Emile Zola

1

Eines Nachmittags in der Vieruhrpause nahm mich der große Michu in einer Ecke des Hofes beiseite. Er zog eine ernste Miene, die mir eine gewisse Furcht einflößte; denn der große Michu war ein kräftiger Bursche mit riesigen Fäusten, den ich um alles in der Welt nicht zum Feinde hätte haben mögen.

»Hör mal«, sagte er mit seiner öligen Stimme, der eines Bauern, dem noch der Schliff fehlte: »hör mal, willst du mitmachen?«

Ich antwortete schlankweg: »Ja!«; denn ich fühlte mich geschmeichelt, mit dem großen Michu etwas mitzumachen. Darauf erklärte er mir, es handele sich um eine Verschwörung. Die vertraulichen Mitteilungen, die er mir machte, verursachten mir eine herrliche Erregung, wie ich sie seither vielleicht nie wieder verspürt habe. Endlich geriet ich in ein tolles Abenteuer hinein, ich sollte ein Geheimnis zu bewahren, eine Schlacht zu schlagen haben. Und sicher, der uneingestandene Schrecken, den ich bei dem Gedanken empfand, mich auf diese Weise Unannehmlichkeiten auszusetzen, zählte zum guten Teil zu den heißen Freuden meiner neuen Rolle als Mitwisser.

Deshalb bewunderte ich auch den großen Michu, während er mit mir sprach. Er weihte mich in einem etwas rauhen Tone ein, wie einen Rekruten, zu dessen Tatkraft man nur halbwegs Vertrauen hat. Indessen das freudige Beben, das Gesicht begeisterten Entzückens, das ich beim Zuhören gezeigt haben mußte, gaben ihm schließlich eine bessere Meinung von mir.

Als es zum zweitenmal läutete und wir beide auf unsere Plätze gingen, um die Arbeit wieder aufzunehmen, sagte er leise zu mir: »Es ist also abgemacht, nicht? Du gehörst zu uns… Du darfst vor allen Dingen keine Angst haben; du wirst uns nicht verraten?«

»Aber nein, du wirst sehen… Ich schwöre es.« Er sah mir mit seinen grauen Augen gerade ins Gesicht, mit der ganzen Würde eines gereiften Mannes, und sagte noch zu mir: »Andernfalls, weißt du, werde ich dich zwar nicht verprügeln, aber ich werde es überall herumsagen, daß du ein Verräter bist, und keiner wird mehr mit dir sprechen.« Ich erinnere mich noch der einzigartigen Wirkung, die diese Drohung auf mich ausübte. Sie gab mir einen gewaltigen Mut. »Ach wo!« sagte ich mir, »sie können mir ruhig zweitausend Verse aufbrummen; der Teufel soll mich holen, wenn ich Michu verrate.« Ich erwartete mit fieberhafter Ungeduld die Mittagsstunde. Die Meuterei sollte im Speisesaal ausbrechen.

2

Der große Michu stammte aus dem Departement Var. Sein Vater, ein Bauer, der ein paar Morgen Land besaß, hatte im Jahre 51 bei dem Aufstand, der durch den Staatsstreich hervorgerufen wurde, mit geschossen. In der Ebene von Uchâne für tot liegen gelassen, war es ihm gelungen, sich zu verstecken. Als er wieder auftauchte, ließ man ihn unbehelligt. Allein, die Behörden des Landes, die Honoratioren und die großen und kleinen Rentner nannten ihn nur noch den Briganten Michu.

Dieser Brigant, ein ehrbarer Mann ohne Bildung, schickte seinen Sohn aufs Gymnasium von A… Zweifellos wollte er aus ihm einen Gelehrten machen, um der Sache zum Siege zu verhelfen, die er selbst nur mit der Waffe in der Hand hatte verteidigen können. Im Gymnasium kannten wir die Geschichte wenigstens ungefähr, was uns unsern Kameraden als eine sehr zu fürchtende Persönlichkeit ansehen ließ.

Der große Michu war übrigens viel älter als wir. Er war fast achtzehn Jahre, obgleich er noch in der Tertia saß. Aber man wagte nicht, ihn zu hänseln. Er war einer von jenen sich redlich mühenden Geistern, die schwer lernen und die auf nichts von selbst kommen; nur, wenn er etwas wußte, wußte er es gründlich und für immer. Kräftig, wie mit der Axt behauen, herrschte er über uns in den Pausen. jedoch mit äußerster Milde. Ich habe ihn nur ein einziges Mal zornig gesehen; er wollte einen Aufseher erwürgen, der uns lehrte, alle Republikaner wären Diebe und Mörder. Man hätte den großen Michu beinahe vor die Tür gesetzt.

Erst später, als mein einstiger Kamerad wieder in meiner Erinnerung auftauchte, konnte ich seine zugleich sanfte und starke Haltung verstehen. Sein Vater mußte ihn frühzeitig zum Manne gemacht haben.

3

Dem großen Michu gefiel es im Gymnasium, was uns nicht wenig wunderte. Er empfand dort nur eine Pein, von der er aber nicht zu sprechen wagte: Hunger. Der große Michu hatte immer Hunger.

Ich erinnere mich nicht, je einen gleichen Appetit gesehen zu haben. Er, der so stolz war, brachte es zuweilen über sich, demütigende Komödien vorzuspielen, um uns ein Stück Brot abzulocken, eine Frühstücksschnitte oder ein Vesperbrot. An der frischen Luft aufgewachsen, am Fuß der Chaîne des Maures, litt er noch grausamer als wir unter der mageren Kost des Gymnasiums.

Das war eins unserer großen Unterhaltungsthemen auf dem Hofe, an der Mauer, die uns ein Streifchen Schatten spendete. Wir andern waren Leckermäuler. Ich erinnere mich besonders an eine Art Kabeljau mit brauner Soße und an gewisse Bohnen mit weißer Soße, über die allgemein geschimpft wurde. An den Tagen, an denen diese Gerichte erschienen, hörte das Schimpfen nicht auf. Der große Michu schimpfte anstandshalber mit, obwohl er gern alle sechs Portionen seines Tisches verschlungen hätte.

Der große Michu beklagte sich kaum, außer über die geringe Menge der Speisen. Der Zufall hatte, wie um ihn zur Verzweiflung zu bringen, ihn an das Ende des Tsiches neben den Studienaufseher gesetzt, einen schwächlichen jungen Menschen, der uns auf dem Spaziergang rauchen ließ. Hausregel war, daß die Studienaufseher auf zwei Portionen Anspruch hatten. Wenn es Bratwurst gab, mußte man dann den großen Michu sehen, wie er die beiden Stücke Wurst beäugte, die nebeneinander auf dem Teller des kleinen Aufsehers lagen.

»Ich bin zweimal so dick wie er«, sagte er eines Tages zu mir, »und er bekommt zweimal so viel zu essen wie ich. Er läßt nichts übrig, siehst du; es ist sogar für ihn nicht zu viel!«

4

Nun hatten also die Anstifter beschlossen, daß wir uns endlich einmal gegen den Kabeljau mit brauner Soße und die Bohnen mit weißer Soße auflehnen sollten.

Natürlich boten die Verschwörer dem großen Micha an, ihr Anführer zu sein. Der Plan dieser Herren war von heroischer Einfachheit: Es würde genügen, glaubten sie, in den Hungerstreik zu treten, jede Nahrung zu verweigern, bis der Direktor feierlich erklärte, daß die Kost verbessert würde. Daß der große Michu diesem Plane seine Zustimmung gab, ist einer der schönsten Züge von Selbstverleugnung und Mut, die ich kenne. Er nahm es an, der Führer der Bewegung zu werden, mit dem stillen Heroismus der alten Römer, die sich für das Gemeinwohl opferten.

Man bedenke! Ihn kümmerte es wenig, ob Kabeljau und Bohnen vom Speisezettel verschwanden; er wollte nur eins: mehr bekommen, nach Belieben essen dürfen! Und zum Überfluß verlangte man von ihm, zu fasten! Er hat mir nachträglich gestanden, daß die republikanische Tugend, die sein Vater ihn gelehrt hatte, das Zusammengehörigkeitsgefühl, die Hingabe des einzelnen an die Interessen der Allgemeinheit, in ihm niemals auf eine härtere Probe gestellt worden sei.

Am Abend begann im Speisesaal – es war der Tag des Kabeljaus mit brauner Soße – der Streik mit wahrhaft schöner Einhelligkeit. Nur Brot war erlaubt zu essen. Die Schüsseln kommen herein” wir rühren sie nicht an, wir essen unser trockenes Brot. Und das ganz ernst, ohne uns leise zu unterhalten, wie es unsere Gewohnheit war. Nur die Kleinen lachten.

Der große Michu. war prachtvoll. Er ging am ersten Abend sogar so weit, daß er nicht einmal Brot aß. Er hatte beide Ellenbogen auf den Tisch gestützt und sah den kleinen Aufseher, der gierig schlang, verächtlich an.

Doch der Aufsichtführende ließ den Direktor rufen, der wie ein Wirbelwind in den Speisesaal hereinkam. Er ließ uns hart an und fragte, was wir an dem Essen auszusetzen hätten, das er dann kostete und für ausgezeichnet erklärte.

Da stand der große Michu auf.

»Herr Direktor«, sagte er, »der Kabeljau ist verdorben, den können wir nicht vertragen.«

»so«“ rief der Schwächling von Aufseher, ohne dem Direktor Zeit zur Erwiderung zu lassen, »an den anderen Abenden haben Sie doch fast die ganze Schüssel voll allein aufgegessen.«

Der große Michu wurde über und über rot. An diesem Abend schickte man uns einfach mit der Bemerkung schlafen, wir würden es uns am nächsten Tage zweifellos überlegt haben.

5

Am nächsten und übernächsten Tage war der große Michu ganz groß. Die Worte des Studienaufsehers hatten ihn ins Herz getroffen. Er hielt uns aufrecht, er sagte, wir wären Feiglinge, wenn wir nachgäben. Jetzt legte er seinen ganzen Stolz darein, zu zeigen, daß er, wenn er es wollte, eben nicht aß.

Er wurde ein wahrer Märtyrer. Wir andern hatten alle in unserm Pulten Schokolade, Töpfe mit Eingemachtem und sogar Wurst versteckt, die uns halfen, das Brot, mit dem wir uns die Taschen vollstopften, nicht ganz trocken essen zu müssen. Er aber hatte in der Stadt nicht einen einzigen Verwandten, und er lehnte auch derartige Geschenke ab, er hielt sich streng an die paar Brotrinden, die er finden konnte.

Am übernächsten Tage brach zu Mittag der Aufruhr aus, weil der Direktor erklärt hatte, er werde, da die Schüler hartnäckig dabei blieben, die Speisen nicht anzurühren, kein Brot mehr ausgeben lassen. Es war der Tag der Bohnen mit weißer Soße.

Der große Michu, dem ein grausamer Hunger den Kopf verwirrt haben mußte, sprang auf. Er nahm den Teller des Aufsehers, der drauflos aß, um uns zu verhöhnen und zu reizen, und warf ihn mitten in den Saal; dann stimmte er mit mächtiger Stimme die Marseillaise an. Das war wie ein starker Windstoß, der uns alle hochriß. Die Teller, Gläser und Flaschen führten nun einen lustigen Tanz auf. Und die Aufseher, mit großen Schritten über die Scherben wegsetzend, beeilten sich, uns den Speisesaal zu überlassen. Den Kleinen traf, als er floh, eine Schüssel Bohnen auf die Schultern, deren Soße ihm wie ein breiter weißer Kragen um den Hals herumlief.

Doch es galt, den Platz zu befestigen. Der große Michu wurde zum General ernannt. Er ließ die Tische zusammentragen und vor den Türen übereinanderstellen. Ich erinnere mich auch, daß wir alle unsere Messer in die Hand genommen hatten. Und die Marseillaise erklang noch immer. Die Revolte wurde zur Revolution. Zum Glück überließ man uns drei Stunden lang uns selbst. Anscheinend hatte man die Polizei geholt Die drei Stunden Toben genügten, uns zu beruhigen.

An der hinteren Seite des Speisesaals waren zwei große Fenster, die auf den Hof hinausgingen. Die Schüchternsten, erschreckt darüber, daß man uns so lange straflos ließ, öffneten leise ein Fenster und verschwanden. Nach und nach folgten ihnen die anderen Schüler. Bald hatte der große Michu nicht mehr als etwa zehn Aufständische um sich. Er sagte zu ihnen mit barscher Stimme:

»Geht zu den andern, es genügt, wenn ein Schuldiger da ist.« Dann wandte er sich zu mir, da ich zögerte, und setzte hinzu: »Ich gebe dir dein Wort zurück, hörst du!« Als die Polizei eine der Türen eingedrückt hatte, fand sie den großen Michu ganz allein, ruhig auf einer Tischkante sitzend, mitten unter dem zerschlagenen Geschirr. Am selben Abend noch wurde er zu seinem Vater heimgeschickt. Was uns andre angeht, so hatten wir wenig Nutzen von dem Aufruhr. Man vermied es allerdings ein paar Wochen lang, uns Kabeljau und Bohnen vorzusetzen. Dann erschienen sie wieder; nur gab es den Kabeljau mit weißer Soße und die Bohnen mit brauner Soße.

6

Lange Zeit nachher sah ich den großen Michu wieder. Er hatte seine Studien nicht fortsetzen können. Er bebaute nun selbst die paar Morgen Land, die sein Vater ihm sterbend hinterlassen hatte.

»Ich hätte«, sagte er, »einen schlechten Anwalt oder einen schlechten Richter abgegeben; denn ich hatte einen sehr harten Schädel. Es ist besser, ich bin Bauer. Das ist das Richtige für mich… Trotzdem, ihr habt mich damals schön in der Patsche sitzen lassen. Und ich aß doch Kabeljau und Bohnen gerade so gern!«

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