Das rote Album.

Isolde Kurz

Bevor ich weitergehe, muß ich hier einige Worte über die ureigene Persönlichkeit meiner Mutter vorausschicken, weil ohne einen Blick auf ihr Gesamtbild die einzelnen Züge ihres Wesens, wie sie bruchstückartig aus diesen Blättern hervortreten, nimmermehr richtig verstanden werden könnten. Sie wiederzugeben ganz so, wie sie war, ist ein Wagnis. Kein Bild ist leichter zu verzeichnen als das ihre. So ausgeprägt sind ihre Züge, so urpersönlich — ein einziger zu stark gezogener Strich, eine vergröbernde Linie, und das Edelste und Seltenste, was es gab, kann zum Zerrbild werden. Und nicht nur die Hand, die das Bild zeichnet, muß ganz leicht und sicher sein, es kommt auch auf das Auge an, das es auffassen soll. Wer gewohnt ist, in Schablonen zu denken, findet für das nur einmal Vorhandene keinen Platz in seiner Vorstellung. Es gab Philisterseelen, die in diesem unbegreiflichen Wesen nichts sahen als ein Wunderliches kleines Frauchen, das wenig auf seinen Anzug hielt und keine „gute Hausfrau“ war. Für mich und alle, die sie wahrhaft kannten, ist sie immer das außerordentlichste menschliche Ereignis gewesen.

Wir waren so fest verwachsen, daß mein Gedächtnis ihre eigene Kindheit mit umschließt, als ob ich sie selbst erlebt hätte. Ich sehe sie, wie sie als Oberstentöchterchen in Ludwigsburg aus ihrem großen Garten, der an das Militärgefängnis stieß, das schönste Obst ihrer Bäume durch die vergitterten Fenster heimlich den Sträflingen zuwarf, voll frühzeitiger Empörung, daß es Menschen gab, die man der Freiheit beraubte. Wie die Gefangenen erfinderisch lange Schnüre herabließen, woran die Kleine ganze Würste, Kuchenstücke und was sie Gutes in Küche und Keller finden konnte, festband und so die erste rebellische Freude genoß, Gedrückten beizustehen. Ein andermal schwebt sie mir vor, wie sie ihre Ferientage bei dem „Tantele“ zubringen durfte, der einzigen bürgerlichen Verwandten, die sie besaß und in deren Hause ihr am wohlsten war, weil es da ganz einfach zuging und sie tun und lassen durfte, was sie wollte. Ihr erstes war dann, alle Hüllen von sich zu werfen und ihr Sommerkleidchen auf den bloßen Leib anzuziehen, was ja viel kühler war, denn sie sah nicht ein, warum der Mensch so viele Umstände mit seinen Kleidern macht. In seligem Mutwillen zog sie die langen, ungeknüpften „Kreuzbänder“ ihrer Schuhe durch den Straßenkot, glücklich, daß keine Gouvernante da war, sie zur Ordnung zu rufen, und daß kein Bedienter, der hinter ihr ging, sie an die Ungleichheit menschlicher Lose erinnerte. In diesen kleinen Zügen waren schon die Grundlinien ihres Wesens angedeutet: ihr tätiges Mitgefühl für die Bedrängten und Schwachen, der angeborene kommunistische Zug und der Rousseausche Drang nach Rückkehr zur allereinfachsten Natur. Wie sie dann im Jahre 1848 mit ihrer bevorrechteten Kaste brach, um auf die Seite des Volkes zu treten, habe ich in meiner Hermann-Kurz-Biographie erzählt.

Die unbegreiflichsten Gegensätze waren in diesem Menschenbilde zu einer so einfachen und bruchlosen Ganzheit zusammengeschweißt, daß man sich in aller Welt vergeblich nach einer ähnlichen Erscheinung umsehen würde. Von sehr altem Adel, mit allen Vorteilen einer verfeinerten Erziehung ausgestattet und doch so ursprünglich in dunkler Triebhaftigkeit! Diese Triebhaftigkeit aber gänzlich abgewandt vom Ich, was doch der Natur des Trieblebens zu widersprechen scheint! Was andere sich als sittlichen Sieg abringen müssen, der selbstlose Entschluß, das war bei ihr das Angeborene und kam jeder Zeit als Naturgewalt aus ihrem Innern. Wenn ich mich umsehe, wem ich sie vergleichen könnte, so finde ich nur eine Gestalt, die ihr ähnelt, den Poverello von Assisi, der wie sie im Elemente des Liebesfeuers lebte und die freiwillige Armut zu seiner Braut gewählt hatte. Sein Sonnenhymnus hätte ganz ebenso jauchzend aus ihrer Seele brechen können. Auch in dem starken tierischen Magnetismus, der von ihr ausströmte, muß ihr der heilige Franziskus geglichen haben, denn um beide drängte sich die Kreatur liebe- und hilfesuchend. Kinder und Tiere waren nicht aus meines Mütterleins Nähe zu bringen. Auch das Irrationale und Plötzliche, das zum Wesen der Heiligen mit gehört, war ihr in oft erschreckendem Maße eigen.

Eine unerhört glückliche Körperbeschaffenheit kam ihren inneren Anlagen zu Hilfe. Sie hatte nahezu gar keine Bedürfnisse; Hitze und Kälte, Hunger und Durst wie auch der Mangel an Schlaf drangen ihr kaum ins Bewußtsein. Sie aß kein Fleisch, außer in den sehr seltenen Fällen eines plötzlichen Nachlasses, und auch dann nur einen Bissen, denn das Schlachten der Tiere gehörte zu den Dingen, die ihr die schöne Gotteserde verdüsterten. Mitunter lebte sie lange Zeit überhaupt nur von ein wenig Milch mit Weißbrot. Ihr kleiner, immer in Bewegung befindlicher Körper kannte keine Müdigkeit noch Erschlaffung. Fünf Kinder hatte sie an der Brust genährt, alle weit über die übliche Zeit hinaus, und ihre Kraft war dadurch nicht im mindesten geschwächt. Es gab Zeiten übermenschlicher Leistung in ihrem Leben, als sie ihren todkranken Jüngsten in seinen wiederkehrenden Leidenskrisen pflegte, Zeiten, wo sie des Nachts nicht aus den Kleidern kam, ihm heitere Märchen und Geschichten erzählte, auch frei erfand, mit der Todesnot im Herzen, und doch am Tage ganz frisch wieder ins Geschirr ihrer häuslichen Pflichten ging. Was auch die vielgequälte Seele leiden mochte, der Körper nahm keinen Teil daran, er blieb schlechterdings unverwüstlich. Dabei hatte sie die Gabe, an jedem Orte, zu jeder Zeit und in jeder Stellung rasch ein wenig im voraus schlafen zu können; waren es auch nur Minuten, so erwachte sie doch immer neugestärkt. Sie rollte sich dabei ganz in sich zusammen und brauchte nicht mehr Raum als ein fünfjähriges Kind. Aber sie schlief dann stets mit Willen; vom Schlummer überwältigt habe ich sie nie gesehen. Ruhe und Gemächlichkeit widerstrebten ihrer Natur, beim ersten Morgenschein fuhr sie aus dem Bette und ging gleich an irgendeine Beschäftigung oder, wenn wir auf dem Lande lebten, hinaus ins Freie, denn der Sonnenaufgang war ihre Andachtsstunde. Bequem auf einem Stuhl zu sitzen, war ihr unerträglich. Sie saß immer irgendwo schwebend auf einer Kante wie ein eben herzugeflogener Vogel. Am liebsten aber kauerte sie, klein und leicht wie sie war, auf einem Schemel oder am Boden.

Ihr Gesicht hatte, ohne schön zu sein, etwas unruhig Fesselndes bei überstarkem Glanz der Augen, wozu auch das schimmernde Weiße viel beitrug. Aber erst im höheren Alter bekamen ihre Züge die ergreifende Harmonie und großartige Einfachheit, in der sich dann ihr gereiftes Wesen wunderbar ausdrückte. Durch die Schnelligkeit ihres Ganges fiel sie noch als Achtzigerin auf, dabei waren ihre Hände immer ein wenig voraus, wie im steten Begriff zu helfen und zu geben. Alles ging ihr zu langsam, beim Anziehen fuhr sie noch im höchsten Alter immer mit beiden Armen zugleich ins Kleid. All diese äußere Hast war aber frei von Nervosität und Zerfahrenheit. Man konnte sie bei der ungeheuren Raschheit ihres Wesens einem jener hinjagenden Wirbelwinde vergleichen, in deren Innerem eine vollkommene Windstille herrscht. Ihre Gelassenheit war so groß, daß sie ihre unzähligen Briefe immer im Tohuwabohu der Kinderstube schrieb. Auch wenn andere währenddessen mit ihr sprachen, ließ sie sich nicht aus ihrem Gedankengang bringen. Sie brauchte zum Schreiben nur eine Tischecke und eine von den Kindern geliehene Feder. Denn sie besaß gar nichts Eigenes, nicht einmal Schreibzeug. Und die Ströme Wassers, mit denen sie uns täglich abflößte — ein in bürgerlichen Häusern damals noch wenig gepflegter Brauch —, waren die einzige Erinnerung an die aristokratische Lebenshaltung ihres Elternhauses, die sie mit in die Ehe herübernahm.

Ihre Unempfindlichkeit gegen Geräusch hatte die Folge, daß sie von mir denselben Gleichmut verlangte, und das war mir eine große Pein. Nicht nur meine Lernaufgaben, sondern auch meine Übersetzungen, die schon in den Druck gingen, mußte ich unter ganz ähnlichen Bedingungen an einer Tischecke zuwege bringen, mit einer Feder, deren Alleinbesitz mir nicht zustand. So oft ich mich mit Schreibgerät versorgte, immer verschwand es in der Schultasche der Brüder, die ihrerseits auch nicht besser gestellt waren, denn jegliches Ding ging von Hand zu Hand, und ein jeder suchte immerzu das seinige oder was er dafür hielt; mit Ausnahme des Erstgeborenen, dessen kleine Habe unantastbar war. Wären die Kinder nicht alle gutgeartet gewesen, so hätte es beständigen Streit um das Mein und Dein geben müssen; so gab es nur ein beständiges ärgerliches Suchen und Fragen bei großem Zeitverlust. Und ähnlich ging es mit allen anderen beweglichen Gegenständen auch. Am meisten war mein armes Mütterlein selbst geplagt, denn das Objekt, das sich von ihr allzutief verachtet fühlte, verfolgte sie mit unersättlicher Rachgier, so daß sie selbst, die gute Josephine und ich, die wir ihr beistanden, viel Kraft in diesem sieglosen Kriege verschwendeten. Aber eine andere Hausordnung einzuführen, bei der jegliches Ding an seinem Platz geblieben wäre, widerstrebte ihr durchaus.

Ich erinnere mich, daß um jene Zeit in einer Kammer mehrere ganz gewaltige Ballen feinster, handgewebter Leinwand lagen; sie stammten noch von meiner Großmutter Brunnow, die sie jahraus, jahrein für den Brautschatz ihrer Marie hatte weben lassen. Die schönen Tafeldamaste und Bettlinnen wurden ebenso wie das kostbare Kristall vorzugsweise zu Geschenken verwendet, wenn etwa eine der jüngeren Freundinnen sich verlobte, oder zu Vergütungen für geleistete Dienste. Nun war es unter den Geschwistern ganz üblich, daß, wenn einer des Morgens sein Handtuch nicht fand, weil der andere es benützt und in den Winkel geworfen hatte, der Geschädigte, statt um ein neues zu bitten, einfach zur Schere griff, um sich von dem Leinwandballen ein beliebiges Stück abzuschneiden, das er ohne Umstände in Gebrauch nahm. Mein Mütterlein verwehrte es nicht, sie half wohl selber mit, wenn gerade der Schlüssel zum Wäscheschrank verlegt war. Als ich ihr nun eines Tages den Vorschlag machte, mich die abgeschnittenen Stücke einsäumen zu lassen, wie ich es anderwärts gesehen hatte, weil es dann hübscher aussehen und länger halten würde, ließ sie mich ärgerlich an, ich solle mein Herz nicht an solchen Kleinkram hängen, sondern froh sein, daß ich mich geistig beschäftigen dürfe. Zugeben muß ich heute, daß die Handtücher jetzt doch zerrissen wären und daß die geistigen Werte, die sie uns gab, festen Bestand hatten. Aber damals machte es mich oft traurig, daß sich gar kein Austrag zwischen den höheren Aufgaben und der Welt des Irdischen finden ließ. Und wenn ich gar einmal, von einem Besuch bei auswärtigen Freunden heimkommend, eine dort gefundene Ordnung oder Verbesserung im eigenen Hause einführen wollte, so konnte sie ernstlich böse werden und mir drohen, sie würde mich niemals wieder in fremde Häuser gehen lassen. Sie pflegte dann in ihrer drastischen Weise zu klagen, daß ich meine Gaben nur hätte, um dümmer zu sein als das dümmste Frauenzimmer. In solchen Fällen stieß ich sogar auf den Widerstand Josephinens, die in ihrem eigenen Tun noch immer so pünktlich und geordnet war, wie sie es im Brunnowschen Hause gelernt hatte, die aber mit solcher Leidenschaft an ihrer Herrin hing, daß sie nur mit ihren Augen sehen konnte. Ganz mit mir zufrieden wurde mein gutes Mütterlein erst, wenn ich endlich, nach vergeblicher Bemühung, Ordnung zu stiften, entmutigt die Arme sinken ließ. Dann saß man wieder inmitten des häuslichen Durcheinanders, das einen nichts mehr anging, weltentrückt wie die indischen Weisen unter ihrem Urwaldbaum, und sie redete zu mir über das Woher und Wohin, vor allem über das Warum des Lebens. Denn in dieses zuckende, rastlose Flämmchen war ein ganz stiller, einsamer Denker eingeschlossen, der immerzu über die letzten Geheimnisse grübeln mußte. Die materialistische Weltauffassung, die damals der Philosophie den Boden wegnahm, befriedigte sie im Innern keineswegs. Das Rätsel des Todes machte ihr lebenslang zu schaffen. Sie prüfte unablässig alles Für und Wider der Gründe für ein Fortleben. Natürlich kam sie niemals zu einem Schluß, und es hing ganz von ihrer augenblicklichen inneren Verfassung ab, ob sie mehr dem Ja oder dem Nein zuneigte. Daß sie glühend das Ja ersehnte, um ihre Liebe noch über das Erdenleben hinaus zu betätigen, war für sie doch kein Grund, ihr Denken nach ihren Wünschen einzustellen. Sie erzählte mir oft, daß sie sich einmal mit einer Bekannten, Frau H. aus Eßlingen, das Wort gegeben hatte, welche vor der anderen stürbe, die wolle der Überlebenden ein Zeichen geben. Frau H. starb, und in einer der nächsten Nächte sah meine Mutter sie am Ende eines langen Ganges vorübergehen und ihr zunicken. Sie verstand gleich, was das Nicken bedeute, aber beim Erwachen erwachte auch der Zweifel. Weshalb sollte mir Frau H. erscheinen, sagte sie, und meine Mutter nicht, die mich so unendlich geliebt hat? Denn auch ihre Mutter hatte ihr ein solches Versprechen gegeben, und sie hatte nach ihrem Tode bestimmt auf eine Erscheinung gewartet. Als sie in der Nacht an ihrem Bette plötzlich ein Licht aufblitzen sah, dachte sie: das ist sie! Und lag mit klopfendem Herzen regungslos, um das Licht nicht zu verscheuchen, das immer um sie blieb und bald da, bald dort erschien. Aber am Morgen sah sie einen toten Leuchtkäfer auf dem Gesimse liegen und wartete fortan nicht mehr. Seit dieser Enttäuschung lehnte sie alle Mystik entschieden ab, wiewohl ein mystischer Zug unter dem Grunde ihres Bewußtseins lag. Sie hatte auch prophetische Träume, die sich seltsamerweise meist auf Nebensächliches bezogen, wie verlegte Gegenstände, deren Versteck ihr der Traum zeigte. Bisweilen hatten aber diese Träume auch bedeutenderen Inhalt, und einen davon werde ich an einer späteren Stelle erzählen. Es gab übrigens noch einen anderen geheimnisvollen Punkt in ihrem Seelenleben, über den sie sich nur selten und mit größter Zurückhaltung äußerte. Sie sagte mir nämlich wiederholt auf ganz verschiedenen Altersstufen, daß sie ein Dämonium wie das des Sokrates habe, das mitunter sehr nachdrücklich und stets in abmahnender oder mißbilligender Weise zu ihr spreche. Mehr erfuhr ich nicht und fragte auch nicht weiter, um eine solche Gabe, die bei ihrem Ungestüm gewiß wohltätig war, nicht durch Beschreien zu stören. Ich weiß aber, daß sie sich auch zu anderen andeutungsweise über die Sache geäußert hat.

Ich hatte damals für ihre immer wiederkehrende faustische Klage, „daß wir nichts wissen können“, wenig Sinn. Die Tatsache unseres Hierseins war mir noch so neu und merkwürdig, daß ich nicht nach dem Woher und Wohin und am allerwenigsten nach dem Warum fragte. Dagegen liebte ich es, ihre Philosophie durch ganz spitzfindige Fragen zu bedrängen, wie diese: „Gesetzt, Papa hätte eine andere Frau genommen und besäße von ihr eine Tochter, du aber hättest einen anderen Mann und gleichfalls eine Tochter von ihm, welche von den beiden Töchtern wäre dann ich?“ — Närrchen, dann wärest du eben überhaupt nicht vorhanden. — Das war mir nicht vorstellbar. — Vielleicht wäre ich zweimal da, jedesmal mit einer falschen Hälfte verbunden? — Aber Kind, du redest ja den reinen Unsinn. — Oder wären die zwei vielleicht meine Schwestern? — Das wollte sie eher gelten lassen. — Aber Mama, wenn ich gar nicht bin, wie kann ich dann Schwestern haben?! — Die philosophische Untersuchung endigte zuletzt, wie philosophische Untersuchungen immer enden sollten, mit einem Lachen.

Gänzlich unberührt vom häuslichen Wirrwarr lag des Vaters Studierzimmer. Dort waltete ich in seiner Abwesenheit ganz allein als Hüterin des Tempelfriedens. Schon in seinen frühen Ehejahren hatte er sich’s ausbedungen, daß keine Hand in häuslicher Absicht sein Schreibpult berühre (er arbeitete immer stehend), bis seine Tochter daran heraufgewachsen sei. Sobald meine Größe es erlaubte, trat ich mein tägliches Amt an, das Pult zu säubern und die Studierlampe in Ordnung zu halten. Es war dies so ziemlich die einzige häusliche Verrichtung, zu der ich überhaupt zugelassen wurde. Die wenigen Male, die ich sie gedankenlos versäumte, blieben mir schwer auf der Seele, denn daß er beim Nachhausekommen schweigend und ohne ein Wort des Vorwurfs nach dem Petroleumkännchen griff, hinterließ mir einen viel tieferen Eindruck, als es der schärfste Tadel vermocht hätte.

Wer nun aber aus der Gleichgültigkeit meiner Mutter gegen die äußeren Lebensbedingungen schließen wollte, sie sei meinem Vater auch eine schlechte Geldverwalterin gewesen, der würde gröblich irren. Fast ohne Mittel fünf Kinder aufzuziehen, zu ernähren, zu kleiden, war oft eine nahezu unlösbare Aufgabe; sie hat sie dennoch gelöst, still, selbstverständlich, in höchster Würde, und, was mehr ist: in unerschöpflicher Freudigkeit. Das Glück, an seiner Seite zu leben, vergütete ihr jede Beschwerde. Ich erinnere mich nicht, daß es uns Kindern je am Nötigen gefehlt hätte. Auch kleine Freuden und Erholungen wurden uns nie versagt; wer zu kurz kam, war immer nur sie selbst. Daneben hatte sie die offenste Hand für alle Bedürftigen; sie wartete nie ab, daß ein Armer sie auf der Straße ansprach, sondern schlich ihm nach, bis sie ihm unbeobachtet geben konnte. Ein Apotheker in Tübingen erzählte mir, daß er oft als Kind am väterlichen Ladentisch mitangesehen habe, wie sie sich leise an irgendeine arme Frau heran drängte, um ihr verstohlen ein Geldstück in die Hand zu stecken, was niemand wahrnahm als der Dreikäsehoch, der die Welt von unten sah. Und sie hatte wahrlich nichts übrig, jede Gabe mußte durch vermehrtes Sparen ausgeglichen werden. Auch war sie immerzu häuslich tätig. Während sie dem einen Knaben die Hose flickte, nahm sie mit dem anderen seine Schulaufgaben durch, und wenn es nottat, griff sie im Haushalt auch beim Gröbsten zu, denn sie hielt dafür, daß keine Art von Arbeit schände. Nur die Hände ihrer Tochter sollten kein gemeines Geschäft verrichten; hier hatte der Demokratismus eine Lücke. Nicht einmal einen Kochlöffel zu berühren war mir erlaubt, so sehr ich bat, mich in der Küche mitbetätigen zu dürfen, denn ich trug immer eine ungestillte Sehnsucht nach Beschäftigung mit stofflichen Dingen in mir herum.

Am hellsten glänzten die Wirtschaftskünste meiner Mutter, wenn plötzlich unerwartete Gäste erschienen, was bei der noch allgemein verbreiteten altschwäbischen Gastlichkeit leicht geschah. Unser Raum war so beschränkt, daß kaum die Familie selber Platz hatte, von Gastzimmer mit Gastbett keine Rede. Aber im Nu war ein Lager bereit, der Tisch wurde gedeckt, Josephine buk und brotzelte in der Küche, und es herrschte eitel Freude im Hause. Wie gut es den Gästen gefiel, bewiesen sie dadurch, daß sie häufig wochenlang blieben. Dies ging zumeist auf meine Kosten, denn ich mußte, da die Knaben nicht in der Ordnung gestört werden durften, alsdann mein Bett mit allen Bequemlichkeiten opfern. Mitunter fand ich nicht einmal mehr auf einem Kanapee Zuflucht, sondern mußte mich mit zusammengestellten Stühlen begnügen, die, wenn man sich bewegte, auseinanderfuhren und die daraufgelegten Kissen zu Boden gleiten ließen. Es kam selten vor, daß ich einmal längere Zeit im ungestörten Besitze meines Bettes blieb. Darüber durfte kein Wort verloren werden, Mama gab ja auch das ihrige her. Freilich war auch der Gewinn auf meiner Seite, denn die Besuche, besonders die von weither zugereisten, brachten neues Leben und Weltweite mit, wonach ich dürstete. In solchen Zeiten hatte dann das Lernen und alle geregelte Tätigkeit ein Ende: der Brauch verlangte, daß wenigstens die weiblichen Glieder des Hauses sich völlig den Gästen widmeten.

Unter den kometenartigen Erscheinungen, die vorübergehend in unserem Hause auftauchten, strahlte besonders Frau Hedwig Wilhelmi, eine Freundin meiner beiden Eltern, die in Granada lebte. Sie war eine blendende, geistig angeregte Persönlichkeit von sehr freiem und rauschendem Auftreten, leidenschaftlich der materialistischen Richtung eines Vogt und Büchner ergeben, daneben auch literarisch angehaucht, kurz nach ihrem ganzen Wesen eine in der damaligen Frauenwelt unerhörte Ausnahme. In ihren späteren Lebensjahren machte sie sich in Deutschland und Amerika durch sozialistische Propaganda bekannt, stieß mit den Ausnahmegesetzen zusammen und erlitt Gefängnis, Verfolgung und Ungemach aller Art, wodurch ihr Wesen herber und ihre Haltung schroffer wurde. Aber gern rufe ich mir ihr Bild zurück, wie sie in meine Kindheit trat, die bewegliche Gestalt, den feinen, etwas hart geschnittenen Kopf mit den sprechenden Augen, von kurzen braunen Locken kühn umflattert, die unvermeidliche Zigarre zwischen den Zähnen. Das Rauchen war an einer Frau damals noch etwas sehr Auffallendes, doch es ging ihr so hin, weil man in Deutschland glaubte, sie habe das in Spanien gelernt, die Spanier dagegen es für einen deutschen Brauch hielten. Ich kann sie mir gar nicht anders vorstellen als in einem Kreise von Herren sitzend, deren sie immer eine Anzahl um sich haben mußte, rauchend, trinkend, disputierend.

Bei ihrem ersten Besuch in Tübingen, bald nach unserem Einzug, brachte sie auch ihr etwa sechsjähriges Töchterchen Berta mit, einen bildschönen, ganz andalusisch aussehenden Krauskopf mit Quecksilber in den Adern. Wie die dunkeläugige Kleine im spanischen Zigeuneranzug ihren Fandango tanzte und kastagnettenklappernd durch die Zimmer raste, glaubte man sich unmittelbar in den Süden versetzt. Als die spanischen Gäste zum erstenmal im Hause schliefen, wartete ihrer eine Überraschung, an die man sich später oft mit Heiterkeit erinnerte. Mitten in der Nacht fuhr Hedwig laut schreiend aus dem Bette, weil sich etwas Eiskaltes, Glattes unter der Decke um ihre Glieder gewunden hatte. Es waren Edgars Ringelnattern, die sich auch an dem festlichen Ereignis beteiligen wollten und auf unerklärliche Weise aus ihrem Behältnis entwichen waren, um den Gast nächtlicherweile zu umstricken. Doch Hedwig war eine starkgeistige Frau und gab sich nach Feststellung der Tatsache schnell zufrieden; sie hatte in ihrem Leben gefährlichere Abenteuer bestanden als dieses. Ich hörte immer selig zu, wenn sie von ihren kühnen Ritten in der Sierra Nevada oder von stürmischen Meerfahrten im Golf von Biscaya erzählte, denn das waren Dinge, die ich auch für mich selber ersehnte.

Hedwig war sich einer besonderen Macht über junge Menschenherzen bewußt und übte sie auch gern an Kindern. Wir hingen alle mit leidenschaftlicher Bewunderung an ihr. Ich war stolz, wenn ich an ihrer Seite ausgehen durfte, denn wer hatte einen so schönen Gast wie wir! Es gefiel mir unendlich, daß sie sich im Gegensatz zu den schwäbischen Frauen so jugendlich und elegant kleidete. Jene schlangen, sobald sie verheiratet waren, ein grobfädiges, schwarzseidenes Netz um die Haare, trugen um die Schultern einen ins Dreieck gelegten Schal und gaben damit zu verstehen, daß sie fortan auf jeden Männerblick verzichteten. Hedwig brachte jedesmal einen Koffer voll Pariser Kleider mit. Ihr damaliges Bild schwebt mir mit einer Riesenkrinoline vor, in grasgrünem Kleid vom neuesten Schnitt nebst Pariser Hütchen, worauf ein grüner Papagei thronte, von einem langen, ebenso grünen Kreppschleier umflattert. Ein kleines grünseidenes Knickschirmchen gab dieser Schöpfung in Grün die letzte Weihe. Ob die grüne Pracht mir heute noch ebensogut gefallen würde, weiß ich nicht, damals schien sie mir der Gipfel des Geschmacks und der Schönheit, und ich wünschte mir lebhaft, dermaleinst, wenn ich groß sein würde, einen ebenso langen und ebenso grünen Schleier auf dem Hute zu tragen.

Als die spanischen Gäste wieder abgereist waren, kamen Hedwigs Briefe, kleine Manuskripte, an Mama. Die Post traf gewöhnlich des Morgens ein, um die Stunde, wo ich auf einem der gelbdamastenen Empirehockerchen saß und Mama mir die Haare kämmte, deren Länge und Fülle ihr täglich viel Zeit wegnahm und von dem Kinde selber nicht bewältigt werden konnte. Also ließ sie sich von mir während dieses Geschäftes die eingelaufenen Briefe vorlesen. Das waren natürlich für mich sehr spannende Augenblicke. Mein Mütterlein war die treueste, zuverlässigste Freundin ihrer Freundinnen. Alle Verwicklungen fanden bei ihr Verständnis und Teilnahme — unsere Josephine pflegte sie schon in ihren Mädchenjahren Frau Minnetrost zu nennen, nach der Fee in Fouqués Zauberring — und nie kam ein Wort von dem, was sie wußte, gegen andere aus ihrem Munde. Nur vor mir hielt sie nicht leicht etwas geheim. Ich war ihre Vertraute und kleine Sekretärin, ihr anderes Ich. Sie konnte meiner Verschwiegenheit und Zurückhaltung gewiß sein; wie ich hernach das Vernommene meiner Innenwelt eingliederte, war meine Sache. Meine Mutter hatte ein rührendes, selbstverständliches Vertrauen, daß nichts diese Kindesseele zu schädigen vermöge. Man nahm sich damals überhaupt Kindern gegenüber viel weniger in acht; trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, blieben die Kinder länger in der Unschuld. Ich habe mich auch überzeugt, daß eine junge Seele aus dem Leben wie aus Büchern doch nur aufnimmt, was ihr verwandt ist; das Ungleichartige bleibt wie ein Fremdkörper liegen. Nur verlernte ich frühzeitig die Neugier und jedes Verwundern über Menschliches, Allzumenschliches, denn es war alles schon dagewesen. Die Briefe Hedwigs lasen sich wie kleine Romane in Fortsetzungen. So erinnere ich mich, einmal lange Zeit die Geschicke eines gewissen Pablo — ich lernte ihn nur mit dem Vornamen kennen — mit brennender Neugier verfolgt zu haben, eines reichen spanischen Lebemannes, der, nachdem er eine Reihe von Ehen im Stil des Don Juan Tenorio zerrüttet hatte, spät noch ein schönes, sehr geliebtes Mädchen heimführte, um sich dann am eigenen Herde von ihr sagen zu lassen, sie werde ihm niemals angehören, weil sie einen anderen liebe, was er als Sühne für seine früheren Verschuldungen hinnehmen mußte. Eigentlich war jedoch die Stunde des Kämmens zugleich die des Unterrichts, zu dem die Briefe nur ein schmackhaftes Beigericht bildeten. Mama hatte frühzeitig begonnen, mich in fremde Literaturen einzuführen, aber nicht an der Hand eines Lehrbuchs — eine Literaturgeschichte gab es im ganzen Hause nicht —, sondern indem sie französische und italienische Dichter mit mir in der Ursprache las. Von den Franzosen genoß Voltaire ihre große Vorliebe, er gehörte zu ihrem täglichen Umgang, denn der Geist der französischen Aufklärung war ja der Mutterboden der Revolutionsideale. Kritisch waren wir alle beide nicht, so genossen wir zunächst die Voltaireschen Dramen der Reihe nach. Wir freuten uns, die geliebten Züge der griechischen Mythe hier wiederzufinden, und nahmen den schematischen Aufbau, die schattenhaften Gestalten und die gestelzten Alexandriner als das Gegebene in den Kauf. Nachdem die Tragödien Voltaires erledigt waren, ging es unter beiderseitigem Ergötzen an seine Romane. Wiederum ein etwas fragwürdiger Lesestoff für eine Zwölfjährige, der mit anderen Fragwürdigkeiten so hinuntergeschlungen wurde. Als ich einmal erwachsen den „Candide“ wieder las, besann ich mich vergeblich, wie sich wohl damals die Abenteuer der Mademoiselle Cunégonde und die Betrachtungen des Doktors Pangloß in meinem Kinderkopfe dargestellt haben mögen. Wodurch hatte es dieser Schriftsteller, der dem großen Friedrich der schönste Geist aller Zeiten deuchte, auch meiner Mutter so sehr angetan? Sie muß wohl in der erhabenen Einfalt seines „Candide“, seines „Ingénu“ ein Stück von sich selber wiedergefunden haben. Daß die Anstößigkeiten nicht plump und deutlich im Raume stehen, sondern nur als sprachliche Schöpfungen vorhanden sind, nahm ihnen für sie alles Bedenkliches. Sie gab sich aber von ihrem literarischen Geschmack keine Rechenschaft, sie folgte nur ihrer angeborenen feinen Witterung. Voltaires unerreichter Prosastil, die geniale Art, wie er das Zeitwort verwendet, diesen springenden Muskel der Sprache, der so viel sinnfälliges Leben gibt, die feine Komik seiner homerischen Wiederholungen und der drollige Gebrauch, den er von der französischen Vorliebe für die Antithese macht, das alles genoß ich dann doch erst in späteren Jahren beim Wiederlesen mit vollem Bewußtsein. Man beschäftigte sich übrigens nicht allein mit französischer Literatur, auch die Komödien Goldonis wurden auf diese Weise durchgenommen, die freilich beim Lesen nicht zu ihrem Rechte kommen. Ein andermal verlegten wir uns auf Huttens „Epistolae virorum obscurorum“, denn von irgendeinem geregelten Lehrplan war gar keine Rede. Während ich las, bearbeitete Mama mit einem großzahnigen Striegel meine Mähne, wobei sie mit ihrem gewohnten Ungestüm verfuhr und mir manchen Schmerzensschrei entlockte. Wenn zufällig mein Vater ins Zimmer trat, so suchte er ihr klarzumachen, wie man den Schopf mit der einen Hand fassen und mit der anderen schonend den Kamm durchziehen müsse. Aber die Ungeduld lief immer gleich wieder mit ihr davon.

Zur Begütigung erlaubte sie mir zuweilen, ihre schöne messingbeschlagene Schatulle herbeizuholen und in den alten Liebesbriefen zu wühlen, die ihr in Jugendtagen geschrieben worden waren. Da erbauten mich vor allem die Episteln eines 48er Flüchtlings namens Elias, dessen leidenschaftliche Überspanntheit ganz nahe an Geistesstörung grenzte. Einmal schrieb er, wenn sie je der Sache der Freiheit untreu würde, um einen Standesgenossen zu heiraten, so würde er das Exil brechen, um sie mit eigener Hand zu erdolchen. Dieser arme Elias mit dem so gut zu dem Namen passenden Prophetenton wurde zu einer heiteren Märchengestalt meiner Jugend, und oft schilderte ich ihn meiner Mutter, wie er auf feurigem Wagen rotdurchleuchtet und flammenhaarig daherkam, um sie zu holen. Einer seiner letzten Briefe schloß mit den Worten: „Legt’s Haupt heldenhaft hin, Ehre gibt’s nur drüben überm Tode. Hinweg den Blick!“ Wenn ich diese Stelle mit possenhaftem Pathos vorlas, so riß mich mein Mütterlein wohl entrüstet am Zopf, den sie eben flocht, aber sie konnte sich doch nicht erwehren, mitzulachen.

Besagte Schatulle verbarg außer den Briefen noch andere Kostbarkeiten, wovon uns Kindern keine so merkwürdig war wie das Rote Album, der tollste Nachklang des Jahres 1848.

Ein Zeitgenosse weist darauf hin, daß das „tolle Jahr“ sich in der überlebenden Vorstellung als ein Zeitpunkt lustigen Wahns festgesetzt habe und daß diese falsche Auffassung aus dem geraden Gegenteil einer heiteren Täuschung, aus der hoffnungslosen Selbstironie der besten und tapfersten Achtundvierziger entsprungen sei. Von diesem Galgenhumor der Revolution gab es vielleicht kein schlagenderes Beweisstück als das Rote Album meiner Mutter. Mit seinem grellroten Einband und noch röteren Inhalt, mit roter Tinte auf rotes Papier geschrieben, war es der „Bürgerin Brunnow“ im Jahr 1849 als ein Angebinde der Demokratie überreicht worden. Die verschiedenen Handschriften und die zum Teil ganz unorthographische Schreibweise sollten den Eindruck erwecken, als ob Parteigenossen von allen Bildungsstufen sich an der Widmung beteiligt hätten. In Wahrheit hatte das Büchlein nur einen Verfasser, den begabten Philologen Adolf Bacmeister, denselben, dem einst mein fünfjähriges Herz gehört hatte. Er war einer von den tiefgründigen Schwabensöhnen, die anderwärts als Zierde eines Stammes geehrt würden, für die aber das enge Heimatland keine Verwendung fand. Seine achtundvierziger Vergangenheit verschloß ihm die akademische Laufbahn, zu der er geboren war, und er konnte lange Zeit nicht einmal die bescheidenste Anstellung im Schulfach finden. Nahe an den Dreißigen erhielt er endlich das armselige Amt eines „Kollaborators“ (vom Volke Kohlenbrater benannt) in einer Kleinstadt, schleppte sich dann zehn Jahre lang mit einem Präzeptorat, bis ihn ein Ruf an die Augsburger Allgemeine Zeitung aus der Acht erlöste. Durch seine Übersetzungen mittelhochdeutscher Dichtungen und seine „Allemannischen Wanderungen“, eine geistreiche Studie über die Herkunft deutscher Ortsnamen, hat er sich auch literarisch bekannt gemacht.

In dem Roten Album nun war die phantastische Zeitstimmung mit den Einzelheiten und den Anspielungen, die damals jedermann verstand, in Vers und Prosa niedergeschlagen. Da tönte die alte, in unseren Jugendtagen schon verschollene Weise:

Wenn die Fürsten fragen:

Lebt der Hecker noch?

Sollt ihr ihnen sagen:

Hecker, der lebt hoch!

Aber nicht am Galgen,

Nicht an einem Strick,

Sondern an der Spitze

Deutscher Republik.

Ein Proletarier schrieb:

Weil das Freilein es gewollen hapent, daß ich in den Alpus schreiben soll, so will ich es eben dun:

I ka’ keine Versle mache,

I verstand et selle Sache,

Drum ruf i mit wildem Blick:

Hurra hoch die Rebolik.

Ein Pennäler, der als „Uldimus in der 2ten Glaß“ zeichnet, verewigte sich durch den kurzen Spruch:

Hecker, Struwe, Ziz und Blum,

Kommt und bringt die Breißen um!

Übrigens wird auch die eigene Partei nicht geschont. Da spricht ein Tübinger Referendar vom Balkon der Aula herab zu der Volksversammlung: Aus jedem Tropfen Blute Robert Blums muß ein Märtyrer für die Freiheit erstehen. Ich bin ein solcher Tropf. Seid ihr auch solche Tropfen? (Schwäbisch für Tröpfe gebraucht.) Chor der Bürger und Studenten: Ja!

Auch vor der Empfängerin selbst macht der tolle Humor nicht halt. In mannigfaltigen Zeichnungen wird sie dargestellt, bald in rasendem Tanz um den Freiheitsbaum, bald als Amazone in Wehr und Waffen, bald im blutroten Rock, von den Truthähnen des Dorfes verfolgt. In einem Roman „Die Königin und der Ipsergeselle“ erscheint sie als Hauptperson, und in der blutrünstigen Tragödie  „Der Tyrann“ stirbt sie als freiheitliebende Prinzessin Billburalia an der Seite des geliebten Handwerksburschen auf der Barrikade.

Das Rote Album war vor allem das Entzücken meiner Brüder, die es auswendig wußten und stets im Munde führten. Edgar verfaßte noch in Mannesjahren, als wir in Florenz lebten, einmal zu Mamas Geburtstag ein Seitenstück dazu, das zwar an Geist und komischer Kraft das erste bei weitem übertraf, aber gleichwohl keinen solchen Erfolg mehr erzielen konnte, weil es nur persönliches Erzeugnis und nicht, wie jenes, der Ausdruck einer Zeitstimmung war.