Jack London

Ich blieb einen Augenblick auf dem Mile-End-Feld stehen und lauschte auf einen Wortwechsel. Es war spät abends, und die Teilnehmer an der Unterhaltung waren bessere Arbeiter. Sie hatten sich um einen der Ihren geschart, einen dreißigjährigen Mann mit angenehmen Zügen, und ereiferten sich sehr.

»Aber was sagst du denn zu dieser Einwanderung von billigen Arbeitskräften?« fragte einer von ihnen. »Ich behaupte, daß die Juden in Whitechapel uns auffressen.«

»Das ist Unsinn«, lautete die Antwort. »Es geht ihnen genau wie uns, sie müssen auch leben. Man kann einem Mann keine Vorwürfe machen, wenn er sich billiger anbietet als du und ich und uns unsere Arbeit nimmt.«

»Aber was soll dann aus Frau und Kindern werden?« wandte sein Gegner ein.

»Ja, eben; der andere Mann, der billiger arbeitet und uns die Arbeit nimmt, hat ja auch Frau und Kinder. Nicht wahr? Soll er vielleicht keine Rücksicht auf Frau und Kinder nehmen? Er interessiert sich natürlich mehr für seine eigenen Kinder als für deine und kann nicht mitansehen, daß sie hungern. Da verlangt er eben weniger, und du bist erledigt. Aber Vorwürfe kann man ihm nicht machen, dem armen Teufel. Er kann nichts dafür. Die Löhne werden immer gedrückt werden, wenn zwei sich um dieselbe Arbeit bewerben. Die Konkurrenz ist schuld, nicht der Mann, der Arbeit sucht.«

»Aber wenn man eine Gewerkschaft hat, werden die Löhne nicht gedrückt«, wandte der andere darauf ein.

»Da hast du wieder recht, das ist vollkommen richtig. Die Gewerkschaft verhindert die Konkurrenz unter den Arbeitern, macht sie aber noch schwerer, wo es keine Gewerkschaft gibt. Und so steht es eben mit den Leuten, von denen du sprichst, in Whitechapel, die sich unterbieten; es sind keine gelernten Arbeiter, und sie haben keine Gewerkschaft, und deshalb fressen sie sich gegenseitig auf – und uns mit, wenn wir nicht dafür sorgen, daß wir uns ordentlich organisieren.«

Ich will nicht näher auf dieses Gespräch eingehen. Dieser Mann auf dem Mile-End-Feld deckte die Tatsache auf, daß die Löhne immer gedrückt werden, wenn zwei Männer sich um dieselbe Arbeit bewerben. Ginge jemand noch näher auf die Sache ein, so würde er entdecken, daß sogar die Gewerkschaften behaupten, daß zwanzigtausend arbeitstüchtige Männer nicht imstande sein würden, die Löhne zu halten, wenn zwanzigtausend Arbeitslose versuchten, die organisierten Arbeiter zu verdrängen.

Gerade jetzt, da die Soldaten aus Südafrika heimkehren und entlassen werden, hat man ein schlagendes Beispiel dafür. Zehntausende von ihnen sind jetzt im Heer der Arbeitslosen in einer furchtbaren Situation. Im ganzen Lande sind die Löhne heruntergegangen, und das gibt wieder Anlaß zu großen Arbeitskämpfen und Streiks, was die Arbeitslosen benutzen, indem sie freudig das Werkzeug ergreifen, das die Streikenden niedergelegt haben.

Forcierte Arbeit, Hungerlöhne, Heerscharen von Arbeitslosen und Massen von Obdachlosen sind die unvermeidliche Folge davon, daß es mehr Menschen als Arbeit für sie gibt. Die Männer und Frauen, die ich auf den Straßen herumwandern sah, die ich in den Arbeitshäusern und Speiseanstalten traf, kommen nicht dorthin, weil sie sich ihren Lebensunterhalt dort leicht verdienen. Ich habe wohl genügend die Leiden beleuchtet, die sie durchmachen müssen, und man wird mit mir einig darin sein, daß die Verhältnisse an diesen Stätten alles eher als leicht sind.

Es ist sehr einfach auszurechnen, daß es in England leichter ist, für zwanzig Schilling wöchentlich zu arbeiten, regelmäßige Mahlzeiten und jede Nacht ein Bett zu bekommen, als auf die Straße zu gehen. Die Männer, die auf die Straße gehen, leiden weit mehr, arbeiten weit schwerer und bekommen weit weniger dafür. Ich habe erzählt, wie sie ihre Nächte verbringen, und wie die körperliche Erschöpfung sie in die Asyle treibt, um ein wenig Ruhe zu finden – auch dort verdienen sie nicht leicht. Vier Pfund Werg pflücken, zwölf Zentner Steine klopfen oder die ekelhaftesten Arbeiten für eine elende Kost und Unterkunft ausführen, muß als reichliche Bezahlung bezeichnet werden – reichlich bezahlt von denen, die die Arbeit leisten. Seitens der Behörden ist es der reinste Raub; sie bezahlen die Arbeit weit niedriger als die privaten Arbeitgeber. Der Lohn für eine für einen privaten Arbeitgeber ausgeführte Arbeit würde ihnen bessere Unterkunft, besseres Essen, bessere Behandlung, und vor allem größere Freiheit verschaffen.

Wie gesagt, die Asyle vorziehen, hieße seine Arbeitskraft verschwenden. Und daß die Armen das wissen, sieht man am besten daran, wie sie diese Stätten scheuen, bis körperliche Leiden sie hintreiben. Was ist also der Grund, daß sie hinkommen? Nicht, daß ihnen der Mut zur Arbeit fehlt, sondern eben, weil ihnen der Mut zum Müßiggang fehlt.

Der Tramp in den Vereinigten Staaten ist fast immer ein Mann, dem es an Arbeitsmut fehlt. Er hält das Leben des Landstreichers für besser als das des Arbeiters. Aber so ist es nicht in England. Hier haben die Machthaber ihr Bestes getan, den Mut der Müßiggänger und Vagabunden niederzuschlagen, die denn auch wahrlich schrecklich entmutigte Geschöpfe geworden sind. Hier weiß der Landstreicher, daß er sich für einen Tagelohn von zwei Schilling drei gute Mahlzeiten und Nachtlogis kaufen kann und sogar noch ein paar Pence Taschengeld übrig hat; er will lieber für diese zwei Schilling arbeiten als für die Barmherzigkeit, die die Asyle ihm gewähren, denn er weiß, daß er dann weder so schwer zu arbeiten braucht, noch so abscheulich behandelt wird. Tut er nichts, so kommt es nur daher, daß es mehr Arbeiter gibt, als die Arbeit verlangt.

Gibt es mehr Arbeiter, als die Arbeit verlangt, so findet unweigerlich ein Ausscheidungsprozeß statt. In allen Industriezweigen werden die am wenigsten Tauglichen hinausgedrängt, sie werden es eben wegen ihrer Untauglichkeit, und es geht mit ihnen bergab, bis sie ihr eigentliches Niveau, die Stelle des Arbeitsmarktes erreichen, wo sie als tauglich angesehen werden können. Es ist daher selbstverständlich, daß, wer am allerwenigsten taugt, ganz bis auf den Boden sinken muß – bis hinab auf die Schlachtbank, wo er einen kläglichen Tod erleidet.

Wirft man einen Blick auf die völlig Untauglichen, so wird man finden, daß sie in der Regel in geistiger, körperlicher und moralischer Beziehung völlige Wracks sind. Ausnahmen von dieser Regel bilden einzig die, die zuletzt den Boden erreicht haben, auf die der Vernichtungsprozeß der Untauglichkeit gerade erst zu wirken begonnen hat. Jetzt sind alle Kräfte vereint, um die Vernichtung zu vollenden. Der starke Körper, den sie in Ermangelung eines scharfen und schnellen Hirns hatten, wird schnell ausgemergelt und verkrüppelt; der klare Geist, den sie in Ermangelung eines starken Körpers hatten, wird schnell verderbt und angesteckt. Die Sterblichkeit ist unermeßlich groß, und doch sterben sie einen allzu langsamen Tod.

Hier haben wir die Erklärung dafür, daß der Abgrund sich bevölkert. Auf dem ganzen Arbeitsmarkt findet eine konstante Ausscheidung statt; die Unbrauchbaren werden abgesondert und in den Abgrund geschleudert.

Die Untauglichkeit kann verschiedene Ursachen haben. Der unzuverlässige Maschinist wird sinken, bis er den Platz findet, der für ihn paßt, als Gelegenheitsarbeiter, eine Stellung unregelmäßiger Art, in der keine Verantwortung auf ihm ruht. Wer langsam und schwerfällig, wer geistig oder körperlich geschwächt ist, wem Nervenkraft, Seelenstärke und Gesundheit fehlen, der muß hinunter, zuweilen schnell, zuweilen Schritt für Schritt. Ein Unglück kann einen brauchbaren Arbeiter völlig zerschmettern und unbrauchbar machen, so daß er in den Abgrund muß. Ebenso geht es, wenn das Alter kommt, wenn die Energie nachläßt und das Gehirn träge wird. Dann kann der alternde Mann den schweren Gang in die Tiefe des Abgrunds beginnen, den Gang, auf dem ihm keine Ruhe vergönnt ist, bis der Tod ihn einholt.

Einen furchtbaren Bericht über diese Verhältnisse gibt die Londoner Statistik. Die Einwohnerzahl Londons beträgt ein Siebentel der Bevölkerung der Vereinigten Königreiche, und in London stirbt alljährlich jedes vierte Individuum auf öffentliche Kosten, entweder im Armenhaus oder im Hospital oder in der Irrenanstalt. Bedenkt man, daß die Wohlhabenden nicht auf diese Weise enden, so steht fest, daß es das Schicksal sein muß, das jeden dritten Arbeiter trifft.

Als Beispiel, wie ein tüchtiger Arbeiter plötzlich dazu kommen kann, daß er zu den Unbrauchbaren gehört, und wie es ihm dann ergeht, möchte ich die Geschichte von M’Garry erzählen. Er ist ein Mann von zweiunddreißig Jahren und jetzt Armenhäusler. Die folgenden Auszüge sind dem Jahresbericht der Gewerkschaften entnommen:

Ich war bei den Britischen Chemischen Fabriken in Widnes angestellt. Ich arbeitete in einem Schuppen und mußte daher über den Fabrikhof gehen. Es war zehn Uhr abends und nicht erleuchtet. Als ich über den Hof schritt, fühlte ich plötzlich, wie etwas mein Bein packte und es zerschmetterte. Ich verlor das Bewußtsein. Als ich am nächsten Sonntag wieder zu mir kam, lag ich im Hospital. Ich fragte die Krankenschwester, was mit meinem Bein los sei, und sie erzählte mir, daß beide abgenommen waren.

Auf dem Fabrikhof befand sich in einer Vertiefung ein fester Krummzapfen; das Loch war achtzehn Zoll lang, fünfzehn breit und fünfzehn tief. Die Achse machte drei Umdrehungen in der Minute. Das Loch war weder mit einem Gitter versehen noch überdeckt. Nach dem Unfall wurde es mit einer eisernen Platte bedeckt …

… Mir hat man fünfundzwanzig Pfund Sterling gegeben. Nicht als Schadenersatz; nur aus Barmherzigkeit, wie sie sagten. Von dem Geld habe ich neun Pfund für einen Krankenwagen gebraucht, in dem ich allein herumfahren kann.

Als das Unglück mit meinem Bein geschah, hatte ich Arbeit. Ich verdiente vierundzwanzig Schilling die Woche, was mehr war, als die andern Arbeiter verdienten, da ich zur Ablösung an verschiedenen Stellen gebraucht wurde. War eine schwierige Arbeit auszuführen, so wurde ich in der Regel dazu verwendet. Herr Manton, der Direktor, besuchte mich mehrmals im Krankenhaus. Als eine Besserung eintrat, fragte ich ihn, ob er glaubte, daß es möglich sei, Arbeit für mich zu finden. Er sagte, ich solle mir deshalb keine Sorgen machen, da die Firma nicht herzlos wäre. Jedenfalls sollte ich keine Not leiden … Als Herr Manton mich das letztemal besuchte, sagte er, er hätte gedacht, die Direktoren zu fragen, ob sie mir einen Fünfzigpfundschein geben würden, damit ich zu meinen Verwandten nach Irland reisen könnte.

Armer M’Garry! Er bezog einen verhältnismäßig bessern Lohn als die andern Arbeiter, weil er ehrgeizig war und überall zupackte, und wenn es eine schwierige Arbeit auszuführen galt, wählte man ihn dazu. Da geschah das Unglück, und er kam ins Armenhaus. Er hatte nur die Wahl zwischen dem Armenhaus und der Heimreise nach Irland, um seiner Familie für den Rest seines Lebens zur Last zu liegen. Kommentar überflüssig.

Man wird verstehen können, daß die Grenze zwischen Brauchbarkeit und Unbrauchbarkeit nicht von den Arbeitern selbst festgesetzt wird, sondern von der Nachfrage nach Arbeitskraft bestimmt wird.

Suchen drei Männer dieselbe Stellung, so wird der tüchtigste sie erhalten; und die beiden andern werden, so gute Arbeiter sie auch sein mögen, in diesem Fall doch unverwendbar sein.

Wenn Deutschland, Japan und die Vereinigten Staaten den ganzen Weltmarkt in der Eisen-, Kohlen- und Textilindustrie eroberten, so würden die englischen Arbeiter zu Hunderttausenden arbeitslos werden. Einige würden auswandern, der Rest würde sich mit seiner Arbeitskraft auf andere Zweige der Industrie werfen. Das Ergebnis wäre eine allgemeine Erschütterung des ganzen Arbeitsmarktes, und wenn das Gleichgewicht wieder hergestellt wäre, würde die Anzahl der Unbrauchbaren auf dem Boden des Abgrunds um Hunderttausende vermehrt worden sein.

Wenn es mehr Arbeiter gibt, als die Arbeit verlangt, so werden genau so viele Arbeiter, wie überflüssig sind, als untauglich gelten und zu langsamer, qualvoller Vernichtung verurteilt werden.

Es soll meine Aufgabe sein, im folgenden Kapitel durch Arbeitsverhältnisse und Lebensbedingungen nicht nur zu beleuchten, wie die Untauglichen entfernt und vernichtet werden, sondern auch zu zeigen, wie im industriellen Gefüge unserer Zeit gedankenlos immer wieder Untauglichkeit geschaffen wird.