Isolde Kurz

An einem Februarabend zu Eingang des Jahrhunderts saß eine kleine Anzahl Befreundeter auf einer außerhalb Florenz gelegenen Villa beisammen. Es war ein feinsinniger und wählerischer Menschenkreis, der sich wöchentlich einmal im Haus der Gräfin Della Torre, einer geborenen Russin, zu versammeln pflegte. Eine eisige Tramontana tobte draußen und zerschlug die schlanken Zypressen im Park, deren Ächzen noch durch das Heulen des Sturms vernehmlich war, daß die Anwesenden sich bei jedem Windstoß enger um den mächtigen Holzblock im Kamin drängten. Durch das deckenhohe Fenster schien ein großes Stück Himmel herein, darauf flatterte ein schwarzer, wunderlich zerrissener Wolkenmantel, dessen zerfranste Enden der darunter verborgene Mond leuchtend verbrämte. Er glich einem Zaubermantel, auf dem ein Magier durch die Lüfte segelt, und gab dem Angesichte der Nacht einen unbeschreiblich wilden und phantastischen Ausdruck; in der Tiefe krümmte sich der Lungarno wie eine Feuerschlange. Bei dem behaglichen Knistern der Flamme, das den bevorstehenden Heimweg um so abschreckender erscheinen ließ, entstand jene Stimmung, in der Kinder sich nicht enthalten können, Gespenstergeschichten zu erzählen, auch wenn sie wissen, daß sie später auf der schauerlichen Reise ins Bett durch dunkle Gänge und Treppen für ihren Fürwitz büßen müssen. Die kleine Gesellschaft erzählte nun gerade keine Geistergeschichten, aber das Gespräch führte doch vor gewisse verschlossene Türen, an denen der Frager sicher ist, keine Antwort zu empfangen. Ein Jurist, der seinen Richterberuf mit der Schriftstellerei vertauscht hatte, gab mehrere merkwürdige und unerklärbare Fälle aus seiner gerichtlichen Erfahrung zum besten, wodurch die Rede auf die damals noch neue und für viele überraschende Feststellung einer gewissen Gesetzmäßigkeit und zahlenbestimmten Wiederkehr in den scheinbar willkürlichsten menschlichen Handlungen wie Verbrechen und Selbstmord kam, und unversehens stand man vor der alten Frage von der Freiheit des menschlichen Willens.

In dem lebhaften Meinungsaustausch über dieses dunkelste Gebiet kam eine ganze Musterkarte von Weltanschauungen zutage. Ein bekannter italienischer Klaviervirtuose, Schüler Liszts und wie dieser in den geistlichen Stand getreten, wollte von einer Zwangsläufigkeit des Geschehens nichts wissen, die ebenso gegen die menschliche Verantwortung wie gegen die göttliche Barmherzigkeit streite.

Wenn Ihre Zahlen mehr sein sollen als ein Spiel des Zufalls oder Ausdruck bestimmter äußerer Umstände, sagte er, wenn, wie Sie anzunehmen scheinen, jeder Tat etwas Unausweichliches zugrunde liegt, so begreife ich nicht, wie es Ihnen mit solchen Überzeugungen möglich war, Richter zu sein.

Das war mir eben nicht möglich, antwortete der Jurist, darum legte ich mein Amt nieder und spintisiere lieber über den Weltlauf, als daß ich es wagte, noch weiter hineinzupfuschen. Denn bei jedem Strafverfahren sah ich unzählige Fäden von Urbeginn her zusammenschießen, die am Ende wie von selber in die Straftat ausliefen, und es schien mir, als müßte ich nicht eigentlich dem Verbrecher, sondern der ganzen verwickelten Weltordnung den Prozeß machen. Und Sie, verehrter Meister, mit Ihrer von der meinigen grundverschiedenen Einstellung würden, zwar auf anderem Wege als ich, aber doch zu dem gleichen Schluß gekommen sein. Denn wenn ohne Gottes Willen kein Haar vom Haupte des Menschen fällt, so ist es klar, daß auch ohne Gottes Willen kein Mensch erschlagen oder beraubt wird, und somit könnte man füglich die Frage aufwerfen, ob es der menschlichen Gerechtigkeit zusteht, denjenigen zu bestrafen, der die göttliche Vorausbestimmung vollzogen hat.

Der Musiker, dessen glühende Frömmigkeit nicht auf dialektische Spitzfindigkeiten eingerichtet war, erhob entsetzt die Hände und konnte nichts erwidern als: Aber! Aber! Solche Paradoxen!

Sehen Sie, sagte die Gräfin neckend zu dem juristischen Hausfreund, wohin es führt, wenn man Statistik und Mystizismus verkuppeln will, die doch ein gar zu ungleiches Paar sind. Am Ende müßte man glauben, wenn irgendein Unglücklicher aus einem nur ihm bekannten, höchst persönlichen Muß lieber im schönen Julimond seinem Leben ein Ziel setzt als an einem nebelgrauen Novembertag, er habe es nur getan, um die Hochzahl der Selbstmorde voll zu machen, die auf diesen gesegneten Monat fallen sollen.

Sein Muß ist seine Sache, warf ein baltischer Baron, dem die Beschäftigung mit Geheimwissenschaften nachgesagt wurde, ein, – aber die einfachen Dinge sind zur Erklärung des irdischen Geschehens niemals zureichend. Wir werden uns der Einsicht nicht verschließen dürfen, daß hinter jedem menschlichen Muß ein tieferes metaphysisches Muß als eine Art Hebel steht, den wir nach seinem Wesen nicht kennen, dessen Macht uns aber in unseren nachdenklichen Stunden wohl zum Bewußtsein kommt.

Da wären wir ja zur Begrüßung des neuen Jahrhunderts glücklich wieder bei dem Fatum der Alten und dem Einfluß der Gestirne angelangt, bemerkte der allverehrte Arzt der Fremdenkolonie, ein Deutscher, dessen Jugendentwicklung mitten in den Triumph der Naturwissenschaften gefallen war und der noch immer mit der Metaphysik im Kriege lag. Indessen war aber die Zeit schon leise über den Anspruch der Naturwissenschaft, das letzte Wort in den ewigen Fragen sprechen zu können, weggeglitten, und die unterdrückte Phantasie rächte sich nun, indem sie ihr weggeworfenes Lieblingsspielzeug aus vergangenen Jahrhunderten, die Mystik in allen ihren Formen, wieder hervorholte. So geschah es auch in diesem Kreis.

Und sollte wirklich vor dem Zwang und Widersinn alles irdischen Geschehens der Zweifel gänzlich ausgeschlossen sein, ob eine solche Beeinflussung nicht am Ende doch stattfinde? wurde ihm erwidert. Wird nicht die Forschung noch manches, das der Menschheit vorlängst blitzartig aufgegangen ist und das zur Zeit noch Aberglauben heißt, in ihren Bereich einbeziehen und durch einen wissenschaftlichen Namen zu Ehren bringen?

Gewiß kann die Forschung ihre Grenzen erweitern, antwortete jener, aber die der Logik sind ein für allemal gezogen. Wie unsre Altvordern, und nicht die Dümmsten unter ihnen, den Sternenglauben mit ihrer Vernunft vereinigen konnten, habe ich niemals einzusehen vermocht. Ist nicht der jeweilige Stand der Gestirne für alle der nämliche? Wie konnten sie es für möglich halten, daß von den Hunderttausenden, die in einer Stadt beisammen leben, nur ein einziger, gerade dieser eine, durch die Konstellation der Stunde zum Mörder oder Selbstmörder wird?

Es leben nicht Hunderttausende zu der gleichen Stunde unter den gleichen Bedingungen, ja nicht einmal zwei, antwortete der Balte. Wie keine zwei die gleichen Linien des Fingerabdrucks aufweisen, so trifft der Strahl der Gestirne, der über die Hunderttausende niedergeht, nicht zwei in der gleichen Verfassung und Lage.

Demnach dürfen Sie in unsrem Tun weder Wahl noch Zufall, noch Anlage gelten lassen, nur ein starres kosmisches Gesetz, das uns bei der Geburt empfängt und uns mit der Sicherheit einer Maschine unseren schon völlig fertigen Geschicken zuführt? sagte sein Gegenredner.

Und die moralische Weltordnung? warf der geistliche Musiker dazwischen, den der Verlauf des Gesprächs unerwartet auf die Seite seines naturwissenschaftlichen Widerparts führte.

Die moralische Weltordnung müssen wir annehmen, weil wir ohne sie nicht leben können, wenn sie uns gleich ihre Züge verbirgt. Im übrigen lasse ich alles gelten: Wahl und Anlage und Zufall, aber nur wie Planetenbahnen innerhalb der Sonnenbahn, die ihre kleinen Meßbarkeiten ins Unermeßliche mit sich trägt. Ich kann freilich wollen, aber daß ich will wie ich will, das ist eben mein Muß. Es ist, was Goethe in seinen ›Urworten‹ ›ein Wollen, weil wir eben sollten‹ nennt.

Das läßt sich hören. Aber vergessen Sie nicht, daß Goethe als erstes der Urworte den ›Dämon‹ gesetzt hat, unser Angeborenes, woraus alles Schicksal fließt.

Wenn dem so ist, mischte sich die Gräfin Olga, eine jüngere Verwandte des Hauses, die bisher mit der größten Spannung zugehört hatte, ein, wenn die Dinge wirklich nur einen Weg haben, einen von Anfang gewiesenen, an dem wir alle in unbewußtem Übereinkommen mitarbeiten, dann muß auch ein Vorauswissen möglich sein, wenigstens muß es einzelne, besonders angelegte Naturen geben, die schon, ehe die Rechnung gezogen ist, ihr Ergebnis mit ahnendem Blicke herauslesen.

Diese Naturen hat es zu allen Zeiten gegeben, war die Antwort. Ja, ich behaupte, daß jeder von uns mit der Kenntnis alles dessen, was ihm bestimmt ist, zur Welt kommt, und daß ihm nur durch den scharfen Lebenssturmwind, der ihn da empfängt, dieses Wissen verweht und verschüttet wird. In Kinderaugen kann man es oft noch lesen, und in den Erwachsenen bleibt es als eine Grundstimmung zurück, worin das zur Ahnung verblaßte Wissen des Künftigen weiterlebt, das auf einer anderen Ebene schon Gegenwart ist. Die Lieblinge des Glücks spüren schon im Kreisen ihres Blutes das kommende reiche und starke Leben voraus, die Unbegünstigten ihr herbes Verzichtenmüssen oder frühes Sterben.

Der Arzt hatte zu diesen Reden mehr und mehr den Kopf geschüttelt, am Ende hielt er sich nicht länger.

Wie sich doch Ursache und Wirkung zum Verwechseln ähnlich sehen. Natürlich kommt der Melancholikus am Tische des Lebens zu kurz, weil ihm sein schwermütiger Hang, den Sie sein Wissen des Künftigen nennen und der vielleicht nichts ist als ein Leberleiden, das fröhliche Zugreifen unmöglich macht. Der Lebensfrohe hat schon halb gewonnen, weil er im voraus weiß, daß er gewinnen wird, und dieser Glaube gebiert Siege. Dunkle Lebensangst aber und der Drang, Gespenster zu schaffen, ziehen das Unheil ohne außerweltliche Einflüsse an den Haaren herbei. Das ist es ja eben, das Mitgeborene, Unabänderliche in unserer eigenen Brust, was Goethe unter dem ›Dämon‹ versteht.

Aber, trumpfte der Gegner auf, hat er diesen nicht erst recht unter den Sternenzwang der Geburtsstunde gestellt: ›Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, die Sonne stand zum Gruße der Planeten –‹

Halt! Halt! unterbrach Gräfin Olga. Ehe Sie weiterreden und mir eine schöne Gelegenheit wegschwemmen, lassen Sie mich eine Geschichte erzählen, die mir die Zeit her auf der Zunge brennt. Ich wartete nur auf das Stichwort, um sie an der rechten Stelle anzubringen. Meine Geschichte wird Sie nicht lange aufhalten und hat dabei den Vorzug, buchstäblich wahr zu sein, obgleich mir natürlich, wie immer, wenn ich etwas zu erzählen habe, alle Daten entfallen sind. Ich habe sie von meinem Bruder, der als blutjunger Offizier den russisch-türkischen Feldzug mitmachte und Augenzeuge des tragischen Vorgangs gewesen ist.

General Skobelew war, wie meine Landsleute sich erinnern, der tollkühnste Führer der russischen Armee. Er setzte sich persönlich aus wie kein anderer, trieb es als Sport, aufrecht mitten in den Kugelregen zu reiten, besuchte die vorgeschobensten Posten, und wenn auf weiter, ungedeckter Fläche die Kugeln heranpfiffen, so ritt er langsam zurück und nötigte seine Begleitung, das gleiche zu tun. Geschah es einem seiner Offiziere, daß er sich vor den feindlichen Kugeln im Sattel bückte, so sagte ihm der General spöttisch: Ah, ah, Sie verbeugen sich! Viel zu höflich, viel zu höflich gegen den Feind. Der Offizier, den er zu seinem Adjutanten ernannte, war so gut wie zum Tode verurteilt, aber während die Adjutanten immerzu wechselten, blieb der General selber unverletzt. Als der Posten wieder einmal durch eine türkische Kugel freigeworden war, wählte er einen ganz jungen Leutnant, dessen Verwegenheit unter den Kameraden sprichwörtlich war. Graf Y. – ich habe seinen Namen vergessen und würde ihn auch nicht nennen, wenn ich ihn noch wüßte – erwies sich der Ehre würdig und zeigte bei jedem Anlaß eine unerschrockene Kaltblütigkeit, die ihm die ganze Achtung des Generals eintrug. Bei einer wichtigen Gelegenheit hielt er sich so, daß ihm eine glänzende Beförderung in Aussicht stand.

An einem scharfen Gefechtstag – wenn ich nicht irre, war es beim Übergang über den Schipka-Paß – hielt General Skobelew auf einem erhöhten Punkt, um das Treffen zu beobachten, und plauderte dabei gelassen mit einigen höheren Offizieren. Graf Y. begleitete ihn wie gewöhnlich, und auch mein Bruder war als Offizier vom Tag zugegen. Eben marschierte ein Flügel der türkischen Infanterie heran, und als der Feind die Gruppe auf dem Hügel erkannte, gab er Feuer. In diesem Augenblick bemerkte mein Bruder, der in der Nähe des Grafen hielt, eine seltsame Veränderung in seinem Mienenspiel. Er erblaßte, begann zu zittern, seine Augen wurden weit und starr, als sehe er eine schreckliche Erscheinung, und ehe mein Bruder fragen konnte, was ihm sei, hatte er mit einer Bewegung des wildesten Entsetzens das Pferd herumgerissen und war den Hügel hinabgesaust auf der dem Feinde abgekehrten Seite. Sprachlos vor Staunen blickte ihm mein Bruder nach, wie er in wilder Flucht über das Feld weiterjagte. Sie können sich die Gesichter der Zurückgebliebenen denken – Ausreißen vor dem Feind, das schmachvollste Vergehen, welches das Kriegsgesetz kennt, und begangen von dem Tapfersten der Tapfern! Auf den Wink des Generals flogen ein paar Offiziere dem Flüchtigen nach, mein Bruder unter ihnen, sie erreichten, umringten ihn, er wehrte sich blind vor Angst, wurde jedoch überwältigt. Todblaß, auf seinem Pferde wankend, führten sie ihn zurück, aber kaum hatte er seinen alten Platz erreicht, so stürzte er, von einer türkischen Kugel getroffen, tot zu Boden. Es war das beste, was ihm geschehen konnte, denn Erschießung in den Rücken erwartete ihn, wenn er den Tag überlebte. Aber können Sie leugnen, daß der Unglückliche das Herannahen der feindlichen Kugel gespürt hat, daß er vor dem Blitz, der ihn treffen sollte, geflohen war? Gewiß ein Fall von Ahnung des Vorausbestimmten, bei dem keine Verwechslung von Ursache und Wirkung möglich ist.

Darüber läßt sich streiten, antwortete der Unverbesserliche. Kann Ihr Ausreißer nicht gerade durch seine Flucht die Kugel herbeigezogen haben, der er entfliehen wollte? Wer kann sagen, ob er wirklich ganz genau an die alte Stelle zurückgebracht wurde, wo ein Zollbreit nach rechts oder links, ja eine bloße Kopfdrehung über Leben und Tod entschied? Hätte sich nicht, falls er ruhig geblieben wäre, die Gruppe durch Zufall so verschieben können, daß die Kugel einen andern getroffen hätte oder unschädlich vorübergesaust wäre?

Damit ist meine Geschichte nicht entkräftet, lieber Doktor, sagte die Gräfin. Sie gehört eben dann zu jenen besondern Kniffen des Fatums, wo das Verhängte sich gerade dadurch erfüllen muß, daß man versucht, es abzuwenden, wie es mit den berühmten Warnungen des delphischen Orakels zu gehen pflegte.

Der Doktor schüttelte den Kopf:

Zwischen Ihrem Auskneifer und dem König Ödipus scheint mir die Brücke nicht ganz tragfähig. Es fehlt, was man in der Redekunst das Tertium comparationis nennt, das Gemeinsame, sagen wir: die durchstochene Ferse. Ich sehe in dem Falle Ihres Grafen Y. nichts weiter als einen plötzlichen Nervenschock, wie ihn der Krieg oft genug mit sich bringt. Also nach der Seite des Wunderbaren haben Sie mir nichts bewiesen, aber ich bin Ihnen doch für Ihre Geschichte dankbar, denn sie führt mich auf eine andere Frage, die mir offen gestanden näher liegt, auf die Frage, was es denn eigentlich um den Mut für ein Ding ist, ob er überhaupt dem Seelenleben angehört oder nur der körperlichen Verfassung. Ich habe einen philosophischen Freund, der schlechtweg den Satz aufgestellt hat: ›Mut ist Dummheit‹, und der ihn mit so schlagenden Beweisen versieht, daß man sich selbst als ein phantasieloser Schwachkopf erscheint, weil man nicht vor jeder Fliege zittert; denn Fliegen sind, wie Sie wissen werden, hervorragend gefährliche Mitgeschöpfe.

Nein, so kommen Sie mir nicht aus, lachte die Gräfin, nicht vom Mut und von den Fliegen wollten wir sprechen, sondern vom Vorbestimmten und seiner Erfüllung. Ich habe noch eine Geschichte in Bereitschaft, die auch dem ungläubigsten Thomas zu denken geben muß. Ich kann sie nicht selbst erzählen, weil wir eine Mitspielerin dieser Begebenheit in unserer Mitte haben. Warwara Grigorjewna, bitte, bitte, erzählen Sie einmal dem zweifelsüchtigen Herrn von Ihrer Nichte, der schönen Georgierin.

Die Angerufene war eine Frau in vorgerückten Jahren mit starkentwickeltem, männlichem Charakterkopf, die die ganze Zeit schweigend zugehört und an einer langen Zigarre geraucht hatte. Sie nahm die Zigarre aus dem Mund, blickte zuerst den ihr nahe befreundeten Arzt, dann die anderen Anwesenden der Reihe nach an und schwieg weiter. Nach einer kleinen Weile der Spannung sagte sie:

Unser Maestro hat uns für heute abend stillschweigend etwas ganz Besonderes, Erlesenes in Aussicht gestellt, und ich sitze all die Zeit in Erwartung, daß er sein Wort halte.

Ich gestehe in der Tat, sagte der Künstler, daß ich heute mit dieser Absicht gekommen bin, ich wundre mich aber doch, so durchschaut zu sein.

Sie wissen eben nicht, wie tief die Augen der Frauen blicken, lieber Maestro, lächelte die vornehme alte Dame.

Unterdessen ist es aber spät geworden, Frau Fürstin, Sie wissen, daß ich ein Frühschläfer bin, und ich habe einen langen Weg nach Hause.

Jetzt wollen Sie aufbrechen? widersprach die Hausfrau. Hören Sie nicht, wie die Tramontana eben aufs neue einsetzt? Unser Wagen ist in der Ausbesserung, und im ganzen Umkreis keine Droschke aufzutreiben. In dieses Wetter lasse ich Sie nicht hinaus, und wenn ich Sie die ganze Nacht hier einsperren müßte.

Wenn ich mitgenießen soll, sagte jetzt der Rechtsgelehrte, zu dem Künstler tretend, der schon am Flügel saß, so muß ich bitten, mir erst den Titel des Werkes zu nennen. Ich bin so hoffnungslos unmusikalisch, daß ich niemals von selbst erkenne, was gespielt wird.

Ich könnte auch wetten, antwortete der Künstler, daß Sie dieses Tonwerk nie gehört haben. Ich werde den Pensioroso meines Meisters spielen, sein edelstes Werk, die Einkehr der sündigen Seele, die über sich selber denkt, nach der Statue des Michelangelo auf dem Mediceergrab so benannt.

Als der Künstler unter tiefer Stille geendigt hatte, gedachte man flüsternd des Unvergeßlichen, dessen Geist mit seiner Musik herniedergestiegen war. Man sprach von dem Abend vor fünfzehn Jahren, wo der große Liebenswürdige zum letztenmal an diesem Flügel gesessen, und meinte seinen Luftkreis, von dem dieses Haus die bleibende Weihe trug, noch einmal um sich zu spüren. Als die Ergriffenheit verebbt war und die Unterhaltung in das Alltagsgeleise hinübergeglitten, hörte man plötzlich das Einrollen eines Wagens in den Hofraum.

Das gilt niemand als mir, sagte der Arzt und erhob sich.

Es war in der Tat ein Lungenkranker, der nicht leben noch sterben konnte, zu dem der Vielgeplagte so spät noch geholt wurde.

Maestro, sagte er zu dem Künstler, mit dem ihn über den Abgrund der Weltanschauungen hinweg die Liebe zur Musik verband. Fahren Sie mit, die Gelegenheit könnte nicht günstiger sein, ich kann Sie vor Ihrer Haustür absetzen, ohne den geringsten Umweg zu machen.

Während das Rädergerassel vor dem Parktor verhallte, sagte diejenige, die mit Warwara Grigorjewna angeredet wurde, in die plötzliche, durch den Aufbruch der beiden entstandene Stille hinein:

Da uns nun die zwei ehernen Felsen der Wissenschaft und des Glaubens verlassen haben, will ich meinen Kollegen in der Unwissenheit und im Aberglauben gern die Geschichte, um die ich angegangen worden bin, erzählen. Sie fände sonst, nachdem sie einmal wieder aufgeregt ist, heute abend keine Ruhe mehr in mir. Wenn ich vorhin schwieg, so tat ich es, um die Nerven unseres Doktors zu schonen, auf den nun einmal das Übersinnliche wie ein Giftstoff wirkt. Freilich hätte ich ihm seinen eigenen Vorgänger als Zeugen anführen können, der den Ausgang meiner Geschichte miterlebt hat, aber ich wollte ihm, wie gesagt, den Abend nicht verderben. Ich habe nämlich entdeckt, daß er selber im verborgensten Stübchen einen Hang zur Mystik hat, den er bekämpft und wie einen Schandfleck verheimlicht. Der ist es, der ihn so unduldsam gegen unsere okkultistischen Schwächen macht. Doch nun zu meiner Geschichte:

Ein Vetter meines verstorbenen Mannes war bei Hof in Ungnade gefallen und zur Strafe in ein entferntes Regiment nach dem Kaukasus versetzt worden. Dort entführte er eine Georgierin von außerordentlicher Schönheit aus ihrem Elternhaus und heiratete sie. Aber die junge Frau starb schon nach wenigen Jahren an der Schwindsucht, nachdem sie rasch aufeinander mehrere Kinder geboren hatte, von denen nur das älteste, ein Töchterchen, lebensfähig war. Boris Kyrillowitsch schien eine Zeitlang untröstlich über diesen Verlust, er nahm seinen Abschied von der Armee und zog sich mit seinem Kind in die tiefste Steppeneinsamkeit zurück. Ich kannte ihn nicht persönlich, denn ich stand mit diesem Zweig der Familie in keinem Verkehr, aber unter den Verwandten war oft von der sonderbaren Erziehung die Rede, die er dem kleinen Wesen angedeihen ließ.

Das Kind sollte mit der Schönheit der Mutter auch deren zarte Gesundheit geerbt haben. Um jeden Keim der mörderischen Krankheit beizeiten zu erkennen und zu bekämpfen, hielt der Vater sie unter fortwährender ärztlicher Aufsicht, er wog sie eigenhändig jeden Tag und umgab sie mit einem Hofstaat von Bonnen und Erzieherinnen, die über ihr körperliches Gedeihen zu wachen hatten. Ja, man sagte ihm nach, daß er keinen fremden Menschen über seine Schwelle lasse, ohne ihn zuvor unter die Karbolspritze gestellt zu haben, aus Furcht vor ansteckenden Krankheiten. Sicher ist, daß er die medizinische Schrulle hatte, an der sehr viele Russen leiden, und sich ganz mit wissenschaftlichen Büchern umgab, die er nicht verstand und die ihn nur in seiner Ängstlichkeit bestärkten. Da er die Überzeugung hatte, seine Frau würde ohne die Leiden der wiederholten Mutterschaft noch am Leben sein, setzte er sich vor, seine Tochter niemals heiraten zu lassen, und suchte ihr schon in frühster Jugend einen Widerwillen gegen die Ehe einzuimpfen. Weil ihm aber auch diese Maßregel noch keine genügende Sicherheit versprach, hielt er das heranwachsende Mädchen fern von allem Männerverkehr auf seinen Gütern in der Krim verborgen; selbst aus der Verwandtschaft konnte sich niemand rühmen, das Angesicht der schönen Sonja gesehen zu haben, mit Ausnahme einiger alter Tanten und anderer ungefährlicher Persönlichkeiten. Dies alles wußte ich, wie gesagt, nur vom Hörensagen, und da ich nach meines Mannes Tode Rußland verließ und mich dauernd in Florenz ansiedelte, wo ich, wie Sie wissen, wenig Verkehr pflege, verlor ich den Sonderling ganz aus dem Gedächtnis.

Vor zehn oder zwölf Jahren nun, als ich einmal den Sommer in der Stadt verbrachte, fiel mir bei meinen Spazierfahrten über die Colli häufig eine wunderbar schöne junge Frau am Arm eines sehr jungen Mannes auf, die des Abends ganz allein über den Viale zu wandeln pflegten. Sie gingen immer fest zusammengeschmiegt und schienen beide nur Augen für einander zu haben. Natürlich ein Pärchen in den Flitterwochen – das verriet schon die große Jugend der beiden und die Art ihrer Vertraulichkeit, der man ansah, daß sie das Auge des Tages nicht scheute, aber sehr verschieden von den öffentlichen Zärtlichkeiten der gewöhnlichen Hochzeitsreisenden war. Worte haben nicht die Fähigkeit, menschliche Schönheit wiederzugeben, eher ließe sich das unfaßliche Etwas, worin der Zauber eines Gesichtes liegt, durch eine Reihenfolge von Tönen oder durch Wohlgerüche ausdrücken, wenn man mit diesen Mitteln so umgehen könnte wie mit der Sprache. Ich will deshalb nur sagen, daß ihr Gesicht gerade so weit an den orientalischen Schnitt erinnerte, um der griechischen Einförmigkeit zu entgehen, daß es durchsichtig und gleichmäßig gefärbt war wie ein blasser Bernstein, die Haare von dem tiefen Schwarz, das ins Bläuliche streift, und langgeschnittene Augen wie Sterne unter dunklem Flor. Das Auffallendste waren vielleicht die Augenbrauen, die rein und breit gezeichnet fast einen Halbkreis bildeten und über der kräftigen Nasenwurzel zusammenflossen, wie man es hier im Indischen Museum an den Sultaninnen von Delhi sieht. In dieser Besonderheit lag freilich eine so starke Betonung des Rassehaften, daß dabei kein Ausdruck eigener geistiger Persönlichkeit aufkam. Es war mehr ein zauberisches, orchideenhaftes Naturgebilde als ein schöner Mitmensch. Ich nannte sie im stillen meine Sakontala oder Sulamith. Mein Kutscher hatte immer den Befehl, langsamer zu fahren, wenn die schöne Unbekannte in Sicht käme. Sie beachtete anfangs mein Anstarren nicht, aber der Gatte mußte es bemerkt haben, denn er sagte ihr einmal ein Wort ins Ohr, worauf sie neugierig die Augen zu mir erhob, ich grüßte sie aus meinem Wagen heraus, und sie dankte mit einem mädchenhaften Erröten. Mein Wohlgefallen war aber ein ganz unpersönliches, ich war weit entfernt zu ahnen, daß ich bald auch einen menschlichen Anteil an ihr nehmen würde. Nur zufällig hörte ich einmal, daß der Mann ein deutscher Musiker sei, Dove heiße und Anschluß an die hiesigen musikalischen Kreise suche. Als ich nach längerer Zeit dem Pärchen wieder einmal begegnete, konnte ich mich nicht enthalten, der Schönen, die mir wieder schöner erschien als je, die Rosen, die ich eben im Schoße hielt, vom Wagen heraus zuzuwerfen. Dennoch war ich nicht ganz angenehm überrascht, als mir tags darauf der Besuch von Herrn und Frau Dove in meiner Einsiedelei gemeldet wurde, denn ich glaubte, meinem auffallenden Benehmen diese Annäherung zu verdanken. Doch eine seltsame Enthüllung wartete meiner, denn der Besuchskarte lagen ein paar Zeilen des russischen Konsuls bei, worin er mir die junge Frau als eine Anverwandte, geborene Russin und Tochter eben jenes Vetters Boris Kyrillowitsch vorstellte.

Wie es geschehen kann, daß man eine schöne Blume findet und eine Vorliebe für sie faßt, ohne zu wissen, wie sie heißt, bis man eines Tages erfährt, daß es eine seltene langgesuchte Art ist, die man schon dem Namen nach geliebt hat, so erging es mir mit Sophia Borissowna. Ich hatte oft mit Teilnahme an das Kind der Georgierin gedacht, das ich mir noch immer als Opfer der väterlichen Fürsorge in freudeloser Weltabgeschiedenheit vorstellte, und der schönen Sakontala vom Viale de’ Colli war mein Herz beim ersten Blicke zugeflogen: jetzt hielt ich beide Wesen in einer Person in den Armen. Ich sagte ihr das und schalt, daß sie nicht früher gekommen sei, aber den Grund konnte ich mir wohl denken, sie mochte schon von andern Verwandten wegen der unebenbürtigen Heirat kühl aufgenommen worden sein. In meinen Augen konnte sie durch ihre Wahl nur gewinnen, denn der Mann war ein reizender Mensch und bei seiner frühreifen Meisterschaft arglos wie ein Kind. Aber wie der hochmütige Vetter Boris eingewilligt hatte, seine Tochter einem namenlosen Musiker zu geben, der nichts hatte und vorerst noch nichts war, das blieb mir vorderhand ein Rätsel. Auch wurde Sonjas Gesicht traurig, als ich nach ihrem Vater fragte, und sie gestand, daß sie nur selten Nachricht von ihm empfange.

Um so mehr bedarfst du einer Mutter, sagte ich, du hast also mich von heute an als solche zu betrachten.

Wir sahen uns nun fast täglich, auch der Mann faßte gleich Vertrauen zu mir, und ich war so glücklich, ihm eine günstige Aufnahme in der Filarmonica zu verschaffen, wo sein Können sofort Beachtung fand. Aber meine Neigung galt vor allem Sonja. Nicht als ob der persönliche Verkehr dem Eindruck ihrer Erscheinung etwas hinzugebracht hätte, es hing vielmehr wie ein Schleier über ihr, der den Blick in ihr Inneres verwehrte. Da sie so traumhaft schön war und äußerst wenig sprach, wurde in der Gesellschaft jedes ihrer Worte für ein Goldkorn genommen und wer nur etwas Besonderes und Bedeutendes zu sagen hatte, der richtete die Rede an sie; ihre indischen Wunderaugen gaben tiefsinnige Antwort, ohne daß sie die Lippen öffnete. Männer, die sonst ganz verständig waren, glaubten, daß auf dem Grund ihrer Seele wie in einem See der Schlüssel zu allen Rätseln des Daseins ruhe und daß sie nur zu wollen brauchte, um geheimnisvolle Herrlichkeiten heraufzufördern. Ich dagegen sah, wie schwer es ihrem ganz unentwickelten Geiste fiel, auch nur einer Unterhaltung zu folgen, und wie die junge Seele sich mühte, aus der Puppenhülle, in der sie befangen war, loszukommen. Ihre trostlose Kindheit erklärte diese Unreife. Keine Mutter, keine Geschwister, kein Umgang mit Gleichaltrigen, dazu das öde, geisttötende Reisen, das für sie nichts bedeutete als Luftveränderung und Fortbewegung, weil man ihr keine Zeit ließ, die Eindrücke zu verarbeiten. Welch ein Dasein, klagte sie mir oft. Der Eisenbahnwagen war meine Kinderstube, darin saßen der Vater, der Arzt, die Erzieherin und mein armes kleines Ich, in Schals und Halstücher gewickelt, auch im Sommer. Kein Mensch durfte außer uns im Abteil sein, und ehe wir uns setzten, besprengte Papa die Wände und Sitze mit Karbol, ich meine es noch zu riechen. Ganz Europa haben wir bereist, aber ich erinnere mich an nichts; will ich mich auf meine Kindheit besinnen, so fällt mir nur das Eisenbahnabteil oder ein Gasthofzimmer ein. Alles ist schattenhaft wie ein Traum in meiner Vergangenheit, erst seit ich meinen Mann kenne, lebe ich. Die siebzehn Jahre, die ich auf der Welt war, ohne von ihm zu wissen, dürfen mir einmal gar nicht als gelebte angerechnet werden.

Daß sie aber doch nicht ohne Salz war, zeigte sie schon dadurch, daß sie gelegentlich lächelnd sagte:

Es ist ein Glück für mich, daß mein Mann ein Deutscher ist, man sagt ja, die Deutschen lieben geistlose Frauen. Dafür störe ich ihn auch nicht in seiner Kunst, ich kann Nachmittage lang ganz still auf meinem Kanapee liegen und ihm zuhören.

Dies war leider richtig, denn sooft ich hinauskam, fand ich sie auf ihrem Diwan ausgestreckt, noch frierend unter einer Last von orientalischen Decken und ganz in das Violinspiel ihres Mannes, das aus dem Nebenzimmer tönte, versunken.

Vergeblich mühte ich mich, sie aus diesem untätigen Leben aufzurütteln, ihr Tagwerk war und blieb das der Blumen, sie hatte keine Beschäftigung als schön zu sein. Fragte ich dann:

Was denkst du nur, Kind, wenn du so den ganzen Tag daliegst, ohne dich zu regen? so antwortete sie mir gewiß glückstrahlend:

Immer an ihn, an meinen Mann – und es war mir unmöglich, ihr böse zu sein.

Als die kühleren Herbsttage kamen, wuchs natürlich noch die Zahl der Decken, unter denen sie sich vergrub, aber zum Aufstehen und Gehen war sie erst recht nicht zu bewegen, denn sie glaubte jetzt an der frohen Aussicht, der sie entgegenging, eine Berechtigung zum Liegenbleiben zu haben.

Die Folgen dieser verkehrten Lebensweise blieben nicht aus, denn bald wurde ihre Stimmung gedrückt und schwermütig. Auch die Züge verschärften sich zusehends, und der Bernsteinton ihrer Haut bekam etwas Undurchsichtiges, was sogar der großen Schönheit Eintrag tat. Sie hatte oft Todesgedanken, bat, ich möchte mich, falls sie sterbe, des Kindes annehmen, da ihr Mann sich allein nicht zu helfen wüßte, dann schien sie wieder solche Reden zu bereuen und beschwor mich, gegen jedermann von ihren Ängsten zu schweigen.

Ich fragte, ob sie sich denn leidend fühle, mehr als es ihr Zustand notwendigerweise mit sich bringe, aber sie antwortete, sie sei ganz gesund, gesünder als seit Jahren, leide auch nur wenig von ihrem Zustand, aber sie habe eine Ahnung, ein bestimmtes, unabwendbares Gefühl, daß sie die Geburt des Kindes nicht überleben werde. Ich sah in diesen Anwandlungen nichts anderes als den ganz natürlichen Gedanken an den Tod, der jeder jungen Frau in ihrer Lage nahetritt, ich sang ihr deshalb nur mein altes Lied, daß sie sich aus ihrer Trägheit aufraffen und ein tätigeres Leben führen müsse. Aber so oft ich nach der Villa auf dem Viale kam, wo die Doves wohnten, fand ich das schöne lässige Wesen auf ihrem Diwan liegend, mit bunten Teppichen zugedeckt und den langen Leib in schlangenartigen Biegungen heraufgezogen. Mit dem Ehemann war gar nicht zu reden, er gab mir zwar in allem recht, glaubte aber doch, daß seine Frau die Dinge noch besser verstehe, und überdies waren seine Gedanken ganz von einer Tonschöpfung, an der er eben arbeitete, erfüllt. Da ich nichts ausrichten konnte, gab ich das Predigen auf und begnügte mich, der armen Frau, wenn ich sie traurig sah, ihre vermeintlichen Grillen auszureden.

Da ereignete sich eines Tages ein Auftritt, der mir ihren Gemütszustand in einem andern Licht erscheinen ließ. Auf ihrer Villa hauste als Gärtner ein alter Romagnole mit schneeweißem, glattgeschorenem Kopf und kurzen Säbelbeinen, einer der wunderlichsten Käuze, die mir jemals vorgekommen sind: er setzte seinen Stolz darein, für den ältesten Mann in der ganzen Gegend zu gelten, und pochte auf seine Jahre, wie ein anderer auf ein hohes Ehrenamt. Wenn man ihn nach seinem Alter fragte, so nannte er eine für sein Aussehen und seine Rüstigkeit ganz unwahrscheinlich hohe Zahl und steigerte noch, sobald man einen Zweifel an der Möglichkeit äußerte. Sagte man ihm aber etwas Schmeichelhaftes über seine Frische und Beweglichkeit, so antwortete er geheimnisvoll: Es kommt nur auf den Willen an, womit er den Willen zum Leben, freilich nicht im Sinne des Philosophen, meinte.

Der Mann hatte nämlich die felsenfeste Überzeugung – und ich habe sie ihn unzählige Male aussprechen hören –, daß kein Mensch eigentlich sterben müßte, wenn er nur auf seinem ›Willen‹ bliebe, aber die Menschen hätten eben meistens nicht Festigkeit genug, sie würden am Ende mürb und gäben dann klein bei, wenn der Tod an die Tür klopfte. Nur das Sterben mit der Waffe in der Hand ließ er gelten, denn er war noch im Alter ein heißblütiger Kerl, aber wenn er von einem Todesfall sprach, der durch Krankheit oder Nachlaß der Natur herbeigeführt war, so tat er es stets mit einem mißbilligenden Ton und der stehenden Wendung: Si è lasciato persuadere, poveraccio! (Der arme Teufel hat sich dran kriegen lassen.) Den Tod sah er für den Versucher an, der immer umherschleicht, um schwache Seelen zu fangen, und wer ihm nicht widerstand, machte sich in Geppes Augen eines unverzeihlichen Versehens schuldig, besonders wenn es bei vollem Bewußtsein geschah, denn im Fieber, pflegte er zu sagen, wo einer nicht so aufmerkt, ist es eher zu begreifen, wenn ihm ›was Verkehrtes‹ zustößt. Für die Worte ›Tod‹ und ›Sterben‹, die er niemals aussprach, bediente er sich der wunderlichsten Umschreibungen, denn er hielt es für bedenklich, den Namen des Versuchers nur zu nennen.

Der alte Mann ergötzte mich unendlich mit seinen Schrullen, und weil Dove dies wußte, rief er ihn, wenn ich zugegen war, gerne unter einem Vorwand herein, um ihn über die Lebenszähigkeit in seiner Familie die wundervollsten Fabeln erzählen zu lassen, unter anderem die Geschichte einer Tante, die in ihrem hundertundzwanzigsten Jahr durch den Sturz von einem Kirschbaum gestorben sein sollte.

Aber ich steige auf keinen Kirschbaum, sagte er, und wenn mich ›Jemand‹ haben will, so muß er’s schlau angreifen. So ein fünfzig, sechzig Jährchen denk’ ich’s wohl noch zu machen. Solange mir mein Gläschen Wein noch schmeckt, sehe ich nicht ein, warum es mir auf der Welt nicht mehr gefallen sollte.

Ja, und solang Ihr noch Eure Zeitung lesen und auf die Regierung schimpfen könnt, setzte Herr Dove lachend hinzu, denn der Romagnole war wie alle seine Stammesgenossen ein großer Politiker.

Und solang es noch so schöne Damen auf der Welt gibt wie meine Herrschaft hier, entgegnete Geppe, der immer das letzte Wort behielt, indem er sich artig wie ein Kavalier nach dem Kanapee wandte, wo Sonja lag.

Wie aber, Geppe, sagte ich, wenn die Damen Euch einmal nicht mehr schön erscheinen? Oder nehmt einmal an, die Zeitungen gingen ein und die Regierung würde so gut, daß Ihr nicht mehr über sie schimpfen könntet. Was tätet Ihr dann, da Ihr durchaus nicht sterben zu können glaubt?

Dann würde ich es so machen wie meine junge Herrschaft hier. Ich würde mich auf ein Kanapee legen und würde liegen bleiben, vom Morgen zum Abend und vom Abend zum Morgen. Das Liegen würde mich bald so herunterbringen, daß mir der Atem schwächer und schwächer ginge, und endlich würden sie den alten Geppe hinaustragen und würden sagen: So, jetzt hat er auch dran glauben müssen.

Sonja fühlte den Stich, aber sie suchte zu scherzen.

Soll das heißen, daß ich bald sterben muß? fragte sie und richtete sich auf.

Gott bewahre! Wo denkt Eure Herrlichkeit hin? rief der Alte in täppischer Gutmütigkeit. Ich habe jetzt schon zweimal geträumt, daß aus Ihrem Zimmer ein Leichenzug herauskomme, und das bringt allemal Glück, darauf können Sie sich verlassen.

Kaum hatte der Alte diese unklugen Worte gesagt, als die arme Sonja mit einem Aufstöhnen an ihr Herz griff und wachsbleich in die Kissen sank.

Ich fragte bestürzt, ob sie Schmerzen habe, während unser Dove ganz kopflos durch das Zimmer rannte, Stühle umstieß und nach Wasser schrie.

Nichts, gar nichts, antwortete sie, nur ein dummer Gedanke. Ich glaube, daß Sie recht haben, das viele Liegen macht bange, ich muß mir Bewegung schaffen. – Nun bestand sie darauf, mich auf dem Heimweg zu begleiten, aber eben die Hast, mit der sie zum Aufbruch trieb, und eine unruhige Lustigkeit unterwegs bewiesen, daß ein kranker Punkt in ihrem Geistesleben sein müsse. Ich nahm mir vor, sehr bald wiederzukommen und einmal eindringlich unter vier Augen mit ihr zu sprechen.

Aber es ging anders als ich wünschte. Gerade um die Zeit, wo ein vernünftiger Zuspruch vielleicht noch von Wirkung gewesen wäre, mußte ich ihr wochenlang fernbleiben, denn ich hatte aus ihren überheizten Zimmern eine heftige Erkältung mit nach Hause gebracht. Und Sonja kam nicht zu mir, weil sie in meinen kühler gehaltenen Räumen fror. Unterdessen hörte ich nur von Zeit zu Zeit, daß sie eine andere Lebensweise angefangen habe und viel auf Spaziergängen und sogar in Gesellschaft zu sehen sei. Dazu trug vor allem der Vater bei, der unversehens aus Rußland angekommen war und nun nicht rasten konnte. Er hatte plötzlich den Entschluß gefaßt, sich mit dem Geschehenen auszusöhnen und war mit unzähligen Koffern in der Doveschen Villa eingezogen. Sogleich mußten Stadt und Umgegend in Augenschein genommen werden, und nach Art solcher selbstischer Naturen legte er auf den Schwiegersohn, nachdem er ihm einmal verziehen hatte, vollständig Beschlag. Der Musiker, der mitten aus dem Schaffen herausgerissen wurde, wollte innerlich verzweifeln, aber er unterwarf sich. Mit dem Alleinsein der Eheleute war es auch vorbei, wollte Sonja den Gatten nicht ganz entbehren, so mußte sie die beiden Herrn begleiten. Aber für ihre schwachen Kräfte tat sie nun zu viel und wurde vom Doktor selber auf das Kanapee zurückverbannt.

Da kam eines Tages der alte Geppe im Wagen angefahren, um mich eiligst zu Frau Dove zu holen, die in der größten Aufregung nach mir verlange. Was ihr fehlte, konnte er mir nicht sagen, nur daß die beiden Herren abwesend seien und daß sie nicht allein bleiben wolle, weil sie immer fürchte zu sterben. Den Doktor habe sie nicht gewollt, der könne ihr doch nicht helfen, ihr einziger Wunsch sei, mich zu sehen.

Geppe, sagte ich, redet nie wieder mit der jungen Herrschaft von Euren Träumen.

Aber es ist doch wahr, daß mein Traum Freude bedeutete, antwortete Geppe. Jetzt ist ja der alte Herr angekommen.

Als ich eintrat, fand ich die Rosalia, des Gärtners Enkeltochter, die im Haus als Zofe diente, damit beschäftigt, die junge Frau im Zimmer auf und ab zu führen. Sie sah ganz entstellt aus, die geöffneten Kleider hingen lose um sie her, die Haare waren in Strähnen herabgefallen.

Ich wußte, daß ich Sie nicht vergebens rufen würde, sagte sie und warf sich in meine Arme. Ich kann nicht mehr so leben, ich muß mir einmal Luft machen. Die beiden Herrn sind verreist, ich bin soviel allein, und da werden die Gedanken unerträglich. Wenn sie da sind, muß ich mich verstellen – der Vater, der die Heirat nicht wollte, darf nichts ahnen, und noch weniger soll mein Mann, der im besten Schaffen ist, mitleiden. Aber einem Menschen muß ich mich anvertrauen, Sie waren ja immer so gut mit mir.

Nachdem wir sie bequem in einem tiefen Lehnstuhl zurechtgesetzt hatten, den Kopf auf einem Kissen und die Füße auf dem Schemel ruhend, schickte sie das Mädchen weg, wollte aber zuerst nicht mit der Sprache heraus. Sie fing nur an, mir ausführlich von ihrer Vergangenheit zu erzählen, von einer Tante, die schnupfte, Zeitungen las und mit den Dienstboten schalt, einem Arzt, der ihr die Brust beklopfte und ihr bei jedem Anlaß einen Löffel in den Hals steckte, einer Erzieherin, die ihr mit Tüchern und Gummischuhen nachlief, wenn sie im Freien spielen wollte. Das Leben einer Pflanze im Glashaus. Niemand dachte daran, ihr ödes Dasein auszufüllen, außer mit überschwenglichen Geschenken, die ihr doch nichts gaben. Die abgöttische Liebe des Vaters suchte nur, sich das einzige Kind zu erhalten; wie es ihr in der Welt gefiel, danach fragte er nicht. Das Klavierspiel, an dem sie Freude gewann, wurde als zu ermüdend untersagt, das Singen sollte ihre Brust angreifen.

Sonja, mein Kind, hast du heute nacht gehustet? Nimmst du die Pillen regelmäßig ein? Das war der Morgensegen, mit dem Vater und Tante sie Tag für Tag begrüßten.

Als sie vierzehn war, erregte sie in Wien großes Aufsehen durch ihre Schönheit, ein spanischer Legationssekretär, der sie ihrer aufgeschossenen Gestalt nach für erwachsen hielt, warb um sie. Er wurde natürlich vom Vater abgewiesen. Sonja weinte, als sie es erfuhr, obwohl ihr die entgangene Verlobung nicht mehr bedeutete als ein anderes verbotenes Spielzeug, aber die Tante beschwichtigte sie, wenn sie viel esse und nicht mehr huste, daß sie gesund und stark werde, so würde der Vater sie in die Welt einführen und ihr selbst einen Bräutigam auswählen, der noch viel schöner sei als der Spanier. Sonja hatte denn auch richtig den Spanier schnell verschmerzt, nur gab sie sich jetzt große Mühe viel zu essen und nie in des Vaters Gegenwart zu husten. Aber das nächste Jahr brachte doch einen Rückfall, und Boris Kyrillowitsch, der selbst durch Geschäfte zurückgehalten war, schickte Sonja mit der Tante nach San Remo.

Dort fand sich unerwartet ein Arzt ein, der sie über alle wirklichen und eingeredeten Leiden hinwegbrachte, die Liebe! Eines Abends hörte sie aus dem Zimmer neben dem ihren eine Violine, deren weicher Strich und traumhafter Ausdruck sie in Entzückung versetzte; diese Violine sang das ›Abendlied‹ von Schumann. Sonja, die viel musikalisches Empfinden hatte, konnte sich nicht satt hören; als die Geige schwieg, näherte sie sich der dünnen Wand, die sie von dem Nebenzimmer trennte und gab durch ein ganz leises, schüchternes Händeklatschen ihre Bewunderung zu erkennen. Alsbald hob die Geige von neuem an und in der nächsten Nacht ebenso. Sie schlich sich auf ihren Balkon, um einen Einblick in das erhellte Eckzimmer neben dem ihrigen zu gewinnen. Von dort konnte sie zwar den Spieler nicht sehen, aber doch die Neigung seines Kopfes im Schatten und eine weiche Biegung des Arms, der den Geigenbogen führte. Aus den Bewegungen des Schattenrisses an der Wand schloß sie, daß er ein ganz junger Mensch sein müsse.

Des anderen Tages begegnete sie auf der Straße nahe dem Haus einem schlanken Jüngling mit blauen, seelenvollen Augen, der sie ehrerbietig grüßte.

Sonja, mein Kind, warum grüßt dich dieser Mensch? fragte die Tante. – Weil er im gleichen Hause mit uns wohnt, antwortete die Nichte, überzeugt, daß die kurzsichtige Frau sich zufrieden geben werde. Sie wußte selber nicht, daß sie die Wahrheit sprach: der Begegnende war der Herr der magischen Geige im Nebenzimmer, Ludwig Dove. Unter den Augen der ahnungslosen Tante entspann sich die Bekanntschaft, die schnell zur heimlichen Annäherung führte, der Musikus sprach jede Nacht seine Gefühle in Tönen aus, die stille, schüchterne Sonja war es, die sie zuerst in Worte übersetzte. Die Tante schnupfte, las ihre französischen Zeitungen und ließ die jungen Leute nach Herzenslust miteinander spazierengehen oder musizieren, denn Dove lehrte das Mädchen zu ihrer größten Freude ein wenig Gitarre klimpern. Die gute Dame war viel zu eingebildet, um zu glauben, daß ihre Nichte, Tochter eines der reichsten russischen Fürsten, sich zu einem simplen Musikus herablassen könnte, der weder Geld noch Titel besaß und nicht einmal berühmt war.

Als der Vater kam, fand er den Bund schon geschlossen, und die Tochter bat um seine Einwilligung. Der Alte antwortete ein wütendes Nein, ließ sogleich zusammenpacken und fuhr mit ihr nach Amalfi. Aber schon an einem der nächsten Abende ertönte das zauberhafte Geigenspiel unter ihrem Fenster: Dove war nachgereist und grüßte sie mit einer Romanze von Beethoven. Der Alte drohte den Menschen über den Haufen zu schießen, Sonja weinte und flehte, und da der Fürst unbeugsam blieb, griff sie zu ihrem letzten Mittel und drohte zu sterben.

Du würdest sterben, törichtes Kind, wenn ich dir den Willen täte, sagte der Vater außer sich, und nun enthüllte er ihr die traurige Wahrheit von dem Hinsterben ihrer Mutter, und daß ihr das gleiche Schicksal drohe, wenn sie nicht die Einsicht erschwinge, zu verzichten. Doch von solcher Einsicht wollte Sonja nichts wissen.

Laß mich mein Frauenlos erfüllen, wie meine Mutter das ihre erfüllt hat, sagte sie, und eine plötzliche Begeisterung überkam ihre matte Seele, daß sie feierlich, wie um den Himmel zum Zeugen zu nehmen, hinzusetzte:

Wenn ich nur ein einziges Jahr an der Seite meines Geliebten glücklich sein darf, so will ich gern den ganzen Rest des Lebens, der mir noch bestimmt wäre, dafür hingeben.

Der Alte war außer sich über diese Hartnäckigkeit. Er sagte:

Warte noch ein paar Jährchen, bis ich in der Erde liege, und dann tu was du nicht lassen kannst.

Nach diesem Gespräch fiel Sonja in tiefe Schwermut. Der Geliebte war mit einemmal verschwunden. Der Fürst hatte es über sich gebracht, selbst in die Wohnung des jungen Mannes zu gehen, um ihm die Lage aufzuklären und ihn zu bitten, daß er sich als ein Ehrenmann freiwillig zurückziehe. Nach Wochen erhielt Sonja aus einer fernen deutschen Stadt, deren Namen sie nicht einmal kannte, einen verschlossenen Umschlag von Doves Hand, der nichts enthielt als ein getrocknetes Stiefmütterchen; es sollte den Abschied auf Nimmerwiedersehen bedeuten. Eine Zeitlang hoffte sie noch, irgendwo wieder einmal das bekannte Geigenspiel an der Nebenwand ertönen zu hören. Aber die Nächte blieben stumm und taub. Der Alte führte sie abermals auf Reisen und suchte Zerstreuungen aller Art für sie auf, doch diese Mittel waren gründlich verbraucht. Sie ging ebenso blaß und hüstelnd in den Straßen von Kairo umher wie am Golf von Neapel, betrachtete teilnahmlos die Pyramiden und mochte am Ende morgens nicht mehr aufstehen vor Schwäche und Abspannung. Einmal erwachte sie des Nachts und sah ihren Vater mit dem Lämpchen in der Hand am Bette stehen und auf ihre kurzen, oberflächlichen Atemzüge horchen; es war ihr eine grausame Befriedigung, daß sie wenigstens nicht allein litt. Sie blickte den alten Mann lange vorwurfsvoll an und sagte bitter: Meine Mutter war doch glücklicher als ich. Dabei drehte sie den Kopf nach der Wand und ließ ihn seufzend hinausgehen.

Sie sehen, wie ich meinen armen Vater gequält habe, und werden begreifen, daß ich, was nachkam, vor ihm verheimlichen muß, sagte sie, als sie an diesen Punkt ihrer Erzählung gekommen war.

Im Frühjahr ging der Vater mit ihr nach Wiesbaden, um einen berühmten Arzt zu Rate zu ziehen. Dieser konnte nichts entdecken als hochgradige Blutarmut, tiefe innere Verstimmung und mangelnden Lebenswillen, der bei ihrer Jugend auffiel.

Sie entdeckte sich dem Mann und fand zu ihrer freudigen Überraschung einen Verbündeten.

Liebeskummer sei zum Glück ein heilbares Leiden, er wolle selbst mit ihrem Vater sprechen, sagte er. Wenn kein anderer Grund gegen den jungen Mann vorliege, – daß sie nicht heiraten dürfe, sei eine fixe Idee. Er habe ebenso zarte Mädchen gesehen, die ganz gesunde Frauen und Mütter geworden seien. Und im schlimmsten Fall, meinte er scherzend, ist es immer noch besser, man stirbt am Glück als am Unglück, das wäre wenigstens meine Ansicht; was sagen Sie dazu?

Daß es auch Sonjas Ansicht war, versteht sich von selbst. Es wurde ein planmäßiger Sturm auf den alten Herrn unternommen, der sich denn auch bald ergab. Seit er die medizinische Größe gegen sich hatte, waren alle seine Verschanzungen hinfällig, ohnehin hatte ihn die Angst schon lange mürbe gemacht. Die aristokratischen Einwände hielten noch weniger stand. Sonja hörte ihn noch ein wenig mit der armen Tante wettern und schelten, sie habe die dumme Liebschaft mit angestiftet, aber er mußte doch zugeben, daß Dove alle Hochachtung verdiene, weil er wirklich sein Wort gehalten hatte, indem er weder schrieb noch wiederkam. Durch eine musikalische Berühmtheit, die sich damals in Wiesbaden aufhielt, erfuhr man, daß der junge Mann sich nach Wien begeben hatte, wo er am Konservatorium weiterstudierte.

Wie sie dann zusammen nach Wien fuhren, Sonja hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Furcht, daß der Geliebte sie vergessen habe, wie der nichtsahnende Musiker durch eine Einladung ins Haus des Fürsten überrascht wurde und schon nach ein paar Tagen die Verlobung stattfand, wie der Bräutigam, dem unerwartet eine solche Schönheit und die Anwartschaft auf Millionen zugefallen war, die Fabel der Gesellschaft wurde, wie der Alte es aber doch dem bürgerlichen Schwiegersohn nicht verzeihen konnte, daß er selbst genötigt worden war, ihm nachzureisen und ihm seinen größten Schatz in die Arme zu legen, das alles übergehe ich, weil es nicht zu meiner Geschichte gehört. Nur so viel sei noch gesagt, daß sich Sonja in ihrem Glück erstaunlich rasch erholte und daß niemand in der blühenden Braut das bleichsüchtige Mädchen vom vergangenen Winter mehr erkannt hätte.

Am zwanzigsten Mai, also dem achten alten Stils, fand die Trauung statt. Der Vater kam damit den Wünschen des jungen Paars entgegen, denn er tat, was doch geschehen mußte, am liebsten gleich, allerdings noch immer mit heimlichem Zähneknirschen. Die Tochter hingegen sah in einen wolkenlosen Himmel hinein, und dennoch konnte sie sich am Hochzeitsmorgen einer bangen und feierlichen Stimmung nicht erwehren. Der Ausspruch, den ihr die Qual der Leidenschaft entrissen hatte, daß sie vom Himmel nichts erbitte, als ein einziges Jahr mit dem Geliebten, begann ihr Gemüt zu beschweren. Im Rausch der Brautwochen hatte sie dieses halb unfreiwillige Gelübde fast vergessen, dachte auch, der Himmel werde sie nicht gerade beim Wort nehmen, jetzt, wo alles erfüllt war, fragte sie sich selber zum erstenmal nach dem Preis, den sie für ihr Glück bezahlen sollte.

Die Ziviltrauung war ohne Zwischenfall vorüber gegangen und die Braut fuhr an der Seite des Vaters nach der russischen Kirche. Als sie vor dem Portal den Arm des Vaters fahren ließ, um den des Bräutigams zu ergreifen, war ihre Beklommenheit aufs höchste gestiegen. Auf der Schwelle der Kirche blieb sie regungslos stehen. Ein schreckliches Gesicht trat für einen Augenblick an die Stelle des Wirklichen. Sie sah die ganze Versammlung in Trauerkleidern, und vor dem Altar stand ein offener Sarg, in dem eine weibliche Gestalt unter Blumen ruhte. – Sie wissen, daß bei uns die Särge für das Totenamt in der Kirche noch einmal geöffnet werden, damit die Angehörigen sich der Reihe nach von dem Toten verabschieden können. Sonja glaubte ihr eigenes Leichenbegängnis zu sehen. Sie schloß vor Entsetzen die Augen und barg das Angesicht in ihrem Blumengebinde.

Als sie die Augen wieder öffnete, war das Gesicht verschwunden, Sonnenschein und festliche Menschen füllten den Raum, vor dem Altar warteten die Trauzeugen mit den schweren russischen Hochzeitskronen. Jetzt vernahm sie eine helle sanfte Stimme, die weder von unten noch von oben kam, sondern in ihrem eigenen Ohr zu entstehen und zu verhallen schien:

Heute über ein Jahr wirst du in eine andere Versammlung treten!

Dies war das Geheimnis, das der armen Sonja die Seele belastete. Sie hatte es in sich verschlossen, um das Glück ihres Gatten nicht zu trüben, und es selbst zu vergessen gesucht.

Ein Jahr ist am Ende eine lange Zeit, hatte sie sich zuerst mit dem Leichtsinn der Glücklichen gesagt und wenigstens den Angstgedanken aus ihren Flitterwochen ferngehalten. Als aber die ersten Zeichen der bevorstehenden Mutterschaft eintraten, war er wieder da, und sie bildete sich sogleich ein, daß die Geburt des Kindes ihr Leben kosten werde. Geppes Traum hatte dann noch das seinige getan. Nach ihrer Berechnung konnte das Ereignis gerade auf den Jahrestag ihrer Hochzeit fallen, und dieser Umstand vermehrte ihren Schrecken. Unablässig lagen ihr die Worte in den Ohren: Heute über ein Jahr wirst du in eine andere Versammlung treten. Und eine Zwangsvorstellung, deren sie nicht Herr werden konnte, nötigte sie beständig, die Zahl der Tage auszurechnen, die sie nach ihrer Meinung noch zu leben hatte.

Heute ist der erste Februar, sagte sie. Bis zum zwanzigsten Mai bleiben mir noch hundertundneun Tage.

Mit dieser unglückseligen Rechnerei, die sie immer vornehmen mußte, sobald sie sich längere Zeit allein sah, hatte sie sich allmählich in die Seelenangst eines zum Tode Verurteilten hineingerechnet.

Sie können sich denken, daß ich alle Vernunft aufbot, sie aus dem verhängnisvollen Banne zu reißen. Es wäre ja geradezu verwunderlich, sagte ich, wenn sie nach den Verkehrtheiten ihrer Erziehung und den Erschütterungen, die der Verlobung vorangingen, sich nicht am Hochzeitstag in überreiztem Zustand befunden hätte. Die Stimme, die sie zu hören glaubte, sei die ihres eigenen verstörten Innern gewesen. Und ich erzählte ihr natürlich Beispiele von ähnlichen Halluzinationen, die völlig bedeutungslos geblieben waren. Sie hörte gedrückt und schweigend zu, und als ich schon glaubte, sie überzeugt zu haben, sagte sie:

Ihre Stimme tut mir gut, Warwara Grigorjewna. Nicht wahr, Sie kommen jetzt wieder öfter zu mir? – Bis in vier Monaten wird ja doch von der armen verwöhnten Sonja nichts mehr übrig sein als die Erinnerung.

Nachdem ich sie kräftig ausgescholten hatte – unsere Vernunft dünkt sich ja immer himmelhoch erhaben über die Regungen des Unterbewußten –, gab sie am Ende selber zu, es sei vielleicht doch nur ein Hirngespinst, was sie quäle. Sie suchte heiter und getröstet auszusehen, aber tief im Grund ihrer Augen sah ich den Qualgedanken sitzen, der immer heimlich an der Arbeit war. Da der Feind, der von ihrer Seele Besitz ergriffen hatte, nur durch die vorsichtigste Behandlung von seiten der Angehörigen zu bekämpfen war, mußte ich vor allem diese warnen. Mein erstes war, den ahnungslosen Ehemann über den Zustand seiner Frau aufzuklären, und so leid es mir tat, ich dachte auch den Vater nicht zu schonen. Der Musiker verlor völlig den Kopf; da er gar nicht beobachtete, hatte er geglaubt, seine Frau müsse auch heiter sein, wenn sie sich heiter gebärdete, außerdem war er eben damit beschäftigt, den zweiten Satz seines Geigenkonzerts ins reine zu schreiben und lebte gar nicht mehr in dieser Welt. Ein heftiger Schreck fuhr ihm in die Glieder, und in die Angst um das geliebte Leben mischte sich auch noch die verzeihliche Selbstsucht des schaffenden Künstlers, der durch die drohenden Wolken das Entstehen seines Werkes gefährdet sah. Der junge Mann tat mir von Herzen leid, obwohl ich ihm seine Blindheit Sonjas Seelenleiden gegenüber im stillen etwas übel nahm. Ganz anders betrug sich Vetter Boris. Nachdem er sich mit der Heirat ausgesöhnt und seinen Schwiegersohn wirklich ins Herz geschlossen hatte, wollte er auch nicht daran erinnert sein, daß Sonjas Heirat vielleicht doch eine Übereilung gewesen sei. Er sprach von Grillen, die diesem Zustand anhaften, fand, daß seine Tochter seit einem Halbjahr sehr gekräftigt sei und gar nicht mehr huste, kurz, er nahm die Sache, wie mir schien, zu leicht. Doch gab er mir darin recht, daß die Macht der Einbildung am Ende einen körperlichen Einfluß auf Mutter und Kind gewinnen könnte, und stimmte dem Vorschlag, den ich zu machen hatte, mit Entschiedenheit bei. Ich riet ihm nämlich, mit Tochter und Schwiegersohn eine mehrmonatliche Seereise zu unternehmen und zwar auf eigener Jacht, um volle Freiheit zu haben und immer bei stürmischem Wetter landen zu können.

Auf der See gleicht ein Tag dem anderen, sagte ich, und in kurzem wird Sonja den Faden der unglücklichen Rechnerei verloren haben, das ist das erste und wichtigste. Sie beide sorgen dafür, daß ihr kein Kalender in die Hände kommt, weder neuen noch alten Stils, und daß niemand in ihrer Gegenwart erwähnt, den wievielten des Monats Sie eben haben. Alle Ihre Leute müssen gut eingeschult werden, Briefe und Zeitungen unterschlagen Sie ihr, damit sie völlig zeitlos leben kann. Auf das Festland kommen Sie erst zurück, wenn der verhängnisvolle Zwanzigste vorbei ist, sollte auch Ihr Enkel auf der See zur Welt kommen. Sie werden sehen, Sonja übersteht die Sache gut und, so Gott will, schlüpfen Sie ganz unbemerkt über den gefährlichen Tag hinüber.

Der Fürst war Feuer und Flamme für meinen Plan, der seiner ewigen Unrast etwas zu tun und zu sorgen gab. Er mietete eine Jacht, nahm die besten Seeleute in Dienst, und sie fuhren ab, einen Arzt an Bord, um zunächst an der spanischen Küste hin nach Gibraltar zu dampfen. Dove hatte mit betrübter Miene sein Notenbündel zusammengepackt, um zu sehen, ob sich’s auch zu Wasser weiterarbeiten lasse. Sonja fügte sich mit mattem Lächeln in alles, was man über sie verhängte.

Dove und der Fürst schrieben mir dann und wann ein paar Zeilen von der Reise. Die großen Horizonte schienen wohltätig auf die Kranke zu wirken, hieß es, denn sie frage niemals nach dem Monatsdatum, und man vermeide natürlich alles, was sie im entferntesten an ihre Furcht erinnern könnte. Sie habe selber im Vorüberfahren die Ansichten von Gibraltar und Tanger aufgenommen; von dem erwachten Sinn für die Außenwelt lasse sich das beste hoffen. An Bord werde nur nach Wochentagen gerechnet, und auch die Gesunden hätten Mühe, sich mit der Zeitrechnung auf dem laufenden zu halten, – in Wahrheit fand ich die meisten Briefe falsch datiert, wenn ich sie mit dem Poststempel verglich. Die jüngste Nachricht war von Dove: daß auch der dritte Satz seines Konzerts glücklich beendigt sei, und daß man gestern an Bord ein Fest veranstaltet habe, um den ersten Sprößling des Hauses Dove würdig zu feiern. Die Ankunft des zweiten, die hoffentlich ebenso glücklich verlaufe, sollte des stürmischen Wetters wegen nun doch lieber in Florenz stattfinden.

Wie erschrak ich aber, als gegen Ende April die Familie hierher zurückkehrte, und ich die guten Nachrichten keineswegs bestätigt fand! Sonjas Hautfarbe war erdfahl, die Augen starr und seltsam vergrößert, und das gezwungene Lächeln, mit dem sie ihre Umgebung über ihren Zustand täuschte – es waren ja nur Männer um sie –, hatte für mich, die auf den Grund ihres Innern sah, etwas Herzzerreißendes. Dabei war es ihr wirklich gelungen, vor Vater und Gatten ihr Seelenleiden zu verbergen. Dove war so erfüllt von seinem Konzert, daß er von nichts als von der bevorstehenden Aufführung in der Filarmonica reden konnte, und den alten Herrn schien die Seereise ganz verjüngt zu haben. Beide waren über Sonja vollkommen beruhigt, auch der Arzt gab die besten Hoffnungen, denn der Faden der Zeitrechnung war ihr abgerissen, und sie vermied es ängstlich, ihn wieder anzuknüpfen. Die Arme ließ auch gegen mich kein Wort über ihre Zwangsvorstellung mehr fallen. Aber ihre Augen sagten mir alles: solchen unbewußten Ausdruck von Angst wie vor dem Herannahen von etwas Furchtbarem habe ich gelegentlich an kranken Kindern wahrgenommen. Diese geängsteten Augen folgten unverwandt jeder Bewegung ihres Mannes, wie um von der schwindenden Zeit keine Minute zu verlieren. Und dabei hatte das gebrechliche Geschöpf die Seelenstärke, die Ruhe des Geliebten durch keinen Seufzer zu trüben.

Mitte Mai kam ein kleiner, schwächlicher, aber ganz wohlgebauter Junge zur Welt. Das gefürchtete Ereignis war über alles Erwarten gut vorbeigegangen, und beide Ärzte, sowohl der behandelnde wie der zugezogene, fanden den Zustand der Mutter durchaus befriedigend. Als ich den andern Morgen in ihr Zimmer trat, ein kühles Zimmer zu ebener Erde, wo die Rosen zu den Fenstern heranwuchsen, lag sie etwas erschöpft, aber mit verklärtem Gesicht in ihren Kissen und schien heiterer als seit lange.

Ich weiß nicht einmal, was der Geburtstag meines Sohnes ist, flüsterte sie mir leise zu. Ich wage nicht nach dem Kalender zu fragen. Wenn der böse Tag vorbei ist, werden Sie mir’s mitteilen.

Ich glaubte den Augenblick günstig, um einen großen Schlag zu führen.

Er ist vorüber, Kind, sagte ich, indem ich sie herzlich auf beide Wangen küßte. Ich bin so früh herausgefahren, um dich doppelt zu beglückwünschen. Gestern war dein Hochzeitstag, man hat es dir verheimlicht, um dich nicht zu beunruhigen, aber ich war der Meinung, daß du es heute erfahren mußt. Du wirst jetzt aufleben und ein ganz neues Dasein beginnen.

Sonja war bei meinen Worten wechselnd blaß und rot geworden und hatte sich zur Hälfte aufgerichtet, um in meinem Gesicht zu lesen, ob ich die Wahrheit sage. Doch ich hatte die Lüge mit so gutem Gewissen und so ehrlicher Miene vorgebracht, daß sie nicht lange zweifelte. Sie sank mit einem tiefen Seufzer zurück, faltete die Hände und schloß die Augen. Ein stummes Dankgebet, das ich nicht stören wollte, lag auf ihren wunderbar schönen Zügen. So verbrachten wir schweigend geraume Zeit, ich nicht ohne innerliches Beben, bis sie die Augen wieder öffnete und mit bittenden Blicken auf das Kleine wies, das in einem Korbwagen daneben lag. Ich legte ihr das schlafende Kind in die Arme.

Wollen Sie mir jetzt meinen Mann rufen? bat sie leise.

In diesem Augenblick trat Dove aus dem halboffenen Seitenzimmer herein.

O du Böser, sagte sie, warum hast du denn nicht schon heute früh gesprochen?

Ich fuhr schnell dazwischen und drehte die Rede so, daß Dove unterrichtet war, aber ich hätte in diesem Augenblick den Musiker prügeln mögen ob seiner Ungeschicklichkeit, denn erstens dauerte es eine geraume Weile, bis er mich überhaupt verstand, und zweitens stimmte er so unsicher in meinen Betrug ein, daß ich innerlich vor Aufregung fast verging. Doch zum Glück kam eben Vetter Boris dazu, der mich sogleich begriff und der Sache eine Wendung gab, die Sonja jedes Mißtrauen benehmen mußte. Sie küßte ihren Mann und ihren Vater aufs zärtlichste, Tränen der Erleichterung strömten unaufhaltsam über ihr Gesicht, sie bemächtigte sich meiner Hände, die sie mit einer Leidenschaftlichkeit und Andacht an die Lippen drückte, wie wenn ich ihr das Leben gerettet hätte. Aber ihr Geist arbeitete noch immer an der Gefahr, der sie entronnen zu sein glaubte, und sie sagte leise:

Sonderbar, daß es nun doch der Jahrestag sein mußte. Gewiß ist der Todesengel hart an mir vorübergestreift, aber mein Schutzgeist war nahe und wehrte ihn ab. Und wenn ich denke, daß heute, wirklich heute schon alles vorüber sein könnte, daß ich kalt und starr hier auf diesem Bett läge, nie mehr mein Kind ans Herz drücken könnte, ach! – Ihre namenlose Erschütterung löste sich in heftiges Schluchzen.

Ich war sehr bestürzt über diese Wirkung meines frommen Betrugs und nahm alle Klugheit zusammen, um ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben. Ich sagte:

Wenn du es recht bedenkst, so kannst du die Stimme, die du gehört haben willst, auch anders deuten. In einen neuen Kreis solltest du eintreten am ersten Jahrestag deiner Hochzeit, war es nicht so? Und sieh, wie schön das jetzt erfüllt ist, denn gestern war der Tag, und gestern bist du in einen neuen Kreis getreten, in den Kreis der Mütter, wo ein ganz anderes Leben für dich beginnt.

Damit hatte ich das Rechte getroffen und ich beglückwünschte mich und alle im stillen zu meiner eigenen Weisheit. Die Stimmung der Wöchnerin hob sich so, daß sie davon sprach, das Kind selber zu nähren, sie war wie trunken von Glück und traute sich jetzt alles zu.

In vierzehn Tagen lassen Sie mich aufstehen, Doktor? hörte ich sie noch sagen, während Vetter Boris und Dove mich zum Wagenschlag begleiteten.

Aber als ich den andern Tag wiederkam, war dieses Aufflackern schon erloschen, ich fand Sonja auffallend schwach, und der Arzt sah eine langwierige Genesungszeit voraus. Natürlich waren alle Personen im Hause strengstens angewiesen, die Leidende auf dem Glauben zu erhalten, daß der verhängnisvolle Zwanzigste vorüber sei.

Die alte Dame machte hier eine tiefe Pause in ihrer Erzählung, das lange Sprechen hatte sie angegriffen.

Alles hing noch begierig an ihren Lippen, die Hausfrau sagte halblaut:

Ich will doch erst ruhig sein, wenn der Unglückstag wirklich vorüber ist. Man hat Beispiele, daß Menschen an der bloßen Einbildung gestorben sind.

Ich bin gleich fertig mit meiner Erzählung, antwortete die Fürstin, und entschuldigen Sie, wenn sie schon zu lange gedauert hat.

Am Abend des Neunzehnten sollte das vielbesprochene Geigenkonzert im Saal der Filarmonica zum Vortrag kommen. Dove hätte gern die völlige Herstellung seiner Frau abgewartet, damit sie dabei sein konnte, aber die Jahreszeit war schon vorgeschritten, jeder weitere Tag mußte den zu erhoffenden Zuhörerkreis vermindern. Treffliche Kräfte waren für den Abend geworben und das Programm mit großer Sorgfalt zusammengestellt. Unser Freund Boncompagni begleitete den jungen Meister, der außer mit seinem eigenen Werk noch mit den Kaprizen von Paganini vor das Publikum trat, und die wunderbare, leider zu früh verstorbene Sängerin Silvia Mariani hatte sich zum Vortrag einiger Nummern willig finden lassen. Die Erwartung war groß, verschiedene musikalische Spitzen waren eigens deshalb in der Stadt geblieben, denn einen Teil des Konzerts hatte man schon in meinem Hause gehört und wir alle setzten die schönsten Hoffnungen auf den jungen Tondichter. Der Fürst war ganz in seinem Element, er fuhr in der Stadt herum und verteilte Eintrittskarten, aber Dove hatte schreckliches Lampenfieber, und Sonja ließ sich von mir wiederholt in die Hand geloben, daß ich ganz gewiß in der vordersten Sitzreihe Platz nehmen würde, damit ein befreundetes Gesicht ihm die nötige Sicherheit gebe. Es kam mir also sehr ungelegen, daß ich noch am Nachmittag eine Depesche von meiner Schwester erhielt, die mir mitteilte, sie werde am nächsten Morgen in Genua sein, und wünsche dringend, mich dort auf ein paar Stunden zu sehen. Meine Schwester war leidend und hatte den ganzen Winter auf Malta verbracht, ich wußte, daß eilige Angelegenheiten sie nach Rußland riefen, und durfte ihrem Wunsch nicht fehlen. Ebensowenig aber mochte ich dem Versprechen, das ich Sonja gegeben hatte, untreu werden, ich ließ deshalb alles zur Abfahrt rüsten und ging in meinen Reisekleidern ins Konzert. Ich gab, als die erste Nummer geendet war, das Zeichen zum Beifall, der ein stürmischer wurde, und befand mich unter den ersten, die den freudestrahlenden Tondichter beglückwünschten. Während die Freunde ihn geräuschvoll umdrängten, hatte ich kaum noch Zeit, ihm zuzuflüstern, daß ich auf der Stelle abreisen müsse, aber schon in ein paar Tagen zurück zu sein hoffe. Eben trat die Mariani auf das Podium, und während das Klavier das Vorspiel einer Arie aus Orpheus begann, verließ ich leise den Saal, ohne mehr die Paganinischen Kaprizen, das Glanzstück seines Könnens, abzuwarten. Ich erreichte glücklich den Nachtzug, und auf der ganzen Fahrt glaubte ich noch im Rollen des Bahnzugs die Musik des jungen Freundes zu vernehmen.

Meine Schwester fand ich in sehr üblem Zustand, und da ich sie so leidend nicht verlassen mochte, fuhr ich mit ihr bis Airolo, wo ich genötigt war, sie ein paar Tage im Gasthof zu pflegen. Dort ließ ich mich leicht überreden, sie vollends über den Gotthard zu begleiten, wo ich noch mit einem Bruder zusammentreffen sollte, den ich seit Jahren nicht gesehen hatte. Von Göschenen fuhren wir zusammen nach Andermatt hinauf, damit meine Schwester sich ein wenig erholen konnte, ehe sie weiterreiste, und wir verbrachten ein paar Frühlingstage im allergrünsten Tale der Welt, bis uns ein eintretendes Schneewetter von dannen und auseinanderwirbelte.

Auf dem Rückweg meinte ich in einem von Süden kommenden Schnellzug ein bekanntes Gesicht zu erkennen, den Vetter Boris Kyrillowitsch. Daran wäre nun gerade nichts Auffallendes gewesen, aber meine Kammerfrau, die sehr gute Augen hatte, wollte im Innern des Wagens auch die römische Amme im Ciociaren-Aufputz mit dem Kleinen auf dem Arm und eine andere Männergestalt, die sie für Herrn Dove hielt, gesehen haben. Dies machte die Sache so unwahrscheinlich, daß ich gar nicht mehr darüber nachdachte. Bei der Ankunft in Florenz fühlte ich mich sehr frisch und ausgeruht, denn wir hatten unterwegs mehrmals übernachtet, und da ich daheim noch nicht erwartet war, nahm ich am Bahnhof eine Droschke, um auf einem Umweg über den Viale nach Hause zu fahren. Ich dachte an der Villa Doves halten zu lassen und Sonja zu begrüßen, deshalb nahm ich alles mit, was ich unterwegs an Blumen auftreiben konnte. Ganz mit Rosen beladen zog ich an dem Gartenpförtchen die Klingel, während das Mädchen im Wagen wartete. Niemand öffnete, aber innen hörte ich einen unbegreiflichen Lärm, ein Hämmern und Hin- und Herstoßen von schweren Gegenständen, dazwischen laute Männertritte und Stimmen. Das Herz stand mir still vor Bestürzung. Als endlich das Pförtchen aufgezogen wurde, sah ich im Hofraum mehrere Handwerker beschäftigt, große Kisten und Tonnen zuzunageln. Andere schleppten zu den weit offenen Türen gerollte Teppiche und wertvolle Spiegel heraus, kurz, ich stand auf dem Schauplatz eines eiligen Auszugs.

Was ist geschehen? sagte ich zu dem alten Geppe, der mir in Pantoffeln entgegengeschlurft kam. Wo sind die Herrschaften?

Fort! Fort! Alles fort! antwortete er mit wankender Stimme.

Was? Die Kranke fort, in dieser Schwäche? sagte ich entsetzt, an eine Tollheit des Vaters glaubend.

Dahin, von wo man nicht zurückkommt, war die Antwort. – O, Frau Fürstin, sie hat getan, was nicht recht war, so jung und so schön! – sie hat nachgegeben, – ist schwach geworden –.

Ich kam so außer mir über das sinnlose Gelalle, daß ich den alten Narren am Arm schüttelte und ihn anschrie, dies sei kein Augenblick für seine Faxen, er solle mir vernünftig Rede stehen, aber der Alte wollte auch jetzt das verhängnisvolle Wort nicht über die Lippen bringen, sondern deutete auf die Tür, um welche das Gaisblatt wuchs und sagte: Da hat man sie hinausgetragen.

Er führte mich in Sonjas Schlafzimmer, das noch unangetastet war und ganz aussah wie sonst, nur daß auf dem leeren Bettgestell ein Haufe verwelkender Kränze und Blumen aufgeschichtet lag, die den Raum mit betäubendem Geruch füllten. Ich setzte mich auf den Balkon hinaus, auf dem noch die Hängematte befestigt war, in der Sonja vergangenen Sommer sich so oft geschaukelt und durch ihr vieles Liegen meine Mißbilligung erweckt hatte, und hieß Geppe mir alles der Reihe nach erzählen.

Ich will Ihnen die Rosalia rufen, Frau Fürstin, sagte der alte Mann und trocknete sich die Augen mit seiner Schürze. Die kann Ihnen alles sagen, sie ist von Anfang an dabei gewesen, – ach, und sie bildet sich ein, die Ärmste, sie sei selber an dem Unglück schuld.

Aber Rosalia war nicht zum Hervorkommen zu bewegen, sie hatte sich, als sie meine Stimme vernahm, im hintersten Winkel verkrochen und schluchzte verzweifelt.

Was mir der Alte jetzt erzählte, ist ein so ausgesuchtes Spiel des Zufalls, daß man geradezu an dämonische Einflüsse glauben möchte.

Als die beiden Herren am Konzertabend nach Hause kehrten, fanden sie die junge Frau noch wach und sehr erregt. Die Nachricht von dem durchschlagenden Erfolg ihres Gatten schien sie zu elektrisieren, sie sprach viel, was man nicht an ihr gewohnt war, und der Vater mußte ihr wieder und wieder erzählen, was ich, was die anderen Freunde über sein Erstlingswerk geäußert hätten. Sie klagte sehr, daß ich nicht da sei, um ihren Triumph zu bestätigen und die Freude zu teilen. In der Nacht konnte sie nicht schlafen vor Aufregung, übrigens war sonst kein Anzeichen von Fieber da, und der Arzt fand sie am Morgen kräftiger als die vergangenen Tage, was wohl nur eine Folge der Nervenspannung war. Er empfahl ihr Ruhe. Im Lauf des Vormittags kam eine durchreisende musikalische Berühmtheit ersten Rangs, die dem Konzert beigewohnt hatte, angefahren, um den jungen Künstler zu beglückwünschen; das gab eine neue Gemütsbewegung. Danach gingen die beiden Herren nach der Stadt, um die Kritik in den Zeitungen zu lesen. Auch Geppe nahm teil an der freudigen Erregung und las Rosalia den Bericht über die gestrige Ausführung aus seinem Lieblingsblatt vor. Man wisse nicht, ob in der Person des jungen Maestro mehr der Tonsetzer oder der ausübende Künstler zu begrüßen sei, das war der Kernpunkt der Besprechung, und Rosalia glaubte ihre Sache recht gut zu machen, indem sie der Kranken, als sie in Abwesenheit der Wärterin einen Augenblick allein blieben, all die Lobsprüche hinterbrachte, die in dem Blatt gestanden hatten, soweit sie selber daraus klug geworden war. Natürlich äußerte nun Sonja den Wunsch, die Besprechung selber zu lesen, und Rosalia eilte hinüber in die Wohnung des Großvaters, um das Blatt zu holen. Unseligerweise war Geppe, der sie hätte warnen können, eben hinausgegangen. Der armen Rosalia, die nicht lesen konnte und sich nie um die Zeitung gekümmert hatte, war es in ihrem Eifer gänzlich entfallen, daß jeder Nummer ein Datum vorgedruckt ist.

Du bringst mir ja ein altes Zeitungsblatt, sagte Sonja, deren Blick gleich auf den oberen Rand fiel.

Es ist das heutige, entgegnete Rosalia ahnungslos. Der Großvater hebt nie eine Zeitung länger als einen Tag auf, drehen Sie nur um, der Bericht muß auf der zweiten Seite stehen!

Dann wäre ja heute der Zwanzigste, der schon lange vorbei sein soll, sagte die Wöchnerin, und ihre Lippen wurden wächsern, während sie sprach.

Rosalia begriff jetzt, welche Ungeschicklichkeit sie begangen hatte, sie wollte schnell ihrer Herrin das verhängnisvolle Blatt wegreißen und ihr einreden, daß es doch das falsche sei, aber die Kranke rang einen Augenblick mit ihr und erhaschte die Zeitung wieder. Sie fand auf der zweiten Seite den Bericht über das Konzert ihres Gatten, aber sie hatte schon keinen Sinn mehr dafür.

Also habt ihr mich alle betrogen, rief sie, die Fürstin hat mich betrogen, und der Zwanzigste ist heute!

Rosalia war so zerschmettert, daß sie nachher nicht recht erzählen konnte, was weiter geschehen war, nur daß die Kranke immerzu vor sich hin sagte: Ich hab’ es ja gewußt, ich hab’ es ja gewußt. Sie stürzte sofort nach Hilfe, die Wärterin war gleich zur Stelle und wollte die Unselige, die sie mit Vorwürfen überhäufte, nach dem Arzt und den beiden Herren ausschicken. Aber das Mädchen hatte nicht mehr den Mut, jemanden unter die Augen zu treten, sondern lief mit Angstgeschrei aus dem Haus. Geppe mußte sich selbst in den Wagen setzen und in der Stadt suchen, bis er die Herren gefunden hatte, die auf die Schreckensbotschaft schnell mit dem Arzt nach Hause fuhren. Dann ging der Alte seiner Enkelin nach, die er durch offenstehende Bauernhöfe hindurch hatte aufs freie Feld rennen sehen. Erst nach langem Suchen fand er sie in dem kleinen Kirchlein San Francesco al monte, wo sie halb sinnlos zwischen den Betstühlen kauerte und Gelübde zur Jungfrau und allen Heiligen tat. Sie getraute sich nicht mehr in das Haus zurück, über das sie Unglück gebracht hatte, und Geppe mußte sie mit Gewalt heimschleppen. Es war ein jammervoller Tag für alle. Als sie am Gitter anlangten, begegneten sie eben dem Fürsten, der wieder nach der Stadt jagte. Sein verstörtes Gesicht und sein Ruf an den Kutscher, schneller zu fahren, ließen das Schlimmste ahnen. Bei der Heimkunft fanden sie das Haus in tiefer Bestürzung, die Dienstboten standen flüsternd beisammen und blickten auf Rosalia, die sich scheu in die Ecke drückte. Aus dem Zimmer der Kranken kamen irre Schreie des jungen Gatten: Sonja war soeben an Herzlähmung in seinen Armen verschieden. Es war um dieselbe Stunde, wo vor einem Jahr die Trauung stattgefunden hatte.

Wie soll man sich dieses Zusammentreffen erklären? Starb meine arme Sonja an der Einbildung? Oder hat sie wirklich ihre Todesstunde vorausgewußt?

Beides, antwortete der Balte.

Ich habe mich oft gefragt, begann die Fürstin aufs neue, ob nicht mein frommer Betrug dem Schicksal geradezu in die Hände gearbeitet hat.

Es ist eine alte Wahrheit, erwiderte er: was Gott beschließt, daran arbeiten alle irdischen Mächte zusammen.