Edgar Allan Poe
Verbrechergeschichten
Herausgegeben von Theodor Etzel
Bei Feststellung der Eigenschaften und Impulse – der prima mobilia der menschlichen Seele – haben die Psychologen eine uns eingeborene Eigenschaft immer wieder übersehen – ein Gefühl, das unserer Seele von Urbeginn unwandelbar und ewig mitgegeben ist. Wir haben sein Vorhandensein unsern Sinnen entgehen lassen – aus Mangel an Glau-ben, an Gewissenhaftigkeit; wir haben weder die Offenbarung noch die Philosophie tief genug genommen und jene Eigenschaft nur darum übersehen, weil sie so überragend und dabei so wesenlos ist. Wir sa-hen keine Notwendigkeit für den Impuls – für diesen Hang. Wir konnten es nicht begreifen, vielmehr, wir hätten es nicht begreifen können, wenn der Begriff dieses »primum mobile« sich uns jemals aufgedrängt hätte, wir hätten nicht begreifen können, wieso er geschaffen sei, die Ziele der Menschheit – seien es irdische oder ewige – zu fördern. Es kann nicht geleugnet werden, daß die Psychologie und alles in allem auch die Metaphysik sich »a priori« entwickelt haben. Der intellektuelle oder logische Mensch, mehr noch als der erfahrene und beobachten-de, unternimmt es, Ziele, Gründe zu suchen – Gottes Absichten mit der Menschheit. Hat er so zu seiner Zufriedenheit die Absichten Jehovas sondiert, so erbaut er auf diesen Absichten seine zahllosen Systeme der Vernunft. In der vergleichenden Psychologie z. B. schlossen wir zunächst – natürlich genug –, daß die Nahrungsaufnahme des Mensc-hen göttlicher Wille sei. Wir wiesen daraufhin dem Menschen einen Ernährungstrieb zu, und dieser Trieb ist die Geißel, mit Hilfe deren die Gottheit den Menschen, er mag wollen oder nicht, zum Essen zwingt. Zweitens stellten wir fest, es sei Gottes Wille, daß der Mensch sein Geschlecht vermehre, und sogleich entdeckten wir einen Liebestrieb; und so machten wir’s weiter mit dem Widerspruchsgeist, mit der Idea-lität, der Kausalität – kurz so machten wir’s mit jeder Eigenschaft, mochte sie nun einen seelischen Trieb, ein moralisches Empfinden oder eine Fähigkeit des reinen Intellekts vorstellen. Und bei dieser Aufstellung der principia menschlichen Handelns sind die Spurzheimi-ten (ob nun mit Recht oder Unrecht) lediglich in die Fußtapfen ihrer Vorgänger getreten, indem sie alles von der vorgefaßten Bestimmung des Menschen ableiteten und auf feste Absichten des Schöpfers zu-rückführten.
Es wäre weiser, es wäre sicherer gewesen, solche Klassifizierung (wenn wir denn überhaupt klassifizieren müssen) auf der Basis dessen aufzubauen, was Menschen gewöhnlich oder gelegentlich taten und immer gelegentlich getan hatten, als auf dem, was wir für die ausge-machte Absicht Gottes mit der Menschheit annahmen. Wenn wir Gott in seinen sichtbaren Werken nicht begreifen können, wie denn in seinen unfaßbaren Gedanken, die die Werke ins Leben rufen? Wenn wir ihn in seinen körperlichen Schöpfungen nicht erfassen können, wie denn in seinen unkörperlichen Stimmungen und Schöpfungsphasen?
Durch Induktion a posteriori hätte die Psychologie dahin kommen müssen, eine eingeborene und urewige Triebfeder menschlichen Han-delns aufzudecken: ein paradoxes Etwas, das wir, aus Mangel an einer treffenderen Bezeichnung, »Verkehrtheit« nennen wollen. Ich möchte sagen, es ist eine Bewegung ohne Beweggrund, ein Anreiz ohne er-sichtlichen Zweck, oder wenn diese Bezeichnung widersinnig erscheint, wollen wir die Behauptung so weit modifizieren, zu sagen: wir folgen dem Anreiz, weil wir ihm nicht folgen sollten. Der Theorie nach kann wohl kein Grund unvernünftiger sein, den Tatsachen nach gibt es kei-nen stärkeren. In gewissem Sinne, unter gewissen Umständen wirkt er ganz unwiderstehlich. Ich weiß nicht gewisser, daß ich atme, als ich weiß, daß die Gewißheit, ein Unrecht, einen Fehler zu begehen, oft die eine unwiderstehliche Macht ist, die allein unser Handeln bestimmt; auch läßt diese unwiderstehliche Neigung, um des Unrechts willen un-recht zu tun, keine Analyse oder Auflösung in andere Elemente zu. Es ist ein eingewurzelter, urewiger – ein elementarer Hang. Ich weiß, man wird sagen, das Begehen einer Handlung, weil wir fühlen, wir sollten sie nicht begehen, ist nichts als eine Abart dessen, was die Psycholo-gie Widerspruchsgeist nennt. Ein Blick aber wird die Unrichtigkeit dieser Annahme zeigen. Der psychologische Widerspruchsgeist entspringt in erster Linie der Selbstverteidigung. Er ist unser Schützer vor Beleidi-gung. Sein Grundgedanke ist unser Wohlergehen; und so steigert sich mit seiner Entwicklung auch unser Wunsch nach Wohlergehen. Hieraus folgt, daß der Wunsch nach Wohlergehen sich gleichzeitig mit jeder Ei-genschaft entwickeln muß, die lediglich eine Abart des Widerspruchs-geistes ist; bei jenem Etwas aber, das ich als »Verkehrtheit« bezeichne, wird nicht nur der Wunsch nach Wohlergehen gar nicht entstehen, sondern ein ganz entgegenwirkendes Gefühl vorhanden sein.
Ein Appell an das eigene Herz ist schließlich die beste Antwort auf die eben angeführte Sophisterei. Keiner, der seine eigene Seele vertrau-ensvoll um Rat fragt, kann die elementare Ursprünglichkeit der fraglic-hen Eigenschaft leugnen. Sie ist da, mag sie uns auch noch so unbeg-reiflich erscheinen. Es gibt keinen Menschen, der nicht zum Beispiel zu irgendeiner Zeit von dem ernstlichen Wunsch besessen gewesen wäre, einen Zuhörer durch unnütze Umschweife zu quälen. Der Sprecher weiß, daß er mißfällt; er hat allen guten Willen, zu gefallen; er ist für gewöhnlich kurz, deutlich und klar; der prägnanteste, lakonischste Ausdruck schwebt ihm auf der Zunge; nur mit Mühe hält er ihn zurück; er scheut und fürchtet den Zorn dessen, zu dem er spricht – dennoch packt ihn der Gedanke, durch gewisse Einschaltungen und Umschweife könne dieser Zorn noch gesteigert werden. Dieser eine Gedanke genügt. Der Einfall wird zu einem Wunsch, der Wunsch zu einem Ver-langen, das Verlangen zu einem qualvollen Bedürfnis, und dem Bedür-fnis wird (mit tiefem Bedauern und herzlicher Reue und in Mißachtung aller Folgen) stattgegeben.
Wir haben eine Arbeit vor, die schleunigst erledigt werden muß. Wir wissen, daß ein Aufschub unheilvoll sein wird. Der bedeutsamste Wen-depunkt unseres Lebens ruft wie mit Posaunen zu sofortigem ener-gischen Handeln. Wir glühen, verzehrender Eifer erfüllt uns, das Werk zu beginnen, von dessen ruhmvollem Ausgang unsere Seele entflammt ist. Es muß, es soll heute in Angriff genommen werden – und dennoch schieben wir es auf bis morgen; und warum? Es gibt keine andere Antwort als die, daß wir verkehrt fühlen. Der andere Tag kommt, und mit ihm ein ungeduldigeres Verlangen, unsere Pflicht zu tun, aber gle-ichzeitig mit diesem gesteigerten Verlangen erhebt sich eine namenlo-se, eine geradezu angstvolle, weil unermeßliche Begier nach Aufschub. Diese Gier nimmt zu, je mehr die Zeit entflieht. Die letzte Stunde zum Handeln ist gekommen. Wir erbeben unter der Heftigkeit des inneren Widerstreits – der Entschiedenheit mit der Unentschiedenheit – des Wesentlichen mit dem Schattenhaften. Ist aber der Streit einmal so weit gediehen, so ist es der Schatten, der die Oberhand gewinnt – wir rin-gen vergebens. Die Uhr schlägt und ist das Grabgeläute unseres Stre-bens nach Erfolg. Gleichzeitig aber ist es der Hahnenschrei für das Gespenst, das uns so lange schreckte. Es flieht – es verschwindet – wir sind frei. Die alte Willenskraft kommt wieder. Jetzt wollen wir arbeiten. Weh, es ist zu spät!
Wir stehen am Rande eines Abgrunds. Wir spähen hinab – uns wird übel und schwindlig. Unser erster Impuls ist, vor der Gefahr zurück-zuweichen. Unerklärlicherweise bleiben wir. Nach und nach versinken unsere Übelkeit, unser Schwindel und Entsetzen in einem Nebel un-nennbarer Gefühle. Allmählich, ganz allmählich nimmt diese Nebelwol-ke Formen an, so wie sich in dem Märchen aus »Tausendundeiner Nacht« aus dem der Flasche entsteigenden Dampf der Geist formte. Aber aus dieser unserer Wolke am Rande des Abgrunds erwächst fühlbar eine Form, weit schrecklicher als irgendein böser Geist oder Märchen-Dämon – und doch ist es nichts als ein Gedanke, wenngleich ein fürchterlicher und einer, der uns das Mark in den Knochen gefrieren läßt in grausigem Entzücken. Es ist nur die Vorstellung, was wir wohl bei einem fliegenden Sturz von solcher Höhe empfinden würden; und dieser Sturz – diese taumelnde Vernichtung – die uns das unheim-lichste und widerlichste Bild aller unheimlichen und widerlichen Bilder von Tod und Qual vor Augen stellt – gerade diese Vernichtung reizt uns; und weil unsere Vernunft uns heftig vom Rande des Absturzes zu-rückruft, gerade darum nähern wir uns ihm mehr und mehr. Kein lei-denschaftliches Gefühl in der Natur ist so teuflisch ungeduldig als das desjenigen, der schaudernd am Rande des Abgrunds steht und daran denkt, sich hinabzustürzen. Sich auch nur für einen Augenblick ei-nem Gedanken hinzugeben, heißt unweigerlich verloren sein; denn Nachdenken rät uns abzulassen, und eben darum, sage ich, können wir es nicht. Ist kein gütiger Arm nahe, uns zurückzuhalten, oder ver-fehlen wir bei einem plötzlichen Entschluß, vom Abgrund zurückzutre-ten, den festen Boden, so stürzen wir hinab in Tod und Vernichtung.
Wir mögen über dieses und ähnliches Handeln nachsinnen, soviel wir wollen, wir werden es doch nur dem Teufel der Verkehrtheit zuschreiben können. Wir handeln nur so, weil wir füh-len, wir sollten es nicht. Darüber hinaus gibt es keine erkennbare Ur-sache, und wir könnten tatsächlich diese Verkehrtheit geradezu für eine Bosheit des Erzfeindes halten, wüßte man nicht, daß sie gelegentlich auch das Gute fördere.
Ich habe nun so viel gesagt, daß ich eure Frage ungefähr beantwor-ten kann – daß ich euch erklären kann, weshalb ich hier bin – daß ich euch etwas mitteilen kann, was wenigstens halbwegs einen Grund da-für angibt, weshalb ich diese Fesseln trage und weshalb ich in dieser Zelle der Verdammten wohne. Wäre ich nicht so weitschweifig gewesen, so hättet ihr mich vollkommen mißverstehen oder mich, wie der Pöbel, für verrückt erklären können. Nun aber werdet ihr leicht er-kennen, daß ich eines der zahllosen Opfer bin, die der Teufel der Ver-kehrtheit für sich zu erbeuten weiß.
Unmöglich kann eine Tat gründlicher vorherbedacht worden sein. Wochen, Monate brütete ich über die Ausführung des Mordes. Tau-send Arten verwarf ich, weil sie die Möglichkeit boten, mich zu verraten. Schließlich fand ich bei der Lektüre einer französischen Abhandlung den Bericht einer fast tödlichen Erkrankung einer Frau Pilau, hervorge-rufen durch Gase einer zufällig vergifteten Kerze. Das reizte meine Phantasie sofort. Ich wußte, mein Opfer hatte die Gewohnheit, im Bette zu lesen. Ich wußte auch, daß sein Zimmer klein und schlecht ventiliert war. Doch was soll ich euch mit abgeschmackten Einzelheiten behelli-gen, weshalb die Kunstgriffe schildern, durch die es mir gelang, in sei-nen Schlafzimmerleuchter statt der dort vorhandenen eine von mir selbst hergestellte Wachskerze einzuschmuggeln. Am andern Morgen fand man ihn tot im Bett, und das Urteil des Leichenbeschauers lautete – »eines plötzlichen Todes gestorben«.
Ich erbte sein Vermögen, und jahrelang ging alles gut mit mir. Der Gedanke einer Entdeckung meiner Tat kam mir gar nicht in den Kopf. Die Überbleibsel der verhängnisvollen Kerze hatte ich sorgfältig ver-nichtet. Nicht den Schatten einer Spur hatte ich zurückgelassen, durch die man mich des Verbrechens hätte überführen oder auch nur verdächtigen können. Es ist gar nicht wiederzugeben, welch ein Gefühl der Befriedigung in mir erwachte, wenn ich an meine vollkommene Sic-herheit dachte. Lange, lange Zeit hing ich diesem Gefühl nach. Es brachte mir mehr Genuß als alle die realen Vorteile, die meine Sünde mir eingetragen. Doch es kam eine Zeit, da das angenehme Gefühl gradweise und kaum wahrnehmbar zu einem mich verfolgenden und quälenden Gedanken wurde. Er quälte, weil er verfolgte. Ich konnte ihn kaum für Augenblicke los werden. Es ist eine ganz bekannte Sache, daß irgendein Gassenhauer oder ein paar unbedeutende Takte aus einer Oper uns solcherart quälend in den Ohren klingen oder vielmehr im Gedächtnis haften bleiben; auch wird es uns nicht weniger quälen, wenn das Lied ein gutes oder die Oper eine verdienstvolle ist. Auf solc-he Weise also hing ich dem Gedanken an meine Sicherheit nach, er-tappte mich fortwährend dabei, daß ich die Worte murmelte: »Ich bin sicher.«
Eines Tages, als ich durch die Straßen schlenderte und halblaut diese gewohnten Worte sprach, verbesserte ich sie in einem Anfall von Mutwillen so: »Ich bin sicher – ich bin sicher – ja, solange ich nicht so dumm bin, ein offenes Bekenntnis abzulegen!«
Kaum hatte ich dies gesagt, als Eiseskälte mir zum Herzen kroch. Ich hatte einige Erfahrung in solchen Anfällen der »Verkehrtheit« (deren Natur zu schildern mir viel Mühe gemacht hat), und ich entsann mich gut, daß es mir niemals gelungen war, ihren Angriffen zu widerstehen; und nun trat mir meine eigene zufällige Eingebung, daß ich möglic-herweise dumm genug sein könne, den Mord, dessen ich mich schuldig gemacht, zu bekennen, gegenüber wie das leibhaftige Gespenst des Ermordeten – und lockte mich in Tod und Verderben.
Zuerst machte ich eine Anstrengung, diesen Alp von der Seele ab-zuschütteln. Ich schritt schneller und schneller aus, schließlich rannte ich. Ich fühlte ein wahnsinniges Verlangen, laut aufzuschreien. Jede neue Gedankenwelle überflutete mich mit Schrecken, denn ach! ich wußte gut, nur zu gut, daß ich verloren war, wenn ich nachdachte. Ich beschleunigte meinen Schritt noch mehr. Ich durchraste wie ein Toller die menschenvollen Straßen. Schließlich wurden die Leute stutzig und verfolgten mich. Nun fühlte ich, daß sich mein Schicksal erfüllte. Hätte ich vermocht, mir die Zunge auszureißen – ich hätte es getan – doch eine rauhe Stimme schallte mir ins Ohr – ein rauherer Griff packte mich an den Schultern. Ich drehte mich um – ich rang nach Atem. Einen Au-genblick litt ich alle Qualen des Erstickenden; ich war blind und taub und mir schwindelte; und dann schien es mir, als schlage mich irgen-dein unsichtbarer Dämon mit harter Faust in den Rücken. Das lang zu-rückgehaltene Geheimnis brach los aus meiner Seele.
Man sagt, daß ich mich klar und sicher ausdrückte, doch mit großem Nachdruck und leidenschaftlicher Hast, als fürchte ich eine Unterbrec-hung, ehe ich die kurzen, doch inhaltsschweren Sätze beendet, die mich dem Henker und der Hölle überlieferten.
Nachdem ich alles berichtet, was zur vollen gerichtlichen Überführung notwendig war, schlug ich ohnmächtig zu Boden.
Doch was soll ich mehr sagen? Heute trage ich diese Ketten und bin hier! Morgen bin ich der Fesseln ledig! – Aber wo?