Isolde Kurz
Carrara
»Wenn man auf der mittelländischen Bahnlinie von Pisa nordwärts fährt, so sieht man hinter den Pisaner Bergen eine weisse Alpenkette auftauchen, die sich durch ihre kühnen Formen aufs schärfste von den sanftgeschwungenen Linien des Apennin unterscheidet, und die der Unkundige für nichts andres halten könnte als für ein Schneegebirge. Es sind die Kalkfelsen der Apuanischen Alpen, aus denen der weltberühmte carrarische Marmor gebrochen wird.
Carrara, der Mittelpunkt des ungeheuren Betriebes, ist durch eine Zweigbahn der mittelländischen Eisenbahnlinie angeknüpft. Bei Avenza verlässt der Schienenweg die Küste und läuft zwischen zwei Bergketten hin, davon die eine, dem Meere zugewendete, mit herrlichen Olivenwaldungen bedeckt ist; die andre, landeinwärts gelegene, von der die weisslichen Zinken hoch ins Blau emporstarren, trägt nur bis zu halber Höhe eine spärliche Vegetation. Die blossgelegten Marmorflanken leuchten weithin wie Alpenfirne, und die Geröllhalden, auf denen der Marmorschutt von den Brüchen herabgestürzt wird, sehen Gletschern täuschend ähnlich. Längs der Bahnlinie dehnen sich zu beiden Seiten die offenen Lagerplätze aus, auf denen roh behauener Marmor von allen Grössen und Sorten der Weiterbeförderung harrt.
Carrara, das geleckte Marmorstädtchen, schmiegt sich zierlich in die Talmulde, die der rasche, grünlich fliessende Carrione durchströmt. Es hat wie alle italienischen Städte seine grossen Plätze mit öffentlichen Bauten; der neue Stadtteil steigt breit und prahlerisch mit pompösen Marmorterrassen den Hügel hinauf, während der ältere, stilvollere sich um die Ufer des Carrione drängt. Marmor ist überall in verschwenderischer Fülle an Häusern und Monumenten angebracht, das Pflaster ist weiss von Marmorstaub, und über der ganzen Landschaft lagert eine blendende Helligkeit.
Aus den Bildhauerwerkstätten, die sich eine an der andern viele Strassen weit hinziehen, tönt ununterbrochenes Gehämmer und Gepoche. Unendlich ist die Menge des Hervorgebrachten; von Carrara gehen marmorne Statuetten und Nippsachen über die halbe Erde. Wie die Holzschnitzereien in Schweizer Höhenorten, so ist hier in Hotels und Restaurants das Marmorspielzeug zum Verkaufe ausgelegt. Dasselbe fabrikmässige Gepräge tragen auch die grossen Standbilder und Grabmäler, die hier gefertigt werden, und was die Stadt selbst von modernen Monumenten aufgestellt hat, ist mit wenig Ausnahmen von fast grotesker Geschmacklosigkeit.
Ueber terrassenförmige, marmorreiche Anlagen führt der Weg nach Monterosso, der Station der Bergbahn Marmifera. Seit der Zeit, wo Michelangelo in diesen Bergen hauste und unter unsäglichen Nöten die Riesenblöcke, die er für seine Arbeiten brauchte, an die Küste schleppen liess, haben sich die Verhältnisse gewaltig geändert. Jetzt sind die Abgründe überbrückt und die Gebirgsmassen durchbrochen, ein schmalspuriger Schienenweg umläuft den Berg in Schlangenlinien, die von Steinbruch zu Steinbruch führen, und darauf dampft die Marmifera in die Höhe, um die gewaltigen Lasten herunterzuschaffen.
Gewöhnlich führt die Lokomotive nur Frachtwagen; für Fremde jedoch, welche die Bergbahn zu befahren wünschen, lässt die zuvorkommende Direktion unentgeltlich einen Personenwagen anhängen, nur muss man tags zuvor angemeldet sein. Herren erhalten auch ausnahmsweise die Erlaubnis, einfach die Lokomotive zu besteigen. Wer jedoch, wie wir, das Unglück hat, zu einer Zeit nach Carrara zu kommen, wo der Direktor verreist und sein Stellvertreter abwesend ist, dem bleibt, wenn er die Brüche sehen will, nichts übrig, als längs der Geleise zu Fuss hinaufzusteigen. Gefällige Bahnwärter schliessen sich an und geben von einer Station zur andern das Geleite. Beim ersten Tunnel, der sich aussen am Berghang umgehen lässt, tut ein entzückendes Panorama sich auf. In unserm Rücken, halb ins Grün versteckt, die Marmorstadt, zur Linken das tiefe, von Wassern durchrauschte Tal mit den Marmorsägemühlen und dem in der Höhe gelegenen Friedhof, auf einem Hügelvorsprung das schöne Dorf Sorano und vor uns die weissen, vielzerklüfteten Bergflanken. Ueber uns kriechen die Schneckenlinien der Bergbahn mit den »Sieben Brücken« hin, von denen die Station den Namen hat. Soeben keucht die Marmifera mit vollem Dampfe vorüber und verschwindet hinter der nächsten Biegung, um nach wenigen Minuten hoch über unsern Häuptern wieder zum Vorschein zu kommen, bis ein neuer Tunnel sie verschluckt.
Noch eine Strecke weiter auf dem beschwerlichen Schienenweg, so sind die Brüche von Sorano und La Piastra erreicht. Hier mündet das Geleise auf die Marmorniederlage am Fuss der Brüche, wo die von oben herabgewälzten Blöcke gleich aus dem gröbsten zugehauen werden, um überflüssige Fracht zu vermeiden. Die Brüche selber sind hier nirgends zugänglich; sie lagern an steilen Wänden, wo nur der geübte Bergarbeiter mit Sicherheit Fuss fasst, und auch dieser bedarf an den gefährlichsten Stellen des Seiles, um auf den glatten Marmorfelsen hin und her zu klettern.
Man sieht die Leute in voller Tätigkeit. Was sie abgesprengt und mittels einer Rutschbahn herunterbefördert haben, liegt alles längs der Bahnlinie und in den Einbuchtungen des Berges aufgehäuft. Daneben lagern die müden Ochsen, ihrer Belastung harrend, die Fuhrleute sind beschäftigt, die mächtigen Blöcke auf Karren zu laden, die Steinmetzen hämmern, und aus den weissen Klüften hervor donnern die Minen, deren Echo die Wände einander zuwerfen.
Mit Bequemlichkeit kann man auf diesen Depotstationen die verschiedenen Marmorarten unterscheiden lernen.
Der schneeweisse, krystallinische mit dem grossen, glänzenden Korn ist der sogenannte »statuarische« Marmor, der einzig für die Skulptur verwendet wird. Ein grosser, völlig reiner Block ist von fast unschätzbarem Wert. Aber meistens sind auch die Blöcke von der besten Sorte mit minderwertigem Gestein durchsetzt, das durch Sprengung entfernt werden muss. Je tiefer der Stein gebrochen wird, desto reiner ist sein Korn, daher die ältesten Brüche den schönsten Marmor liefern. Der sogenannte paonazzo, ein weisser, mit regelmässigen blauen Adern durchflochtener Stein, ist für Bauzwecke hochgeschätzt, und eine bunte Marmorart, die in allen Farben vorkommt, der bardiglio, liefert die schönen Mosaikfussböden, die Kamineinfassungen, Becken, Wannen und Aehnliches.
Ein neues Geleise, das sich zur Rechten erschliesst, führt mit steilerer Steigung zu den Brüchen von Ravaccione und Colonnata. Marmor und nichts als Marmor! Wohin das Auge sich wendet, es kann dem grellen, sonnenbestrahlten Weiss nicht entfliehen. Der Fuss stolpert über Marmorgebröckel, das den Weg beschottert, die Farbe der Kleider ist unkenntlich geworden durch den Marmorstaub, den der Bergwind auch den ausgetrockneten Lungen zuführt. Und als ob man des Marmors nie genug bekommen könnte, rennen jetzt ein paar barfüssige Kinder auf die müden, erhitzten und verdurstenden Wanderer zu und präsentieren uns auf zinnernen Tellern eine Handvoll eilig aufgelesener Marmorbrocken, für die sie stürmisch ein paar Soldi fordern. Es sind die gleichen Steine, an denen wir uns schon die Stiefel zerrissen haben, und die Zumutung, sie zu kaufen, die den Kindern von ihren Eltern eingeflüstert sein muss, ist so unbegreiflich abgeschmackt, dass wir vor Erstaunen nicht einmal lachen können. Von einem Glas Wasser dagegen, für das kein Preis zu hoch wäre, ist keine Rede.
Eine Arbeiterfrau teilt uns endlich für Geld und gute Worte von ihrem Weinvorrat mit. Diese hart arbeitenden Menschen leben mit der kärgsten Kost, aber der Marmorstaub zwingt sie, die Kehle öfter anzufeuchten, als gut ist. Der Wein erhitzt das ohnehin heisse Blut, daher den Carraresen das Messer bekanntermassen sehr lose im Gürtel sitzt. Das Trinken ist auch der Hauptgrund, weshalb die Revolution von 1894 noch immer heimlich weiter glimmt. Die Löhne sind hier besser als anderwärts; was die Leute zum Aufstande trieb, war die sozialistische Agitation und das Schauspiel des ungeheuren Gewinnes, der aus ihrer Hände Arbeit gezogen wird, denn alle Besitzer der Marmorbrüche sind Millionäre, und die ganze Küste entlang sieht man ihre feenhaften Marmorvillen aus dem Boden steigen.
Bevor die Bahn auf der Station von Ravaccione einläuft, trifft man bei Polvaccio einen alten Steinbruch aus der Römerzeit. Aller Marmor des Pantheon, der Trajanssäule, des Titusbogens ist aus diesem Bruch hervorgegangen. Hier schlief auch der Apoll von Belvedere den Schlaf des Nichtseins, bevor Künstlerhand ihm seine ewigen Formen gab. Und neben ihm schliefen andre unvergängliche Gestalten, die erst viele Jahrhunderte später ans Licht gerufen wurden: der David Michelangelos und die Kolossalstatuen auf den Mediceergräbern. Aus Colonnata, gleichfalls einem alten Römerbruch, stammt dagegen der weisse Marmor, der in grossen Mengen für die Gruft Napoleons I. im Invalidendom zu Paris verwendet wurde.
Und hat man mit Staunen drunten im Tal die Menge der aufgespeicherten Blöcke gesehen, so bewundert man jetzt doppelt die Grösse und Unerschöpflichkeit der Natur. Was auch seit Jahrtausenden in diesen Bergen gebrochen wurde, was Tag für Tag mit den ungeheuren Mitteln moderner Technik herausgefördert wird – es ist ein Garnichts gegen die Masse des Gebirgs. Aus seinen Eingeweiden sind seit den Zeiten der Etrusker ganze Städte hervorgestiegen und ein Volk von marmornen Gestalten, aber nirgends hat sein starres Profil sich um eine Linie verändert. Wenn auch gelegentlich durch unvorsichtigen Anbruch eine Bergwand einstürzt, was will das der gigantischen Gebirgsformation gegenüber besagen! Und solange Monumente errichtet und Statuen gemeisselt werden, wird dieses Gebirge ausreichen, die Welt mit Marmor zu versorgen.
Ueber fünfhundert Marmorbrüche sind allein in der Gegend von Carrara in Bearbeitung, gar nicht zu rechnen, was in dem nahen Massa, in Serravezza und Pietrasanta gebrochen wird. Die Zahl der Arbeiter, die mit dem Sprengen, dem Behauen, dem Sägen und Schleifen sowie dem Transport der Steine beschäftigt sind, wurde mir auf gegen zwanzigtausend angegeben.
Zum Transport werden neben der Marmifera, die seit 1875 im Gang ist, noch immer, wie vor alters, die Ochsenfuhren benutzt. Es sind dieselben Karren, wie sie schon zu Zeiten der Römer und Etrusker gebaut wurden, mit niedrigen, aber wuchtigen, bleibeschlagenen Rädern, deren Zahl sich nach der Länge des Fuhrwerks richtet. Die Ochsen sind klein und grau, von einer besonders zähen Rasse, mit ungeheuren, prächtig geschwungenen Hörnern; sie tragen den eisernen Ring in der Nase, durch den das Leitseil läuft; ihre Hufe sind mit Blei beschlagen. Um einen Block von massigem Umfang zu Tal zu ziehen, braucht es ihrer zwei bis sechs Paare. Ich sah in der Gegend von Carrara aber auch Fuhren, denen zwanzig und mehr Ochsen vorgespannt waren; sie bilden dann ganze Karawanen und ziehen unter dem Geschrei der Treiber wie eine lange ungefüge Schlange den Berg hinab. Ein kleinerer Marmorblock, der an langer Eisenkette auf dem Boden nachschleift, dient zum Bremsen.
Jedes Paar Ochsen trägt ein Joch von mächtigem Gewicht, das den unglücklichen Tieren die Köpfe niederzwingt, und man begreift nicht, wie sie es anstellen, sich mit den Riesenhörnern nicht gegenseitig zu stossen. Auf jedem Joch sitzt rückwärts gewendet ein Treiber mit dem Stachelstab, andre rennen zu Fuss neben dem Fuhrwerk her, mit der Stimme und dem Stachel die Tiere anfeuernd. Die Fortbewegung geschieht stossweise auf der schauderhaften, von oft schuhtiefen Fahrgeleisen zerschundenen Strasse. In gleichmässigen Pausen erheben die Männer ein wildes Geheul, das eine ganz bestimmte Tonfolge hat, und die auf den Jochen Sitzenden packen zugleich das Fell der Ochsen am Halse und schütteln es krampfhaft, was die Tiere in Verzweiflung zu treiben scheint, denn nun machen sie eine krampfhafte Anstrengung, und der Karren rumpelt hastig eine Strecke weiter, wobei dichter Marmorstaub aufwirbelt. Dann eine Pause, Ochsen und Treiber verschnaufen, und von neuem beginnt die vorige Prozedur. Von dem vordersten Joch starrt eine Holzgabel mit den Zinken in die Luft, durch welche die lange Deichsel beim Rasten gestützt werden kann.
Der Stachel hat die unglücklichen Tiere so zahm gemacht, dass sie nie einen Widerstand versuchen. Vorsichtig bewegen sie die ungeheuren Hörner, um Menschen und Tiere nicht zu verletzen, aber aus den grossen, furchtbar ernsten Augen sieht die stumme Qual, die bis zum letzten Atemzug dauert. Auf Halteplätzen brechen sie ohne weiteres in die Kniee und liegen unbeweglich, als ob es Hebel brauchte, um sie wieder aufzurichten, doch dazu genügt das blosse Herantreten des Treibers mit dem Stachel, bei dessen Anblick das Tier sich stumpf und schwer erhebt, um seinen Marterweg von neuem zu beginnen.
Vor den Sägemühlen am Carrione werden die Fuhren abgeladen. Diese Mühlen sind mit ihrer schönen Architektur und den brausenden Wassern, die über ihre Räder stürzen, ein grosser Schmuck der Gegend. In Menge lagern die Blöcke vor den Türen und längs der Flussufer, zwischen ihnen die zersägten Platten, die für die Poliermaschine bereit sind.
Interessant ist es, dass hier überall neben der vervollkommneten Technik die primitive Industrie, aus der jene hervorging, fortdauert. Neben den Sägemühlen arbeitet die ursprüngliche Handsäge ruhig weiter, denn die Feinheit ihrer Arbeit wird von der Maschine nicht erreicht; man kann sie überall im Freien in Tätigkeit sehen. Die Marmorsäge hat keine Zähne, sie ist in einen schweren Rahmen eingespannt und hängt in Stricken; die Sägewirkung entsteht durch den Druck des Eisens mit Hilfe von eingespültem Sand.
Nach dem gleichen System, aber ins Grosse arbeitet die Sägemaschine. In einen Rahmen, deren ein Mühlrad viele gleichzeitig treibt, sind wohl dreissig Sägen in verschiedenem Abstand voneinander eingespannt, so dass ein Block in ebenso viele Platten von verschiedener Dicke zerlegt werden kann.
Ist die Platte zersägt, so kommt sie zur Politur, und auch hier arbeiten Menschenhände und Maschinen im Wettbewerb. Bei der Handpolierung muss etwas feuchter Flusssand mit einem Stück Blei unablässig auf der Platte hin- und hergerieben werden, wozu bei einer Platte von massigem Umfang mehrere Männer erforderlich sind. Die Poliermaschine hingegen lässt in einfacher, aber höchst sinnreicher Weise eine Platte durch die andre mittels Sand abschleifen, indem sie die oben liegende in drehende Bewegung versetzt.
Nun aber ist es genug des Marmors; der Glast wird nachgerade unerträglich, und zugleich werden die Ohren von all dem Gehämmer und Geschrille völlig betäubt. Der Rückweg an den brausenden Kaskaden des Carrione brächte den müden Nerven Erholung, wenn nur der Fuss nicht genötigt wäre, bei jedem Schritt den knöcheltiefen Marmorstaub aufzuwühlen. Auch hier begleitet uns der Marmor auf Weg und Steg, selbst das elendeste Bauernhaus hat wenigstens Schwellen, Fenstereinfassungen und Brunnenrand von poliertem Marmor, nicht zu reden von dem Marmorabfall, der zu Dämmen, Strassenbeschotterung und Aehnlichem benutzt wird.
Der Ueberdruss wird endlich zu einer wahren Beängstigung, weil man das Gefühl bekommt, als sei hier jeder Gegenstand bereit, sich unter unsern Händen in Marmor zu verwandeln. Ich gestehe, dass mir der Weg zum Bahnhof am späten Abend eine Erlösung bedeutete. Noch eine lange Strecke folgten uns die stummen Marmorfelder, die durch die Dunkelheit leuchteten, und unser Zug schleppte eine ungeheure Marmorlast nach der Küste.
Ein kurzer Besuch in Carrara genügt, um eine vollkommene Uebersicht über die Gewinnung und Behandlung des Marmors zu erlangen. Nur der Natur des gewaltigen Gebirges kommt man dort nicht so recht nahe, denn in Carrara ist alles städtisch kultiviert und abgeschlossen. Wer die Apuanischen Alpen in ihrer Grösse und Einsamkeit sehen will, dem sei eine Besteigung von Pietrasanta oder Serravezza aus dringend empfohlen.