimmen gewesen war, die Fürsorge für seinen jungen »Massa Will« aufzugeben. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Verwandten Legrands dem Neger diese Halsstarrigkeit eingegeben hatten, weil es ihnen gut schien, den exzentrisch veranlagten jungen Mann behütet und überwacht zu se-hen.
Sullivans Insel liegt auf einem Breitengrad, auf dem ein strenger Win-ter selten ist und man nur ausnahmsweise einmal eines wärmenden Feuers bedarf. Mitte Oktober 18 . . aber hatten wir einen sehr frostigen Tag. Gegen Sonnenuntergang bahnte ich mir meinen Weg durchs im-mergrüne Buschwerk zur Hütte meines Freundes, den ich seit Wochen nicht besucht hatte. Ich wohnte damals in Charleston, das neun Meilen von der Insel entfernt liegt, und die Reiseverbindungen waren jenerzeit nicht so bequem wie heutzutage. Als ich die Hütte ereicht hatte, klopfte ich wie gewöhnlich an, und als ich keine Antwort bekam, nahm ich den Schlüssel aus dem mir bekannten Versteck, schloß auf und trat ein. Im Kamin brannte ein kräftiges Feuer – eine mir keineswegs unwillkom-mene Überraschung. Ich warf den Überzieher ab, rückte mir einen Lehnstuhl an die knisternden Scheite und erwartete geduldig die Heim-kehr meiner Wirte.
Sie kamen bald nach Dunkelwerden und begrüßten mich herzlich. Jupiter grinste von einem Ohr bis zum andern, während er sich ansc-hickte, uns ein paar Marschhühner zum Abendessen zu bereiten. Leg-rand hatte einen seiner Begeisterungsanfälle – ich kann es nicht an-ders nennen. Er hatte eine unbekannt zweischalige Molluske gefunden, die eine neue Gattung bildete, und mehr noch: Er hatte mit Jupiters Hil-fe einen Käfer eingefangen, den er für etwas ganz Neues hielt, worüber er aber noch am andern Morgen meine Meinung hören wollte.
»Und warum nicht schon heute?« fragte ich und wärmte meine Hände über der Flamme; in meinem Innern wünschte ich alle Käfer der Welt zum Teufel.
»Ja, wenn ich doch nur gewußt hätte, daß Sie kommen!« sagte Leg-rand. »Aber es ist so lange her, seit ich Sie sah, und wer hätte ahnen können, daß Sie gerade heute abend mich besuchen würden? Auf dem Heimweg begegnete mir Leutnant G. von der Festung, törichterweise lieh ich ihm den Käfer; so werden Sie denselben vor morgen früh nicht sehen können. Übernachten Sie hier! Bei Sonnenaufgang lasse ich den Käfer dann durch Jup holen. Sie können sich gar nichts Schöneres denken!«
»Als was – den Sonnenaufgang?«
»Unsinn! Nein – den Käfer. Er ist von leuchtender Goldfarbe – etwa so groß wie eine Walnuß – mit zwei jetschwarzen Punkten an einem Ende des Rückens und einem einzigen größeren am andern Ende. Die Fühlhörner sind . . .«
»Kein bißchen Horn an ihm, Massa Will, sag’s Ihnen noch mal«, fiel hier Jupiter ein; »Tier ist ein Goldkäfer, schwer Gold, jedes bißchen ganz Gold, außen und innen, Flügel und alles – nie im Leben ich habe so schweren Käfer in Hand gehalten.«
»Nun, nehmen wir an, du habest recht, Jup«, erwiderte Legrand ernsthafter, als es mir nötig schien, »ist das aber ein Grund, daß du die Hühner anbrennen läßt? Die Farbe« – hier wandte er sich zu mir – »vermag allerdings Jupiters Ansicht zu bestätigen. Noch nie haben Sie etwas Strahlenderes gesehen als die Flügel dieses Tieres – doch da-rüber können Sie erst morgen urteilen. Einstweilen will ich Ihnen einen Begriff von seiner Gestalt geben.« Mit diesen Worten setzte er sich an einen kleinen Tisch, auf dem sich Tinte und Feder befanden; Papier fehlte. Er suchte in einer Schublade danach, konnte aber keins finden.
»Tut nichts«, sagte er schließlich, »dies hier tut es auch.« Und er zog aus der Westentasche einen Fetzen, den ich für sehr schmutziges Pro-patriapapier hielt, und entwarf darauf eine flüchtige Federzeichnung.
Währenddessen nahm ich meinen Platz beim Feuer wieder ein, denn mir war noch immer kalt. Als er die Zeichnung fertig hatte, reichte er sie mir, ohne aufzustehen. Kaum hatte ich sie in der Hand, als draußen ein lautes Knurren ertönte, dem ein Kratzen an der Tür folgte; Jupiter öff-nete, und ein großer Neufundländer, der Legrand gehörte, stürmte he-rein, legte die Pfoten auf meine Schultern und überhäufte mich mit Li-ebkosungen, denn ich hatte ihn bei meinen Besuchen stets gut behan-delt. Als er sich beruhigte, blickte ich auf das Papier und war, die Wahrheit zu sagen, nicht wenig verwirrt über das, was mein Freund da hingemalt hatte.
Nachdem ich es minutenlang betrachtet hatte, sagte ich: »Der Käfer ist in der Tat seltsam, das muß ich zugeben; er ist mir gänzlich neu – habe nie dergleichen gesehen – es sei denn ein Schädel, ein Toten-kopf, denn damit allein hat er Ähnlichkeit.«
»Ein Totenkopf!« wiederholte Legrand. »Nun ja, mag sein, daß er auf dem Papier etwas davon hat. Die zwei oberen schwarzen Punkte se-hen wie Augen aus, wie? Und der längere unten wie ein Mund – und die Form des Ganzen ist oval.«
»Vielleicht liegt es daran«, sagte ich. »Doch, Legrand, ich fürchte, Sie sind kein Zeichenkünstler. Ich muß warten, bis ich den Käfer selber ge-sehen habe, ehe ich mir eine Vorstellung von ihm machen kann.«
»Sonderbar«, sagte er, ein wenig verletzt, »ich zeichne ganz gut – habe jedenfalls vortreffliche Lehrer gehabt und darf mir wohl auch schmeicheln, nicht gerade ein Dummkopf zu sein.«
»Ja, mein lieber Freund, dann haben Sie wohl einen Scherz beab-sichtigt?« sagte ich. »Dies hier ist ein ganz gut gezeichneter Schädel, ja, ich kann wohl sagen, ein meisterhaft gezeichneter Schädel – und Ihr Skarabäus muß der merkwürdigste Käfer von der Welt sein, wenn er ihm gleicht; er könnte geradezu unheimliche Vorahnungen erwecken. Ich nehme an, Sie werden den Käfer Scarabaeus caput hominis oder so ähnlich benennen; es gibt eine ganze Reihe derartiger Namen in der Naturgeschichte. Doch wo sind die Fühlhörner, von denen Sie sprac-hen?«
»Die Fühlhörner!« sagte Legrand in übertrieben gereiztem Ton; »Sie müssen sie doch sehen, die Fühlhörner. Ich habe sie in natürlicher Größe wiedergegeben, und ich meine, das genügt für ihre Erkennbar-keit.«
»Nun, nun«, erwiderte ich, »mag sein; ich sehe sie aber nicht.« Und ich gab ihm ohne weitere Worte das Papier zurück, um ihn nicht noch mehr zu reizen. Ich war aber über die Wendung der Dinge sehr über-rascht. Seine schlechte Laune beunruhigte mich; was konnte ich dafür, daß die Fühlhörner nicht zu sehen waren und daß das Ganze eine verblüffende Ähnlichkeit mit der üblichen Zeichnung eines To-tenschädels hatte?
Verdrießlich nahm er das Papier entgegen und hatte offenbar die Ab-sicht, es zu zerknittern und ins Feuer zu werfen, als ein zufälliger Blick auf die Zeichnung ihn plötzlich davon abhielt. Sein Gesicht wurde glü-hend rot und gleich darauf unheimlich bleich. Minutenlang starrte er unbeweglich auf das Blatt in seinen Händen. Endlich stand er auf, nahm eine brennende Kerze vom Tisch und setzte sich in der hinters-ten Ecke des Zimmers auf einen Schiffskoffer. Dort prüfte er das Blatt von neuem mit ängstlicher Aufmerksamkeit, indem er es nach allen Seiten drehte und wendete. Er sagte aber nichts, und sein Benehmen verwunderte mich sehr; ich hielt es jedoch für ratsam, seine üble Laune nicht durch irgendeine Bemerkung zu verschlimmern. Er nahm jetzt ein Notizbuch aus seiner Rocktasche, legte das Papier sorgsam hinein und verschloß beides in einem Schreibpult. Sein Benehmen wurde nun ru-higer, aber seine vorherige Begeisterung war ganz verschwunden; doch schien er weniger mürrisch als nachdenklich. Je mehr es Nacht wurde, desto mehr versank er in Träumerei, aus der kein Scherzwort ihn erwecken konnte. Es war meine Absicht gewesen, die Nacht hier in der Hütte zu verbringen, wie ich es früher gelegentlich getan hatte; bei der trüben Stimmung meines Gastgebers schien es mir aber ratsamer, mich zu empfehlen. Er drängte mich nicht zum Bleiben; doch als ich ging, schüttelte er mir die Hand noch herzlicher als sonst. –
Es war etwa einen Monat später, und in der Zwischenzeit hatte ich von Legrand nichts gesehen, als ich in Charleston den Besuch seines Dieners Jupiter erhielt. Der gute alte Neger war in auffallend gedrückter Stimmung, und ich fürchtete, daß meinem Freund irgendein Unglück zugestoßen sei.
»Nun, Jup«, sagte ich, »was gibt’s? Wie geht es deinem Herrn?«
»Ja, ehrlich, Massa, ihm nicht so wohlgehn, als sollte sein.«
»Nicht wohl? Das betrübt mich sehr. Worüber klagt er?«
»Da! Das ist’s! Ihm klagt nie über nichts – aber ihm sehr krank sein über alles das.«
»Sehr krank? – Warum hast du das nicht gleich gesagt! Muß er zu Bett liegen?«
»Nein, nicht das. Nicht finden ich, was sein. Das sein gerade das Sch-limme. Mein Herz sein sehr schwer geworden über armen Massa Will.«
»Ich wollte, ich könnte dich verstehen, Jupiter. Du sagst, dein Herr ist krank. Hat er dir nicht gesagt, was ihm fehlt?«
»Ach, Massa, nicht wert die Sache, daß ihm darüber Kopf verlieren Massa Will sagen, ihm gar nichts fehlen – aber warum dann so he-rumgehen mit Kopf nach unten und dann halt stehen – und so weiß wie Gans? Und dann Wort halten ganze Zeit . . .«
»Was halten, Jupiter?«
»Wort halten mit Figuren auf Tafel – ganz sehr komische Figuren – nie gesehen haben ich. Ich dir sagen, Massa, ihm sein viel gefährlich. Ich müssen immer viel acht haben über ihm. Einmal Massa mir fort – früh mit Sonne – und fort sein ganzes Tag. Ich mir geschnitten haben großes Stock und wollen schlagen, wann ihm zurückkommen. Aber ich solches Narr – nachher nicht haben gekonnt – ihm so elend ausse-hen.«
»Wie? – Was? – Nun ja, ich meine, du solltest nicht gar zu streng ge-gen den armen Jungen sein – nicht schlagen, Jupiter – er kann es nicht gut vertragen. Aber hast du gar keine Ahnung, was die Ursache ist für diese Krankheit – oder vielmehr für dieses veränderte Benehmen? Ist irgend etwas Unangenehmes geschehen, seit ich euch zuletzt sah?«
»Nein, Massa, da sein gewesen nichts Schlimmer seitdem – es waren vorher, ich fürchten – an das Tag, wo du bei uns waren.«
»Wie? Was willst du damit sagen?«
»Nun, Massa, ich meinen das Käfer. Da, nun wissen du!«
»Das – was?«
»Das Käfer – ich wissen ganz gewiß, Massa gebissen sein, wo am Kopf von das Goldkäfer.«
»Und was für einen Grund hast du für deine Annahme, Jupiter?«
»Klauen genug, Massa, und Maul auch. Ich nie haben gesehen so ein verdammtes Käfer – es stoßen und beißen alles, was ihm nahe kom-men. Massa Will es packen – aber schnell wieder loslassen – das waren die Zeit, wo es ihm gebissen. Ich selbst nicht haben wollen guc-ken auf Maul von das Käfer oder sonst – und nicht haben wollen fassen mit meines Finger – aber es packen mit Papier, das da sein gelegen. Ich das Käfer wickeln in Papier und stopfen ihm dann Stückchen in Maul. So wir haben gemacht.«
»Und du meinst also, daß dein Herr wirklich von dem Käfer gebissen worden sei und daß der Biß ihn krank gemacht habe?«
»Ich nicht meinen – ich wissen. Warum über Gold so viel träumen, wann ihm nicht gebissen von das Goldkäfer? Ich schon viel gehört über das von Goldkäfer.«
»Doch woher weißt du, daß er von Gold träumt?«
»Woher ich wissen? Ja, weil ihm sprechen davon im Schlaf – daher ich wissen.«
»Nun, Jup, vielleicht hast du recht; doch welch glücklichem Umstand muß ich die Ehre deines heutigen Besuches zuschreiben?«
»Was sagen Massa?«
»Bringst du mir irgendwelche Botschaft von Herrn Legrand?«
»Nein, Massa, ich bringen das hier.« Und hier überreichte Jupiter mir ein Briefchen, das so lautete:
»Mein lieber . . .!
Warum habe ich Sie so lange nicht gesehen? Ich hoffe doch, daß Sie nicht etwa über irgendeine kleine Schroffheit von mir beleidigt sind. Doch nein, das ist unwahrscheinlich.
Seit ich Sie zuletzt sah, habe ich viel Grund zu Besorgnis. Ich habe Ihnen etwas zu sagen, weiß jedoch kaum, wie ich es sagen soll, noch ob ich es überhaupt sagen soll.
Ich bin seit einigen Tagen nicht ganz wohl, und der gute alte Jup quält mich fast unerträglich mit seiner wohlgemeinten Überwachung. Ist es zu glauben: Er hatte neulich einen großen Stock geschnitten, um mich durchzuprügeln, weil ich ihm ausgerissen war und den Tag solo in den Bergen auf dem Festland verbrachte. Ich glaubte tatsächlich, daß nur mein schlechtes Aussehen mir die Prügel ersparte.
Ich habe seit unserem letzten Beisammensein nichts Neues für meine Sammlung gefunden.
Wenn Sie können, kommen Sie mit Jupiter herüber – machen Sie es irgendwie möglich. Sie müssen kommen! Ich möchte Sie noch heute abend in wichtiger Angelegenheit sprechen. Ich versichere Ihnen, daß sie von größter Wichtigkeit ist.
Stets der Ihre
William Legrand«
Im Ton dieses Briefes lag etwas, das mir große Unruhe machte. Sein ganzer Stil wich stark von Legrands sonstiger Schreibweise ab. Was war es nur, wovon er träumte? Von welch neuer Grille war wohl sein leicht erregbares Hirn erfaßt? Welche Angelegenheit »von größter Wichtigkeit« konnte er zu erledigen haben? Jupiters Bericht über ihn prophezeite mir nichts Gutes. Ich befürchtete, die andauernd unglück-lichen Verhältnisse meines Freundes hätten diesen schließlich um den Verstand gebracht. Ich bereitete mich also ohne Zögern vor, den Neger zu begleiten.
Der Garten lag wie eine schöne Frau,
Die tief entzückt gesch-loßnen Au-ges ruht
Und sch-lummernd träumt ins offne Him-melsblau.
Giles Fletcher
Von der Wiege bis zum Grabe wurde mein Freund Ellison von der Woge des Erfolges emporgehoben. Ich gebrauche aber nicht das Wort Erfolg im landläufigen Sinne; ich gebrauche es als Synonym für Glück. Der Mensch, von dem ich rede, schien geboren, die Doktrinen eines Turgot, Price, Priestly und Condorcet zu verwirklichen – durch per-sönliches Beispiel den Beweis zu erbringen für das, was man eine Schimäre der Puritaner genannt hat. Ich vermeine in dem kurzen Da-sein Ellisons das Dogma widerlegt gesehen zu haben, daß in der Natur des Menschen etwas verborgen sei, was ihn der Seligkeit entziehe. Ei-ne eingehende Prüfung seiner Laufbahn hat mir zu verstehen gege-ben, daß im allgemeinen das Unglück der Menschheit von der Ver-letzung einiger weniger einfacher Menschengesetze abzuleiten ist – daß wir die Elemente zu heiterer Genüge bis jetzt ungenutzt in unsrer Macht haben – und daß selbst jetzt in der gegenwärtigen Finsternis und Tollheit, da alle Gedanken auf die große Frage der sozialen Lage gerichtet sind, es nicht ausgeschlossen ist, daß der Mensch, das Indi-viduum, unter gewissen ungewöhnlichen und rein zufälligen Umständen glücklich sein kann.
Auch mein junger Freund war von derartigen Ansichten ganz erfüllt, und es ist deshalb bemerkenswert, daß der ununterbrochene Genuß, den das Leben ihm brachte, zum großen Teil die Folge weiser Voraus-sicht war. Ja, es ist klar, daß Mr. Ellison, hätte er weniger instinktive Philosophie besessen, die gelegentlich so gut die Stelle der Erfahrung zu ersetzen weiß, sich durch den so außerordentlichen Erfolg, den das Leben ihm brachte, in den üblichen Strudel des Unglücks hinabgezo-gen gesehen hätte, der das Los aller hervorragend begünstigten Leute ist. Doch es ist keineswegs meine Absicht, einen Essay über das Wesen des Glücks zu schreiben. Die Gedankengänge meines Freun-des seien nur in kurzen Worten geschildert. Er gab nicht mehr als vier Elementarsätze oder, genauer gesagt, Bedingungen für die Freude zu. Die Hauptsache war ihm (seltsam genug!) der einfache und rein phy-sische Grundsatz der Bewegung im Freien. »Was man an Gesund-heit«, sagte er, »auf anderm Wege erreichen kann, ist dieses Namens kaum wert.« Als Beispiel führte er die Wonnen des Fuchsjägers an und wies auf die Ackerbauern hin, die einzigen Leute, die man, als Klasse betrachtet, glücklicher erachten kann als andre. Seine zweite Bedin-gung war Weibesliebe. Seine dritte und sehr schwer zu verwirklichende war die Verachtung des Ehrgeizes. Seine vierte ein rastlos gesuchtes Ziel. Und er behauptete, da andre Dinge gleichgültig seien, so stehe das Maß des erreichbaren Glücksgefühls im Verhältnis zu der Geistig-keit dieses Zieles.
Ellison zeichnete sich durch eine Fülle guter Gaben aus, die das Glück ihm in den Schoß geworfen hatte. An Schönheit und Anmut überstrahlte er alle Männer. Sein Verstand war von der Art jener, de-nen das Erwerben von Kenntnissen weniger Anstrengung als Intention und Bedürfnis ist. Seine Familie gehörte zu den erlauchtesten im Reich. Seine Braut war die lieblichste und treu ergebenste aller Frauen. Er hatte stets über reichliches Besitztum verfügt; als er aber mündig wur-de, stellte es sich heraus, daß das Schicksal ihm einen der seltenen Streiche gespielt hatte, wie sie die ganze soziale Welt, in der sie sich ereignen, zuweilen in Verblüffung versetzen und selten verfehlen, die Geistesverfassung derer, denen sie gelten, völlig umzustoßen.
Es fand sich, daß etwa hundert Jahre vor Mr. Ellisons Mündigwer-dung in einer entfernten Provinz ein Mr. Seabright Ellison gestorben war. Dieser Herr hatte ein fürstliches Vermögen zusammengerafft, und da er keine direkten Nachkommen hatte, packte ihn die Grille, das Vermögen sich bis hundert Jahre nach seinem Tode weiter aufstapeln zu lassen. Indem er die Anlage des Kapitals eingehend und scharfsin-nig bestimmte, vermachte er die aufgehäufte Summe demjenigen nächsten Blutsverwandten des Namens Ellison, der nach Ablauf von hundert Jahren am Leben wäre. Viele Versuche waren gemacht wor-den, diese eigenartige Bestimmung zu umgehen; ihr Ex-post-facto-Charakter ließ sie fehlschlagen; man lenkte aber die Aufmerksamkeit einer habgierigen Regierung darauf und erlangte eine gesetzliche Ver-fügung, die alle derartigen Geldanhäufungen untersagte. Das hinderte freilich den jungen Ellison nicht, an seinem einundzwanzigsten Ge-burtstag als der Erbe seines Ahnherrn Seabright in den Besitz eines Vermögens von vierhundertundfünfzig Millionen Dollar zu kommen.
Als es bekannt wurde, welch ungeheuerliche Summe die Erbschaft ausmachte, gab es natürlich viele Vermutungen über die Art, wie sie anzulegen sei. Die Höhe und die sofortige Greifbarkeit der Summe verwirrte alle, die sich mit der Sache befaßten. Für den Besitzer irgen-deiner übersehbaren Geldmenge hätte man sich irgendeinen von tau-send Plänen ausgedacht. Wäre er mit Gütern gesegnet worden, die le-diglich die der andern Bürger überstiegen, so hätte man sich unschwer vorgestellt, er werde die beliebten Extravaganzen seiner Zeit in uner-hörtester Weise übertreiben – oder sich mit politischen Umtrieben be-fassen – oder nach der Machtstellung eines Ministers streben – oder sich den höheren Adel kaufen – oder große Museen der schönen Künste anlegen – oder den freigebigen Mäzen in Wissenschaft, Litera-tur und Kunst spielen – oder seinen Namen in ausgedehnten Wohl-fahrtseinrichtungen verewigen. Bei dem unfaßlichen Vermögen jedoch, in dessen unumschränktem Besitz der Erbe sich befand, empfand man diese und alle gewöhnlichen Ziele als ein allzu begrenztes Feld. Man nahm zu Zahlen seine Zuflucht, und auch diese verwirrten noch mehr. Es stellte sich heraus, daß selbst bei nur drei Prozent das Jahresein-kommen der Erbschaft nicht weniger als dreizehn Millionen fünfhun-derttausend Dollar betrug, was eine Million einhundertundfün-fundzwanzigtausend Dollar im Monat ausmachte; oder sech-sunddreißigtausendneunhundertundsechsundachtzig am Tag; oder sechsundzwanzig Dollar für jede entfliehende Minute. So wurde natür-lich der übliche Weg der Mutmaßungen völlig umgestoßen. Die Leute wußten nicht, was sie ersinnen sollten. Einige meinten sogar, Mr. Elli-son werde sich mindestens der Hälfte seines Vermögens als völlig überflüssig entledigen – und die ganze Sippe seiner Verwandtschaft durch Verteilung dieses Überflusses bereichern. Den nächsten Verwandten überließ er tatsächlich die ungewöhnlich großen Reichtü-mer, die ihm bereits vor der Erbschaft gehörten.
Ich war jedoch gar nicht überrascht, als ich merkte, daß er schon längst seinen Entschluß über einen Punkt gefaßt hatte, der von seinen Freunden soviel erörtert worden war. Auch war ich über die Art dieses Entschlusses nicht allzusehr erstaunt. Hinsichtlich der persönlichen Wohltätigkeit hatte er sein Gewissen beruhigt. Von der Möglichkeit ir-gendeines wesentlichen Dienstes, den der Mensch, wie man so zu sa-gen pflegt, der Menschheit erweisen könnte, war er (wie ich leider ges-tehen muß) wenig überzeugt. Kurz und gut, glücklich oder nicht glück-lich, er war so ziemlich ganz auf sich selber angewiesen.
Er war im weitesten und edeln Sinne ein Dichter. Er erfaßte überdies den wahren Charakter, die erhabenen Ziele, die herrliche Majestät und Würde der poetischen Empfindung. Er fühlte instinktiv, daß die vollste, wenn nicht die einzige Befriedigung in der Erschaffung neuer Schön-heitsformen lag. Eine gewisse Eigenart, eine Folge seiner Erziehung oder seines Intellekts, gab allen seinen ethischen Betrachtungen eine materialistische Färbung, und dieser Hang vielleicht war es, der ihn zu der Ansicht führte, das vorteilhafteste, wenn nicht das einzig rechtmäßige Feld für angewandte Poesie biete die Schöpfung neuer Formen von natürlicher, rein physischer Schönheit. So kam es, daß er weder Musiker noch Dichter wurde – wenn wir die letztere Bezeichnung in ihrer gewöhnlichen Bedeutung fassen. Es mag aber auch sein, daß er beides nicht werden wollte – lediglich in Verfolgung seiner Idee, daß die Verachtung jeglichen Ehrgeizes eine der wesentlichen Wurzeln des irdischen Glückes sei. Ist es nicht tatsächlich möglich, daß, während ein großes Genie naturgemäß ehrgeizig ist, noch ein größeres über dem steht, was wir Ehrgeiz nennen? Kann es nicht sein, daß viele, die weit größer sind als Milton, sich begnügt haben, »stumm und unberühmt« zu bleiben? Ich glaube, die Welt hat auf dem Gebiet der Kunst die gan-ze erschöpfende Fülle prachtvoller Leistungen, deren die menschliche Natur unbedingt fähig ist, nie gesehen und wird sie nie sehen – es sei denn, daß allerlei Zufälle einmal eines jener größeren Genies, entge-gen seiner eigenen Anschauung, zu Taten veranlassen.
Ellison wurde weder Musiker noch Dichter, obgleich man Musik und Poesie nicht inniger lieben konnte als er. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er unter andern Lebensbedingungen Maler geworden wäre. Die Bildhauerkunst war trotz ihres stark poetischen Gehalts zu begrenzt in Form und Wirkung, um jemals seine Aufmerksamkeit lange fesseln zu können. Und ich habe nun alle Gebiete aufgezählt, in denen nach all-gemeinen Begriffen die poetische Empfindung sich ausbreiten kann. Ellison aber behauptete, das reichste und echteste, das natürlichste und wohl auch umfassendste Gebiet sei unverantwortlicherweise über-sehen worden. Kein Deuter habe je den Landschaftsgärtner als Künst-ler erwähnt; dennoch, so meinte mein Freund, biete der Landschafts-garten der wahren Muse die edelsten Möglichkeiten. Hier sei wirklich das schönste Feld zur Entfaltung der Phantasie in immer neuer Gestal-tung neuer Schönheitsformen, da die zur Zusammenstellung vorhan-denen Elemente bei weitem die herrlichsten seien, die die Erde zu bie-ten habe. In den zahllosen Formen und Farben der Blumen und Bäu-me erkannte er den ausgesprochensten und kraftvollsten Drang der Natur nach körperlicher Schönheit. Und in der Anordnung oder Vereini-gung dieser Bemühungen – oder richtiger, in ihrer Anpassung an die Augen, die sie auf Erden würdigen sollten – glaubte er auf die beste Art – und mit den erfolgreichsten Leistungen der Erfüllung nahezukom-men, nicht nur seiner eigenen Bestimmung als Künstler, sondern auch den erhabenen Zielen, um derentwillen die Gottheit dem Menschen das künstlerische Empfinden eingeimpft habe.
»Ihre Anpassung an die Augen, die sie auf Erden würdigen soll-ten . . .« In seiner Erläuterung dieses Ausdrucks trug Mr. Ellison viel zur Lösung dessen bei, was mir immer als Rätsel erschienen war: – ich meine die (nur von Unwissenden bestrittene) Tatsache, daß es in der Natur keine solchen Szenerien gibt, wie der geniale Maler sie zu schaf-fen weiß. Keine solchen Paradiese sind in der Wirklichkeit zu finden, wie sie auf der Leinwand Claudes erglühen. In den bezauberndsten na-türlichen Landschaften wird stets ein Mangel oder ein Unmaß zu finden sein – viele Mängel und viele Unmäßigkeiten. Während die gegebenen Bestandteile im einzelnen das größte Können des Künstlers übertreffen mögen, so wird die Anordnung dieser Teile stets noch der Vervoll-kommnung bedürftig sein. Kurz, in der ganzen weiten natürlichen Landschaft auf Erden gibt es keinen Betrachtungspunkt, von dem aus ein Künstlerauge bei längerem Zusehen nicht einen Verstoß gegen das fände, was man die »Komposition« der Landschaft nennt. Und wie un-begreiflich ist das doch! In allen andern Dingen sind wir richtig belehrt, die Natur als überlegen anzusehen. Wir scheuen den Wettbewerb mit ihren Einzelschöpfungen. Wer wollte es fertigbringen, die Farben der Tulpe wiederzugeben oder die Gestalt des Maiglöckchens zu verbes-sern? Die Kritik, die von der Bildhauerei oder der Porträtkunst sagt, daß hier die Natur nicht nur erreicht, sondern übertroffen oder idealisiert sei, befindet sich im Irrtum. Kein malerisches noch bildhauerisches Zusammenwirken von Einzelheiten menschlicher Schönheit kann mehr, als der lebendigen, atmenden Schönheit nahekommen. Nur in der Landschaft ist jener Standpunkt des Kritikers im Recht, und da er seine Wahrheit hier empfand, so ist es nur die unüberlegte Vorliebe zur Ve-rallgemeinerung, die ihn dahin führte, ihn auf allen Gebieten der Kunst als richtig aufzustellen. Ich sage: »seine Wahrheit hier empfand«; denn die Empfindung ist keine Einbildung, keine Schimäre. Die Mathematiker liefern keine exakteren Beweise, als sie dem Künstler in seiner Kunst das Gefühl bietet. Er glaubt nicht nur, sondern er weiß positiv, daß die und die scheinbar willkürliche Anordnung der Dinge die wahre Schön-heit ausmacht – sie ganz allein ausmacht. Seine Gründe aber sind noch nicht zum Ausdruck gereift. Es bleibt einer gründlicheren Analyse, als die Welt sie bisher gesehen hat, überlassen, diese Gründe voll zu erforschen und darzutun. Dessenungeachtet wird er in seiner instinkti-ven Ansicht durch die Stimme aller seiner Brüder unterstützt.
Nehmen wir an, eine »Komposition« sei mangelhaft, sie solle lediglich in ihrer Zusammensetzung umgearbeitet werden; nun möge man die Frage nach der Notwendigkeit dieser Umarbeitung jedem Künstler, den es nur gibt, vorlegen, von jedem wird die Notwendigkeit zugegeben werden. Und sogar weit mehr als das: zur Behebung der fehlerhaften Komposition würde jedes einzelne Glied dieser Bruderschaft die nämliche Änderung vorgeschlagen haben.
Ich wiederhole, daß nur bei Landschaftsbildern die Schönheit der Na-tur eine Steigerung zuläßt und daß daher die Fähigkeit zu ihrer Vervoll-kommnung in gerade diesem einen Punkte ein Geheimnis war, das ich nicht zu lösen wußte. Meine eigenen Anschauungen über den Gegens-tand gingen dahin, die Natur habe in ihrer ursprünglichen Absicht die Erde so gebildet, daß sie in allen Punkten der menschlichen Auffas-sung von vollendeter Schönheit oder Erhabenheit entsprach; aber die-se ursprüngliche Absicht sei durch die bekannten geologischen Störun-gen vernichtet worden – Störungen in Form und Farbengruppierung, in deren Verbesserung oder Abschwächung die Seele der Kunst beruht. Die Kraft dieses Gedankens wurde jedoch sehr abgeschwächt durch die in ihm verborgene Notwendigkeit, die Störungen als anormal und durchaus unzweckmäßig zu betrachten. Ellison war es, der die Vermu-tung aussprach, sie seien ein Anzeichen des Todes. Er erklärte das so: – »Angenommen, die ursprüngliche Absicht sei die irdische Unsterb-lichkeit des Menschen gewesen. Dann finden wir die ursprüngliche Bil-dung der Erde seinem seligen Zustand angepaßt – zwar nicht beste-hend, aber beabsichtigt. Die Umwälzungen waren die Vorbereitungen für seine später beschlossene Bestimmung zum Tode.
Nun könnte aber«, sagte mein Freund, »das, was wir als Steigerung der landschaftlichen Schönheit empfinden, eine lediglich menschliche Anschauungsweise sein. Jede Veränderung der natürlichen Szenerie würde das Bild vielleicht verunstalten, wenn wir es uns von weitem – als große Masse gesehen – denken, von einem der Erdoberfläche fernen Punkt, wenngleich nicht hinter den Grenzen ihrer Atmosphäre. Es ist leicht begreiflich, daß das, was einem nah besehenen Detail zum Vor-teil gereichen mag, gleichzeitig eine allgemeine oder auf größere Ent-fernung berechnete Wirkung beeinträchtigen kann. Es könnte doch ei-ne Art vordem menschlicher, nun aber der Menschheit unsichtbarer Wesen geben, denen aus der Ferne unsre Wirrnis als Ordnung ersche-int – unser Unmalerisches als malerisch; mit einem Wort, ich meine die Erdengel, für deren Betrachtung mehr als für unsre und für deren durch den Tod veredelte Bewertung des Schönen die weiten Landsc-haftsgärten der Hemisphären von Gott aufgestellt worden sein mögen.«
Im Laufe des Gespräches führte mein Freund einige Zitate eines Beurteilers der Landschaftsgärtnerei an, der, wie man sagt, sein The-ma gut behandelt haben soll:
›Es gibt eigentlich nur zwei Richtungen in der Landschaftsgärtnerei, die natürliche und die künstliche. Man versucht die ursprüngliche Schönheit der Landschaft wiederherzustellen, indem man ihre eigenen Mittel auf die Umgebung anwendet: Bäume anpflanzt, die sich den be-nachbarten Hügeln oder Flächen harmonisch anpassen; jenen reizvol-len Einklang von Größe, Form und Farbe entdeckt und anwendet, der, dem gewöhnlichen Beschauer verborgen, sich erfahrenen Naturbe-obachtern überall enthüllt. Das Resultat der natürlichen Richtung in der Gärtnerei zeigt sich mehr in der Vermeidung aller Mängel und Mißverhältnisse – in der Pflege einer gesunden Harmonie und Ord-nung –, als im Hervorbringen von Wundern oder Besonderheiten. Die künstliche Richtung hat so viele Abstufungen, wie es Gesch-macksverschiedenheiten zu befriedigen gibt. Sie hat eine gewisse all-gemeine Verwandtschaft mit den verschiedenen Baustilen. Da gibt es die pomphaften Alleen und Boskette Versailles’, italienische Terrassen und einen vielfach gemischten altenglischen Stil, der eine gewisse Ähn-lichkeit mit der profanen Gotik oder der englischen elisabethanischen Architektur zeigt. Was auch gegen den Mißbrauch der künstlichen Landschaftsgärtnerei gesagt worden sein mag, so gibt doch eine Bei-mischung reiner Kunst einer Gartenszene große Schönheit. Teils erf-reut es das Auge, daß es eine Ordnung und Planmäßigkeit wahrnimmt, teils ist es ein geistiges Genießen. Eine Terrasse mit einer alten, moosbewachsenen Balustrade ruft uns sofort die reizenden Gestalten ins Gedächtnis, die hier in früheren Tagen gewandelt sind. Die kleinste Darbietung von Kunst ist ein Beweis der Sorgfalt und menschlichen Einflusses.‹
»Aus meinen bisherigen Bemerkungen werden Sie begreifen,« sagte Ellison, »daß ich den Gedanken verwerfe, die ursprüngliche Schönheit der Landschaft wieder herstellen zu wollen. Die ursprüngliche Schön-heit ist nie so groß wie die, welche man hervorrufen könnte. Allerdings liegt alles an der Wahl eines geeigneten Platzes. Was oben über die Entdeckung und praktische Anwendung hübscher Beziehungen in Größe, Gestalt und Farbe gesagt wurde, ist nichts als eine hohle Re-densart, um unklare Gedanken zu bemänteln. Der genannte Ausspruch kann alles und nichts besagen und gibt keinerlei Anweisung. Daß der wahre Erfolg des natürlichen Stils in der Gärtnerei mehr in der Ver-meidung aller Mängel und Mißverhältnisse als in der Erschaffung ir-gendwelcher Wunder und Besonderheiten zu suchen sei, ist eine Be-hauptung, die besser zu dem niedrigen Begriffsvermögen der Herden-menschen paßt als zu den feurigen Träumen eines genialen Mannes. Der befürwortete negative Vorzug gehört zu den hinkenden Beurteilun-gen, die in der Literatur zum Beispiel einem Addison eine Apotheose bereiten würden. Ja, während jene Tüchtigkeit, die lediglich in der Ver-meidung von Fehlern besteht, sich direkt an unsre Einsicht wendet und daher durch Vorschriften umschrieben werden kann, ist die erhabenere Gabe, die in der Neuschöpfung flammt, allein in ihren Wirkungen zu begreifen. Regeln behandeln nur die Vorzüge der Vermeidung – den Wert der Enthaltsamkeit. Darüber hinaus kann die kritische Kunst nur mutmaßen. Man kann uns unterweisen, einen ›Cato‹ zu konstruieren, aber vergeblich wird man uns belehren, wie ein Parthenon oder ein ›In-ferno‹ zu schaffen sei. Ist aber die Sache getan, das Wunder vollendet, so ist es allgemeinverständlich. Die Sophisten der negativen Schule, die aus Unfähigkeit zum Schöpferischen solches Tun verspottet haben, sind nun die eifrigsten im Beifallspenden. Was im Larvenzustand seines Beginns ihren zahmen Verstand beleidigte, verfehlt nie, in seiner Reife der Vollendung ihrem Schönheitsinstinkt Bewunderung abzunötigen.
Gegen die Bemerkungen des Verfassers über den künstlichen Stil ist weniger zu sagen«, fuhr Ellison fort. »Die Beimischung reiner Kunst gibt einer Gartenszene eine große Schönheit. Das ist richtig, ebenso wie der Hinweis auf menschlichen Einfluß. Das angeführte Prinzip ist un-bestreitbar – es könnte aber darüber hinaus noch etwas geben. Es könnte ein auf diesem Grundsatz aufgebautes Ziel geben – ein mit den üblichen Mitteln des einzelnen unerreichbares Ziel, das aber, wenn es erreicht wird, dem Landschaftsgarten einen Reiz verleihen würde, der alles weit überträfe, was menschlicher Einfluß hervorzubringen imstan-de wäre. Ein Künstler mit ganz außergewöhnlichen Geldmitteln könnte, unter Beibehaltung des notwendigen Ideenteiles von Kunst oder Kultur oder, wie unser Autor sagt, von Einfluß, seine Pläne gleichzeitig so durch großzügige Anlage und neuartige Schönheit bereichern, daß man an die Einmischung von Feenhand glauben möchte. Man wird se-hen, daß er zu solchem Resultat alle Vorteile des Einflusses oder der Absicht heranzieht, während er doch sein Werk von der Schärfe oder den Kunstgriffen der irdischen Kunst befreit. Im finstersten Urwald – in den entlegensten Gebieten der Natur – ist die Kunst eines Schöpfers erkennbar; doch diese Kunst wird nur dem Verstande deutlich; in keiner Weise hat sie die einleuchtende Kraft des Gefühls. Nun wollen wir uns diesen Sinn in der Absicht des Allmächtigen nur einen Grad niedriger denken – irgendwie in Harmonie oder in Übereinstimmung gebracht mit dem Wesen der menschlichen Kunst – um ein Zwischenglied zwischen beiden zu bilden: stellen wir uns beispielsweise eine Landschaft vor, die durch Ausgedehntheit und Bestimmtheit, durch Schönheit, Pracht und Absonderlichkeit den Gedanken an Sorgfalt, Kultur und Pflege durch höhere und doch der Menschheit verwandte Wesen wachruft – dann ist der Begriff des Einflusses gewahrt, während die eingeflochtene Kunst zur Annahme einer vermittelnden oder zweiten Natur führt – einer Na-tur, die weder Gott noch eine Emanation Gottes, die aber dennoch Na-tur ist, als Kunstwerk der Engel, die zwischen den Menschen und Gott schweben.«
Ellison gedachte seinen ungeheuren Reichtum in der Verwirklichung einer derartigen Vision anzulegen – in der durch persönliche Überwac-hung seiner Anordnungen gebotenen Bewegung im Freien – in dem unbeschränkten Ziel, das diese Absichten boten, in dem vergeistigten Wesen dieses Ziels, in der Verachtung ehrgeizigen Strebens, die ihm dadurch ermöglicht wurde, in dem ewigen Lenz, mit dem dieses Ziel, ohne je zu übersättigen, seine Hauptleidenschaft, den Durst nach Schönheit, befriedigte; vor allem aber in der Sympathie eines nicht unweiblichen Weibes, dessen Lieblichkeit und Liebe sein Dasein mit der purpurnen Atmosphäre des Paradieses umgeben sollten; und er hoffte, Befreiung von den Alltagszielen der Menschheit zu finden, und er fand sie und eine weit größere Fülle positiven Glücks, als je in den überschwenglichen Wachträumen einer Staël glühte.
Ich bezweifle, daß ich in dem Leser eine irgendwie klare Vorstellung der Wunder vermitteln kann, die mein Freund tatsächlich schuf. Ich möchte beschreiben, fühle mich aber von der Schwierigkeit der Besch-reibung entmutigt und zögere zwischen Detaillierung und Verallgemei-nerung. Der beste Weg ist vielleicht der, die beiden Extreme zu vereini-gen.
Mr. Ellisons erster Schritt galt natürlich der Wahl einer Örtlichkeit, und kaum hatte er über diesen Punkt nachgedacht, als die üppige Naturp-racht der Südsee-Inseln seine Aufmerksamkeit fesselte. Ja, er hatte schon beschlossen, eine Reise in die Südsee anzutreten, als die Über-legung einer Nacht ihn veranlaßte, die Idee aufzugeben. »Wäre ich ein Menschenfeind,« sagte er, »so würde mir solch ein Ort gefallen. Die völlige Abgeschlossenheit und die Schwierigkeit des Hin- und Zurück-gelangens wäre in solchem Falle der Reiz aller Reize; noch aber bin ich nicht Timon. Ich wünsche die Erholung, aber nicht das Bedrückende der Einsamkeit. Ich muß in gewissem Sinne den Grad und die Dauer meiner Zurückgezogenheit bestimmen können. Es mögen Stunden kommen, in denen ich das, was ich geleistet habe, der Sympathie poe-tischer Geister vorführen will. Ich werde daher einen Ort wählen, der nicht weit von einer volkreichen Stadt liegt, deren Nähe mir auch die Durchführung meiner Pläne am besten ermöglicht.«
Auf der Suche nach einem solchen Ort reiste Ellison mehrere Jahre umher, und mir war es erlaubt, ihn zu begleiten. Wohl tausend Plätze, von denen ich entzückt war, verwarf er aus Gründen, deren Richtigkeit ich jedesmal anerkennen mußte. Wir kamen schließlich zu einem er-höhten Tafelland von wundervoller Fruchtbarkeit und Schönheit, das einen Rundblick bot, der dem des Ätna an Ausdehnung sehr wenig nachstand und nach Ellisons wie meiner Ansicht die weitberühmte Aus-sicht jenes Berges in allen wesentlichen Elementen des Malerischen überragte.
»Ich bin mir bewußt,« sagte der Reisende mit einem Seufzer tiefen Entzückens, nachdem er die Szene wohl eine Stunde lang bezaubert betrachtet hatte, »ich weiß, daß neun Zehntel der wählerischsten Män-ner an meiner Stelle hier befriedigt sein würden. Dieses Panorama ist in der Tat herrlich, und ich würde davon hingerissen sein, wenn es nicht übertrieben herrlich wäre. Der Geschmack aller mir bekannten Baumeister veranlaßt sie, der ›Aussicht‹ wegen, ihre Häuser auf eine Höhe zu stellen. Der Irrtum ist klar. Größe in jeder Form, besonders aber als Ausdehnung, bringt Überraschung, Erregung – und ermüdet dann, drückt nieder. Als gelegentliche Szene kann es nichts Besseres geben – zum dauernden Anblick nichts Schlimmeres. Und zum dau-ernden Anblick ist die unzulässigste Art der Größe die der Ausdehnung, des weiten Raumes. Sie steht mit dem Gefühl, dem Sinn für Zurück-gezogenheit auf dem Kriegsfuß – dem Sinn, den wir zu befriedigen suchen, wenn wir uns ›auf das Land zurückziehen‹. Wenn wir vom Gipfel eines Berges um uns blicken, so fühlen wir uns unwillkürlich ver-loren in der Welt. Die tief melancholischen Seelen meiden einen weiten Blick wie die Pest.«
Nicht vor Ende des vierten Jahres unsrer Suche fanden wir eine Ge-gend, mit der Ellison sich einverstanden erklärte. Es ist natürlich überflüssig, zu sagen, wo diese Gegend lag. Der kürzlich erfolgte Tod meines Freundes, der seine Besitzung für gewisse Kreise von Besuc-hern erschloß, hat Arnheim zu einer heimlichen und gedämpften, wenn nicht traurigen Berühmtheit verholfen, ähnlich – allerdings in unendlich höherem Grade – wie es mit dem so lang verehrten Fonthill gegangen ist.
Der übliche Weg nach Arnheim war der Fluß. Der Besucher verließ die Stadt am frühen Morgen. Im Laufe des Vormittags glitt er zwischen Ufern voll stiller, ländlicher Schönheit dahin, auf denen zahllose Schafe weideten, deren weißes Fell das strahlende Grün der vorüberziehen-den Wiesen sprenkelte. Nach und nach wirkte die Landschaft weniger bebaut, als lediglich mit Sorgfalt gepflegt. Das wandelte sich allmählich in Verlassenheit – diese wieder in völlige Abgeschiedenheit. Als der Abend kam, wurde das Flußbett enger, die Ufer erhoben sich steiler und waren mit üppigem, dunklem Laubwuchs bedeckt. Das Wasser wurde durchsichtig. Der Fluß machte tausend Windungen, so daß man seine schimmernde Fläche nur immer eine kurze Strecke weit übersc-hauen konnte. Jeden Augenblick war es, als befinde sich das Schiff in einem Zauberkreis aus undurchdringlichen Laubwänden, mit einer Decke von tiefblauer Seide und – keinem Boden, da der Kiel mit stau-nenswerter Geschicklichkeit auf dem eines andern gespenstischen Bo-otes zu balancieren schien, das, zufällig kieloben treibend, die bestän-dige Begleitung und gewissermaßen der Halt des wirklichen Bootes zu sein schien. Das Flußbett wurde jetzt zu einer Schlucht – diese Be-zeichnung ist allerdings etwas unangebracht, ich gebrauche sie nur, weil die Sprache kein Wort hat, das diesen auffälligsten Zug der Landschaft kennzeichnet. Der Charakter einer Schlucht wurde nur durch die Höhe und Gleichmäßigkeit beider Ufer gegeben; in allem an-dern war keine Ähnlichkeit zu spüren. Die Wände der Schlucht (durch die das Wasser weiter still dahinfloß) erreichten eine Höhe von hundert und gelegentlich hundertundfünfzig Fuß und neigten sich einander so weit zu, daß sie das Tageslicht wesentlich abdämpften, während das lange, flaumige Moos, das in dichten Büscheln vom verflochtenen Stra-uchwerk oben herniederhing, der ganzen Kluft eine trauernde Düster-keit verlieh. Die Windungen wurden häufiger und verworrener und schienen oft wieder nach rückwärts zu führen, so daß der Reisende längst nicht mehr die Richtung kannte. Überdies fühlte er mit Entzücken die Seltsamkeit seiner Umgebung. Freilich, Natur war es noch immer, aber sie war beeinflußt worden. Da war eine zauberhafte Symmetrie, eine packende Gleichmäßigkeit, eine märchenhafte Sauberkeit hier in ihren Werken. Nicht ein totes Zweiglein – nicht ein welkes Blatt – nicht ein verirrter Kiesel – nicht ein Fleckchen nackter Erde war zu sehen. Das kristallklare Wasser wellte an dem saubern Granit oder dem flec-kenlosen Moos in einer so ebenmäßigen Grenzlinie empor, daß es das Auge entzückte und bestürzte.
Hatte man die Irrgänge dieses Flußbettes einige Stunden lang durchzogen, während die Dämmerung immer mehr zunahm, so brach-te eine scharfe und plötzliche Wendung das Boot wie vom Himmel gefallen in ein rundes Becken von ansehnlichen Ausmaßen, mit denen der Schlucht verglichen. Es hatte etwa zweihundert Meter Durchmesser und war bis auf eine einzige Stelle, die dem Boot bei seinem Eintritt ge-nau gegenüberlag, von Hügeln eingefaßt, deren Höhe den Wänden der Schlucht entsprach, die aber ganz anders in der Anlage waren. Sie glit-ten in einem Winkel von etwa vierzig Grad zum Wasser herunter, und diese Hänge waren von unten bis oben – ohne den kleinsten Zwisc-henraum – mit den prächtigsten Blüten geschmückt; kaum ein grünes Blättchen war in dem Meer duftender Farben und flutender Blütenster-ne zu sehen. Das Becken war von großer Tiefe; das Wasser war aber so durchsichtig, daß der Boden, der aus einer dichten Menge kleiner, runder Alabasterkiesel zu bestehen schien, gelegentlich deutlich sicht-bar wurde, das heißt immer dann, wenn das Auge es fertig brachte, nicht tief unten im umgekehrten Himmel das verdoppelte Blühen der Hügel wahrzunehmen. Auf ihnen gab es weder Bäume noch Sträucher irgendwelcher Größe. Der Eindruck für den Beschauer war Fülle, Wärme, Farbe, Ruhe, Gleichmäßigkeit, Sanftheit, Zartheit, Vor-nehmheit, Üppigkeit und ein so wundervolles Übermaß von Pflege, daß man träumen mochte, das Geschlecht der Feen, der fleißigen, gesch-mackvollen, prunkliebenden und stolzen Feen sei auferstanden; wenn aber der Blick von der scharfen Wassergrenze des myriadengetönten Hanges zu seiner in niedrig ziehenden Wolken verschwimmenden Höhe schweifte, so war es wirklich schwer, nicht an einen stürzenden Wasserfall von Rubinen, Saphiren, Opalen und goldschimmernden Onyxen zu denken, der schweigend aus dem Himmel niederstürzte.
Der Besucher, der plötzlich aus dem Dämmer der Schlucht in diese Bucht herausgleitet, ist entzückt und überrascht, den vollen Ball der un-tergehenden Sonne zu erblicken, die er längst tief unter dem Horizont glaubte, die ihm nun aber gegenübersteht und den einzigen Abschluß eines andernfalls unbegrenzten Ausblicks durch einen andern schluch-tartigen Einschnitt in den Hügeln bildet.
Hier aber verläßt der Reisende das Schiff, das ihn soweit getragen hat, und besteigt ein leichtes Boot aus Elfenbein, das innen wie außen mit Arabesken in Scharlachrot geziert ist. Bug und Hinterteil des Bootes heben sich in scharfer Spitze hoch aus dem Wasser, so daß die Form des Ganzen ein unregelmäßiger Halbmond ist. Mit der stolzen Anmut des Schwanes wiegt es sich auf dem Spiegel der Bucht. Auf seinem hermelinbelegten Boden ruht ein einziges leichtes Ruder aus Atlasholz; doch kein Ruderer oder Begleiter ist zu sehen. Der Gast wird gebeten, sich vertrauensvoll darauf zu verlassen, daß das Schicksal ihn behüten wird. Der größere Kahn verschwindet, und er bleibt allein in dem Boot zurück, das anscheinend unbeweglich mitten im See liegt. Während er überlegt, welchen Kurs er nehmen soll, spürt er jedoch, daß das Feen-boot sich sacht bewegt. Es schwingt sich langsam herum, bis sein Bug zur Sonne weist.
Es bewegt sich mit sanfter, aber zunehmender Schnelligkeit voran, und das leichte Wellenkräuseln umtanzt die elfenbeinernen Bo-otswände wie mit himmlischen Melodien – und gibt jedenfalls die einzi-ge Erklärung für die schmeichelnde, doch schwermütige Musik, nach deren unsichtbarem Ursprung der bestürzte Reisende vergeblich um sich blickt.
Das Boot rückt stetig voran, und das Felsentor der Durchsicht rückt näher, so daß man deutlicher in seine Tiefen spähen kann. Rechts er-hebt sich eine Kette wild und üppig bewaldeter Höhen. Immer aber kann man sehen, daß die köstliche Sauberkeit des Ufers dort, wo es ins Wasser taucht, gewahrt bleibt. Nicht ein Zeichen des an Flußufern sonst üblichen Verfalls ist wahrzunehmen. Nach links ist die Szene sanfter, und das Künstliche ist stärker betont. Hier schwingt sich das Ufer in sehr sanfter Steigung vom Fluß empor und bildet eine breite Rasenfläche, die nur mit Samt zu vergleichen ist und ein so strahlendes Grün aufweist, daß es mit dem reinsten Smaragd wetteifert. Dieses »Plateau« hat eine wechselnde Breite von zehn zu dreihundert Metern und reicht vom Ufer bis zu einer Mauer, die in unzähligen Kurven da-hinzieht, im allgemeinen aber dem Flußlauf folgt, bis sie sich nach Westen in der Ferne verliert. Diese Mauer besteht aus einem zusam-menhängenden Fels und ist dadurch entstanden, daß man den einst zerklüfteten Hang des südlichen Flußufers senkrecht abschnitt; doch nicht die kleinste Spur dieser Arbeit ist mehr zu sehen. Der gemischte Stein ist altersgrau und ist verschwenderisch mit Efeu, korallenrotem Geisblatt, der wilden Rose und Klematis behangen und umwuchert. Die Gleichmäßigkeit der obern und untern Abschlußlinie der Mauer wird durch Bäume von gigantischer Größe erreicht, die vereinzelt oder in Gruppen auf dem »Plateau« oder im Bereich hinter der Mauer, aber immer dicht neben ihr stehen, so daß zuweilen die Äste (besonders je-ne der schwarzen Walnuß) herübergreifen und ihre hängenden Spitzen ins Wasser tauchen. Weiter hinten ist das eingeschlossene Besitztum von undurchdringlichem Laubwerk verhüllt.
Diese Dinge bemerkt man, während das Boot der Stelle immer näher kommt, die ich das Tor der Durchsicht genannt habe. Je mehr man sich ihm nähert, desto mehr verschwindet das Zauberhafte daran; nach links öffnet sich ein neuer Abfluß aus der Bucht, und in dieselbe Rich-tung scheint auch die Mauer sich zu ziehen, die immer noch den Flußlauf begleitet. Weit kann das Auge nicht in diese neue Flucht hi-nunterspähen, denn das von der Mauer begleitete Wasser biegt wiede-rum nach links ab, bis beide im Laubdach verschwinden.
Das Boot aber gleitet wie durch Zauberkraft in das gewundene Flußbett, und hier zeigt das der Mauer gegenüberliegende Ufer Ähn-lichkeit mit dem vorhin beschriebenen Ufer. Hohe Hügel, die sich gele-gentlich zu Bergen erheben und eine üppige, wilde Vegetation tragen, schließen die Szene ein.
Das Boot gleitet sanft, aber mit zunehmender Geschwindigkeit dahin, bis nach vielen kurzen Drehungen der Reisende seinen Weg von ei-nem gigantischen Tor oder vielmehr einer vergoldeten, überreich ver-zierten Tür gehemmt sieht, die den vollen Strahlen der jetzt schnell sin-kenden Sonne ein so glänzender Spiegel ist, daß der ganze umliegen-de Wald in Flammen zu stehen scheint. Dieses Tor ist in die hohe Ma-uer eingelassen, die den Fluß hier scheinbar rechtwinklig kreuzt. Nach kurzer Zeit allerdings sieht man, daß der Hauptstrom des Wassers noch immer in sanftem und gedehntem Bogen nach links gleitet, wie zuvor der Mauer folgend, während eine nicht unbeträchtliche Strömung sich von dem Hauptarm abzweigt und leise kräuselnd unter dem Tor den Blicken entschwindet. Das Boot fällt in den kleinen Kanal und nähert sich dem Tor. Seine weitausladenden Flügel dehnen sich lang-sam und sanft erklingend. Das Boot gleitet hindurch und fliegt eilig ei-nem ungeheuren Amphitheater zu, das vollständig von purpurnen Ber-gen umschlossen ist, deren Füße ein schimmernder Fluß umspült. Und nun zeigt sich den Blicken urplötzlich dieses ganze Paradies Arnheim. Eine bezaubernde Melodie rauscht auf; ein seltsam süßes Duften umschmeichelt die Sinne, – und traumgleich erstehen vor dem Auge hohe, schlanke Zypressen, laubenartiges Gesträuch, Scharen goldener und scharlachroter Vögel, lilienumsäumte Teiche, Wiesen voller Veilc-hen, Tulpen, Mohn, Hyazinthen und Tuberosen, lange, gewundene, silberne Wasserläufe und mitten aus alledem phantastisch emporstre-bend ein halb gotisches, halb maurisches Bauwerk, das wie durch Wunderkraft frei in der Luft zu schweben scheint, im roten Sonnenglanz mit hundert Erkern, Minaretten und Zinnen erglitzert und vermuten läßt, es sei ein Geisterwerk der Sylphen, der Feen, der Genien und Gno-men.