Isolde Kurz

Auf halbem Wege zwischen Florenz und der Certosa, hart an der Strasse, liegt der protestantische Friedhof, durch eine dichte Reihe hochstämmiger Zypressen dem Auge von weitem kenntlich. »Agli Allori« (bei den Lorbeern), so heisst nach einem Lorbeerhain, der früher dort gestanden, zufällig, aber bedeutungsvoll, diese Herberge, wo so viel ruhmgekrönte Häupter deutschen Stammes ihre letzte Schlafstätte gefunden haben. Der Ort ist nicht weihevoll, wie der unvergleichliche Friedhof bei der Cestiuspyramide; er hat nichts von dem übermächtigen Naturleben, das dort die Schläfer so versöhnend einspinnt; nur den Ruhm seiner Anwohner hat er mit jenem gemein.

Starr, regelrecht und schnurgerade ist die Anlage, die an den Grundriss eines Theaters erinnert. Als regelmässiges Rechteck, das mit seiner Vorderseite die Strasse säumt, schmiegt sich der Friedhof den flachen Hügel hinan und buchtet sich dann in dem verengten Hintergrund zu einem hochgelegenen, terrassenförmig aufgebauten Halbrund aus. Den ebenen Vorderraum, worauf die grosse Kapelle steht, schmücken mächtige Trauerweiden auf grünem Rasen; eine breite Zypressenallee durchschneidet ihn in der Quere. Jenseits dieser Allee beginnt der Boden allmählich zu steigen und geht endlich in die Terrassenanlage, den Begräbnisplatz erster Klasse, über, der amphitheatralisch um einen leeren, vom hohen Kreuz überragten Mittelraum gelagert und von breiten Treppen strahlenförmig durchzogen ist. Den Hintergrund schliesst eine Nischenwand mit Arkaden ab, hinter der nur die Wipfel der den Friedhof umsäumenden hohen Bäume sichtbar sind. Auf diesen gemauerten Rampen ist fast jeder Fussbreit mit prunkenden, geschmacklosen Monumenten übersät; kein Baum, kein Halm unterbricht den kalten, weissen, harten Glast, und im blendenden Sonnenschein wie im trübseligen Winterregen bleibt der Ort immer gleich phantasielos, nüchtern und unerträglich. Er hat durchaus etwas von einem Zuschauerraum, und es ist kein Zufall, dass von den eigentlichen Akteurs der Lebensbühne, denen, um deretwillen wir herkommen, kaum einer sich hier niedergelassen hat. Oben in den Logen das reiche Publikum, das seinen Luxus ausstellt, unten die Personen des Stückes: Helden, Nebenfiguren, Statisten.

Noch auf ebenem Grund, links von der grossen Kapelle, liegt einer, den wir am liebsten in tiefer Waldeinsamkeit oder auf stiller, meerumfluteter Insel gesucht hätten: Arnold Böcklin! Die Geister der Toten weilen nicht gerne an ihrer Gruft, am wenigsten dieser; das zeigte sich schon bei der Leichenfeier. Seit Jahren war der Künstler, der nur noch im engsten Familienkreis lebte, für die Welt so gut wie ein Abgeschiedener gewesen, aber als an jenem 16. Januar die Nachricht von seinem in der Nacht erfolgten Tode durch die Kolonie flog, da war es doch, als ob die Natur plötzlich erkaltet wäre, und durch die fröstelnden Lüfte meinte man den Klageruf zu hören: Der grosse Pan ist tot! Das Gefühl, ihm noch einen Tribut der Liebe und Verehrung, der Dankbarkeit zu schulden, trieb alle, die kommen konnten, an sein offenes Grab! Aber der Mann, der im Leben alle lauten Huldigungen abgewehrt hatte, schien ihnen auch im Tode ausweichen zu wollen. Wer kann sagen, wie es zuging? Ein Bann lag über den Anwesenden, der das volle Gefühl keinen Ausdruck finden liess. Der Sarg unter der erdrückenden Menge und Pracht der Kränze schien gar nicht Böcklins Irdisches zu bergen, sondern nur ein leeres Schaustück zu sein; unter der kalten Wintersonne schwand sein Geist weiter und weiter hinweg. Niemand wagte mehr ihn zurückzurufen: auch die vielen Vertreter einheimischer und auswärtiger Vereinigungen legten alle ihre Kränze schweigend nieder. Ganz zuletzt trat eine unbekannte Mädchengestalt mit wallenden blonden Haaren an das Grab und senkte einen Busch weissblühenden Flieders hinunter; man konnte sie für die Böcklinsche Muse halten, die auf immer Abschied nahm; das war der einzige Sonnenblick der Poesie über Arnold Böcklins offenem Grabe. Derselbe Geist der Fremdheit schwebt nun auf immer über der Stätte. Wer Böcklin geliebt hat, wer seine Poesie im Herzen trägt, der pilgere nicht zu seiner Gruft. Wie schön, wie traumhaft hat er das Reich der Abgeschiedenen im tiefen Zypressenschatten zu malen gewusst! Nicht eine Zypresse, nicht eine grüne Ranke, nicht ein Hälmchen hat Platz in seiner Nähe. Eine Säule von mächtiger Grösse erhebt sich zu seinen Häupten; zwei festschliessende, grosse Platten, glatt und spiegelblank, bedecken die Gruft. Wie hätte man ihm einen schlanken Altar inmitten eines Zypressenhains gönnen mögen oder so ein trautes, blumiges Gärtchen auf grünem Rasen, wie er es zu malen liebte, wenn er ausnahmsweise einmal deutsch phantasierte! In dieser Umgebung konnte sein Wesen keinen Ausdruck finden. »Non omnis moriar« sagt die Inschrift. Aber nicht hier ist es, wo Böcklin weiterlebt; viel eher ist sein Geist noch in seinem letzten Wohnsitz zu San Domenico zu spüren, der sich in pietätvollen deutschen Händen befindet. Die herrliche Villa mit den breiten Terrassen und dem schattigen Park, von der man hoch über die Arnostadt hinunterblickt, war seine letzte Freude, sein späterworbenes Stück Eigentum. Dort wird in Haus und Garten alles weiter erhalten, wie es zu seinen Lebzeiten gewesen ist. Um das phantastische Brunnenbecken schwebt noch des Künstlers barocker Humor, und unter den grossen Oleanderbäumen, die er liebte, wandelt seine stille Beschaulichkeit; die reizende pompejanische Loggetta, die er selbst bemalte, blickt von der schön bewaldeten Hügelflanke von San Domenico auf die Arnostadt hinab und scheint auf die Rückkehr des einstigen Bewohners zu warten. In seinem Atelier liegt noch der letzte Pinsel an der Stelle, wo seine Hand ihn niederlegte, und kein Möbel ist verrückt worden.

Hier, in tiefer Abgeschiedenheit, entstanden seine letzten Bilder, die nur von wenigen auf der Staffelei gesehen wurden, von denen aber dann und wann noch eine Kunde in die Kolonie drang: Die Pest, die auf gifthauchendem Tier mit Fledermausflügeln durch die Lüfte reitet, während alles um sie her niedersinkt; die Melancholie im schwarzgrünen Gewand, auf einer Bank sitzend und durch den Schwarzspiegel die Gegend betrachtend; im Hintergrund ein Liebespärchen unter einem blätterlosen, roten Weidenbaum und ein Ritter im roten Mantel, zwei Lieblingsmotive Böcklins, die er oft wiederholt hat. Dann eine Muse auf Bergeshöhe im weinroten Mantel, auf einem Marmorplateau bei dickstämmigen Bäumen stehend. Der alte, weltabgewandte Mann lebte hier noch einmal sein Temperament aus; er freute sich an der Vision, an der brennenden Farbenglut, am Märchen, das er sich selbst erzählte. Alles geriet ihm jetzt übermächtig plastisch, von stärkster Wirkung bei vereinfachten Mitteln und ersparter Arbeitskraft. Denn schwer und körperlich unbeweglich, wie er in seinen letzten Lebensjahren geworden war, fiel ihm das Stehen und das Zurücktreten von der Staffelei sauer, und wenn er sich auf einen Stuhl niederliess, so geschah es, um den Ausdruck eines Nahestehenden zu brauchen, »mit weitausgreifenden, angestrengten Bewegungen, als ob er ein Schiff ans Land zu ziehen hätte«. Daher musste er die materielle Leistung abzukürzen suchen und zur unmittelbaren Wirkung greifen; so kam freilich des öfteren auch etwas Grelles und Hartes hinein. – Ein jüngerer Freund seines Hauses, der dem Alten nahestand, sprach mir einmal seine Ueberzeugung aus, dass Böcklin nicht als würdiger, das Leben in Weisheit überschauender alter Herr aus der Welt scheiden werde, sondern in heiterem Wahnsinn, die Wirklichkeit vergessend, mit keinem andern Gegenüber mehr als seiner Phantasie, sich endlich in die Elemente auflösen müsse. Ein solches Ende hätte ein Dichter dieser Gestalt gegeben; die Natur aber verfuhr mit ihrem Lieblingssohne nicht so poetisch: sie liess auch ihn die Not des Alters und die Bitterkeit des Todes schmecken.

So oft bin ich gebeten worden, meine Erinnerungen an Böcklin niederzuschreiben, und immer musste ich nach einigem Besinnen mir selbst bekennen, dass ich gar keine Erinnerungen an ihn habe, sondern nur eine Erinnerung, das heisst ein höchst lebendiges Bild seines Wesens, aber keine besonderen Züge, keine des Aufbewahrens werte Einzelheiten. In der Tat, es wird nicht leicht wieder einen Mann von solcher Bedeutung und von so ausgeprägter Persönlichkeit geben, von dem sich nach vieljähriger Bekanntschaft so wenig Persönliches erzählen lässt. Böcklin gab sich in der Unterhaltung nicht aus, sondern wirkte nur durch seine elementare Gegenwart. Halbe Nächte lang habe ich ihn sitzen sehen, schweigend, voll augenscheinlichen Behagens beim Weinglas, während um ihn her das Gespräch der andern schwirrte, in das er nur ab und zu ein Wort oder eine humoristische Anekdote warf. Er liebte solch ein schweigsames Sitzenbleiben, eine Art geselliger Einsamkeit. In früheren Jahren, wenn Böcklin zuweilen des Abends in unser Haus kam, galt es unter den Familienmitgliedern, wer am längsten die Augen offenhalten konnte. Ich erinnere mich, die Augen manchmal wacker offengehalten zu haben, an irgend ein bedeutendes Wort, das ich dabei aus seinem Munde vernommen hätte, erinnere ich mich nicht. Er sah mit hellen, offenen Augen vor sich hin, ohne sich mit Unterhaltung anzustrengen, nur innerlich die Fülle seines Daseins geniessend. Diskussionen waren ihm gründlich zuwider, überhaupt alles »Beschreien« der Dinge, auch alles Definieren und Schrankenziehen. Er wollte in seinem inneren Schauen durch kein aufreizendes Wort gestört sein. – Alle Zeit war ihm eine ewige Gegenwart; mit dem Hintereinander der Dinge wusste er nach Künstlerart nicht recht umzugehen; so kam es ihm nicht darauf an, gelegentlich etwa Raffael ins 13. Jahrhundert zu versetzen und, wenn er das Erstaunen seines Gegenüber sah, ihn von da wieder wegzunehmen und unbesorgt im 17. unterzubringen. Auch auf sein Urteil über Menschen durfte man sich nicht allzusehr verlassen, denn es war stark subjektiv und von augenblicklichen Eindrücken abhängig. Er hatte zwar gewiss den richtigen Instinkt für Charaktere, aber die einzelnen Züge konnte er leicht missdeuten. – Für seine ganz nach innen gewandte Natur war es sehr bezeichnend, dass er sich so viel lieber mit Kindern als mit Erwachsenen unterhielt.

In unsre ersten Florentiner Jahre fiel die Erbauung der von Böcklin erfundenen Flugmaschine. Man sollte denken, diese Anstalten zu einer Zeit, wo die Lösung der Aufgabe noch in weiter Ferne zu liegen schien, hätten die Oeffentlichkeit aufs lebhafteste beschäftigt. Dem war jedoch nicht so: die Florentiner sind viel zu gleichgültig, um dem Treiben der Fremden irgend tiefere Aufmerksamkeit zu schenken. Nur der nächste Freundeskreis scharte sich in Erwartung und Sorge um den Erfinder, der fest entschlossen war, die gefährliche Probe in Person zu bestehen. Auf einem hochgelegenen Felde jenseits des Mugnone, das Böcklin gemietet hatte, war der Apparat aufgestellt, ein leichter turmhoher Bau aus Flächen von Leinwand und Seide, die weithin in der Sonne leuchteten. Dort lagerte er mit seinen Getreuen in heisser Sommerzeit Tag und Nacht; sie schliefen, kochten, zechten und bastelten im Freien. Mein Bruder Edgar, Böcklins naher Freund und Hausarzt, der keine Zeit hatte, dabei zu bleiben und doch von den Zurüstungen nichts verlieren wollte, war immer hin und her unterwegs, schwankend zwischen der Freude an dem kühnen Unternehmen und dem Zweifel, ob die Technik dafür schon reif sei. Die Sache zog sich natürlich in die Länge, denn es musste beständig an dem Apparat nachgebessert und um Hilfsmittel nach der Stadt geschickt werden. Später hiess es, Freund Zurhelle, der ritterliche Oesterreicher, der den Säbel von 1866 mit dem Pinsel vertauscht hatte, um erst Böcklins und später Marées’ Schüler zu werden, habe, nachdem er bei Tage wacker mitgeholfen und mitgezecht, des Nachts die Drähte heimlich wieder abgeknipst, dass man nicht fertig werden konnte. Aber am Tage, der für den Aufstieg bestimmt war, griff der Himmel selber ein: es erhob sich ein furchtbarer Gewittersturm mit Hagelschlag, der das leichte Gestell durch die Lüfte davontrug. Als das Dunkel sich verzog, konnte man aus der Ferne glauben, der Meister sei mit aufgeflogen und im Gewölk verschwunden. Doch war zum Glück bei Eintritt des Sturms die Flugmaschine noch nicht reisefertig gewesen. Als die Freunde aus der Stadt hinzueilten, stiessen sie unterwegs auf einen melancholischen Zug: es war das von der Sonne gebräunte und vom Regen durchweichte Häuflein der Getreuen, deren jeder ein Stück des zertrümmerten Apparats auf dem Arme trug, und noch Wochen später las das Landvolk aus Klüften und Feldern und von den nahen Felsenkanten die Fetzen der Böcklinschen Flugmaschine zusammen.

Ein einziges Mal habe ich Böcklin wirklich mitteilsam gesehen, und ich nahm es für ein Zeichen, dass er sich nicht behaglich fühlte. Es war in Zürich, bald nach dem Tode Gottfried Kellers. Böcklin klagte mir seine Vereinsamung, den Missgriff, den er mit seiner Uebersiedelung in die Schweiz begangen, und seine brennende Sehnsucht nach dem Süden. Fern von Italien fühlte er sich verschmachten. Die einzigen Menschen, sagte er, mit denen er nach Kellers Tode in Zürich Verkehr haben könne, seien Architekten und Mediziner, und diese beiden Menschensorten hätten das leidige Vorrecht, immer von ihrem Handwerk zu reden.

Nebenher ärgerte er sich über die noch jugendliche Zunft der Freilichtmaler, deren laute Schlagwörter ihm wie lästige Fliegen um die Ohren summten. »Wenn man sein ganzes Leben daran gesetzt hat, sich auf seinem eigenen Wege vorwärtszufühlen,« rief er missmutig, »und soll sich dann von der grünsten Jugend sagen lassen, dass der Weg ganz anderswo gehe!« Die Jungen hatten ihn nämlich um jene Zeit noch nicht für sich entdeckt. Er klagte auch über seine Gesundheit, die soeben dem ersten schweren Stoss entgegenging, und wie schwer es ihm werde, mit immer schmerzendem Kopf zu arbeiten.

Aber bald siegte der Humor: er holte mir das angefangene Bild einer Penia mit strengem, mahnend erhobenem Finger aus einer Ecke des Ateliers herbei und sagte: »In solcher zürnenden Gestalt erscheinen Sie mir jetzt zuweilen im Traum.« Auf meine erstaunte Frage, wieso meine unschuldige Person für ihn zum Popanz geworden sei, erzählte er mir, dass er sich vergebens bemüht habe, nach einem früher gegebenen Versprechen ein Titelblatt zu meinen »Phantasien und Märchen« zu entwerfen, dass der Versuch misslungen sei – so sehr, dass er ihn nicht einmal zeigen mochte –, und dass sein böses Gewissen ihn jetzt nur noch die strenge Mahnerin in mir sehen lasse. Ich verstand so gut, wie es seiner souveränen Phantasie beschwerlich sein musste, an einen bestimmten Gegenstand gebunden zu sein, und ich beeilte mich, ihn seines Versprechens zu entbinden, womit ich zwar in den Augen des Verlegers eine grosse Torheit beging, mich selbst aber erleichterte. Denn der Gedanke, als Gespenst mit andern Plagegespenstern vor seiner Seele zu stehen, war mir abscheulich. Ein halbes Jahr später, nach seiner scheinbaren Wiederherstellung, besuchte er mich in Florenz und überreichte mir eine pompöse Torte, um mich durch das gelungene Werk des Zuckerbäckers für sein eigenes, nicht gelungenes zu trösten –, eine etwas sonderbare Entschädigung, die ich trotz des guten Willens, der sich darin aussprach, nicht ganz für voll nehmen konnte.

Bei jenem Besuch in Zürich erzählte er mir auch eine kostbare, noch ganz warme Keller-Anekdote, die, soviel ich weiss, nicht aufgezeichnet ist und die ich deshalb, soweit mein Gedächtnis reicht, der Vergessenheit entreissen will. Keller war kurz zuvor gestorben. Böcklin hatte zusammen mit J. Bächtold die Aufgabe, des Dichters schriftlichen Nachlass zu ordnen. Es ist bekannt, mit welch peinlicher Sorgfalt Keller jeden an ihn gerichteten Papierschnitzel aufbewahrte. In einem Schubfach fand sich ein Stoss Briefe von weiblicher Hand, sorgfältig nach den Daten geordnet, die zuerst das Staunen, dann wachsendes Befremden und schliesslich zwerchfellerschütterndes Lachen der Testamentsvollstrecker erregten. Die Schreiberin stellte sich als eine Jugendgeliebte vor, die den Adressaten an gemeinsam genossene schöne Stunden erinnerte; sie versicherte, dass sie mit inniger Freude das Aufsteigen seines Sterns verfolgt habe, und dass es ihr nicht einfallen würde, mit einem Bittgesuch an ihn heranzutreten, wenn sie nicht wüsste, dass er sich jetzt in günstigen Verhältnissen befinde, die ihm wohl gestatten würden, sich des Pfandes seiner Liebe, eines schönen, wohlbegabten Töchterleins, das sie ihm grossgezogen habe, zu erinnern und für ihre Zukunft zu sorgen. Auf dieses Schreiben hatte Keller augenscheinlich nicht geantwortet, denn es folgte ein zweites, dringenderes mit derselben Ermahnung, und danach stellte sich auch besagtes Töchterchen brieflich vor, um den »lieben Vater« ihrer kindlichen Liebe und Verehrung zu versichern und ihm von den Fortschritten ihrer ganz in seinem Geiste geleiteten Ausbildung zu erzählen. Noch immer blieb augenscheinlich das Herz des Dichters ungerührt, denn in den nachfolgenden Briefen steigert sich das Pathos der Schreiberin immer mehr, bis sie in die bittere Klage ausbricht, wie er nur in seinem Ruhm und Glück so ganz die schöne Jugendzeit vergessen könne, wo sie ihn in X. in der Stellung eines städtischen Schwimmlehrers gekannt und geliebt habe. Diese unerwartete Schlusswendung – Gottfried Keller als Bademeister! –, wodurch die vermeintliche Jugendsünde des Grünen Heinrich ganz von selbst von dessen Schultern weg auf die eines unbekannten Namensvetters fiel, war überwältigend. Ob der Dichter endlich den Irrtum aufgeklärt oder ob er auch diesen letzten Brief schweigend und lächelnd ad acta gelegt hat, war nicht zu ersehen.

Böcklin erzählte vortrefflich; sein langsames, immer etwas mühsames Sprechen gab seinen Pointen noch einen besonderen Nachdruck. Man konnte sich lebhaft die humorvolle Spannung des Adressaten vorstellen, der augenscheinlich gar keine Erklärung dazwischenwarf, sondern ruhig den Schluss der Komödie abwartete. Die Geschichte ist mir in Erinnerung geblieben, nicht nur, weil Böcklin sie so humoristisch erzählte, sondern weil sie auch so echt Kellerisch ist, als ob sie ein barocker Einfall des Dichters, nicht ein persönliches Erlebnis wäre.

Im letzten Jahrzehnt seines Lebens habe ich Böcklin so selten mehr gesehen, dass mir das Bild des alten Mannes mit dem haar- und bartumwallten Seherkopf, in dem das früher so helle Auge schwer unter gesunkenen Lidern hervorblickte, allmählich ganz zu schwinden beginnt und an seiner Stelle die Gestalt des jugendkräftigen Fünfzigers, als den ich ihn zuerst in Florenz kennen lernte, wieder hervortritt: ein schönes, männliches Gesicht, in dem zumeist der ruhig-starke, glänzende Blick des blauen Auges auffiel, die Züge derb und holzschnittartig, der Körper hünenhaft, etwas Schweizer Lanzknechtstypus, aber ein durch langen Aufenthalt im Süden veredelter Lanzknecht. Und zu diesem Bilde passt vortrefflich die Szene, mit der nach der Schilderung eines Augenzeugen der Unglückstag auf dem Campo Caldo schloss: während nach der Vernichtung der Flugmaschine die Gesellschaft niedergeschlagen und erschöpft herumstand, ergriff mit einem Male

Böcklin ein blankgeschliffenes Beil, zielte eine Zeitlang ruhig auf gespreizten Beinen und warf dann das Beil mit solcher Gewalt in einen Baumstamm, dass die Schneide tief ins Holz fuhr und der Stiel noch lange nachzitterte. Nach diesem reckenhaften Wurf war er mit dem Schicksal ausgesöhnt und teilte den Freunden nun die fröhlichste Stimmung mit, denn er hatte sich in seinen eigenen Augen von dem Misserfolg seiner Erfindung wiederhergestellt. Diese Szene, die an die Helden der Edda erinnert, ist mir für Böcklins unverwüstliche Natur so sinnbildlich, dass sie meiner Phantasie an seinem Grabe wie ein Bildwerk entgegentritt.

Nicht weit von Böcklins Ruheplatz befindet sich das Grab eines andern Schweizer Künstlers, der wie er ein Ruhm seiner Heimat gewesen, der aber die Höhe der letzten Vollendung nicht erreichte, weil ihn frühe ein tragisches Geschick hinraffte. Auf grüner Rasenfläche, nahe dem Eingang rechter Hand, liegt dieses Grab unter hohem Lorbeergebüsch, von Efeu umsponnen; sein bescheidener Stein trägt die Inschrift:

Hier liegt gebrochen nach schwerem Kampf

Karl Stauffer-Bern,

Maler, Radierer und Bildhauer.

Geb. 2. September 1857, gest. 24. Januar 1891.

Die Schrift sagt viel mit wenig Worten: das ganze vielseitig ringende Künstlerleben mit seinen gewaltsamen Ausschreitungen und dem tragischen Ende, das in aller Erinnerung ist. Nur eines sagt sie nicht, was mir zumeist vor der Seele steht, wenn ich an diese Stelle trete: dass in Stauffers Grab auch ein Dichter ruht.

Die Entdeckung der Staufferschen Gedichte gehört mir zu den unvergesslichsten Eindrücken. Der Verfasser hatte diese wilden Lieder, die unter den Greueln des römischen Gefängnisses entstanden sind, im Frühjahr 1890 meinem Bruder Erwin, dem Bildhauer, der ihm noch von der Münchner Akademie her befreundet war, zur Aufbewahrung übergeben, vermutlich weil er sie in seinen eigenen Händen nicht für sicher hielt, und war dann von Florenz abgereist, ohne sie zurückzuverlangen. Als er im Herbst wiederkam, gebrochen, verfemt, auch von der Frau, die der hauptsächlichste Gegenstand dieser Lieder war, verstossen, da fragte er nicht mehr nach ihnen; sie lagen unberührt und halbvergessen in meines Bruders Wohnung, bis mir dort eines Tages beim Aufziehen eines Schubfachs durch Zufall ein Blatt in die Hände geriet. Ich staunte: Funken vom Urfeuer stiebten mir daraus entgegen. Es war ein Stück aus seinen Totentanzgesprächen in Berner Mundart, derb und zynisch, aber von einer Grossheit des Wurfs, in der man die Löwenklaue spürte, und von überraschender Unmittelbarkeit (das merkwürdige Stück, das wohl nach Inhalt und Titel Anstoss erregte, ist später aus der Sammlung verschwunden). Das Bündel war unversiegelt und nicht als Geheimnis übergeben worden, also las ich weiter und fand mich mitten in dem schauerlich-schönen Trümmerfall eines grossen Lebens. Die Gedichte waren mit Stauffers grosser, kühner Hand und mit dem schönen Raumgefühl des bildenden Künstlers, aber zum Teil mit Bleistift und in Spiegelschrift auf grossen Blättern geschrieben, die den Stempel der Gefängnisdirektion von Florenz trugen.

In wildem Chaos war Stauffers Leben darin ausgeschüttet, seine Liebe, sein Hass, sein selbstherrlicher Uebermut, der Sturz aus Sonnenhöhe ins grausigste Elend, Wut und Rache, nächtliche Kerkervisionen, alles aus der ungeheuren Erregung des Augenblicks geboren und den Stempel des Improvisierten tragend, einfach und unwiderstehlich wie die Wahrheit selbst. Zugleich aber hatte der tobende Vulkan in seinem mächtigen Feuerstrom alles mitherausgeschleudert, was seit Jahren schweigend in Stauffers Seele geruht hatte, Sprüche über Kunst und Künstler, über dichterische und historische Grössen, volksliederartige Weisen, eine längst verklungene Jugendliebe, die Leidenschaft für die Antike, die sich bei ihm, dem protestantischen Pfarrerssohn, wie bei den Renaissancemenschen, mit inniger Christgläubigkeit mischt – das alles »tanzt reimweis hier zu Paaren«, und zuweilen fällt in diesen heidnisch-christlichen Hexensabbat wie ein Schein aus gemalten Kirchenscheiben eine pietätvolle Kindheitserinnerung, ein Bild aus dem väterlichen Pfarrhaus im grünen Emmental herein.

Aber nicht umsonst waren diese oft wunderbar poetischen Verse nach dem florentinischen Irrenhaus, wo Stauffer sie ins reine schrieb, »Die Lieder des Narren von San Bonifazio« betitelt. Man befand sich mit ihm in den Irrgärten eines Wahnlands, wo alle Fesseln, auch die der Vernunft, zerrissen sind, wo die Grenzen des Ichs sich verwischen und die rasende Gedankenflucht sich zuweilen in ein irres Stammeln verliert. Doch diese Mischung von Wahnsinn tat dem eigentlich Poetischen keinen Eintrag; es machte die Gedichte elementarisch-unbewusster. Und neben aller Verwirrung musste man noch immer die sichere Sprachgewalt bewundern; freilich, mit dem einzelnen durfte man es nicht genau nehmen. Stauffers Verse sind wilde, tobende Gebirgswasser, die alles mit sich führen, was ihnen im Lauf begegnet: Anklänge und Reminiszenzen von da und dort her, Berner Deutsch, Berliner Deutsch, griechische und lateinische Wörter, selbst ganze Strophen Italienisch ins Deutsche eingeflochten, denn er beherrschte das Italienische wie wenige Ausländer bis in die Dialektformen herunter.

Der Eindruck, den ich davon empfing, war um so mächtiger, als ich Stauffer bis dahin für einen Poseur gehalten hatte. Persönlich war ich ihm nie begegnet, obgleich er in Florenz gerade in den Häusern aus- und einging, wo auch ich verkehrte; ich hatte seine Bekanntschaft eher gemieden als gesucht, nicht des Romans wegen, dessen Einzelheiten damals noch nicht hinlänglich aufgehellt waren, um ein gewinnendes Bild von Stauffers Charakter zu geben, als vielmehr wegen gewisser äusserer Eigentümlichkeiten, die dem Künstler noch von seiner Berliner Zeit her anklebten, und die ihm auf dem vornehmen Hintergrund des florentinischen Lebens ein etwas parvenümässiges Ansehen gaben.

Aber man sollte niemals Vorurteile haben, auch nicht, wenn ein Schweizer Berlinerisch spricht! Angesichts dieser Blätter kehrte sich mein Vorurteil in Interesse und Teilnahme, in den herzlichen Wunsch, dem bisher Gemiedenen meine Freude an dem Fund, meine Bewunderung für sein herrliches Talent aussprechen zu können. Aber die Prosa des Alltags schob den Vorsatz hinaus, und wenige Tage später kam mein Bruder von einem Morgenbesuch in Stauffers Wohnung zurück mit der erschütternden Nachricht, dass man ihn tot im Bette gefunden habe. Er selbst war ihm am Abend zuvor behilflich gewesen, das verhängnisvolle Chloral zu kaufen, das seine Schmerzen einlullen sollte und das sie so unerwartet ganz gestillt hat.

Nun waren die Gedichte, über die er keine Verfügung getroffen hatte, und von deren Dasein niemand wusste, als ein Vermächtnis des Zufalls in meiner Hand zurückgeblieben. Ich fühlte die Pflicht, sie zu sichten und zu ordnen; ich hoffte, das Beste davon ganz oder in Auszügen unter dem ergreifenden Titel, den er selbst ihnen gesetzt hatte, der Oeffentlichkeit übergeben zu können. Denn ich glaubte und glaube es noch, dass sie einen Platz in unsrer Literatur verdient hätten, schon weil sie durch ihren vulkanischen Ursprung Winke über die Entstehungsart unsrer schönen deutschen Volkslieder geben könnten. Dass mir die Herausgabe nicht gelungen ist, habe ich immer tief bedauert. Die Einwilligung, die ich von Frau Pfarrer Stauffer erlangte, war an die Bedingung geknüpft, dass alles persönlich oder sittlich Bedenkliche ausgetilgt, Form und Inhalt gemildert und geglättet werde, und diese Klausel, an sich zwar begreiflich, war mit meiner Ueberzeugung, dass der poetische Wert der Staufferschen Dichtungen gerade in ihrer leidenschaftlichen Subjektivität und der Direktheit des Ausdrucks bestehe, nicht in Einklang zu bringen. Ein zahmer, von allen Seiten zugeschnittener und zurechtgestutzter Stauffer wäre eben kein Stauffer mehr. So legte ich endlich notgedrungen und ungern das ganze Manuskript in die Hände der Familie Stauffer zurückUnterdessen hat mir Stauffers Schwester in zuvorkommendster Weise die Ermächtigung zum Druck der nachstehenden Gedichte erteilt, wofür ich ihr und den andern Hinterbliebenen meinen verbindlichsten Dank sage.. Eine Auswahl davon konnte dann später Otto Brahm als Anhang zu den berühmt gewordenen Stauffer-Briefen drucken; es sind die abgeklärtesten, formgerechtesten, aber leider nicht durchweg die originellsten von Stauffers Gedichten, und sie geben von der Feueresse, auf der sie entstanden sind, nur einen unvollkommenen Begriff.

Wer, der das Manuskript in Händen gehabt hat, kann sich ohne die tiefste Bewegung an das merkwürdige, teils deutsch, teils italienisch geschriebene Gedicht erinnern?

Auf Königs Kosten via Rom–Florenz,

Mit sieben Mördern an der langen Kette,

Eiserne Schellen – na, das Ding wird lustig. –

Das ist ein menschliches Dokument in künstlerischer Form, wie es vielleicht auf der Welt kein zweites gibt. Man erlebt Stauffers Ueberführung aus dem grauenvollen römischen Kerker nach dem florentinischen Gefängnis mit, die letzte Nacht vor dem Transport in einem schauderhaften, von Ungeziefer wimmelnden Loch, »Transit genannt, das schrecklichste von allen«, wo nicht Sonne noch Mond hereinscheint.

Hier übernachten, na, es geht zum andern,

Doch wird von Schlaf wohl kaum die Rede sein.

Da geht die Türe auf, und dreiundzwanzig Strolche,

Ladroni, Diebe, Mörder, Raubgesindel,

Auch zum Transport a spese del governo.

‘s wird immer besser. Herr, lass diesen Kelch

An mir vorübergehn, sonst werd’ ich närrisch.

Aus allen Himmelsgegenden Italiens,

Teils schon verurteilt, teils noch in Erwartung.

Wer nie sein Brot mit Tränen ass, wer nimmer

Auf seinem Strohsack bitter weinend sass,

Der kennt euch nicht, ihr grossen Himmelsmächte!

Und in der langen, bangen Kerkernacht

Hab ich die Lebensrechnung still gemacht,

Ich schloss kein Aug’, der Morgen kam heran,

Da drehte sich mein Nachbar gähnend um

Und fragte mich: »E che hai preso tu?«

Niente ancora. E a te che fanno?

»Vent’ anni di galera button giù.

Ho ammazzato un po’ la mia madre.«

Ma tu sei buono. Cosa c’hai pensato?

»Non venne fuori coi soldi, sai,

Sta brutta strega, dunque 1’ ammazzai«                      »Was hast du gefasst?«

Noch nichts. Und du, was geschieht dir?

»Zwanzig Jahre Galeere hab ich bekommen.

Ich hab meine Mutter umgebracht.«

Du bist mir ein netter Kerl. Was ist dir denn eingefallen

»Sie wollte nicht mit dem Geld herausrücken,

Die garstige Hexe, da hab ich sie totgeschlagen.«.

Man sieht, wie er herausgeholt wird, wie ihm die Handschellen angelegt werden, die im italienischen Gefängnisjargon »des Königs Handschuhe« heissen; dann geht es fort:

Acht Mann an einer Kette, je zu zweien,

Den ganzen Bahnhof lang bis an den Wagen

Mit achtzehn finstern wohlverschlossnen Zellen.

Das Staunen der Leute, die ihm so begegnen:

Wer mag der sein, der mit dem langen Mantel?

Wie ein Spitzbube sieht er grad nicht aus. –

Dann die lange Fahrt durch die römische Campagna, wo zuweilen durch ein offenes Guckloch ein Stück Landschaft sichtbar wird und an diesem lang entbehrten Anblick der Künstler sich selbst und seine starke Seele wiederfindet, entzückt, trotz alledem, auch in Schmach und Not, in Italien zu sein:

Im neuen, hochgelobten Vaterland,

Wo aller schönen Künste Wiege stand,

gerührt, dass die Eskorte ihn menschlich behandelt:

Der Brigadiere mit dem Personal

War Gott sei Dank kein preussischer Korporal,

Tat seine Pflicht als Mensch und als Soldat,

Nicht als ein arroganter Autokrat.

Und kaum, dass er sich selber wieder erkennt, so schwillt auch schon der Mut ins Unermessliche; bei der Fahrt durch die Strassen von Florenz, am wohlbekannten alten Dom vorüber, fühlt er sich frei trotz der Handfesseln und der schweren Kette; das Lied der Schmach wird zu einem Triumphgesang:

Ihr könnt die Hände mir in Fesseln schlagen,

Mich in die gottverdammten Mauern sperren

Bei Brot und Wasser, ‘s ist mir einerlei.

Der Herr, er segnet Wasser mir und Brot

Und schickt die Muse mir in meiner Not.

Er reisst die dummen Mauern vor mir nieder,

Er gibt dem Geiste Schwungkraft und Gefieder,

Der fliegt hinaus. – Geh mal und hol ihn wieder!

Und endlich tönt das wilde Lied in einen Choral aus:

Aus meinem kleinen Zellenfenster sah

Ich Santa Croce und Santa Maria

Del Fiore, o wie ward mir da zu Sinn!

Ich träumte mich in jene Räume hin

Und betete: O Herr, lass ohne Bangen

Mich still ertragen, was du hast verhangen,

Du weisst es besser, was dem Menschen frommt,

Und was ihm gut und was ihm schlecht bekommt.

Es möge mir geschehn nach deinem Willen;

Du hast mein Leid gesehn und wirst es stillen,

Du wandelst droben in der Ewigkeit,

Und aller Welten Kraft und Herrlichkeit

Webt wunderbar dein zauberhaftes Kleid,

Und überall geschieht dein starker Wille.

In diesen Versen steckt der ganze Stauffer, frech und fromm, bis zum Zynismus entwürdigt in dem Gespräch mit dem Muttermörder, der ihn als Duzbruder behandelt, und gleich wieder auf den kleinsten Anblick des Schönen, auf die leiseste Berührung des Guten reagierend, sich erhebend bis zum Ueberschwang! Man denkt an einen, der ähnliche Glückswechsel – nur minder schuldlos – durchgemacht, dem er an Temperament und Spannkraft glich, den wilden Goldschmied Benvenuto Cellini.

Stauffer hat aber auch noch ganz andre Töne auf seiner Leier, zarte, innige, so, wenn ihm in den schauerlichen Kerkernächten die Vision des vergangenen Glückes aufgeht, wie in dem Gedicht »Wunderblumen«:

O, dein gedenk ich in den langen Nächten,

Und in die wachen, bangen Träume flechten

Sich deine reichen, blonden lieben Haare,

Die deinen Scheitel zieren, Wunderbare.

Es trinken deine dicken Seidensträhnen

Des starken Mannes schwere Schmerzenstränen;

Und Blumen blühn in deinem goldnen Haare,

Und in der Seele Frieden, Wunderbare.

Oder:

Matt strahlt das Licht, die kalten Wände schlafen,

Und oben an dem schmutzigen Gewölbe

Sitzt der Laterne grauer, grosser Schatten

Wie eine riesenhafte Geisterspinne,

Und auf den harten Pritschen rings im Kreise

Schnarchen im Chor die Kerle laut und leise.

Ich denk an dich, die wunden Ohren klingen,

Der Liebe Grüsse durch die Mauer dringen.

Zuweilen vergisst er die grausige Umgebung ganz und versinkt völlig in die Erinnerung des vorigen Zustands, den er magisch zurückbeschwört:

Von meinem Grab hast du den Stein gewälzet,

Und meine Seele ist nun auferstanden,

Und weit hinaus nach jenen blauen Landen

Mein Auge schaut – und meine Sinne schwanden.

Du hast gesprengt die starken Eisenbanden,

Die um die Brust ich schmieden liess mit Schmerzen,

Als du noch lagst an einem andern Herzen –

Sieh gnädig an, o Herr, lass uns nicht stranden.

Und wie rührend das kindlich-fromme, in friedvolle Nachtstimmung getauchte Lied:

Sieh, die Gebete steigen

Hinauf ins stille Reich,

Im mondbeglänzten Reigen

Und singen: Bin dein eigen,

Und singen, bin dein eigen

Weit durch das stille Reich.

Die Sterne rings erglänzen

Am dunklen Himmelszelt,

Und in der Seele glänzen,

Geschmückt zu Reigentänzen,

Gedanken einer Welt.

In das Brahmsche Buch ist ein wundervolles Gedicht aufgenommen, das ganz merkwürdig den Bildhauer im Poeten verrät; es schildert die Erscheinung der Pallas Athene, wie sie im Kerker streng an ihm vorüberschreitet, wobei die ehernen Gewänder schaurigen Klang geben. Von der gleichen plastischen Sichtbarkeit des Vorgangs ist die Aphroditen-Vision:

In meinen Träumen haben einst geglänzet

Goldene Tempel, marmorsäulumkränzet,

Hoch oben sah ich in dem Dunkelblauen

Des Himmels Wolken auf die Erde schauen,

Und unten in dem tiefen Tale lauschte

Der Nymphen Schar, wo kühl das Wasser rauschte,

Und auf den Bergen rauchten die Altäre,

Und Opferdüfte zogen durch das Land,

Und an den Hängen reifte schwarz die Beere,

Im fernen Westen schimmerte der Strand.

Da sah ich auf dem Hügel vor mir leuchten

Das goldne Haus der hehren, wellenfeuchten

Buhle des Mars, der Meeresschaumerzeugten.

Des goldnen Tempels weisse Marmorstufen,

O Göttin, steig ich zagend bang hinan;

Ich hörte dich in meine Seele rufen.

O Aphrodite, sieh mich gnädig an!

O sieh mich an, mein Schwert so scharf und schneidig,

Den Arm so hart und ach, das Herz so weich!

Gebiete, und ich hole aus zum Streich,

Und der Barbaren plumpe Köpfe sollen

Vor dir im Staube mit den Augen rollen.

Auch aus seinen Zwiegesprächen mit den grossen Toten erinnere ich mich prachtvoller Stellen, so der Strophe an Eckermann:

Auf deinem Haupte ruhten Seine Hände,

Und deine Augen in die Seinen schauten,

In die gewaltigen alten Feuerbrände.

Desgleichen liegt in dem Totentanzzyklus, den er den »Tod von Bern« betitelt hatte, manches von poetischem Urgestein vergraben, das wohl verdient hätte, das Licht zu sehen. Vor allen andern aber hat sich mir ein Gedicht unauslöschlich eingeprägt und tritt mir, wo von Stauffer als Dichter die Rede ist, wie von selbst auf die Lippen:

Ich bin in keinem Staatsgemach erzogen,

Ich hab an keiner Ammenbrust gesogen,

Der jungen Mutter lag ich nach den Schmerzen,

Ein Kind der Liebe, an dem treuen Herzen.

Dort, wo die Ilfis schäumend jagt zu Tal,

Hab ich die Wasser wühlen sehn einmal,

Wie Fels und Tannen, Steingeröll und Hirten

Die grässlichen, die tollen Fluten führten.

Es war in meiner Jugend frühsten Tagen,

Ich hab’s gesehn, nicht etwa hören sagen.

So ist mein Lied wie jener Strom der Berge

Es brauset wild und weiss . . .

Es führet mit sich aus der Berge Spalten,

Wie jene Bäche, wenn erbraust der Föhn,

Was sie in ihrem Laufe aufgehalten,

Doch breitet unten wieder sich das Tal,

Soll er sich rieselnd segensreich ergiessen,

Ins ferne Meer soll er hinüberfliessen,

Und viele Städt’ und Länder soll er grüssen

Und stillen mancher Seele wilde Qual.

Das walte Gott, er möge seinen Segen

Mir, meinem Weib und allen Guten geben.

Es bleibt ewig schade, dass Stauffer die Absicht, mit der er sich eine Zeitlang trug, seine Lebensgeschichte zu schreiben, nicht wahrgemacht hat. Bei der rücksichtslosen Offenheit seiner Natur und seiner unvergleichlichen Herrschaft über die Sprache, die ihm für jedes Ding das treffende Wort eingibt, wäre gewiss ein Meisterstück zustande gekommen wie die Selbstbiographie Cellinis, ja, viel wertvoller als diese, da Stauffer über unendlich tiefere Mittel verfügte als der ruhmredige Goldschmied, der den höchsten Fragen seiner Zeit doch immer subaltern gegenübersteht. Aber Stauffer konnte sein zerrüttetes Innere nicht mehr zu einer solchen konzentrierten Selbstschau zusammenfassen, er wollte es auch nicht mehr. Er hatte in seiner letzten Lebenszeit die Freude an sich selbst verloren. Er, der alle Höhen und Tiefen des menschlichen Daseins ausmessen sollte, war jetzt auf dem tiefsten Punkte angelangt, wo der Mensch sich selber aufgibt. Die Gesellschaft verdammte ihn, die alten Freunde fielen ab, die Frau, die sein Schicksal gewesen, verstiess ihn, und endlich versagte sich ihm auch die Kunst. Noch in den Schrecken des Kerkers hatte er trotzig von sich gerühmt:

Ich bin ein wild-verwegener Kumpan,

Und was ich fasse, fass ich ehern an.

Jetzt liess er gebrochen die Hände sinken. In Florenz, auf dem Schauplatz seines triumphierenden Uebermuts, ging er umher wie der Schatten seiner selbst, aber ein breitschultriger, rotwangiger Schatten, der nicht einmal äusserlich die Würde seines Unglücks repräsentierte, denn seine derbe physische Konstitution hielt noch über den inneren Zusammenbruch hinaus stand. Er wollte nichts mehr wissen von jenem Stauffer, der er einst gewesen, und dessen kühne Verheissungen er nicht mehr wahrmachen konnte. Nur seine körperlichen Kräfte hätte er noch gerne beschäftigt, er sprach davon, als Arbeiter in eine Majolikafabrik einzutreten, vor allem aber lockte ihn die Stille und Zucht des Klosters von Quaracchi, wo er von den gelehrten Franziskanermönchen, grossenteils Rheinländern, wohlwollende Teilnahme erfuhr. Gern wäre er in den Orden eingetreten, aber seiner Sehnsucht nach der ruheverheissenden Klosterregel stand nicht nur die Furcht, durch seinen Uebertritt die Familie noch mehr zu betrüben, sondern vor allem auch die von den Mönchen gestellte Bedingung einer eingehenden seelischen Rückschau und darauffolgender Generalbeichte entgegen. Stauffer wollte sich selbst entfliehen, seine Vergangenheit wie ein abgelegtes Kleid von sich werfen, nicht allen Irrtümern und Qualen noch einmal ins Gesicht sehen, und dies ist wohl auch der Grund, dass die Autobiographie unterblieb.

Selten ist das Urteil der Gesellschaft so schnell, so gründlich umgeschlagen, wie es nach Stauffers Tode der Fall war. Als einen Verfemten hatten sie ihn eingesenkt, als ein Gereinigter und Verklärter ist er alsobald auferstanden, und gerade das Uebermass der Ungerechtigkeiten, denen er erlag, hat die Sühne der öffentlichen Meinung zu einer so willigen und vollständigen gemacht. Stauffer als Künstler und Mensch nimmt längst seinen Ehrenplatz unter den Zeitgenossen wieder ein, er ist mit seiner Kraft und seinen Schwächen in die Reihe der Unverlierbaren eingegangen. Nur für den Poeten Stauffer war noch kein volles Zeugnis abgelegt, und immer, wenn ich an die Stelle trat, wo er begraben liegt, mahnte mich’s an die unbezahlte Schuld, die ich ihm mit diesen Zeilen, so gut ich’s konnte, noch abzutragen gesucht habe.

Von dem Stürmer und Dränger, dem »Narren von San Bonifazio« weg führt uns der Weg zu einem reinen Weisen, der ein langes Leben in antiker Schlichtheit und Heiterkeit zu Ende gelebt hat. Theodor Heyse, der einsame Gelehrte, den am 10. Februar 1884 zu Florenz ein sanfter Tod hinwegnahm, hat auf der linken Seite der grünen Niederung einen stimmungsvollen, echt poetischen Ruheplatz gefunden, ernst und traulich zugleich, wie er ihn im Leben gewünscht haben mochte. Sein Grab schmückt eine Herme mit seinem edlen Römerkopf in Bronze, einem Abguss von Hildebrands schöner Marmorbüste; wuchernde Lorbeern, die zu bergenden Wänden zugeschnitten sind, bilden ihm ein grünes Kabinettchen, kaum höher als sein Haupt. An Stelle des Gitters ist um einen horizontalen Eisenstab ein Rosenbusch gezogen, dessen leichtes Gezweig sich am Fussende wie ein Band zu einem anmutigen Knoten verschlingt. Es ist das richtige Gelehrten- oder Poetenstübchen, in dem man sich den Geist des Bewohners gerne heimisch denkt.

Die Welt, deren Dasein er übersah, kennt Theodor Heyse fast nur als den Onkel Paul Heyses; einige wenige wissen, dass er einer der gründlichsten Kenner der Alten, der scharfsinnige Aeschylos-Erklärer, der feine Catull-Uebersetzer war. Der Oeffentlichkeit war er so abhold, dass er einen Zyklus warmblütiger Liebessonette, die er als Sechsundsechzigjähriger gedichtet hatte, unter dem Pseudonym Theodor Florentin erscheinen liess.

Aus den frühsten Jahren meines florentinischen Aufenthalts steht mir diese Gestalt, in der noch die klassische Zeit der deutschen Literatur durchschimmerte, lebendig vor der Seele. Wenn der »alte Heyse« redete, so waren Goethe und die Alten immer stillschweigend zugegen. Zugleich hat sich mir seine Gestalt als eine typische eingeprägt, denn sie machte mir die Humanisten der Frührenaissance verständlich, deren ganzes Dasein in der Entdeckung, Wiederherstellung und Bewahrung der geistigen Schätze des Altertums aufging. Wie jene alles abwiesen, was in den klassischen Formen keinen Platz hatte, so wollte auch Heyse von unsrer modernen Welt der Naturwissenschaften nichts wissen. Sein Hausarzt wusste ergötzliche Geschichten von ihm zu erzählen, wie er nicht einmal die modernen Krankheiten anerkannte, sondern bei jeweilig eintretenden Störungen auf die Symptome irgendwelcher fabelhaften, in der Geschichte genannten antiken Krankheit hin untersucht sein wollte. Was ihn aber von seinen florentinischen Vorbildern des Quattrocento, den glanzverwöhnten, völlig unterschied, war seine gänzliche Bedürfnislosigkeit. Die äussere Form, den Luxus des Sichtbarschönen verlangte der deutsche Gelehrte nicht für sich, der gleichwohl ein empfängliches Auge dafür hatte; er suchte das Schöne einzig in der Phantasie, auch darin ganz der Sohn jener klassischen Zeit der deutschen Kultur, die unerhörte geistige Schätze mit der grössten Dürftigkeit des äusseren Lebens verband. Völlig besitzlos und völlig unabhängig, ohne ein Band, das ihn fesselte, und ohne ein Gerätstück, das ihm gehörte, hauste der Achtzigjährige in einem dürftig möblierten Zimmer bei der Piazza Carmine unter seinen Büchern und lärmenden Kanarienvögeln, dem einzigen, was er sein eigen nannte. Dort wurden nur wenige Auserwählte empfangen; er selbst ging niemals unter Menschen. Am Persönlichen nahm er längst keinen Teil mehr. Der Wellenschlag des Lebens rauschte ihm nur noch aus der Ferne. Im grauen Schlafrock, das kleine Mützchen auf dem Kopf, wenig über mittelgross, aber schlank und aufrecht, mit noch immer feurigen Augen und reingeschnittenem, scharfem Profil, wirkte er auch als Erscheinung imponierend. Die Stimme war noch sonor, und seine Rede war ein lebendiges Kunstwerk, die grösste Frische und Unmittelbarkeit mit einem völlig durchgeführten Satzbau verbindend. Von den Italienern mochte er das gelernt haben. Der »gebildete« Deutsche spricht seine Sprache abgerissen und nachlässig, und er tut wohl daran, weil er sonst gleich langweilig würde. Der Italiener, als der wahrhaft »kultivierte« Mensch auch in den unwissenden Ständen, behandelt die seinige wie der Musiker sein Instrument, auf dem er mit sicheren Griffen die kompliziertesten Läufe und Uebergänge ausführt. Dieselbe Kultur und dasselbe bewegliche Temperament machten es dem alten Herrn möglich, seine schöngeformten Sätze bis herab ins kleinste Teilchen feuerflüssig zu erhalten. Ich hatte so viel von diesem schönen Sprechen gehört, dass ich misstrauisch war und ein Reden um des Redens willen erwartete. Aber der alte Heyse warf seine Worte »wie Messer nach dem Zweck«, und der Ausdruck sass dem Gedanken knapp wie ein Handschuh. Man fand bei ihm nichts Fertiges, auf Lager Befindliches; was er sagte, löste sich unmittelbar von seiner Persönlichkeit ab. Freilich brauchte er, wenn man bei ihm zu Hofe kam, auch nur von Dingen zu reden, die ihn selber interessierten. Manche seiner Aussprüche wurden zu geflügelten Worten, die seine Intimen verbreiteten, so das schöne Wort, das auch K. Hillebrand in seinem Nachruf zitierte, über den Gegensatz der Zeitrichtungen: »Ja, ja, die Kunst war die Schuld, und die Wissenschaft ist die Sühne.«

Er selber hielt es mit der Kunst; nicht nur sein wissenschaftliches Gebiet hat er als Künstler behandelt, sondern auch sein Leben hat er als Künstler gelebt. Der Nimbus einer romanhaften Vergangenheit umschwebte ihn, der wohl geeignet war, die Neugier eines jungen Mädchens anzuziehen. Er sollte in jüngeren Jahren von einer römischen Prinzessin glühend geliebt worden sein; andere wollten wissen, dass er der Held einer romantischen Liebesnovelle seines Neffen sei; ja, er galt noch bei seinen hohen Jahren für frauengefährlich. Ich habe nie zu ergründen versucht, was Wahres an diesen Geschichten sein mochte, aus Furcht, sie widerlegen zu hören, – diese Legenden gehörten zu dem alten Heyse wie Efeu zu einem alten Gemäuer.

Als einstiger Erzieher und alter Seelenkenner, der er war, pflegte er gern in pädagogischen Fragen Rat zu erteilen; auch seine unvergleichlichen Sprachkenntnisse stellte er den Fragern aufs liebenswürdigste zu Gebot. Ich erinnere mich dankbar, wie einst, als ich wegen einer schwierigen Stelle in einem neulateinischen Autor umsonst an viele Türen geklopft hatte, der alte Meister die philologische Nuss spielend knackte. Meist lag über seinem Reden eine leichte Ironie, aber wenn er sich erwärmte, wie bei Gegenständen der älteren Literatur, dann schlug das vulkanische Temperament des alten Mannes wie Flammen aus seinen Augen. Wundervoll soll es gewesen sein, wenn er im engsten Kreise aus dem Shakespeare vorlas; dass ich die Gelegenheit, dabei zu sein, versäumt habe, ist eine derjenigen Unterlassungssünden, die ich am meisten bedaure.

Das schmächtige Bändchen Catull-Uebersetzungen, woran er zeitlebens besserte und feilte – eine bewundernswerte Nachgestaltung des liebenswürdigen römischen Brausekopfs –, ist die einzige sichtbare Frucht dieses langen und innerlich tiefbewegten Lebens. Die Vorrede, der er die Gestalt eines Briefes an seinen Neffen Paul gegeben hat, lässt sich als ein unendlich kondensierter Extrakt seines Wesens betrachten, dessen Aroma so darin erhalten ist, dass man den Alten reden zu hören meint; denn gerade so drückte er sich aus mit dem Wechsel kurzer Sentenzen und langgegliederter, pointenreicher Sätze. Auf diese wenigen Seiten hat er gewissermassen den Inhalt seines Lebens ausgepresst; es ist eine Verschwendung wie die der Rosengärtner von Schiras, die den Ertrag meilenweiter Anpflanzungen verbrauchten, um wenige Tropfen Rosenöl zu gewinnen.

Unvergesslich bleibt mir mein letzter Besuch bei dem alten Herrn, nur wenige Tage vor seinem Ende. In dem Krankenhaus der Villa Bethania, wohin er zum Sterben übergesiedelt war, brachte ich ihm in Begleitung einer älteren Freundin einen Strauss ans Bett. Er strich leise mit müden Fingern über die Stengel und sagte in dem gewohnten Tone leiser Ironie: »O mein liebes Fräulein, das ist für einen Sterbenden nur Heu.« – Das fuhr mir in die Seele, zumal da der Strauss in dieser kalten, blumenarmen Zeit des Karnevals nicht so schön ausgefallen war, wie ich gewünscht hätte. Der Kranke fühlte, was in mir vorging, denn wenn auch seine Sinne schon von dem nahenden Tode geschwächt waren, die feinen Fühlfäden der Seele waren es nicht. Lächelnd hob er die Blumen gegen die umflorten Augen, an die Nase, die für den Duft nicht mehr empfänglich war, und sie wieder sinken lassend, sagte er freundlich: »Aber so schönes, wohlriechendes Heu« – und er behielt den Strauss auf der Decke, solange ich zugegen war.

An seinem langen Krankenlager hatte sich übrigens die Legende, die ihn zum Liebling der Frauen machte, bewährt; denn begeisterte, aufopfernde Frauenfreundschaft pflegte den mitunter auch etwas Schwierigen bis in seine letzten Lebenstage.

Dasselbe Jahr 1884, das in seinem Aufgang Theodor Heyse wegraffte, sah auf der Neige auch den im blühendsten Mannesalter stehenden Karl Hillebrand scheiden. Wenn wir von Heyses Grab uns noch immer mehr links halten bis zu der efeubewachsenen Mauer und auf ansteigendem Boden dieser folgen, so kommen wir an die Stelle, die seine Aschenreste birgt. Die Gruft schmückt ein Werk von Adolf Hildebrand, eine freistehende Marmornische mit spitzem, säulengetragenem Bogen, die ein reichverziertes, marmornes Aschenkästchen trägt. Darüber tritt aus grauem Rund die wohlgelungene Bronzebüste vor, das feine, sinnende Gesicht mit dem klugen Lächeln des Weltmanns, des Völker- und Menschenkenners.

Halte das Bild der Würdigen fest, wie leuchtende Sterne

Teilte sie aus die Natur durch den unendlichen Raum

redet uns die Inschrift auf dem Sockel an, die in ihrer Zurückhaltung mehr sagt, als laute Ruhmredigkeit vermöchte.

Karl Hillebrand war keine Erscheinung von scharf umrissener, leicht erkenntlicher Silhouette, die sich in wenigen Strichen darstellen liesse. Wie sein Aeusseres nicht auffallend, aber gewinnend war: eine grosse schlanke Gestalt mit blondem Haar und Vollbart, die Züge wohlgeformt, ohne stark markiert zu sein, der Blick rein und wohlwollend, so wirkte auch sein Wesen vor allem durch eine vollkommene Harmonie, in der zunächst kein Zug als besonders charakteristisch hervortrat, sondern durch eine ruhige Tönung alle gegeneinander ausgeglichen schienen. Wenn ich den Eindruck seiner Persönlichkeit mit einem Worte bezeichnen sollte, so würde ich sagen: er war ein Kulturmensch im höchsten, heute fast unerreichbar hohen Sinne des Wortes. Das Ideal einer Weltliteratur und Weltkultur, wie es der Zeit Goethes vorgeschwebt haben mochte, war in dem Manne zur Wahrheit geworden, der die vier modernen Kultursprachen fast mit derselben Sicherheit sprach und schrieb und den betreffenden Nationen gleichmässig anzugehören schien, da er nicht als ein Aussenstehender ihre Geschichte und Literatur kannte, sondern ihr Leben mitlebte und teilhatte an ihrer Entwicklung. Denn wenn Deutschland den Menschen in ihm geboren hatte, so dankte er seiner zweiten Heimat, Frankreich, den Schriftsteller, der die künstlerische Form auf wissenschaftliche Gebiete übertrug. Frankreich hatte er im Jahre 1870 verlassen, um nicht die Orgien des Deutschenhasses zu sehen, Deutschland mied er, um nicht als undankbar gegen Frankreich zu erscheinen, aber seinen »beiden Vaterländern« hing er zeitlebens mit dankbarer Treue an. Deutschland hat er wohl von beiden mehr geliebt, da er es mehr gescholten hat, wie ja das Unreife, Zukunftsfrohe mehr zum Tadel reizt als das Fertige, dessen Vorzüge ausgereift und dessen Fehler nicht mehr zu ändern sind. Zu England zog ihn eine innere Wahlverwandtschaft; schon als Giessener Student soll er sich in englischer Form und Tracht gefallen haben, und dieser Vorliebe blieb er treu; er pflegte zu versichern, dass von allen modernen Nationen der Engländer mit seinem Gleichgewicht zwischen geistiger und leiblicher Ausbildung dem alten Griechenideal des καλὸς καὶ ἀγαϑός am nächsten komme. Ausserdem hatte dieses Land ihm die Gattin gegeben, die das unendlich reiche Gebiet seines geistigen Lebens mitbewohnte, und in der seine innere Welt ihn überlebte. Italien aber, wo er nach den 70er Ereignissen seine bleibende Wohnstätte aufschlug, hielt ihn mit Liebesarmen fest für immer. Und zwischen diesen vier Völkern, an die er sich gebunden fühlte, war Hillebrands Feder unermüdlich tätig geistige Brücken zu bauen.

Aber der Begriff Kulturmensch erschöpft sich nicht durch die Worte Wissen und Können, auch nicht, wenn die Anmut der Form hinzutritt. Um diesen Namen wahrhaft zu verdienen, bedarf es der Kultur, die sich auch auf Gemüt und Charakter erstreckt, die das eigene Innere wie einen Garten betrachtet, wo die Hand des Gärtners der Natur veredelnd zu Hilfe kommt. Auch dieses Ideal der Goethe-Zeit, die Behandlung des Ichs als Kunstwerk, seine Ausgestaltung zur vollendeten adligen Menschlichkeit, war in Hillebrand noch einmal verwirklicht. Wer in seine Atmosphäre trat, der empfing die instinktive Gewissheit, dass hier nichts Kleinliches, niedrig Persönliches Raum hatte. Wie sehr Hillebrand der Mahnung nachgelebt hat, dass der edle Mensch auch »hilfreich und gut« zu sein habe, dafür ist von den Unzähligen, die seine Förderung und Teilnahme erfuhren, dankbar Zeugnis abgelegt worden. Aber auch denen, die nichts direkt bei ihm suchten, erschien das Dasein eines solchen Mannes als eine tröstliche Einrichtung der Natur zum Ausgleich für so viele Härten und Ungerechtigkeiten des Lebens. Dabei war er ohne alle Pedanterie; die Natur hatte ihm jene angenehme Leichtigkeit gegeben, die das Ethische für das Selbstverständliche nimmt und darum das breite Hantieren mit moralischen Gewichten im Leben wie in der Literatur verabscheut. Auch war es wohltuend, zu wissen, dass der massvolle, ruhig lächelnde Mann mit den tadellosen Weltformen in jungen Jahren ein revolutionärer Strudelkopf gewesen; denn das erworbene Gleichmass imponiert mehr als das angeborene. Dieses Gleichmass und sein weltmännisches Geschick, den richtigen Abstand zu bewahren, erleichterten ihm auch das Festhalten der Menschenliebe, das denjenigen, die die andern zu nahe an sich herankommen lassen, oft so schwer wird.

Seine Bekannten pflegten es ihm ein wenig zu verargen, dass er so wortkarg war über die Zeit, wo er in Paris bei Heine die Stelle eines Sekretärs versah – Hillebrand nahm das Wort im buchstäblichen Sinne –, und gewiss hätte er die Heine-Literatur um manche pikante Anekdote, vielleicht auch um psychologisch wertvolle Züge bereichern können. Allein der Klatsch in jeder Form war ihm zuwider, und er wusste wohl, dass die Neugier, wenn man ihr einen grossen Menschen überlässt, sich nur an seine Menschlichkeiten hält.

Um Hillebrands Persönlichkeit zu vollenden, kam noch der Kultus des Schönen, die Freude an aristokratischen Lebensformen, das offene, gesellige Haus, der weltenweite Verkehr hinzu. Dieser Verkehr war ihm ja wohl mitunter auch ein wenig lästig; zuweilen konnte man ihn über den grossen Zeitverlust klagen hören; aber seine näheren Freunde lächelten dazu: sie wussten, dass dieser breite Strom eben das Element war, das seinen Geist trug. Denn das Studium fing für ihn nicht bei den Büchern an, sondern bei den Menschen, an den Lebenden lernte er die längst Dahingegangen kennen, die Triebfedern ihres Handelns deuten und in unbewusster, blitzschneller Auswahl aus den vom Leben gelieferten Zügen die Züge derer, die zuvor gelebt haben, feststellen. Für einen solchen gibt es gar keine Toten; in seinen täglichen Verkehr kann er einen Machiavelli, eine Rahel ebensogut hereinziehen wie seine hervorragenden Zeitgenossen; er kann nicht nur ihre Gedanken, sondern auch das Spiel ihrer Mienen sehen, die Klangfarbe ihrer Stimme unterscheiden. So musste Hillebrand Florenz lieben, die vornehme Stadt, wo sich alle begegnen, die in der Welt eine geistige Bedeutung erlangt haben, und wo es durch die Reden der Lebenden hindurch an allen Ecken von Stimmen tönt, die nur das Ohr der Empfänglichen, der wahren Geisterseher vernimmt.

Dass er hier nicht nur als Geniessender und Beschauender lebte, sondern in das geistige Leben der Nation nach seiner Art tätig und teilnehmend eingriff, haben ihm die Italiener hoch angeschlagen. Von allen zu jener Zeit in Florenz lebenden Deutschen ist nur Karl Hillebrand eine der Öffentlichkeit bekannte Gestalt geworden. Nationale Dankbarkeit ist einer der liebenswürdigsten Züge der Italiener. Im allgemeinen schlägt ja der Ausländer in Italien keine Wurzel; den Eingeborenen bleibt er ewig der Fremde, der sie nichts angeht; sein Leben und Wirken verschwindet spurlos auf diesem Boden, sei er gewesen, wer er wolle. Die Italiener kennen, schätzen, verstehen nur ihre eigenen Talente. Wer aber an ihrem nationalen Streben teilgenommen, wer gar noch der grossen Zeit ihrer Unabhängigkeitskämpfe oder wenigstens den Ueberlebenden jener Periode nahegestanden hat, den ehren sie als den Ihrigen. Hillebrand war der Freund Peruzzis gewesen, hatte den »Circolo filologico«, der noch heute blüht, mitbegründen helfen, hatte das Jahrbuch »Italia« ins Leben gerufen, das die Kenntnis ihres Wesens, ihrer literarischen und sozialen Strömungen nach Deutschland vermitteln sollte, und solche Dienste vergisst der Italiener nicht. Florenz hat Hillebrand zum Ehrenbürger ernannt, und eine Marmorinschrift schmückt das Haus, wo er gewohnt hat. Was aber mehr heissen will: die persönliche Erinnerung an ihn ist noch lebendig, und sein Name wird auch von italienischen Lippen mit Pietät und Verehrung genannt.

Im Frühjahr 1884 sah ich Karl Hillebrand zum letztenmal. Seine hochgewachsene Gestalt, die schon der Tod gezeichnet hatte, war leicht vornübergesunken, das Gesicht sah leidend aus, und die Stimme hatte keinen Ton mehr, als er wie alljährlich um diese Zeit vor der Abreise nach Deutschland im Hause Abschied nahm. Aber an gelassener Heiterkeit schien er ganz der alte. Er hatte mir kurz zuvor zwei seiner englisch geschriebenen Aufsätze, die für die Buchausgabe bestimmt waren, zum Uebersetzen ins Deutsche anvertraut, da ihm selbst die Zeit dazu nicht mehr reichte. Meine Frage, ob ich ihm das Manuskript, wenn es fertig sei, nachschicken solle, verneinte er lächelnd; er wolle es im Herbst persönlich abholen. Aber so weit war ihm die Frist nicht mehr gesteckt. Er kehrte zwar im Oktober noch einmal zurück, aber nur um, wie er gewünscht hatte, auf florentinischem Boden zu sterben. Der Nachricht von seiner Ankunft folgte auf dem Fusse die Todesbotschaft. An seinem Lungarno, mit dem Blick auf die sinkende Sonne, war er schmerzlos ausgelöscht. Die Kolonie erlitt an ihm den schwersten Verlust. Aber auch in das geistige Leben unsrer Nation riss sein Tod eine Lücke, die nicht ausgefüllt worden ist. Die deutsche Kultur wird es zu empfinden haben, dass sie in der jüngeren Generation keine so weitblickenden, völkerverbindenden Geister mehr grosszieht.

Unmittelbar neben Karl Hillebrand, ihm zur Rechten, ruht sein Freund und engerer Landsmann Heinrich Homberger, auch er auf der Höhe des Lebens hingerafft.

An dieser Stelle stand ich einmal mit ihm auf grünem Rasengrunde bei Hillebrands noch frischem Grabe, und wir sprachen über das Rätsel des Nichtmehrseins, er in seiner guten, klugen Art, versöhnlich gegen Gott und die Welt, auch gegen die Tatsache der Vernichtung. Und an derselben Stelle deckt jetzt der Marmorsarkophag seine Aschenreste. Aber diese feierliche Unnahbarkeit des Todes will mir so wenig passen zu dem Bild des humanen, geselligen, allzeit hilfreichen und liebenswürdigen Mannes, der am Persönlichen so freundlich teilnahm und die Teilnahme an seiner Person so dankbar empfand, der im geistigen Austausch vom Menschen zum Menschen sein Glück fand, dass mir Hombergers frühes Ende immer wie ein Versehen der Natur erschienen ist.

Wie im Tode so war er im Leben Karl Hillebrand eng benachbart durch verwandte Ueberzeugungen, Zu- und Abneigungen. Auch als Schriftsteller bebaute er anstossende Gebiete, nur dass ihn, der zugleich Novellist war, mehr die feineren Seelenprobleme beschäftigten. Sein Novellenband ist vielleicht nur darum nicht populärer geworden, weil er sein einziger blieb und man in der deutschen Literatur mehr die Masse als den Wert der Produktion zu schätzen pflegt. Viel und feurig hervorzubringen war Hombergers Art nicht; er überlegte und feilte und brauchte für alles, auch für seine Aufsätze, sehr viel Zeit und Stimmung. Stimmung aber, wie er sie verstand, als das Ergebnis einer glücklichen Verteilung zwischen Einsamkeit und geselliger Anregung, ist nicht immer zu haben, und für eine empfindsame, leicht verletzliche Natur schwer zu bewahren; so hat er uns vielleicht nicht alles gegeben, was in seinem feinen, beweglichen Geist an Eindrücken und Beobachtungen niedergeschlagen war.

Lebhaft erinnere ich mich einer ungedruckten Novelle, die ich ihn einmal im Haus des Marchese Guerrieri aus dem Manuskript vorlesen hörte. Sie war betitelt: »Die Fl.« und schilderte mit äusserster Komik die patriotische Vereins- und Redewut der Deutschen aus den achtziger Jahren:

Ein Tollkopf beruft aus Ulk durch öffentliches Ausschreiben alle Mitbürger, deren Namen mit Fl. beginnt, zu einer Versammlung, »um über gemeinsame Interessen zu beraten.« Zur anberaumten Stunde erfüllt sich der Saal mit einer Anzahl zusammengewürfelter Menschen, die natürlich, ausser ihren Anfangsbuchstaben, gar nichts gemein haben als den Durst nach Bier und die Erwartung der Dinge, die da kommen sollen. Auch eine Dame ist darunter, eine Vorläuferin der heutigen Frauenbewegung, die von allen gemieden, aber auf ihre Rechte pochend, denn sie heisst Flimmert, allein und trotzig an einem Tische sitzt. Nun erscheint der Anstifter, der aus dem reinen Nichts ein grossmäuliges, unverständliches, aber die Hörer elektrisierendes Etwas zusammenbraut, das im Nu die Herzen der Fl. verbindet, die patriotische Begeisterung ist entfacht, es werden schwungvolle Reden gehalten, in denen sich das geschwollenste Pathos ohne eine Spur von Sinn mit den beliebten parlamentarischen Wendungen mischt. Die Anwesenden erkennen sich zu einer grossen gemeinsamen Aufgabe berufen, deren Linien vorderhand nicht klar sind, und unter Strömen Biers konstituiert sich die Versammlung der Fl. zum dauernden Verein. – Die absolute Gedankenlosigkeit der Masse ist nie lächerlicher dargestellt worden, als in dieser Novelle. Sie wurde, soviel ich weiss, erst nach Hombergers Tode gedruckt und ist nicht in die Oeffentlichkeit gedrungen. Der Verfasser trug sich noch mit einer Fortsetzung, aus der er gern spasshafte Züge zum besten gab: Die Fl. sollten schliesslich gar einen Vertreter in den Reichstag schicken, in dessen Gestalt das den hohlen Bier- und Phrasenpatriotismus der Dummen ausnützende politische Strebertum dargestellt worden wäre. Aber Homberger gab den Plan auf, vielleicht weil, wie das Sprichwort sagt, der Spass nur eine Weile schön ist; vielleicht auch sah er ein, dass bei einer jungen Nation wie der unsrigen, die in einer fortwährenden Umgestaltung begriffen ist, solche Typen keine bleibenden sind. Mit seinen italienischen Modellen hat er es glücklicher getroffen; denn nach ihnen hat er typische Gestalten von dauernder Geltung schaffen können. Zu seiner so unendlich wahren Schilderung italienischer Volkscharaktere, des grundnüchternen, nur durch den Schönheitssinn verklärten Weltverstands, der wohlwollenden Artigkeit bei seelischer Leere, hat er die Züge unmittelbar aus der Natur herausgeholt zu einer Zeit, wo man in Deutschland noch gewohnt war, sich den Italiener nur in opernhafter Beleuchtung mit dem Dolch im Gürtel und der flammenden Leidenschaft im Herzen vorzustellen. Freilich können solche Meisterstücke wie »Der Säugling« in ihrer feinen Wahrheit eigentlich nur von der kleinen Gemeinde der in Italien ansässigen Deutschen gewürdigt werden.

Als literarischer Kritiker war Homberger nicht so ausschliesslich und von vornherein wie Hillebrand ein Lobredner des Vergangenen; er stand dem Neuen zunächst mehr abwartend als ablehnend gegenüber. Von seinem Florenz aus, wo er sich noch spät den eigenen Herd gegründet hatte, verfolgte er wie ein Türmer auf hoher Warte die literarischen Vorgänge in Deutschland. Aber auch seine Verkündigungen klangen im allgemeinen wenig verheissend. Einen dichterisch hochbegabten Jüngling, den mit Nietzsche befreundeten Schweizer Albert Brenner, pries er seines frühen Todes wegen glücklich, denn er wäre mit seinem Talent in eine der Poesie feindliche Zeit gefallen, und in einer solchen Zeit, meinte Homberger, könne der Dichter nichts Besseres tun, als früh sterben. Zwar tauchten da und dort Lichter auf, die einen neuen Tag zu versprechen schienen, aber Homberger traute nicht; im gepriesenen Neuling sah er schon den künftigen Routinier. Oft dachte ich ungeduldig: »Mein Gott, will er denn auch gar nichts gelten lassen?« Aber Jahre später, wenn die Prophezeiung eingetroffen war, lernte ich den Scharfblick des Erfahrenen schätzen.

Wo er dagegen verehrte, da tat er es unbedingt. Ich gestand ihm einmal, als er mich lesend fand, mich soeben bei der Lektüre von Gottfried Kellers »Hadlaub« herzlich gelangweilt zu haben; die allzu behagliche Langsamkeit der Bewegung und die überstilisierten Figuren hatten mich ungeduldig gemacht. Homberger entsetzte sich geradezu über dieses Bekenntnis; bei dem freundschaftlichen Disput, in den wir gerieten, gab er zwar zu, dass es ihm selbst zuweilen schon bei Gottfried Keller ähnlich ergangen sei, aber er fand es anstössig, dergleichen auszusprechen; denn wenn ein Dichter so Grosses geleistet habe, so sei der Leser verpflichtet, über ein bisschen Langeweile wegzusehen und mit ihm durch dick und dünn zu gehen.

Mit unbedingtem Autoritätsglauben hing er auch an Adolf Hildebrand, der damals erst im Anfang seines Ruhmes stand. Die Verehrung für den in der Oeffentlichkeit noch wenig gekannten Künstler war ihm schon von K. Hillebrand übertragen, der zu dessen frühesten Verkündigern gehört hatte. Die Gelehrten liessen dem Künstler auch in literarischen Dingen gern das letzte Wort, ihr eigenes grösseres Wissen seiner unmittelbaren Naturkraft gegenüber fast als böses Gewissen empfindend. Besonders der zarten, leichter bestimmbaren Natur Hombergers imponierte Hildebrands unbedenkliche Sicherheit; ja, er hielt es fast für unerlaubt, ihm zu widersprechen, als hätte die Natur selbst aus seinem Munde geredet. Er hat es denn auch verdient, dass Hildebrands Hand ihm das Grabmal schuf als ein Werk seiner reifsten Kunst, den schönen Marmorsarkophag mit dem durchbrochenen Blätterwerk, das den grandiosen Formen alle Schwere nimmt.

Meine Freundschaft mit Heinrich Homberger hing mit meinem frühesten literarischen Debüt zusammen, denn er hatte als Redakteur der »Tribüne« mein Märchen »Der geborgte Heiligenschein«, das andern Redakteuren feuergefährlich erschienen war, im Feuilleton gedruckt und der jungen Anfängerin von da ein freundliches Interesse bewiesen. Nach seiner Niederlassung in Florenz blieb er mir jahrelang ein treuer, hilfreicher Berater, dessen Teilnahme und feinfühliges Verständnis ich später schmerzlich vermissen sollte. Das Hombergersche Haus war nach Hillebrands Tode noch eine Zeitlang der literarische Mittelpunkt, wo italienische und deutsche Notabilitäten sich zusammenfanden. Auch sein Hingang bedeutete für den geistigen Zusammenhang der Deutschen in Florenz einen unersetzlichen Verlust. Einen eigentlichen literarischen Salon hat es seitdem in der deutschen Kolonie nicht mehr gegeben; durch die Niederlassung hervorragender Gelehrter und die Gründung des kunsthistorischen Instituts sind jetzt ohnehin geistige Interessen andrer Art in den Vordergrund getreten.

Am Ende der kleinen, abgesonderten Ansiedlung, zu der Hillebrands und Hombergers Gräber gehören, biegt die Mauer um und schneidet quer in den Friedhof ein, um den hier beginnenden Terrassenaufbau zu stützen. Auf diesen gemauerten Rampen, wo der posthume Luxus sich spreizt, liegen nur zwei, deren Namen in der deutschen Kulturwelt einen Klang hatten: der alte Liphart und Ludmilla Assing. Ein seltsames, wenig zusammenstimmendes Paar, aber beide zum eisernen Bestand der deutschen Kolonie gehörig, der alte baltische Aristokrat, das berühmte Original, der eingefleischte Sammler –, und die liberale Jüdin, die Freundin Lassalles, die an der politischen Bewegung zweier Länder teilgenommen hatte und aus Preussen ausgewiesen war. Die beiden werden sich wenig zu sagen haben.

Jeder Deutsche in Florenz kannte den alten Liphart, wenigstens dem Namen nach, denn geselligen Verkehr pflegte er wenig. Er hauste mit seinem Carlo, einem sehr gewalttätigen, aber treu besorgten Faktotum, in einer Parterrewohnung der Via Romana, wo alle Zimmer voll waren von Gemälden, Büchern, Stichen, Antiquitäten. Alles war aufgestapelt wie in einem Magazin. Wollte er einem Besucher einen Stuhl oder einen Platz auf dem Kanapee anbieten, so musste er zuvor ganze Stösse von Büchern und Bildern entfernen, und die Geschicklichkeit, womit er dies auf einen Griff bewerkstelligte, war bemerkenswert. In der Kolonie galt er für einen knorrigen Sonderling, aber wenn man ihm persönlich gegenübertrat, fand man sich durch das zwar kurz angebundene, aber doch chevalereske Wesen des alten Herrn, der mit seinem scharfen Profil und der hageren Gestalt selbst wie ein altes Bild aussah, angenehm enttäuscht. Ich war einmal zugegen, wie er seinen jüngsten Fund, einen kleinen Marmortorso, zu A. Hildebrand schickte mit der Bitte, sich über die Urheberschaft zu äussern; als Hildebrand das Werkchen für einen Michelangelo erklärte, wurde er gebeten, es zum Andenken zu behalten, wogegen für den Fall, dass der Künstler die Echtheit nicht erkannt hätte, der Diener angewiesen war, es schweigend wieder heimzubringen. Die kleine Geschichte ist charakteristisch für den alten Herrn, der ganz im antiquarischen Interesse aufging und auch die andern nach dem Wert einschätzte, den sie seinen Schätzen beimassen.

Er wandte seine ganzen Einkünfte an die Erwerbung kostbarer Gemälde und Stiche und kaufte jedes neue Buch, das ihm der Buchhändler übersandte. Aber an seiner Person befleissigte er sich äusserster Sparsamkeit und hatte sich überhaupt in allem, was nicht seine Liebhabereien betraf, so knapp wie möglich eingerichtet. Da er ein wenig Hypochonder war, pflegte er jeden Arzt, der ihm in den Weg kam, zu konsultieren, schickte auch die verschriebenen Rezepte pünktlich in die Apotheke – diese Rücksicht glaubte er der ärztlichen Wissenschaft schuldig zu sein –, nahm aber niemals einen Tropfen Medizin. Nach seinem Tode fand man in einem Wandschrank ganze Batterien von Arzneiflaschen nebeneinander aufgestellt, von Jahren her alle wohl etikettiert und noch fest versiegelt und verkorkt, wie sie aus der Apotheke gekommen waren.

Für ein Original galt auch seine Gattin, die in einem ganz andern Ideenkreis lebte. Sie war streng katholisch; wie er im antiquarischen so ging sie in kirchlichen Interessen auf. Auch sie war ganz ausnehmend sparsam, noch sparsamer als ihr Eheherr; wenn sie einen neuen Hut brauchte, so gab es eine Ratssitzung unter den befreundeten Damen, wie dieser Gegenstand zu dem denkbar niedrigsten Preis zu beschaffen sei. Man glaubte, der Alte halte sie so knapp, um seinen kostspieligen Liebhabereien besser fröhnen zu können. Bei ihrem Tode aber zeigte sich der wahre Grund dieser Oekonomie in rührender Weise: ihrem Sarg schloss sich unerwartet ein langer Zug leidtragender Armer an, die von der Verstorbenen jahraus jahrein aus ihrem Taschengeld unterstützt worden waren. Konfessionelle Verschiedenheit trennt die beiden langjährigen Lebensgefährten noch im Tode, daher der alte Herr allein unter seinem schlichten Steine im innersten Ring der amphitheatralischen Erhöhung schläft.

Wenige Schritte davon entfernt, hart an der breiten Mitteltreppe, ruht Ludmilla Assing. Missverstandene Dankbarkeit hat ihr Grab mit ihrer realistisch gehaltenen Marmorbüste geschmückt, die durch die Tracht einer vergangenen Mode noch besonders peinlich wirkt, und eine pomphafte italienische Inschrift feiert ihre Verdienste um zwei Länder. Weniger wäre hier mehr gewesen, hätte die billige Würdigung der Verstorbenen leichter gemacht. Für ihre eigene Generation war Ludmilla Assing nur die Nichte Varnhagens, eine wandelnde Erinnerung an jene edle Berliner Geselligkeit, die noch vom fernen Horizont wie eine Oase in die Wüste unsrer durch Materialismus verwilderten Kultur herüberwinkte, und als solche war sie ihren Altersgenossen ein Gegenstand der Pietät. Auf uns Jüngere aber, die ihr ohne diese Voraussetzungen entgegentraten, wirkte zumeist das Groteske ihrer Persönlichkeit. Zu einem unglücklichen Aeusseren und einem ebenso unglücklichen Putz, der durch seine Jugendlichkeit die Trägerin älter erscheinen liess, als sie war, gesellten sich, wie eine Karikatur der Rahel-Zeit, die überschwengliche Redeweise und die schwärmerischen Gesten, die immerzu ein gesteigertes Seelenleben ausdrückten, und die zu der eigentlichen, nüchtern-verständigen Natur der Sprecherin nicht passten. Ihre grossen literarischen Kenntnisse und ihre ausgebreiteten Beziehungen zu hervorragenden Persönlichkeiten der literarischen und politischen Welt gaben ihrem Gespräche immer ein Relief, doch erschien sie auch hier nur als Erbin und Herausgeberin, ohne eigene Produktivität. Auch fehlte ihr augenscheinlich alles künstlerische Empfinden; ich erinnere mich, dass sie mir einmal erzählte, wie sie nach den »Leuten von Seldwyla« Gottfried Keller abgemahnt habe, auf dem betretenen Wege fortzufahren, und sie schien es für einen Missgriff des Dichters zu halten, dass er mehr seinem Genius als ihrem Rate gefolgt war.

Ich hatte so viel von dem Assingschen Salon gehört, bevor ich nach Florenz kam, und auch heute noch wird da und dort der anregende Verkehr in ihrem Hause gerühmt, der die alten Varnhagenschen Traditionen auf florentinischem Boden fortgesetzt haben sollte. Ich weiss nicht, wie es damit zur Zeit der Hauptstadt bestellt war. Als ich Ende der siebziger Jahre den Assingschen Salon kennen lernte, war er eine Art Menagerie, eine permanente Ausstellung menschlicher Kuriositäten geworden. In den prunkvoll-öden Räumen des ihr gehörigen Hauses in der Via Luigi Alemanni drängte sich an den Mittwochabenden eine buntgemischte, vielsprachige Gesellschaft, die zuweilen ein geradezu fratzenhaftes Ansehen hatte. Literarisch angehauchte Fürstinnen von Irgendwoher in verschollenen Staatsgewändern, die den Schaufenstern des Nationalmuseums entstiegen schienen, rauschten vorüber, befrackte Zelebritäten wurden zwischen ältlichen Damen wie Schaustücke hin und her gereicht und pflegten nach einigen Komplimenten sich rasch den Blicken wieder zu entziehen; den festen Bestand bildeten einige jüngere Italiener, die politischen Freunde der Hausfrau. Neben den vier Hauptsprachen vernahm man noch russische, griechische, ungarische Laute, und unter dieser seltsam zusammengewürfelten Gesellschaft bewegte sich die kleine, unscheinbare Gestalt der Hausfrau in ausgeschnittener gelber oder rosafarbener Seidenrobe, die zu dem dünnen, grauen Scheitel und der Brille einen wehmütig komischen Kontrast bildete. Sie war aber die Verbindlichkeit selbst und besass ein rühmenswertes Geschick, diese widersprechenden Elemente durcheinanderzuquirlen, denn es lag ihr daran, dass man sich bei ihr unterhalten sollte. Doch es kam kein Zusammenhang in diese bunte Welt: man sass sich gegenüber wie im Eisenbahnkupee. Denn da diese Menschen zum grössten Teil gar nichts miteinander gemein hatten und nicht einmal voneinander wussten, so kam man über die oberflächlichsten Gemeinplätze vom Pitti und den Uffizien nicht hinaus (wie man anderwärts vom Wetter spricht, so spricht man in Florenz von den Gemäldegalerien, wenn man sich mit Anstand langweilt). Sobald eine Gruppe fünf Minuten konversiert hatte, kam Frau Assing und führte sie auseinander, um andre Zusammensetzungen zu bilden, in denen man dieselben Gemeinplätze wiederholte, und nach zwei grenzenlos leeren Stunden trennte man sich in der Hoffnung, es das nächstemal besser zu treffen, die dann abermals enttäuscht wurde.

Auf den letzten dieser Abende, den ich miterlebte, fällt in meiner Erinnerung ein tragischer Schatten: beim Aufbruch verbreitete sich unter den abziehenden Gästen ganz leise die Nachricht, dass am Morgen desselben Tages Frau Assings geschiedener Gatte, der Bersaglierileutnant Grimelli, in einem dürftigen Zimmer der Altstadt durch Selbstmord geendet habe. Es mochte ihr verschwiegen worden sein, von den Uebelwollenden aber wurde das Aufrechterhalten der Einladung als Demonstration aufgefasst, und das schaurige Zusammentreffen konnte auch denen, die an solche Fühllosigkeit nicht glaubten, das Wiederkommen verleiden. Es war das letzte Mal, dass ich Ludmilla Assing sah. Im nachfolgenden Frühjahr erlag sie einer Gehirnentzündung. Ihr Vermögen hinterliess sie der liberalen Sache Italiens. Mehr noch als durch ihre unselige Heirat, die wie eine Parodie auf die Heirat der Rahel erschien, gehörte sie den Italienern durch politische Sympathien an. Italienische Freunde standen an ihrem Sterbebett, und sie waren es auch, deren Eifer ihr das allzu laute Denkmal gesetzt hat. Doch welches auch ihre persönlichen Eigenschaften waren, uns hat sie die Briefe der Rahel geschenkt und damit ein Recht auch an unsre Dankbarkeit erworben.

Ludmilla Assing war mit Florenz unauflöslich verwachsen; sie hätte nicht gewünscht, woanders zu sterben. Nur ein Zufall war es dagegen, dass eine andre deutsche Frau, die in denselben glänzenden Traditionen wurzelte, Gisela Grimm, auf florentinischem Boden entschlafen ist. Der schlichte Stein, den der Witwer ihr setzen liess, besagt es auch. »Fern von ihrem deutschen Vaterland, aber in Gottes Erde« ruht die Tochter der deutschen Romantik. An äusserer Erscheinung, Lebensschicksalen und Anschauungsweise so verschieden wie möglich von der Nichte der Rahel, glich ihr die Tochter der Bettina in dem Bestreben, eine niedergegangene Kultur in ihrer Person noch einmal zu verkörpern, eine einzigartige Gestalt reproduzieren zu wollen. Die schöne, vornehm aussehende Frau mit dem Zauber einer vererbten hohen Kultur und dem sonderbaren, aber durchaus würdevollen Anzug war eine bewusste Epigonin, aber es liess ihr gut, denn sie hatte ein Stück von dem flammenden Bettina-Herzen mitgeerbt, das sich für alles Schöne begeisterte und bereit war, allen Bedrängten beizuspringen, ob es Menschen oder Monumente waren. In der Kinderstube war es ihr eingeimpft worden, dass man alles dem angeborenen Talent und nichts der Schulung verdanken dürfe, und dieser Grundsatz, an dem sie festhielt, gab ihrer Persönlichkeit die Prägung. Die temperamentvolle Frau mit der feinen literarischen Bildung, die allen Regelzwang verachtete, entzog sich zeitlebens auch den Regeln der Grammatik und der Orthographie. Leider auch denen der ärztlichen Wissenschaft; denn sie lebte in dem Glauben, dass der begabte Mensch in Krankheitsfällen selber wisse, was ihm frommt. So erlag sie im April 1889, zu kurzem Aufenthalt hergekommen, einem Uebel, an dem sie sich eigensinnig auf ihre Art behandelte, und der Boden von Florenz hält sie nun fest auf immer. Sie liegt in der Nachbarschaft Böcklins. Noch durch eine Reihe von Jahren sah man jeden Frühling Hermann Grimms hohes, aufrechtes Greisenbild mit wallendem Silberhaar an das Grab seiner Lebensgefährtin pilgern, bis die Zeit auch über diese Gestalt Meister wurde.

Zwischen all diesen glänzenden Namen aber wie viele Namenlose, deren Gräber nur dem Eingeweihten eine Geschichte erzählen! Wie viele zerschlagene Existenzen, die ferne von der Heimat zufällig oder durch eigene Wahl hier den letzten Ruheort gefunden haben, wie mancher Roman, der hier zu Ende gedichtet ist! Das Leben geht achtlos daran vorüber. Mir aber verarge man nicht, dass ich an dem bescheidensten dieser Gräber bei Efeu und Lebensbaum noch einen Augenblick verweile. Die kleine Steinplatte, auf der nur die zwei Worte »Unsrer Josephine« stehen, ist der ganze Lohn für ein Leben voll Aufopferung und stillen, schweigenden Heldentums. In den Armen der Getreuen, die hier ruht, in einer Dachstube zu Tübingen, ist der Dichter Hermann Kurz gestorben. Seiner Tochter sei es vergönnt, auf dem Stein der lieben Alten, die zu dem verschwundenen Geschlecht der guten Hausgeister gehörte, ein bescheidenes Blättchen Immergrün niederzulegen:

Nicht nur Verdienst, auch Treue wahrt uns die Person.