Edgar Allan Poe
Geschichten von Schönheit, Liebe und Wiederkunft
Herausgegeben von Theodor Etzel
Selbstverständlich finde ich es ganz natürlich, daß der seltsame Fall des Herrn Waldemar viel erörtert worden ist. Es wäre ein Wunder, wenn es anders gewesen wäre, besonders unter den vorliegenden Umständen. Infolge des Wunsches aller Beteiligten, die Sache vor der Öffentlichkeit wenigstens so lange geheim zu halten, bis uns Gelegen-heit zur weiteren Nachforschung gegeben war, und durch unsere Bemühungen, dies zu erreichen, drangen entstellte und übertriebene Gerüchte ins Volk und wurden die Quelle unangenehmer Mißdeutun-gen und selbstredend auch starker Ungläubigkeit. Es ist nun also notwendig, daß ich die Tatsachen berichte – soweit ich sie selbst beg-reife. Sie seien hier kurz zusammengefaßt.
Während der letzten drei Jahre war mein Interesse mehrfach auf den Mesmerismus hingelenkt worden, und vor neun Monaten etwa fiel es mir ganz plötzlich auf, daß die Reihe der bisher gemachten Experimen-te eine sehr auffallende und unverantwortliche Lücke aufwies: – man hatte noch keinen Sterbenden hypnotisiert! Zunächst blieb zu beobach-ten, ob ein solcher Patient für magnetische Einwirkungen besonders empfänglich war; ferner, ob die Empfänglichkeit in solchem Zustand, falls sie vorhanden, stärker oder schwächer war als sonst; und drittens, in welchem Grade oder für welche Zeitdauer sich der Tod hinausschieben lassen konnte. Noch andere Punkte galt es auf-zuklären, doch jene vor allem reizten meine Neugier – und ganz be-sonders der dritte Punkt erschien mir äußerst bedeutungsvoll.
Auf der Suche nach einer Persönlichkeit, mit deren Hilfe ich diese Fragen lösen könnte, fiel mir mein Freund Herr Ernst Waldemar ein, der bekannte Bibliothekar der »Bibliotheca Forensica« und (unter dem Pseudonym Issachar Marx) Verfasser der polnischen Ausgaben des »Wallenstein« und des »Gargantua«. Herr Waldemar, der hauptsäch-lich in Harlem gelebt hatte und sich seit 1839 in Neuyork aufhielt, war besonders auffallend durch seine unerhörte Magerkeit und durch die weiße Farbe seines Backenbartes, der mit dem schwarzen Haupthaar seltsam kontrastierte, so daß man oft glauben mochte, er trage eine Perücke. Er war sehr reizbar und eignete sich daher für mesmeristisc-he Versuche vortrefflich. Zwei- oder dreimal war es mir ohne Schwie-rigkeit gelungen, ihn in Schlaf zu versetzen, doch andere Erwartungen, die seine sonderbare Konstitution in mir erweckt hatte, erfüllten sich nicht. Sein Wille war niemals dem meinigen vollkommen unterworfen, und in bezug auf »Hellsehen« konnte ich mit ihm nichts Zuverlässiges erreichen. Meinen Mißerfolg in dieser Hinsicht schrieb ich immer seiner zerrütteten Gesundheit zu; denn einige Monate, ehe ich mit ihm be-kannt wurde, hatten seine Ärzte ihn für unrettbar schwindsüchtig erk-lärt. Es war übrigens seine Gewohnheit, von seiner bevorstehenden Auflösung als von einer unvermeidlichen Tatsache, die nicht bedauert werden sollte, zu sprechen.
Als jene Gedanken sich mir zum ersten Male aufdrängten, war es al-so ganz natürlich, daß ich an Herrn Waldemar dachte. Ich kannte die ruhevolle Philosophie dieses Mannes zu gut, als daß ich seinerseits ir-gendwelche Bedenken vermutet hätte; und er hatte in Amerika keine Angehörigen, die Einspruch hätten erheben können. Ich sprach mit ihm ganz offen über die Sache, und zu meiner Verwunderung zeigte er leb-haftes Interesse. Ich sage zu meiner Verwunderung, denn obgleich er sich meinen Experimenten stets willig gefügt hatte, so hatte er ihnen doch niemals besondere Sympathie entgegengebracht. Die Art seines Leidens gestattete es, seine Todesstunde ziemlich genau vorauszusa-gen, und es wurde also zwischen uns vereinbart, daß er etwa vie-rundzwanzig Stunden vor der ihm von den Ärzten bezeichneten Ster-bestunde mich zu sich rufen lassen würde.
Es sind jetzt mehr als sieben Monate her, seit ich von Herrn Walde-mars eigener Hand folgende Zeilen erhielt:
Mein lieber P.!
Sie können nun also kommen. D. und F. haben festgestellt, daß ich nicht lange mehr mitmache – nur noch bis morgen Mitternacht; und ich glaube, sie haben den Zeitpunkt ziemlich richtig angegeben.
Waldemar.
Ich erhielt diese Mitteilung eine halbe Stunde, nachdem sie geschrie-ben war, und fünfzehn Minuten später befand ich mich im Zimmer des Sterbenden. Ich hatte ihn seit zehn Tagen nicht gesehen und war ent-setzt über die furchtbare Veränderung, die in dieser kurzen Zeit mit ihm vorgegangen war. Sein Antlitz war bleifarben, die Augen blickten stumpf und vollkommen glanzlos, und die Abmagerung hatte so große Fortschritte gemacht, daß die Haut von den Backenknochen durch-bohrt worden war. Sein Schleimauswurf war unerhört stark, der Puls kaum wahrnehmbar. Trotz alledem schien er im vollkommenen Besitz seiner Geisteskräfte und war auch körperlich nicht so schwach, wie man hätte annehmen sollen. Er sprach sehr deutlich, nahm ohne jede Hilfe einige lindernde Arzeneien zu sich und war, als ich ins Zimmer trat, damit beschäftigt, in sein Notizbuch Aufzeichnungen zu machen. Er saß, von Kissen gestützt, aufrecht im Bett. Die Doktoren D. und F. waren anwesend.
Nachdem ich Waldemar die Hand gedrückt, nahm ich die Herren bei-seite und empfing von ihnen über den Zustand des Patienten ein-gehenden Bericht. Der linke Lungenflügel war seit achtzehn Monaten vollkommen verknorpelt und ganz unbrauchbar. Die obere Hälfte des rechten Lungenflügels war ebenfalls teilweise, wenn nicht sogar ganz verknöchert, während die untere Hälfte bereits in Eiterung über-zugehen begann. Mehrere umfangreiche Durchbrüche waren vorhan-den, und einige Rippen waren ebenfalls von Eiterung ergriffen. Diese Erscheinungen im rechten Lungenflügel waren verhältnismäßig neu-eren Datums. Die Verknöcherung hatte mit ganz ungewöhnlicher Sch-nelligkeit um sich gegriffen, und die Rippeneiterung hatte man erst in den letzten drei Tagen wahrgenommen. Unabhängig von der Schwind-sucht vermutete man bei dem Kranken eine Geschwulst an der Pulsa-der, doch machte die Lungenverknöcherung eine genaue Diagnose in dieser Hinsicht unmöglich. Es war die Ansicht beider Ärzte, daß Herr Waldemar gegen Mitternacht des folgenden Tages (eines Sonntages) sterben werde. Jetzt war es Samstag sieben Uhr abends.
Bevor die Doktoren D. und F. sich zu mir wendeten, um mir den Zus-tand ihres Patienten zu schildern, hatten sie diesem ein letztes Le-bewohl geboten. Es hatte nicht in ihrer Absicht gelegen, wiederzukom-men, auf mein Ersuchen jedoch erklärten sie sich bereit, gegen zehn Uhr am folgenden Abend noch einmal nach dem Kranken zu sehen.
Als sie gegangen waren, sprach ich mit Herrn Waldemar ganz offen über seine bevorstehende Auflösung und vor allem sehr eingehend über das beabsichtigte Experiment. Er zeigte sich noch immer ganz wil-lig, ja sogar begierig und bat mich, sogleich zu beginnen. Ein Pfleger und eine Pflegerin waren anwesend, aber ich fühlte mich nicht ganz be-rechtigt, mich einer so bedeutungsvollen Aufgabe zu unterziehen, ohne daß für den Fall eines unerwarteten Ereignisses zuverlässigere Zeugen zugegen waren als diese beiden Leute. Ich verschob daher meine Maßnahmen bis zum anderen Abend gegen acht Uhr, wo das Eintref-fen eines Studenten der Medizin, des Herrn Theodor L . . . l, zu dem ich einige Beziehungen hatte, mich weiterer Befürchtungen enthob. Ursprünglich war es meine Absicht gewesen, auf die Ärzte zu warten, doch ich war gezwungen, anzufangen, erstens infolge der dringenden Bitten Waldemars und zweitens infolge meiner Überzeugung, daß nicht eine Minute zu verlieren sei, denn es ging ersichtlich zu Ende mit ihm.
Herr L . . . l war so gütig, meinem Ersuchen, den Vorgang schriftlich festzuhalten, willig nachzukommen; und das, was ich jetzt berichte, ist zum großen Teile eine gedrängte oder wörtliche Wiedergabe seiner Aufzeichnungen.
Es war etwa fünf Minuten vor acht, als ich den Patienten bei der Hand nahm und ihn bat, Herrn L . . . l so klar als möglich anzugeben, ob er, Herr Waldemar, durchaus gewillt sei, daß ich in seinem gegenwärtigen Zustande den Mesmerismus bei ihm anwende.
Er antwortete mit schwacher, aber verständlicher Stimme: »Ja, ich wünsche hypnotisiert zu werden« – und fügte gleich darauf hinzu: »Ich fürchte, Sie haben es schon zu lange hinausgeschoben.« Während er noch sprach, begann ich mit dem Streichen; ich zog die Striche, die ich bereits früher am wirksamsten bei ihm angewendet hatte. Schon als ich meine Hand zum erstenmal seitwärts über seine Stirne zog, erzielte ich eine gewisse Wirkung; doch obgleich ich meine ganze Macht erschö-pfte, war bis einige Minuten nach zehn, als die Doktoren D. und F. vorsprachen, kein bemerkenswerter Erfolg zu verzeichnen gewesen. Ich erklärte den Ärzten in kurzen Worten mein Vorhaben, und da sie nichts dagegen einzuwenden hatten, weil der Kranke schon in Agonie lag, so setzte ich meine Versuche unverzüglich fort. Statt der seitlichen Striche machte ich jedoch jetzt solche von oben nach unten und kon-zentrierte meinen Blick auf das rechte Auge des Leidenden. Sein Puls war kaum wahrnehmbar; er atmete röchelnd und in Intervallen von ei-ner halben Minute.
Eine Viertelstunde lang blieb sein Zustand unverändert. Nach Ablauf dieser Frist jedoch entrang sich der Brust des Sterbenden ein tiefer Seufzer, und das Röcheln war nicht mehr zu vernehmen; die Atmung-sintervalle blieben dieselben. Die Gliedmaßen des Patienten waren von eisiger Kälte.
Fünf Minuten vor elf ließen sich unwiderlegliche Anzeichen mesmeris-tischer Einwirkung bemerken. Der glasige Ausdruck des rollenden Au-ges verwandelte sich in den Ausdruck nach innen gekehrten Sinnens und Suchens, wie er nur bei Somnambulen zu finden ist. Mit ein paar schnellen Querstrichen brachte ich die Augenlider zum Beben, und nach einigen weiteren Strichen schlossen sie sich ganz. Dieser Erfolg genügte mir aber nicht, ich fuhr vielmehr eifrig und mit äußerster Wil-lensanstrengung so lange fort, bis die Glieder des Schläfers, die ich zunächst in eine bequeme Lage gebracht hatte, vollständig steif geworden waren. Die Beine waren lang ausgestreckt; die Arme lagen ebenfalls fast gestreckt; der Kopf ruhte leicht erhöht in den Kissen.
Als dies geschehen war, war es genau Mitternacht, und ich ersuchte die anwesenden Herren, den Zustand Herrn Waldemars zu prüfen. Nach kurzer Untersuchung erklärten sie, daß er sich in ungemein tiefer Trance befinde. Die Neugier beider Ärzte war in höchstem Grade geweckt, Dr. D. beschloß sofort, die ganze Nacht bei dem Patienten zu verbringen, während Dr. F. sich mit dem Versprechen verabschiedete, bei Tagesanbruch wiederzukommen. Herr L . . . l und der Pfleger und die Pflegerin blieben auch da.
Wir ließen nun Herrn Waldemar bis gegen drei Uhr morgens unges-tört; dann trat ich zu ihm und fand ihn in derselben Verfassung wie zur Zeit, als Dr. F. fortgegangen war – das will sagen, sein Zustand war unverändert: der Puls kaum fühlbar, der Atem nur mit Hilfe eines dem Kranken vor den Mund gehaltenen Spiegels bemerkbar, die Augen wie im Schlaf geschlossen, die Glieder hart und kalt wie Marmor. Dennoch bot er nicht den Anblick eines Toten.
Als ich mich Herrn Waldemar näherte, machte ich den schwachen Versuch, seinen rechten Arm der Führung des meinigen zu unterwer-fen. Ich hatte bisher in solchen Experimenten bei diesem Patienten kein Glück gehabt, und so hatte ich auch jetzt wenig Hoffnung auf Erfolg. Zu meinem großen Erstaunen aber folgte sein Arm sofort willig, wenn auch sehr matt, jeder Richtung, die mein Arm ihm vorschrieb. Ich beschloß, ein Gespräch zu wagen.
»Herr Waldemar,« sagte ich, »schlafen Sie?« Er gab keine Antwort, doch ich bemerkte ein Zittern um seinen Mund und wurde dadurch ve-ranlaßt, meine Frage ein zweites und drittes Mal zu wiederholen. Als ich sie zum dritten Male stellte, wurde seine ganze Gestalt von einem leichten Schauer befallen: die Augenlider öffneten sich so weit, daß sie ein wenig den weißen Augapfel enthüllten, die Lippen regten sich träge, und in kaum hörbarem Flüstern entrangen sich ihnen die Worte:
»Ja – schlafe jetzt. Wecken Sie mich nicht! – Lassen Sie mich so sterben!«
Ich befühlte seine Gliedmaßen; sie waren so eiskalt wie immer. Der rechte Arm gehorchte wie vorher der Führung meiner Hand. Ich fragte den Magnetisierten von neuem:
»Fühlen Sie noch Schmerzen in der Brust, Herr Waldemar?«
»Keine Schmerzen – ich sterbe.«
Ich hielt es nicht für ratsam, ihn gerade jetzt noch weiter zu stören, und bis zur Ankunft des Dr. F. wurde nichts mehr gesprochen; dieser traf kurz vor Sonnenaufgang ein und bekundete grenzenloses Erstau-nen, den Patienten noch am Leben zu sehen. Nachdem er ihm den Puls gefühlt und einen Spiegel an die Lippen gehalten hatte, ersuchte er mich, den Schlafwachenden nochmals anzureden. Ich folgte der Auf-forderung und sagte:
»Herr Waldemar, schlafen Sie noch?«
Wie vordem vergingen einige Minuten, ehe eine Antwort erfolgte; während dieser Zeit schien der Sterbende seine Energie zu sammeln. Bei der vierten Wiederholung der Frage sagte er sehr schwach, fast unhörbar:
»Ja, schlafe noch – sterbe.«
Es war jetzt die Ansicht oder vielmehr der Wunsch der Ärzte, daß Herr Waldemar in seinem gegenwärtigen, anscheinend ruhevollen Zus-tand belassen werden solle, bis der Tod obsiege; und das – darin stimmte man überein – müsse nun in wenigen Minuten erfolgen. Ich beschloß jedoch, noch einmal zu ihm zu sprechen, und wiederholte einfach meine vorige Frage.
Während ich sprach, ging mit dem Antlitz des Kranken eine seltsame Veränderung vor. Die Augen öffneten sich langsam, die Pupillen dreh-ten sich so weit nach aufwärts, bis sie ganz unsichtbar waren; die Haut wurde leichenfarben und glich nun weniger dem Pergament als weißem Papier; und die kreisrunden hektischen Flecke, die sich auf je-der Wange streng abzeichneten, erloschen mit einem Male. Ich gebra-uche diesen Ausdruck, weil die Plötzlichkeit ihres Verschwindens mich an nichts so sehr erinnerte wie an das plötzliche Erlöschen einer Ker-zenflamme, die man ausbläst. Gleichzeitig kräuselte sich die Oberlippe, die bisher die Zähne bedeckt hatte, stark aufwärts, während die untere Kinnlade mit hörbarem Ruck herunterklappte und den Mund weit offen zeigte, in dessen Mitte die geschwollene und schwarz gewordene Zun-ge voll zu sehen war.
Ich vermute, daß keinem der Anwesenden die Schrecken des Toten-bettes fremd waren, aber Herr Waldemar bot in diesem Augenblick ei-nen so entsetzlichen Anblick, daß alle aus der Nähe des Bettes zu-rückwichen.
Ich fühle jetzt, daß ich in meiner Erzählung einen Punkt erreicht habe, bei dem sich jeder Leser ungläubig abwendet. Dessenungeachtet ist es meine Pflicht, fortzufahren.
An Herrn Waldemar war nicht das geringste Lebenszeichen mehr zu bemerken, und da wir annahmen, daß er tot sei, wollten wir ihn der Obhut der Pflegeleute überlassen, als seine Zunge von einer heftigen Vibration ergriffen wurde. Diese hielt wohl eine Minute lang an. Nach Ablauf dieser Zeit tönte zwischen den weitgeöffneten und regungslosen Kinnladen eine Stimme hervor – es wäre Wahnsinn, sie beschreiben zu wollen. Es gibt wohl zwei oder drei Vergleiche, die man hier anwenden könnte; ich könnte z. B. sagen, daß der Laut heiser und gebrochen und hohl klang; aber die Fürchterlichkeit des Ganzen ist unbeschreiblich, aus dem einfachen Grunde, weil niemals menschliche Ohren ähnliche Laute vernommen haben. Dennoch waren da zwei Besonderheiten, die, wie ich damals meinte – und auch heute noch denke – als charak-teristisch für den Klang angeführt werden können. Erstens schien die Stimme an unsere Ohren – an meine wenigstens – aus weiter Ferne zu dringen oder aus einer tiefen Höhle, aus dem Erdinnern. Zweitens (ich fürchte in der Tat, daß es mir unmöglich sein wird, mich verständlich zu machen) – zweitens empfand mein Gehörsinn diese Laute so, wie etwa der Gefühlsinn gallertartige oder klebrige Dinge empfindet.
Ich sprach sowohl von »Laut« als von »Stimme«. Ich will damit sagen, daß der Laut von klarer, von wundersam ergreifender Deutlichkeit der Worte war. Herr Waldemar sprach – und vermutlich in Erwiderung der Frage, die ich ihm ein paar Minuten vorher gestellt hatte. Man wird sich erinnern, daß ich ihn gefragt hatte, ob er noch schlafe. Er sagte jetzt: »Ja – nein – ich habe geschlafen – und jetzt – jetzt – bin ich tot.«
Keiner der Anwesenden machte auch nur den Versuch, das unerhör-te, schaudernde Entsetzen zu verbergen, das diese paar so fürchterlich gesprochenen Worte ihm eingeflößt hatten. Herr L . . . l, der Student, wurde ohnmächtig. Die Pflegeleute verließen sofort das Zimmer und konnten nicht zur Rückkehr veranlaßt werden. Meine eigenen Empfin-dungen darf ich gar nicht versuchen dem Leser nahe zu bringen. Fast eine Stunde lang bemühten wir uns schweigend – vollkommen schwei-gend –, Herrn L . . . l ins Leben zurückzurufen. Als er wieder zu sich gekommen war, befaßten wir uns von neuem mit der Untersuchung von Herrn Waldemars Zustand.
Er blieb in jeder Hinsicht genau so, wie ich ihn zuletzt beschrieben habe, ausgenommen, daß der Spiegel keine Atmung mehr erkennen ließ. Ein Versuch, aus dem Arm Blut zu ziehen, schlug fehl. Ich muß ferner erwähnen, daß dies Glied meinem Willen nicht mehr unterworfen war. Der einzige wirkliche Beweis mesmeristischer Einwirkung war nurmehr in der Vibration der Zunge zu erkennen, sobald ich an Herrn Waldemar eine Frage stellte. Er schien jedesmal eine Anstrengung zu machen, um zu antworten, hatte aber nicht mehr genug Willenskraft. Für Fragen, die irgendeine andere Person an ihn richtete, schien er durchaus unempfänglich – obgleich ich mich bemühte, einen jeden aus der Versammlung in mesmeristischen Rapport mit ihm zu setzen.
Ich glaube, ich habe nun alles erzählt, was zum Verständnis für des Schlafwachenden damaligen Zustand notwendig ist. Anderes Pflege-personal wurde beschafft, und um zehn Uhr verließ ich das Haus, in Begleitung der beiden Ärzte und des Herrn L . . . l.
Am Nachmittag gingen wir alle wieder hin, um den Patienten zu se-hen. Sein Befinden war vollkommen unverändert. Wir hatten nun eine Besprechung darüber, ob es richtig und tunlich sei, ihn aufzuwecken; aber es wurde uns nicht schwer, dahin übereinzukommen, daß ein solches Vorgehen nichts Gutes fördern könne. Es war offensichtlich, daß bis jetzt der Tod (oder was man gewöhnlich Tod nennt) durch das mesmeristische Verfahren aufgehalten worden war. Es schien uns allen klar, daß ein Aufwecken Herrn Waldemars lediglich dessen augenblick-liche oder zum mindesten sehr schnelle Auflösung zur Folge haben werde.
Seit damals bis Ende letzter Woche – eine Zeitdauer von fast sieben Monaten – fuhren wir fort, täglich bei Herrn Waldemar nachzusehen, manchmal auch in Begleitung von Medizinern oder anderen Freunden. Diese ganze Zeit über verblieb der Schlafwachende in genau dem Zus-tande, wie ich ihn vorhin geschildert habe. Die Pfleger widmeten ihm beständige Aufmerksamkeit.
Es war am letzten Freitag, als wir schließlich beschlossen, den Ver-such zu machen, ihn zu erwecken; und es ist vermutlich der unglücklic-he Ausgang dieses Experimentes, das in Laienkreisen zu so vielen Erörterungen Anlaß gab, die ich nur als ungerechtfertigt bezeichnen kann.
Um Herrn Waldemar aus der Trance zu erwecken, brachte ich die üb-lichen Striche zur Anwendung. Diese waren eine Zeitlang erfolglos. Das erste Anzeichen von Wiederbelebung bot sich in einer teilweisen He-rabsenkung der Iris. Als besonders bemerkenswert wurde festgestellt, daß diese Senkung der Pupille begleitet war von dem heftigen Ausfluß eines gelblichen Blutwassers, das unter den Lidern hervorlief und von sehr üblem Geruch war.
Es wurde nun angeregt, daß ich versuchen solle, wie früher den Arm des Patienten mir gehorsam zu machen. Ich machte den Versuch, und er mißlang. Dr. F. äußerte dann den Wunsch, ich solle eine Frage stel-len. Ich tat dies wie folgt:
»Herr Waldemar, können Sie uns klarmachen, was Sie jetzt fühlen oder wünschen?«
Sofort kehrten die hektischen Wangenflecke zurück, die Zunge zuckte, oder besser, sie rollte heftig im Munde hin und her (obgleich Kinnladen und Mund wie vorher weit aufgerissen blieben), und sch-ließlich stürzte dieselbe grauenhafte Stimme hervor, die ich bereits beschrieben habe:
»Um Gottes willen – schnell – schnell – bringen Sie mich wieder in Schlaf – oder, schnell – erwecken Sie mich – schnell –. Ich sage Ihnen, ich bin tot.«
Ich war so furchtbar entsetzt, daß ich einen Moment lang nicht wußte, was beginnen. Zuerst machte ich den Versuch, den Patienten wieder zu beruhigen; da mir das aber infolge mangelnder Energie vollständig mißlang, änderte ich meine Maßnahmen und bemühte mich ebenso eifrig, ihn zu erwecken. Ich sah bald, daß ich hierin Erfolg haben würde – oder wenigstens bildete ich mir ein, ein günstiges Resultat erzielen zu können; und ich bin gewiß, daß alle Anwesenden darauf vorbereitet waren, den Patienten erwachen zu sehen. Denn auf das, was sich wirk-lich ereignete, konnte unmöglich irgendein menschliches Wesen vorbe-reitet sein.
Während ich heftig die mesmeristischen Striche ausführte, inmitten der heulenden Rufe »tot – tot«, die geradezu der Zunge – nicht den Lippen – des Leidenden ohne Pause entquollen, geschah es, daß sei-ne ganze Gestalt urplötzlich – innerhalb einer einzigen Minute – zusammenschrumpfte – zerfiel – unter meinen Händen hinwegfaulte. Auf dem Bett vor uns lag eine ekelhafte, stinkende Masse.