Isolde Kurz
Den Ort, an den mich jetzt meine Erinnerung führt, würde man heute auf Erden vergeblich suchen. Zwar hat sich mein altes Tübingen äußerlich nicht allzuviel verändert. Seine Gestalt ist durch den hügeligen Boden, der es trägt, und durch die geschlossenen Linien des mittelalterlichen Städtebaus für alle Zeiten festgelegt. Noch immer spiegelt sich die hohe und steile Giebelreihe der Neckarfront mit dem aus der Asche von 1875 wiedererstandenen Hölderlinsturm in dem still ziehenden Fluß, und unverrückt steht auf der höchsten Hügelkuppe Schloß Hohentübingen mit seiner gestreckten Masse und den stumpfen Türmen, die noch die Spuren Turennes und Melacs am Leibe tragen. Und die beherrschende Stiftskirche auf einem steilen, hochgemauerten Vorsprung reckt sich trotzig wie ein gewappneter Erzengel im Stadtinnern empor. Solche Züge sind unverwischbar. Aber was diesen Zügen in den sechziger und siebziger Jahren ihren ureigenen geistigen Ausdruck gab, die mittelalterliche Romantik, ist für immer daraus verschwunden. Das Studentenleben hat sich in die häßlichen Korporationshäuser auf den Anhöhen zurückgezogen, die für die weichen, niederen Hügel viel zu groß sind und laut aus der Harmonie des Ganzen herausfallen. Damals spielte sich dieses Leben noch in den krummen und steilen Straßen ab, wo das Treiben und Tollen niemals ruhte. Zwar seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Trunk, lag der Musensohn, mit Ausnahme der beliebten „Naturkneipereien“ auf dem Wöhrd oder dem Schänzle, auch damals im geschlossenen Raume ob, aber die Folgen tobten sich im Freien aus. Es sang und klang straßenauf und -ab, noch öfter brüllte und grölte es. Dann gab es die Anrempelungen mit nachfolgender „Kontrahage“ nach dem berühmten Muster: Geschah das mit Vorsatz? — Nein, mit dem Absatz — und solche Scherze mehr. Ferner die Keilereien zwischen Farben, die sich nicht leiden mochten, und endlich die ganz großen Studentenschlachten, wo die gesamte Studentenschaft einmütig gegen die Obrigkeit oder das Philisterium, oder was sonst in ihre Vorrechte eingegriffen hatte, zu Felde zog.
Gleichfalls ein Augenblick vollkommener Ein tracht war es, wenn die Schwarzwaldflößer an Tübingen vorüberfuhren. Sobald flußaufwärts die Spitze eines Floßes erschien, füllte sich die Neckarbrücke und der alte Hirschauer Steg mit Studenten, die der Anblick wie mit Besessenheit ergriff. Und so lange sich unten der vielgliedrige Wurm, von mächtigen Gestalten in hohen Flößerstiefeln gesteuert, vorüberschob, brüllte es oben von den Brücken und aus den Fenstern der Neckarhalde in langgezogenen Tönen: „Jockele, sp-e-e-e-err!“ und dann schneller: „Jockele sperr, ’s geit en Aileboga!“ (Ellbogen). Entferntere hingen, um nicht unbeteiligt zu bleiben, gewaltige Schaftstiefel zu den Neckarfenstern heraus, was die Flößer gleichfalls zu erbosen pflegte. Der Jockele war für seine saftige Grobheit in Schwarzwälder Mundart berühmt, zu meiner Zeit aber war er es schon müde geworden, auf den jahrhundertealten Ruf zu antworten. Schweigend, in philosophischer Ruhe steuerten die Riesen mit langen Stangen ihre Flöße zwischen den Pfeilern der Neckarbrücke durch, noch eine lange Strecke verfolgt von dem Gebrüll, in das auch die Gassenjugend einstimmte.
Ein anderer löblicher Brauch war, des Nachts die Laternen zu löschen und zu zerschlagen oder das Brennholz, die sogenannte „Scheiterbeig“, die nach Urvätergewohnheit vor den Häusern aufgestapelt lag, zu verschleppen. Kam der Nachtwächter oder ein Polizeidiener hinzu, so gab es tausend Mittel, ihn an der Haftbarmachung der Schuldigen zu verhindern. Es war der Geist der süßen Zwecklosigkeit, der die Jugend von dazumal beseelte und ihr als höchster Lebenswert erschien. Immer blieb der Mann der Ordnung der Geprellte, und der Philister selbst, obgleich der Schabernack sich gegen ihn richtete, stand mit seiner geheimen Sympathie auf seiten der Studenten. Die Menschheit zerfiel damals in zwei Hauptgattungen, die zugleich ihre äußersten Pole darstellten: Student und Philister. Aber beide brauchten einander, waren in jahrhundertelangen Reibereien einer um des anderen willen da. Als eine der ältesten und kleinsten Universitäten, dazu ganz abseits der größeren Verkehrswege gelegen, hatte Tübingen noch gewisse studentische Überlieferungen, die weit ins Mittelalter zurückgingen; im Untergrund des studentischen Bewußtseins lebte noch ein Rest vom Geiste der Fahrenden, dem auch gelegentliches „Schießen“ (Stehlen) zum Schaden der Philister nicht für unehrenhaft galt. So schwärmte eines Tages eine Schar Musensöhne über die Wiesen nach Lustnau aus und fand unterwegs in einem Wässerlein zwölf wohlgenährte Enten lustig schwimmend. Nur eine davon sah der Besitzer wieder. Sie trug einen Zettel am Hals mit den Worten:
Wir armen zwölf Enten
Sind gefallen unter die Studenten,
Ich zwölfte komm zurück allein
Und bring’ von elf den Totenschein.
Die Geschichte stammt allerdings aus einer älteren Zeit, wäre aber in jenen Tagen noch ebensogut möglich gewesen. Auch hochverehrte Lehrer wurden nicht geschont. So hatte einmal der berühmte Kliniker Niemeier, einer der wenigen norddeutschen Professoren, die es in Tübingen zu großer Volkstümlichkeit brachten, in der Neujahrsnacht, wo der Spuk am wildesten tobte, ein fettes Gänslein am Küchenfenster hängen, das beim morgigen Festschmaus prangen sollte. Da wurde er in der Nacht herausgeschellt, und als sein Kopf am Fenster erschien, rief eine näselnde Stimme hinauf: Prosit Neujahr, Herr Professor, und geben Sie acht auf Ihre Gans, daß sie nicht gestohlen wird. Der Angerufene verstand und machte gute Miene. Prosit, Herr Kepler, rief er zurück, ich habe Sie an der Stimme erkannt. Lassen Sie sich die Gans gut schmecken, aber stören Sie die Leute lieber nicht im Schlaf.
Dieser selbe Kepler, der auch in meinem Elternhaus verkehrte und später als Arzt nach Venedig ging, führte überhaupt ein bewegtes Leben. Er war der Held einer Anekdote, die in Tübingen unvergeßlich bleibt. Als er einmal nahe der Neckarbrücke mit ein paar Freunden im Freien badete, erschien die Polizei, beschlagnahmte die Kleider und wollte die Übeltäter verhaften. Diese entsprangen und rannten splitternackt das Ufer entlang bis nach Kirchentellinsfurt, wo sie endlich festgenommen wurden. Da es aber keinen Paragraphen gegen das Nacktgehen gab, so verdonnerte sie eine weise Behörde „wegen Vermummung bis zur Unkenntlichkeit“.
Zum Charakterbild des alten Tübingen gehört aber noch eine dritte dort lebende Menschengattung von urtümlichster Beschaffenheit, die weder dem Studenten noch dem Philister hold war, die man sich aber aus dem dortigen Leben nicht wegdenken kann: nämlich die in den malerischen Schmutzwinkeln der Unteren Stadt oder „Gôgerei“ wohnenden „Wingerter“ (Weingärtner), auch „Gôgen“ oder „Raupen“ genannt. Woher diese beiden Bezeichnungen kommen, weiß niemand, eine theologisch gefärbte Etymologie will die Gôgen auf das biblische Gog und Magog zurückführen. Was die Raupen betrifft, so soll der Name gar eine Verketzerung des lateinischen Wortes Pauper sein, womit man in der gelehrten Musenstadt die am Freitagmorgen von Tür zu Tür singenden Volksschüler bezeichnet. Wie dem auch sei, beide Namen, Gôgen wie Raupen, wurden von ihren Trägern ungern gehört und pflegten eine tätliche Abwehr nach sich zu ziehen. Die Gôgen unterschieden sich nach ihrer ganzen Wesensart, vor allem aber nach den eigentümlichen Kehllauten ihrer Aussprache und einer gedehnten Betonung, die etwas Mürrisch-Verbissenes an sich hatte, so stark von den übrigen Einwohnern, daß manche sie geradezu für Nachkommen eines zugewanderten Fremdvolkes hielten und daß es zwischen der oberen und der unteren Stadt wie ein unsichtbarer Stachelzaun lag. Als tüchtige Taglöhner unentbehrlich, machten sich diese Mitbürger durch ihre eingeborene tiefe Abneigung gegen die Höhergestellten und ihren ausgeprägten Sinn für den eigenen Vorteil, mehr noch durch ihren wortkargen, aber äußerst schlagenden Mutterwitz, der nicht immer von der reinlichsten Art war, gefürchtet. Auf eine Gôgenrede konnte niemand mehr einen Trumpf setzen, außer ein anderer Gôg. Unzählige Gôgenworte und -witze waren und sind in Tübingen im Schwang. Am berühmtesten ist das einsilbige Zwiegespräch zwischen Vater und Sohn, wie sie zusammen die steilen Weinberghalden des Österberges hinansteigen und dem Jungen ein her renloser Schubkarren auf einem Nachbargrundstück in die Augen sticht, auf den er den Vater durch einen stummen Wink aufmerksam macht. Worauf der Alte nur die zwei lakonischen Worte erwidert: Im Ra! (Im Herabsteigen!) Oder die zungenschnelle Frage des Berliner Studenten an den pfeifenrauchenden Weingärtner: Kann ich von Ihnen Feuer haben, ja? Und die nachdrücklich-langsame Antwort des alten Gôgen: Airscht (erst), wenn i ja sag’.
Das Straßenbild von Tübingen beherrschte der Couleurstudent, besonders der Angehörige der paukenden Korporationen. Diese standen bei den Ausritten und Aufzügen im studentischen Wichs, bei den Tanzvergnügungen, den glänzenden Fackelzügen und überhaupt im gesellschaftlichen und öffentlichen Leben obenan. Ihre Iliaden und Odysseen füllten die ungeschriebenen Annalen der Stadt. Jedes Kind wußte, was für Mensuren in laufender Woche ausgefochten wurden, welches Dorfwirtshaus, welches Gehölz dazu ausersehen war, wie viele Abfuhren es gab, mit wieviel Nadeln der jeweils Zerhackte vom Paukarzt genäht wurde. Wenn es den Paukanten gelang, den armen Pedell, der sie abzufassen hatte und der zu diesem Zweck den weiten Weg atemlos auf Schusters Rappen angaloppiert kam, durch ihre ausgestellten Fuchsenwachen irrezuführen und das unterbrochene Opferfest an einer anderen Stelle des Waldes fortzusetzen, so war es ein Triumph der guten Sache, woran die ganze Stadt teilnahm. Unsterblich war die immer wieder auftauchende Geschichte von der abgehauenen Nasenspitze, die der Hund gefressen hatte. Die vererbten Feindseligkeiten oder vorübergehenden Spannungen zwischen gewissen Farben wurden mit der gleichen Wichtigkeit behandelt, wie heute die Beziehungen der Großstaaten untereinander. Sogar die jungen Mädchen nahmen Partei, je nachdem ihre Brüder oder bevorzugten Verehrer der oder jener Couleur angehörten. Der historische Gegensatz zwischen Korps und Burschenschaften, der längst kein grundsätzlicher mehr war, aber noch als Abneigung fortbestand, mußte auch gesellschaftlich stets berücksichtigt werden.
Getrunken wurde, wie ich niemals wieder habe trinken sehen. Größere Helden des Suffs finden sich auch im „Gösta Berling“ nicht. Die Zahl der Schoppen, die für eine Fuchsentaufe nötig sein sollte, wage ich nicht zu nennen; über die bei diesem Vorgang angewandten Zwangsmaßregeln gingen gruselige Gerüchte. Selbst bei Tanzvergnügungen konnte es vorkommen, daß ein Partner plötzlich nicht mehr salonfähig war und daß aus den Reihen der Kommilitonen ein Ersatzmann gestellt werden mußte. Schande war keine dabei, sie behaupteten ihr Ansehen auch noch in diesem Zustand. Nur wer sich im Schnaps berauschte, wie es den Norddeutschen bisweilen einfiel, statt im landesüblichen Gerstensaft oder Wein, der galt für wirklich lasterhaft.
Dabei sprach es doch für die Gutartigkeit dieser ausgelassenen Jugend, daß tätliche Ausschreitungen gegen die Nebenmenschen äußerst selten waren. Unser Haus am Marktplatz hatte nach damaliger Sitte keine Korridortüren auf den einzelnen Stockwerken, aber obwohl im Untergeschoß ein Studentencafé lag und die Haustür deshalb fast die ganze Nacht offen stand, fühlte man sich doch in seinem Zimmer völlig sicher. Nur eines Abends kam unsere schon betagte Josephine voller Unwillen aus ihrer Dachkammer zurückgestürzt, denn sie hatte in ihrem Bett einen unbekannten Schläfer gefunden. Es war ein Student, der in tiefer Verdunkelung die fremden Treppen als seine eigenen erstiegen und sich ohne weiteres zur Ruhe gelegt hatte. Meine Brüder, damals schon selber Studenten, hatten alle Not, den Unerwecklichen wieder die lange Treppe hinunter und ins Freie zu schaffen.
Abseits von dieser Burschenherrlichkeit trieben die „Stiftler“ ihr halbklösterliches, eigenbrötlerisches Wesen. Es waren dies Stipendiaten, die, von klein auf zur theologischen Laufbahn bestimmt, erst in den niederen Seminarien, dann im Tübinger evangelischen Stift, einem ehemaligen Augustinerkloster, für ihren Beruf herangebildet wurden. Obgleich sie durch ihre Halbklausur und vielfache Beschränkungen, denen sie unterworfen waren, gesellschaftlich hinter den glücklicheren Stadtburschen zurückstanden, bildeten sie unter ihrem unscheinbaren und häufig ungeleckten Äußeren so etwas wie eine geistige Auslese des Landes und trugen viel zu der besonderen Physiognomie der Tübinger Universität bei. Kein Auswärtiger kann zur Kultur des Schwabenlandes und zu seinen großen Söhnen in ein näheres Verhältnis treten, wenn er sich nicht eingehend mit dem Geiste des Tübinger Stifts und seinen Einrichtungen vertraut gemacht hat. Aus dieser Anstalt ging ja bekanntlich die größte Zahl der führenden Geister Alt-Württembergs hervor. Und zwar pflegte entsprechend der Doppelbegabung des Stammes ein guter Jahrgang je einen Dichter und einen Philosophen gleichzeitig zu bringen: Hölderlin und Hegel, Mörike und Strauß, meinen Vater und Ed. Zeller. Gelegentlich wuchsen die großen Geister im Stift sogar büschelweise wie in der sogenannten „Geniepromotion“, der auch Friedrich Vischer angehörte. Der Mehrzahl der Stiftler ging aber die einseitige Erziehung lebenslang nach. Mit einem äußerst prall gestopften Schulsack verbanden sie häufig die größte Unkenntnis des wirklichen Lebens und jenes linkische Ungeschick der äußeren Welt gegenüber, das man in Schwaben mit dem Wort „stiftlermäßig“ bezeichnet. Bei den schematischeren Köpfen gesellte sich noch leicht eine geistige Selbstsicherheit hinzu, die alles, was nicht auf ihrem eigenen Boden gewachsen und ihnen darum fremdartig war, als minderwertig betrachtete. Mancher der Besten hielt es nicht bis zum Ende aus und entwand sich so oder so dem Zwange. Ehemalige Stiftler trugen deutsche Wissenschaft in alle Lande und waren als Lehrer wie als Erzieher gleich sehr gesucht. Die Daheimgebliebenen nahmen späterhin hervorragende Kirchen- und Schulämter ein, sie verewigten den Stiftlerschlag, indem sie ihn weiterzüchteten, und gaben dem ganzen schwäbischen Geist etwas von ihrem Gepräge ab. Durch sie vor allem kam in die hohe geistige Kultur des Schwabenlandes jene unausfüllbare Kluft zwischen der Weite und Tiefe des inneren Lebens und der äußeren Formlosigkeit, die nicht selten bis zur bewußten Verachtung des Schönen ging.
In dem ehrwürdigen Klosterbau an der oberen Neckarhalde mit seinen Kreuzgängen, Höfen und Gärtchen hauste dieser besondere Menschenschlag beisammen. Dort studierten, aßen, schliefen sie, ständig überwacht, in Zimmern, die ihre altvererbten Namen und die überlieferten Erinnerungen an die früheren Bewohner festhielten. In meines Vaters Nachlaß fand ich eine von unbekannter Hand in Versen geschriebene Szenenfolge, die eine nächtliche Entweichung des sonst so fügsamen Mörike aus dem Stift unter dem Beistand dunkler Mächte dramatisch darstellt. Man pflegte sich, wenn man die Nacht außerhalb des Stiftes verbringen wollte, an einem langen Seil in den „Bärengraben“ hinabzulassen, um auf der anderen Seite durch einen befreundeten Stadtburschen hochgezogen zu werden. Wurde die Abwesenheit entdeckt, so stand auf der unerlaubten „Abnoktation“ eine Note. Eine gewisse Zahl solcher Noten bedingte die Ausschließung von der Anstalt. Zu meiner Zeit aber war die Verweltlichung schon so weit gediehen, daß die Stiftler sogar farbentragenden Verbindungen angehören konnten, soweit diese nicht dem verpönten Paukkomment huldigten. Auch waren sie auf allen Bällen unter den eifrigsten und bescheidensten, wenn schon nicht immer unter den gewandtesten Tänzern.
Noch einen Schritt weiter abseits vom studentischen Treiben standen die Zöglinge des katholischen Seminars, die Konviktoren, auch „Haierle“ (Herrlein) genannt, meist Bauernsöhne aus dem schwäbischen Oberland, die schon durch ihr langes schwarzes Gewand, aber mehr noch durch ihre oberschwäbische Mundart und ihr ganzes weltfremdes Auftreten von der übrigen akademischen Jugend abstachen. Auch aus dieser Anstalt sind bedeutende Persönlichkeiten hervorgegangen.
Neben dem „Stift“ und mit ihm verbunden lag die „Hölle“, das einstige Wohnhaus des „Höllen-Baur“, jenes berühmten, um seiner Bibelkritik willen viel angefochtenen Theologen. Er hatte zu den Lehrern meines Vaters gehört, war aber um die Zeit, von der hier die Rede ist, schon gestorben. Der Spitzname enthielt keine Spitze gegen seinen Träger. Die Professoren waren der Mehrzahl nach mit solchen versehen, und manche weitgefeierte Leuchte der Wissenschaft ging in der kleinen Stadt unter irgendeiner närrischen, zuweilen auch wirklich witzigen Bezeichnung einher. Was gab es aber auch für Originale unter diesen Professoren! Grundgelehrte Herren, jedoch im Äußeren nicht selten sehr vernachlässigt und mit den seltsamsten Gewohnheiten behaftet. Zu diesen fragwürdigen Gestalten gehörte der Germanist Holland, der Herausgeber von Uhlands Nachlaß, der auch über italienische Sprache und Literatur las. Bekannt war die Ermahnung, mit der er seine Schüler zu entlassen pflegte, sie möchten vor allem danach trachten, ins Konversationslexikon zu kommen, denn wer es dahin gebracht habe, der sei geborgen und brauche nichts mehr zu studieren. Er hatte häufig nur einen Hörer im Kolleg, der zu höflich war, ihn mit den vier Wänden allein zu lassen. Diesen ließ er einmal in die Heimlichkeiten seines Junggesellenhaushalts blicken. Wissen Sie, Herr M…, sagte er zu ihm, die Wäscherinnen sind so unsauber (er drückte sich drastischer aus), man kann ihnen die Wäsche nicht anvertrauen. Ich schlafe deshalb seit zehn Jahren auf dem Schwäbischen Merkur. Als dieser Dante- und Boccaccioausleger uns in viel späteren Jahren einmal in der Heimat Dantes und Boccaccios besuchte, da war Holland in Not, denn das Italienisch, das er jahrzehntelang an der württembergischen Alma mater gelehrt hatte, wurde an Ort und Stelle von niemand verstanden.
Noch viel wunderlicher klangen aber die Anekdoten, die von verschwundenen Generationen übrig waren. Ein älterer Landgeistlicher, Verwandter meines Vaters, der ein hinreißendes mimisches Talent besaß, pflegte uns Kindern solche Geschichten aus seiner eigenen Studienzeit zu Dutzenden zu erzählen und vorzuspielen. In welche verschollene Biedermeierwelt sah man hinein, wenn man hörte, daß ein Professor der Philosophie seinen psychologischen Vortrag mit näselndem Ton und in mühsamem Hochdeutsch, durch das der Dialekt schimmerte, also zu beginnen pflegte: Jengleng, wenn dich die Liebe plagt, so klage es (hier wurden die Finger in Bewegung gesetzt): a) den Sternen; so deren keine da sind, b) den Wiesen; so auch deren keine gefonden werden, c) den Waldbächen. Denn das Rieseln ond Rauschen der Waldbäche lendert und mendert den physischen ond psychischen Schmerz einer moralisch niedergedrückten Seele.
Auch in der jungen Generation schossen die Sonderlinge ins Kraut, obgleich sie nun doch schon einen viel weltmännischeren Anstrich bekamen. Wer erinnert sich nicht aus den siebziger Jahren an die Gestalt des Dr. Euting, der als jüngster Kollege meines Vaters an der Universitätsbibliothek amtete und sich später von Straßburg aus als Orientreisender einen Namen machte? Er war weit unter Rekrutenmaß, hatte aber sehr breite Schultern und einen sportlich entwickelten Körper, der sich in den straffen, schnellenden Bewegungen verriet. Euting war damals schon im Orient gewesen und gehabte sich seitdem als Türke. Seine Beweglichkeit, seine schwarzen, umherspringenden Augen, ein seltsam gerunzeltes, aber doch junges Gesicht, das aussah wie von heißerer Sonne gedörrt, gaben ihm ein völlig fremdartiges Ansehen. Den gewesenen Stiftler merkte man ihm nicht mehr an, er lehrte jetzt semitische Sprachen, besonders das Arabische. Als außerordentlich mutiger Mensch, der er war, hauste er mutterseelenallein in dem unheimlichen „Haspelturm“ hinter dem Schlosse. Da bei Einbruch der Dunkelheit die nach dem Schloßhof führende Pforte geschlossen wurde, war er bei Nacht in seinem Turm von allen Lebenden geschieden. Er hatte es durchgesetzt, in diesem ehemaligen Gefängnis der zum Tode Verurteilten, dessen durch keine Treppe erreichbares Verließ noch Menschenknochen bergen sollte, sich ein paar Zimmer einrichten zu lassen, denen er durch orientalische Teppiche und Decken ein einigermaßen wohnliches Ansehen gab. Dort saß er mit untergeschlagenen Beinen, den roten Fes auf dem Kopf, am Boden, aus mächtiger Wasserpfeife rauchend, und bewirtete seine Besucher und Besucherinnen mit selbstgebrautem türkischem Kaffee in winzigen Schälchen, alles echt und stilgerecht. Dabei erzählte er von Wüstenritten, Haremsbesuchen und dergleichen. Er war ein lebhafter Verehrer der Damenwelt, doch war ihm seine Kleinheit beim weiblichen Geschlechte hinderlich, mehr noch sein bekannter Ausspruch, daß er hoffe, dermaleinst mit zwölf jungen Eutings über die Neckarbrücke zu spazieren, alle vom gleichen Wuchs und gleicher Schneidigkeit wie er. Ihm war es gegeben, seine Eigenheiten noch über den Tod hinaus fortzusetzen. Er baute sich zu Lebzeiten mitten unter den freien Schwarzwaldtannen des Ruhsteins sein Grab und bestimmte, daß einmal im Jahr, an seinem Geburtstag, jeder Besucher an dieser Stätte mit einer Tasse Kaffee gelabt werden sollte. Erst die Kaffeeknappheit des Weltkriegs hat diesen schönen Brauch in Abgang gebracht. Doch wir müssen dieses späte Bild verwischen, um wieder zu den Sonderlingen des alten Tübingen zurückzukehren.
Da war unter anderen der Ewige Student, ein Mensch, der bis zu seinem Tode auf der Universität verblieb und der mit der Zeit mehr als vierzig Semester auf den Rücken bekam. Er hatte sehr ansehnliche Stipendien, die ihm solange ausbezahlt wurden, als er studierte; diesen zuliebe studierte er immer weiter, Chemie und Naturwissenschaften, ohne je ein Examen zu machen. Mit der Zeit hatte er es doch zu ganz tüchtigen Kenntnissen gebracht, die ihm gestatteten, andere Studenten aufs Examen vorzubereiten. Als diese dann mit der Zeit Professoren wurden, hörte er selber wieder bei ihnen Kolleg. Mein Bruder Alfred fragte ihn als Student einmal, wie er doch nur bei seinen eigenen ehemaligen Schülern im Hörsaal sitzen und so eifrig nachschreiben möge. O, antwortete er, da ist jedes Wort Gold, es kommt ja alles von mir selber.
Von einem anderen Mediziner wurde erzählt, daß er als verbummelter Student mit sehr geringen Kenntnissen nach Amerika durchgebrannt sei und sich während des Sezessionskrieges den Nordstaaten als Arzt zur Verfügung gestellt habe. Dort stieg er bis zum Generalarzt auf. Aber nach Friedensschluß wurde ihm doch wegen seiner Stellung bange, er kehrte mit dem erworbenen Titel nach Tübingen zurück, hörte wieder Kolleg, und die Professoren, denen sein Auftreten Eindruck machte, ließen ihn denn auch glimpflich im Examen durchschlüpfen.
Unter den Kleinbürgern gab es ebenfalls ganz merkwürdige Gestalten, die von der Jugend mit Vorliebe aufgesucht wurden und die sich die studentische Gesellschaft zur besonderen Ehre schätzten. Eine der bekanntesten war der alte Hornung, ein uralter Veteran von 1813. Er saß jeden Abend im Wirtshaus und spielte Karten; dabei war er als sehr geizig bekannt. Edgar setzte sich in seiner Studentenzeit gern zu ihm und malte ihm, während er spielte, einen Kreuzer auf den Tisch. Da er nicht mehr gut sah und gern mogelte, griff er danach: Der ist auch noch mein! und wollte ihn einstreichen. Das nächstemal wurde ein Kreuzer an eine andere Stelle gemalt, und er griff abermals danach. Auf den alten Hornung wurden in Tübingen die bekannten Napoleonanekdoten aus der Schlacht von Leipzig übertragen. Eine aber hörte mein Bruder aus seinem eigenen Munde: Ein französischer Sergeant hatte als Vorgesetzter den Mann viel drangsaliert. Als sie nun eines Tages Seite an Seite über einen Graben setzen, fällt der Franzose und ruft um Hilfe. Der Hornung aber reitet weiter, indem er mit Nachdruck spricht: Wer reit’t, der reit’t, und wer leit, der leit (liegt).
Die ganze bunte Tübinger Romantik gehörte nun aber einzig und allein dem Studenten. Daneben lebte und webte Tür an Tür das engste Spießbürgertum. Die Geselligkeit war durch strengen Kastengeist geregelt und entbehrte der Anmut. Die Frau als gesellschaftliche Macht versagte ganz. Man sah aller Enden hübsche junge Mädchen, aber äußerst selten eine hübsche junge Frau. Sobald sich die damaligen Schwäbinnen verheirateten, hielten sie nichts mehr auf ihre Person. Nach Pflege des Geistes und Körpers zu streben, galt für „Emanzipiertheit“ und Eitelkeit und war überdies ein Zeichen mangelnder Hausfrauentugend. Es konnte vorkommen, daß der Mann hohe akademische Würden innehatte und daß die Frau Magddienste verrichtete. Nicht aus Not, sondern weil sie keine höheren Ziele kannte. So vermochte der ganze Lebensstil sich nicht zu erheben. Auch der Student lernte nur die Reize des Studentenlebens, nicht die einer höheren Geselligkeit kennen. Und wie phantastisch er’s getrieben haben mochte, am Schluß der Universitätsjahre mußte auch er unterducken, sich der lähmenden Enge einreihen, wenn er im Lande sein Auskommen finden wollte. Darum klang auch so wehmütig der Sang der Abziehenden: Muß selber nun Philister sein, ade!
Um die aus den Tübinger Verhältnissen hervorgehende Einseitigkeit oder Verwilderung zu bekämpfen, war Friedrich Vischer, solange er in Tübingen lebte und lehrte, bemüht, die Verlegung der Universität in die Landeshauptstadt durchzusetzen. Damit wäre freilich zugleich aller Reiz der Überlieferung aus dem studentischen Leben geschwunden. Er fand aber mit diesem Lieblingsgedanken keinen Anklang und konnte nur für seine eigene Person die Wahl treffen, indem er endgültig das Stuttgarter Polytechnikum dem Tübinger Lehrstuhl vorzog und so die Universität eines ihrer größten Namen beraubte.
Wieviel man gegen das alte Tübingen auf dem Herzen haben mochte, die reizvolle, wunderliche Stadt mit dem kühnen Profil und der entzückenden Lage hat es noch allen angetan, die dort gewesen. Und so oft ich späterhin aus Italien wiederkehrte, ganz durchtränkt von der Schönheit des Südens, wenn ich wieder einmal auf dem „Schänzle“ stand und die Blicke von der lachenden Neckarseite mit der fernen Alb in das schwermütige Ammertal wandern ließ, wo, wie einmal eine gefühlvolle Tübingerin zu Friedrich Vischer sagte, „das Herz seinen verlorenen Schmerz wiederfindet“ immer habe ich den Zauber meiner Jugendstadt aufs neue verspürt.