Isolde Kurz

Wir gingen die dunkle Riva degli Schiavoni entlang und sahen dem Vollmond zu, der wie eine Riesenmelone über den Kuppeln und Thürmen von Venedig herausschwebte. Die Fluth war im Steigen und klatschte leise gegen das mächtige am Quai verankerte Frachtschiff, auf dessen höchster Mastspitze ein Stern wie ein Schiffslicht funkelte. Schattenhaft huschten die schwarzen Gondeln vorüber, flüssiges Silber von den Rudern spritzend, der Canal grande flammte mit seinen tausend Lichtern wie in Festbeleuchtung vor uns, und vom Markusplatz wehten vereinzelte Klänge der Militärmusik herüber.

Ich war fast betroffen, als ich in der feierlichen Stille plötzlich meine eigene Stimme sagen hörte:

»Wunderbar solch eine venetianische Nacht!«

»Venetianische Nacht,« wiederholte mein Begleiter vor sich hin, und es war seinen Worten anzuhören, daß sie aus einer weiten Ferne, aus einer tiefen Versunkenheit heraustönten. – »Venetianische Nacht,« sagte er noch einmal, jede Silbe betonend, als ob er einen Wohlgeschmack auf der Zunge hätte, und dann, wie durch seine eigene Stimme geweckt, setzte er hinzu:

»Sie glauben nicht, wie wunderbar und heimlich eigen diese Worte für mich klingen, sie rufen mir die seligste Stunde meines Lebens zurück, eine »venetianische Nacht« in meinem armen deutschen Heimathstädtchen, vor deren unbeschreiblichem Glanz auch diese gegenwärtige Schönheit verbleicht. – Wie das möglich ist? – Ich hatte damals fünfjährige Augen und eine fünfjährige Einbildungskraft.

Ich lebte zwischen meinem vierten und meinem sechsten Jahr bei meinen Großeltern in einem kleinen Städtchen, das alt ist ohne alterthümlich zu sein und einem Erwachsenen keinerlei Reize bietet; für mich aber war es der Paradiesgarten, die nie wieder zu findende selige Insel. Die Gestalten, die ich dort sah, leben noch heut’ in meinem Gedächtniß als die ewigen Urtypen der Menschheit, und alle Dinge glänzten damals von innen heraus, wie ich nie wieder ein Ding auf Erden werde glänzen sehen. O die unaussprechliche, die entzückend blanke Neuheit aller Dinge! Die Erinnerung daran begleitet uns als ein stummes Trauern und Bedauern, daß diese Herrlichkeit vergehen mußte, ohne daß man dazu kam, sie recht zu begreifen, denn während die Seele noch denkt, das Wunderbare müsse erst kommen, da ist es auch schon vorüber, und der bessere Theil des Lebens liegt hinter uns.

Unser Garten lag an einem Flüßchen, welches die Lauter hieß, aber seinem Namen wenig Ehre machte, denn es floß meist so trübe, daß man trotz der Seichtigkeit den Grund nicht sehen konnte. Dennoch verbildlicht mir der Name Lauter noch heute den Fluß der Flüsse, und das Schiffchen, das mir einst der Großvater aus alten Cigarrenschachteln zusammennagelte, um es an einem Bindfaden auf der Lauter schwimmen zu lassen, steht schöner, vollkommener und bedeutender in meiner Erinnerung als die stolzen Lloyddampfer, mit denen ich später den Ocean befuhr; diese erschienen mir oft nur wie niedliches Kinderspielzeug, aber das wahre Schiff, das Urbild und der Inbegriff aller Schiffe bleibt mir auf ewig jenes Schiffchen des guten Großvaters, das ich an unserem Lattenzaun festgebunden hielt, bis es mir einmal bei starkem Regen von der Lauter davongetragen wurde.

Und gar der Garten selbst! Welch ein Stolz für mich, wenn ich dem Großvater mit der Richtschnur helfen durfte, seine Rabatten abzugrenzen, in die er im Frühjahr Salat und Petersilie säte. Zwar unsere höchste Pflanzung waren nur ein paar Königskerzen, dort gemeiniglich »Wollblumen« genannt, mir aber imponirten sie gewaltig, wenn ich davor stand, denn sie überragten meinen eigenen Wuchs um ein Beträchtliches. Unsere Spargelbeete leben als dichte, von Märchen umsponnene Wälder in meiner Erinnerung.

Noch besser als mit dem Großvater verstand ich mich mit der Großmutter. Sie hatte ein wunderbares Geschick, mit Kindern umzugehen, oder vielmehr, sie fühlte sich mit ihren angegrauten Haaren selbst noch als Kind, deshalb war Alles so lebendig, was aus ihrem Munde kam. Wenn sie ihr Lieblingsliedchen sang:

»Hier sitz’ ich auf Rasen mit Veilchen bekränzt.

So lasset uns singen, so lasset uns springen,

Bis spät noch am Himmel der Abendstern glänzt –«

dann gingen die Wände des Zimmers aufeinander, der Holzschemel, auf dem ich saß, wurde zum grünsten grünsten Rasenplatz, das gute Großmütterchen mit dem veilchenblauen Band auf der Haube verwandelte sich in eine der geputzten Schäferinnen aus Porzellan, die auf dem Rokokoschranke standen, es flatterte um mich her von weißen Kleidern und farbigen Bändern, und ich meinte die zauberhafteste Musik zu vernehmen. Noch jetzt wird mir ganz mozartisch zu Muth, wenn ich daran denke. Der Abendstern muß in jenen Zeiten noch ein ganz anderer Abendstern gewesen sein; er steht jetzt so hoch und fremd am Himmel; damals war er ganz nahe, ein wunderbares zackiges goldenes Ding, das mir gehörte.

Ueberhaupt war es eine meiner Eigentümlichkeiten, daß die Worte eine körperliche Existenz für mich hatten, besonders solche, die ich nicht verstand, und zuweilen stiegen aus einem derartigen unverstandenen Wort die wunderbarsten Phantasmagorien heraus. Einer solchen verdanke ich eine meiner schönsten und zugleich unglücklichsten Erinnerungen.

Die Großmutter sagte nämlich eines Abends zu mir:

»Morgen ist venetianische Nacht im Aktiengarten, und wenn unser Edi recht artig ist, so darf er auch mit.«

Die Pracht dieser nie gehörten Worte erregte meine Phantasie aufs mächtigste. Ich konnte die Nacht kaum schlafen vor Erwartung. Dachte ich an die »venetianische Nacht«, so schwebte mir ein sammetschwarzer Grund mit wundersamem Goldgeflimmer vor, und das noch unverständlichere Wort »Aktiengarten« versetzte mich geradezu ins Feenreich.

Der nächste Tag wollte kein Ende nehmen, und ich verbrachte die Zeit mit Minutenzählen. Endlich wurde es Abend, man zog mir meine besten Kleider an, Großmutter schmückte sich mit ihrer raschelnden seidenen Mantille und mit einem merkwürdigen Ungethüm von Hut, das nur bei den größten Gelegenheiten zum Vorschein kam.

Dann ging es zur Stadt hinaus, über die Lauterbrücke, einen mit Kies bestreuten Fußweg zwischen Wiesen entlang, bis uns hinter Bäumen ein farbiges Lichtmeer entgegenschimmerte, und der Aktiengarten lag vor meinen Augen.

Eine Transparentschrift, die ich noch nicht lesen konnte, stand über der Eingangsthür, und innen wimmelte es von geputzter Menschheit. Kleine Mädchen in weißen Kleidern gingen sittsam neben den Großen her, die Jungen meines Alters drängten sich zwischen den Beinen der Erwachsenen durch, ich selbst wurde von Großmama an der Hand geführt, damit ich nicht entwischte. Viele saßen auch schon an den ungedeckten hölzernen Tischen und von außen drängten neue Scharen nach; ich hatte nie so viele Menschen beisammen gesehen.

Es war ein unvergeßlicher Anblick. Man hat mir später versichert, der Aktiengarten sei um jene Zeit wenig mehr als eine dürftig angepflanzte, mit einem hölzernen Zaun umgebene Kieswüste gewesen, für meine Augen aber war das Feenreich aufgethan! Farbige Papierlaternen hingen in den Zweigen, und an bekränzten und bewimpelten Pfählen glühten rothe, blaue und grüne Glaskugeln, die von innen erleuchtet waren und aussahen wie Edelsteine.

Die Großeltern ließen sich an einem leeren Tische nieder, nicht weit von uns spielte die Musik auf einer mit grünen Reisern verkleideten Estrade, von der ein köstlicher Tannenduft ausging.

Es war trotz der vielen Lämpchen und Laternen nur mäßig hell, denn die Beleuchtungskunst stak dazumal noch in den Kinderschuhen, und besonders unten in der Tiefe des Gartens breitete sich wirklich jene schwarzsammetne Nacht mit dem wunderbaren Geflitter aus, von der ich geträumt hatte. Zuweilen blitzte ein heller Strahl darüber auf, und etwas Weißes schimmerte durch die Dunkelheit.

Dort unten ist erst die wahre »venetianische Nacht« und dort müssen auch die »Aktien« sein, dachte ich bei mir und zappelte auf meinem Stuhl, denn Großmama hatte versprochen, mit mir die Runde durch den Garten zu machen. Nun aber hatte sich ein Bekannter des Großvaters zu uns gesetzt, und die beiden alten Herren vertieften sich in ein Gespräch, an dem auch die Großmutter theilnahm. Es war von den »Aktien« die Rede, die ich noch gar nicht kannte, und aus der Unterhaltung ging hervor, daß eine davon dem Großvater gehörte, und daß sie in diesem Jahr zum ersten Mal Früchte trugen. Dies regte meine Erwartung noch mehr auf; das Stuck Kuchen, das mir zur Tröstung in den Mund gesteckt wurde, vermochte mich nicht zu beschwichtigen. Unablässig zupfte ich die Großmutter am Rock und mahnte heimlich an ihr Versprechen, bis der Großvater, der gerade schlecht aufgelegt war, zu mir herüberdonnerte:

»Was hat denn der Bub’ heute Abend, daß er nicht still sitzen kann? Gib Ruhe, Bengel, oder –!«

Und als die Großmutter ein Wort für mich einlegen wollte, hieß es:

»Unsinn, er kann die dummen Lichter auch von seinem Stuhl aus sehen.«

Ich wagte mich nicht mehr zu rühren, doch meine Geduld half mir nicht das geringste, die Großen saßen wie festgewurzelt auf ihren Stühlen. Großmama blickte verlegen und wich meinen flehenden Augen aus. Endlich kamen noch zwei Damen mit ihren Arbeitskörbchen von den benachbarten Tischen zur Begrüßung herüber und versprachen eine große Seßhaftigkeit zu entwickeln. Da ertrug ich es nicht länger, ich ließ mich hinter den Falten der großmütterlichen Mantille vom Stuhl hinabgleiten, kroch ein paar Schritte am Boden hin und entwischte leise in die Dämmerung.

Ich durchstreifte den Garten auf eigene Hand, gaffte mit offenem Munde an jeder Papierlaterne empor und schwelgte im Entzücken. Eine Allee hoher Bäume durchschnitt den Garten der Länge nach, sie hatten silberglänzende Stämme und große Blätter wie die Platanen, und ich blickte mit Ahnungsschauern daran hinauf, ob das wohl die Aktien seien, aber dafür sahen sie doch noch nicht merkwürdig genug aus. Diese Allee war am reichsten dekorirt, bunte Guirlanden schwangen sich von Baum zu Baum, und die Papierlaternchen in den Zweigen warfen einen solchen Glanz auf den Weg, daß ich mir nicht getraute, auf dieser via triumphalis hinabzuschreiten, sondern mich vorsichtig im Schatten der Bäume hindrückte, jener sammetschwarzen Nacht mit dem blinkenden Strahl entgegen, die sich beim Näherkommen lichtete und mich ein mit Muscheln eingefaßtes Wasserbecken erkennen ließ. Ein Springquell stieg darin auf, und der hintere Rand des Beckens, das mir wie ein großer See erschien, verlor sich in eine Tuffsteingrotte, worin eine nackte steinerne Figur auf einem Sockel von Felsblöcken stand und Wasser auszugießen schien. Die Grotte war dicht von Bäumen umgeben, in deren Zweigen große goldene und silberne Bälle hingen, und ein sanfter Schein verbreitete sich von dorther über das Wasser. Ich weiß nicht mehr, wie die Bäume aussahen, ich weiß nur, daß es augenblicklich mit untrüglicher Gewißheit in mir feststand: dieses sind die Aktien!

Mir wurde kalt vor Bewegung und ich kann noch jetzt in der Erinnerung die unbegreifliche Größe jenes Augenblicks nachfühlen. Ich dachte: »Jetzt, jetzt muß es kommen« – und hielt den Athem an. Was kommen sollte, wußte ich selber nicht. Erwartete ich, daß die Wunderbäume sich neigen und ihre märchenhaften Früchte über mich ausschütten würden – dachte ich, das Gestein der Grotte müsse auseinander gehen und ein Aladin mit der Wunderlampe hervortreten, um mich in das geheimnißvolle Innere des Tuffsteinberges zu führen? Nein, was ich erwartete, hatte weder Form noch Namen, es war »Es«, das Wunderbare, worauf ich mein halbes Leben gewartet habe, aber nie so überzeugt, so bebend wie an jenem Abend!

Da regte sich neben mir etwas Weißes, Zierliches an dem Geländer und von einem der benachbarten Tische rief eine wohllautende Frauenstimme herüber: »Viola!«

Ich war sofort in tiefster Seele überzeugt, daß ein Mädchen, das Viola hieß, kein Kind sein könne wie andere Kinder, sondern etwas unendlich Feineres, Höheres und Schöneres, denn meine kleinen Freundinnen hießen alle entweder Rike, Christiane oder Luise, und der Name Viola schien mir der Feensprache anzugehören.

Plötzlich flammte in der Grotte ein Purpurschein auf, von dem das ganze Wasser glühte, der Springquell loderte darin wie eine Feuersäule, und das weiße Kleid des kleinen Mädchens, das noch von dem Schein getroffen wurde, war auf einer Seite von Röthe übergossen.

»Ah!« rief ich außer mir vor Wonne und »Ah!« rief ein feines Stimmchen neben mir. Ohne zu wissen wie, hatten wir zwei kleinen Leutchen uns an den Händen gefaßt und standen in schweigendem Entzücken nebeneinander, als ob wir zusammengehörten. Als der rothe Schein erloschen war, fragte meine neue Freundin: »Wie heißt Du?«

Ich nannte ihr meinen Namen; nun wollte sie auch wissen, wo ich wohnte, aber ehe ich mit der Antwort fertig werden konnte, setzte sie stolz hinzu: »Ich, ich wohne auf der Burrg.«

Das kleine Fräulein sprach mit fremdem Accent, sie hatte kein H, und ihr R rasselte wie eine Kinderklapper, was mich mit der tiefsten Bewunderung erfüllte.

Sie streckte mir ein farbiges Röllchen mit Franzen von Goldpapier entgegen und hieß mich das andere Ende fassen. Ich zog, das Röllchen zerplatzte mit einem Knall, und ein Stückchen Chokolade blieb in meinen Händen. Ich war im siebenten Himmel; etwas Aehnliches hatte ich nie erlebt.

Unterdessen war an Stelle des rothen Lichtes ein noch magischeres grünes aufgegangen, das den ganzen Garten in ein Geisterland verwandelte.

»Viola, mit wem sprichst Du?« rief die Stimme von vorhin wieder, »bring den Knaben her!« – und wider Willen, denn ich war ein blödes Kind, ließ ich mich von dem kleinen Fräulein nach dem erleuchteten Tisch hinüberziehen. Dort saß unter mehreren Personen, die ich nicht beachtete, eine schöne Frau mit weißem Gesicht und schwarzen Haaren, in denen eine Rose steckte.

Sie betrachtete mich genau, fragte gleichfalls nach meinem Namen und gab jedem von uns beiden eine mir unbekannte goldgelbe Frucht; es waren die ersten Orangen, die ich gesehen habe. Dann hieß sie uns wieder gehen und weiterspielen.

»Komm, jetzt will ich Dir die Aktien zeigen,« flüsterte ich meiner Gefährtin geheimnißvoll zu, ganz durchdrungen von dem Hochgefühl, auch meinerseits etwas bieten zu können und durch dieses Wunder allen bisherigen Wundern die Krone aufzusetzen.

In diesem Augenblick, der mir der höchste meines Lebens schien, wurde ich hinterrücks von einer groben Faust gepackt, daß mir die Goldfrucht aus der Hand fiel, eine rauhe Stimme rief: »Da ist der Deserteur!« und trotz meines wüthenden Geschreis trugen mich zwei derbe Männerarme von hinnen.

»Wir haben ihn, Herr Stadtrath, wir haben ihn!« hieß es, und ich wurde am andern Ende des Gartens zu den Füßen der Großeltern niedergesetzt, die mich seit einer halben Stunde voll Unruhe suchten. Ich hatte kaum den Boden unter mir, so wollte ich Hals über Kopf wieder davonstürzen, aber der alte Herr faßte mich mit eisernem Griff.

In meiner Angst, das Wunder zu versäumen, schlug ich um mich wie ein verwundetes Thier und brüllte in einem fort: »Ich will dorthin, ich will dorthin!« was nur zur Folge hatte, daß man mich noch fester hielt. Arme lallende Kindheit, deren Seligkeiten von den Erwachsenen nicht mehr begriffen werden! Wären mir die rechten Worten zu Gebote gestanden, so hätten die Großen vielleicht ein Einsehen gehabt und hätten mich selbst in mein Wunderland und zu dem Prinzeßchen zurückgeführt, das mich mit seiner Freundschaft beehrte. So aber sahen sie nur meine unbändige, unbegreifliche Unart, und um dem Lärm ein Ende zu machen, trugen sie mich mit Gewalt zum Garten hinaus. Mir war’s, als würde ich vom Glück auf ewig weggerissen, ich verhakte mich mit den Füßen in das Bein eines Stuhls, den ich eine Strecke weit mitschleifte, aber es half nichts! Einen Augenblick sah ich noch den ganzen Garten in einem violetten Licht erstrahlen, dann war ich draußen in der Dunkelheit und wurde an beiden Armen hastig fortgezogen, daß mir selbst das Zurücksehen unmöglich wurde – immer weiter in die finstere trostlose Nacht hinein, bis auch die Musik verstummte, und der Aktiengarten mit seinen Wundern unwiederbringlich hinter mir versunken war.

Die Verzweiflung jenes Abends grub mir eine unverlöschliche Spur in mein Kindergemüth. Alles war hin, mein Heil auf ewig versäumt! Ich fühlte zum ersten Mal mein Ich mit seinen Wünschen und Rechten in Feindschaft gegen die Umgebung, und zwischen diesen zwei getrennten Welten war keine Verständigung möglich. Ich ließ im stummen Trotz die Schläge des Großvaters und die Vorwürfe der guten Großmama über mich ergehen und barg mein Geheimniß in der tiefsten Brust.

Aber im Stillen lebte ich von der Hoffnung, auf eigene Hand in den Aktiengarten zurückzugelangen. Auf der Straße sah ich mich nach jedem kleinen Mädchen um, das mir begegnete. Zwar hörte ich einmal zufällig mit an, wie von einer ausländischen Familie die Rede war, die eine Zeit lang in der »Burg« – so hieß ein hochgelegener Gasthof vor der Stadt – gewohnt und ein bildschönes Kind mit Namen Viola bei sich gehabt hätte und die nun abgereist sei, man wisse nicht, wohin. Doch dies störte mich nicht in meiner Zuversicht, ich war überzeugt, wenn ich nur den Aktiengarten wiederfinden könnte, so müßte auch die kleine Viola dort sein, denn in meiner Vorstellung war Eins vom Andern unzertrennlich. Ich entrann auch wirklich einmal von Hause und fand sogar die Lauterbrücke zusammt dem Weg, den wir an jenem Abend gegangen waren, aber den Aktiengarten fand ich nicht, denn an dem einzigen Gartenthor, das mir aufstieß, marschirte ich gleichgültig vorüber, weil es keine Transparentschrift trug und auch sonst nicht aussah wie der Eingang des Paradieses. Ich verirrte mich schließlich unter großen Aengsten und wurde erst in tiefer Nacht den zu Tode erschrockenen Großeltern heimgebracht. Danach muß ihnen ihr Hüteramt bedenklich geworden sein, denn eines Tages packten sie mich auf und führten mich zu meinen Eltern zurück. Ich wurde zur Schule geschickt und damit war das Kinderparadies für immer hinter mir verschlossen. Aber der Aktiengarten und das kleine Mädchen mit dem schönen Namen und der seltsamen Sprache wichen nicht aus meiner Seele.

Viel später, als ich schon ein großer Junge war und seit langem das Gymnasium besuchte, hörte ich einmal mit an, wie meine älteren Geschwister darüber stritten, welcher Baum schöner sei, die Eiche oder die Birke. Und unversehens fuhr ich heraus:

»Die schönsten Bäume sind die Aktien.«

»Die Akazien, willst Du sagen,« berichtigte mein Vater, dem jede Ungenauigkeit ein Greuel war.

»Nein, die Aktien,« wiederholte ich hartnäckig.

»Dummkopf,« sagte der Vater und wandte sich ärgerlich ab.

Mein ältester Bruder aber, der schon ins Obergymnasium ging, sagte belehrend:

»Es gibt keine Bäume, die Aktien heißen; Du hast wieder einmal läuten gehört und weißt nicht wo.«

Diese Rede kränkte mich empfindlich, besonders weil ich mir bewußt war und es auch oft von den anderen hören mußte, daß ich nicht immer mit den Worten einen deutlichen Sinn verband. Diesmal aber war ich meiner Sache sicher, denn der Großvater, dessen Autorität feststand, hatte mich ja selbst in den Aktiengarten geführt und ich hatte die Aktien, von denen eine ihm selber gehörte, mit eigenen Augen gesehen. Doch der Bruder schenkte mir keinen Glauben, sondern fragte höhnisch, wie denn die Aktien aussähen, worauf ich zu meiner Beschämung die Antwort schuldig bleiben mußte.

Aber unser Onkel Fritz, der damals ein lustiger Student war und zufällig dieses Gespräch mit angehört hatte, zog mich tröstend bei Seite und sagte:

»Laß Dich nicht irre machen, Du hast ganz recht, daß die Aktien die schönsten Bäume sind, und ich wollte nur, sie wüchsen drunten im Garten, damit wir wacker schütteln könnten.«

»Nicht wahr, Onkel, die Aktien tragen auch Früchte?« fragte ich aufathmend.

»Freilich, goldene,« war die Antwort, – »man nennt sie Dividenden!«

Dieses Wort gefiel mir wieder ganz außerordentlich, und es machte mir den Glanz des Aktiengartens aufs neue lebendig. Ich hielt es für verwandt mit »Rhododendron«, einem Wort, das auch seit langem wie ein fremder Vogel in meinem Kopfe herumschwirrte, ohne sich auf einen bestimmten Gegenstand niederzulassen, und ich war nun wieder völlig mit mir selbst in Harmonie.

Wie lange ich diese Illusion mit mir herumtrug und wann ich über die wirkliche Bedeutung des Wortes Aktien endlich aufgeklärt wurde, weiß ich jetzt nicht mehr. Vielleicht erst nach dem Tode des guten Großvaters, als ich durch die Erbschaft jener bewußten Aktie Mitbesitzer des Aktiengartens wurde.

Ich war weise genug, niemals wieder in den Wundergarten meiner Kindheit zurückzuverlangen. Sein Bild jedoch steht unverlöschlich in meiner Erinnerung, es begleitete mich bis an die Schwelle des Jünglingsalters in Gestalt eines schönen Traumes, der häufig wiederkehrte: ich sah alsdann den Aktiengarten mit seinen Lichtern, wie er mir mit fünf Jahren erschienen war, ein Mädchen im weißen Kleide hielt mich an der Hand und sagte:

»Laß Dich nicht irre machen, die Aktien sind dennoch Bäume, und ich heiße Viola.«

Das Mädchen wuchs mit mir, denn in jedem Traume war sie genau so groß wie ich, wir wallten zusammen durch den Garten, ohne den Boden zu berühren, und ich empfand eine namenlose Seligkeit. Einstmals aber blieb ich allein im Garten, eine große Traurigkeit befiel mich, und beim Erwachen war ich fest überzeugt, daß meine Traumgefährtin gestorben sei. Von da an kehrte die beglückende Erscheinung nicht wieder.

Warum ich Ihnen diese Kinderei erzählt habe? Was ist dabei Merkwürdiges, werden Sie sagen, daß ein Kind sich über den Sinn eines Fremdwortes täuscht, und daß ein anderes Kind mit ihm im Dunkeln spielt? Aber was ist überhaupt merkwürdig? Kein Ereigniß hat an sich eine Bedeutung, es fragt sich nur, was wir innerlich dabei erleben.

Es ist freilich schön, in einer Nacht wie dieser, an der Riva zu stehen oder über die Lagune zu rudern, aber jene venetianische Nacht in meinem kleinen poesieverlassenen Heimathstädtchen hatte doch noch ein ganz anderes und zauberhafteres Gesicht. – Und glauben Sie mir, wenn ich heute vor die Wahl gestellt würde, welche schöne vergangene Stunde ich am liebsten noch einmal durchleben möchte, so würde ich sagen: Laßt alles Andere todt und vergessen sein und gebt mir jenen Abend im Aktiengarten wieder und meine kleine fünfjährige Gefährtin dazu, denn nie habe ich das Angesicht des Glückes so nah’ gesehen wie in jener Stunde!

Ja, die Kinderjahre, sie sind die Zeit unserer menschlichen Vollkommenheit. Wieviel verlieren wir und merken es nicht, wenn der große Sturm der Reifezeit über uns hereinbraust und das Kinderparadies zertrümmert! Das Kind übertrifft an Phantasie den größten Dichter, nur daß keine Kunde aus seiner Welt in die unsere dringt.

 

Nun werden Sie denken, daß ich ein sonderbarer Schwärmer sei. Aber was wollen Sie? Die Einbildung ist des Glückes bessere Hälfte.