Ein Urteilsspruch

Bret Harte

Autorisierte Uebersetzung

Dritte Auflage

Auf der Bolinasebene erhob sich der Wind. Er trieb den feinen Staub die gerade Poststraße entlang, so daß sogar diese – die einzige Unterbrechung in der Einförmigkeit der Landschaft – noch weniger als sonst erkennbar war. Aber die Staubwolken boten anderweitig auch eine Abwechslung: Sie schufen Gebilde ferner Wälder und Herden, wo es weder einen Baumstamm noch irgend ein lebendes Wesen gab. Und als Susi Beasley an diesem Nachmittag im Thorweg ihres Hauses stand, welches den Namen ›zur Quelle‹ trug, und ihre blonden Wimpern mit der kleinen roten Hand beschattend, den öden Weg entlang blickte, wurden sogar ihre, an den trostlosen Anblick gewöhnten Augen ein paarmal getäuscht.

»Suse!«

Es war die Stimme eines Mannes, die aus dem Hause kam. Die Gerufene that, als wenn sie nichts gehört hätte.

»Suse! Was giebt’s denn da zu gaffen?«

Ohne den Kopf zu wenden antwortete sie langsam und verdrossen: »Es war mir, als sähe ich was auf der Poststraße. Aber ‘s ist wieder nichts.«

Die Stimmen beider hatten etwas von der Trübseligkeit und Langweiligkeit der Umgebung. Die der Frau besaß indessen noch einen gewissen Wohllaut, während die des Mannes wie eingerostet klang. Derselbe Unterschied zeigte sich in ihrer äußeren Erscheinung. Ira Beasley war ein eckiger, plumper phlegmatischer und zudem durch Krankheit, eigene Unvorsichtigkeit und seltenes Ungeschick verunstalteter Mensch. Rheumatismus hatte seine Knie verkrümmt und er hinkte auf einem Fuß, weil ihm die Nägel einwuchsen; zwei Finger waren ihm von einer Sense abgeschnitten, und ein Daumen, sowie die Hälfte eines Ohres ihm beim Entladen eines Gewehres weggerissen worden.

Seine Frau dagegen, ein junges, kinderloses Weib von mädchenhaft schlanker Gestalt hatte ein, wenn auch nicht regelmäßiges, so doch durch einen gewissen pikanten Reiz anziehendes Gesicht. Ihr Haar zeigte jene beiden Schattierungen, die man zuweilen bei Blondinen findet und ihre Gesichtsfarbe war jenes Blaßgelb, welches der Aufenthalt in heißer und staubiger Luft hervorbringt.

Sie lebte hier seit Ira ihr in seiner tölpischen Weise aus dem Auswandrerwagen geholfen hatte, in welchem ihre Mutter zwei Wochen vorher gestorben war, und der seinen ersten Halt auf kalifornischem Boden vor Iras Thür machte. Am zweiten Tage ihres Aufenthalts hatte Ira versucht, ihr, während sie Wasser schöpfte, einen Kuß zu rauben, hatte aber statt dessen den Inhalt des Eimers ins Gesicht erhalten, denn das fünfzehnjährige Mädchen wußte sich zu wehren. Am dritten Tage unterhielt sich Ira mit dem Vater über Ansiedlung und den in der Gegend üblichen Betrieb der Landwirtschaft. Am vierten wurde diese Unterhaltung in Gegenwart des Mädchens fortgesetzt, und am fünften gingen alle drei die vier Meilen bis zum Haus des Pfarrers Davis, wo Ira und Susi getraut wurden. Es endete damit der Roman einer Woche, dessen Schauplatz vom Thorweg des Hauses aus mit einem Rundblick zu übersehen war.

Susi war, nach ihrem erfolglosen Ausschauen auf die Straße, wieder auf den Hausflur und an ihre Arbeit gegangen. Als ihr Mann bald darauf das Zimmer verließ, in welchem er an einem zerbrochenen Stuhlbein gebastelt hatte, trieb auch sie irgend etwas an, noch einmal vor die Thür zu treten. Sie setzte die Schüssel, die sie eben wusch, nieder, und ihr Trockentuch über den vollen bloßen Arm gehängt, stellte sie sich an den Thorpfosten und blickte müßig in die Ebene hinaus. Eine walzenförmige Staubwolke schleppte ihre zerrissenen Ränder die Poststraße entlang, erreichte das Haus und hüllte es ein. Als sie weiter wirbelte tauchte etwas daraus hervor, oder ließ sich vielmehr in das niedrige Gesträuch fallen, welches die Quelle umgab. Es war ein Mann.

»Also doch! – Ich wußte ja, es war jemand,« begann sie laut, hielt aber aus irgend welchem Grunde sogleich wieder inne. Dann drehte sie um und begab sich nach der inneren Thür, durch welche ihr Mann verschwunden war – hier blieb sie indessen wieder unentschlossen stehen. Plötzlich ging sie auf die Straße und direkt nach der Quelle. Als sie diese erreichte, erhob sich die Gestalt eines dort kauernden, staubbedeckten Mannes scheu aus den Sträuchern. Sie erschrak nicht, denn der Ankömmling schien gänzlich erschöpft, und ein sonderbares Gemisch von Furcht, Unschlüssigkeit und Bitte lag in seiner gebrochenen Stimme als er keuchte:

»Erbarmen Sie sich! – Verstecken Sie mich irgendwo! Nur für kurze Zeit. – Ich werde verfolgt! – Sie sind mir dicht auf den Fersen. Jeder Ort genügt bis sie vorüber sind! Erzähle Ihnen alles später. Schnell, schnell! Haben Sie Mitleid mit mir!«

In all diesem lag nichts Theatralisches, aber auch nichts, was sie beunruhigt hätte; die Gefahr, welche dem Mann drohte, schien auch nicht sehr nahe. Er sah nicht aus wie ein Pferdedieb oder ein Verbrecher. Ein bitteres Lächeln umspielte seinen Mund, wie wenn es seinen Stolz verletzte, gezwungen zu sein, in diesem Augenblick die Hülfe eines Weibes anrufen zu müssen.

Sie warf einen schnellen Blick nach dem Hause.

Er folgte ihren Augen und bat ängstlich: »Verraten Sie mich nicht. Daß mich ja niemand sieht. Mein Leben ist in Ihrer Hand.«

»Kommen Sie! Hier, auf diese Seite,« flüsterte sie plötzlich.

Er verstand und glitt neben sie; halb kriechend, halb sich wie ein Hund hinter ihre Röcke schmiegend, hielt er sich stets so, daß ihre Gestalt sich zwischen ihm und dem Hause befand. Sie schritt langsam nach der kaum fünfzig Meter fernen Scheune. Dort öffnete sie rasch das kleine Pförtchen und sagte: »Da hinein – oben hinauf – unter das Heu.« Dann schloß sie die Thür wieder und wandte sich zum Gehen, als ein leises Klopfen des Mannes sie veranlaßte noch einmal zu öffnen. – »Was wollen Sie?« fragte sie ungeduldig. – »Möchte Ihnen nur gern noch sagen,« zischelte er hastig, »es war ein Mann, der ein Weib beschimpfte, und, sehen Sie, da …«

Das plötzliche Schließen der Thür schnitt jedes weitere Wort ab. Der Flüchtling hatte einen Mißgriff gethan, er hätte ein fremdes Weib nicht erwähnen sollen. Doch der augenblickliche Unwillen auf dem Gesicht Susis verschwand so schnell, als er sich gezeigt hatte; ohne das geringste Zeichen von Erregung schritt sie ruhig durch die Vorderthür nach dem Zimmer, wo sie ihren Mann beschäftigt fand den Stuhl auszubessern. Er hatte sie augenscheinlich nicht vermißt, und sie kehrte ruhig zu ihrem Geschirrwaschen zurück. Hatte sie aber vorher dem Anschein nach ihre Arbeit unaufmerksam und zerstreut verrichtet, so that sie jetzt, nun ihre Gedanken wirklich ganz wo anders weilten, alles unwillkürlich mit großem Bedacht. Vorsichtig hielt sie eine Schüssel in die Höhe, untersuchte dieselbe genau nach fehlerhaften Stellen, rieb sie sorgsam mit dem Trockentuch, und sah doch die ganze Zeit nur den Mann vor sich, den sie in der Scheune versteckt hatte. Einige Augenblicke vergingen, dann traf ein neuer Windstoß das Haus; eine Staubwolke trieb an der Hausthür vorüber, Hufgeklapper und ein kurzer Ruf ließen sich hören. Der Mann war schneller an der Hausthür als sie. Vor derselben hielten zwei bewaffnete Reiter, von denen Ira den einen als den Stellvertreter des Sheriffs erkannte.

»Ist nicht eben jemand hier gewesen?« fragte dieser scharf.

»Nein.«

»Auch niemand vorbeigegangen?«

»Nein! Was giebt’s denn?«

»Einer von den Cirkus-Leuten hat Ted Dudley gestern abend beim Monte in Dolores Spielhaus erstochen und ist diesen Morgen entkommen. Wir jagten ihm nach bis hier in die Ebene, aber in diesem verdammten Staub haben wir ihn verloren.«

»Je nun, meine Frau dachte eben erst, sie hätte was gesehen,« sagte Ira. »War’s nicht so, Suse?« wandte er sich nach dem Hausflur.

»Warum zum Teufel, konntet Ihr das nicht gleich sagen?« schnaubte der Sheriff.

Susi trat in die Thür.

Beide Reiter lüfteten sofort artig ihre Hüte und lächelten verbindlich, als Susi vortrat. Eine schwache Röte färbte ihre bleichen Wangen und ein heller Glanz leuchtete in ihren Augen; sie sah merkwürdig hübsch aus. Sogar Ira war davon betroffen. In seiner jahrelangen Ehe war ihm das niemals aufgefallen.

Die junge Frau schritt dicht an die Reiter heran. Das Handtuch, welches sie um ihre roten Hände und Vorderarme geschlungen hatte, ließ die entblößten, gerundeten, weißen Ellbogen und Oberarme in reizendem Kontrast erscheinen. Sie blickte ernst an den sie dreist bewundernden Gesichtern vorüber. »Es war irgendwo da drüben,« sagte sie verdrossen, wobei sie in die der Scheune entgegengesetzte Richtung der Straße deutete, »aber ich bin nicht sicher, ob es wirklich jemand war.«

»Dann wäre der Kerl schon bei dem Hause vorbei gewesen, bevor Sie ihn sahen?« forschte der Beamte.

»So scheint es – wenn es der Kerl war,« entgegnete Susi.

»Da müßte er tüchtig gesprungen sein,« meinte der Sheriff, »aber freilich, er rennt wie ein Hirsch, es ist ja sein Gewerbe.«

»Was für ein Gewerbe?«

»Akrobat.«

»Was ist das?«

Die beiden Männer wollten sich ausschütten vor Lachen über diese entzückende Einfalt. »Nun, ein Mann, der im Cirkus mit Zentnern spielt, der springt und klettert wie’n Affe und auf den Händen ebenso schnell läuft wie auf den Füßen.«

»Aber läuft, springt und klettert er denn da nicht in diesem Augenblick immer weiter von Ihnen fort?« fragte sie mit reizender Schalkhaftigkeit.

Der Sheriff lächelte und setzte sich wieder im Sattel fest. »Ja, Sie haben recht, wir müssen fort, wenn wir ihn einholen wollen, ehe er Lowville erreicht. Bis dahin ist die Fläche so öde, daß keine Maus ihr Loch verlassen könnte, ohne auf eine Meile weit von uns erkannt zu werden. Adieu!« Die Worte waren an Ira gerichtet, der Abschieds blick aber galt der hübschen Frau, als die beiden Männer fortgaloppierten.

Eine sonderbare Unruhe erfaßte Ira, weil er plötzlich die Schönheit seiner Frau erkannte, welche eine so sichtliche Wirkung auf die beiden Männer ausgeübt hatte. Finster schritt er in das Haus zurück, laut vor sich hinschimpfend: »Na, ihr werdet nicht viel fangen, wenn ihr, statt den Verbrecher zu verfolgen, Weiber angafft und die Zeit vertändelt;« als aber Susi ihm mit von Verachtung und Hohn funkelnden Augen beipflichtete: »Ja, das meine ich auch,« da klärte sich sein Gesicht wieder auf; doch sagte er bissig: »Ja siehst du, das ist so das richtige schofle Beamten-Gesindel unsers gelobten freien Landes, und um solches Pack zu besolden, müssen wir unsre Steuern bezahlen!«

Beide gingen hierauf wieder an ihre Arbeit.

Eine Zeitlang herrschte die tiefste Stille, nur manchmal wurde ein leises Klirren hörbar, wenn die Frau einen Teller dem vor ihr befindlichen Haufen zufügte, obwohl ihre Hände sicher waren und kein Beben verrieten. Endlich ließ sich Susis Stimme wieder vernehmen.

»Möchte doch wissen, ob die Polizisten noch was fangen werden. Ich hätte eigentlich Lust, ihnen nachzugehen.«

Diese Worte trieben Ira an die Thür, denn sie verursachten ihm Unruhe. Es lag durchaus nicht in seiner Absicht seine Frau einem neuen Zusammentreffen mit jenen Menschen auszusetzen. »Ja, ich bin auch neugierig,« sagte er, »aber ich will lieber selbst gehen, es ist besser, du bleibst zu Haus und besorgst die Wirtschaft.«

Ihre Augen leuchteten auf, während sie einen Stoß Teller nach dem Geschirrschrank trug. Vielleicht hatte sie diesen Vorschlag ihres Mannes voraus gesehen. »Gut, thu das!« willigte sie freundlich ein, »du hast mehr Zeit und kannst weiter gehen wie ich.«

Ira dachte nach. Wenn er blieb, konnte er auch die Reiter ihrer Wege schicken, falls es ihnen einfallen sollte abermals vorzusprechen. Schließlich aber nahm er sein Gewehr vom Nagel, ergriff seinen Hut und schlenderte gesenkten Hauptes schwerfällig auf die Straße. Susi beobachtete ihn, bis er ein Stück weg war, dann flog sie nach der Hinterthür. Nur einen Augenblick blieb sie vor einem kleinen Wandspiegel stehen und betrachtete ihr Gesicht – doch ohne etwas von ihrer neu erblühten Schönheit zu entdecken – dann lief sie nach der Scheune. Noch einen Blick warf sie zurück auf die sich in der Ferne verlierende Gestalt ihres Mannes, dann schlüpfte sie in die Thür, welche sie rasch hinter sich schloß. Zuerst verwirrte sie die Dunkelheit nach der blendenden Helle draußen, bald aber erkannte sie einen, mit schmutzigem Wasser halb gefüllten Eimer und nasses Stroh auf dem Boden daneben. Nach oben blickend entdeckte sie auf dem Heuboden auch den Flüchtling, der bis zum Gürtel unbekleidet, aus dem losen Heu auftauchte, in welchem er sich offenbar getrocknet hatte. War es nun die Aufregung über seine gefährliche Lage, oder war es das vollkommene Ebenmaß seines nackten Oberkörpers, das ihm die kalte Idealität einer Statue verlieh, genug sie empfand bei dem Anblick nichts Anstößiges; und der Mann, der gewöhnt war, sich dem Publikum in Tricots und Flittern zu zeigen, fühlte erst recht keine Scham.

»Habe mir nur den Staub etwas abgewaschen,« sagte er hastig; »bin in einer Sekunde unten.« Wirklich hatte er im nächsten Augenblick sein Hemd und die Flanelljacke angelegt, und schwang sich mit solcher Anmut und Geschicklichkeit herab, daß er ihr wie ein junger Gott erschien, als sie ihm gegenüber stand.

Mit dem von Staub und Schmutz gereinigten Gesicht und den an der niedrigen Stirn klebenden nassen Locken war er eine jener männlichen Schönheiten, wie man sie häufig in seinem Beruf findet – nicht intelligent, nicht edel und nicht einmal mutig – aber davon verstand sie nichts. Von plötzlicher Schüchternheit befallen, erzählte sie ihm doch kurz, daß seine Verfolger dagewesen und weitergeritten seien.

Er runzelte die Stirn. »Dann kann ich nicht fort, bis sie wieder zurück sind,« sagte er, ohne sie anzusehen. »Könnten Sie mich nicht heute abend hier behalten?«

»Ja,« erwiderte sie so einfach, als wenn sie selbst das schon überlegt hätte; »aber Sie müssen im Heu liegen.«

»Und könnten Sie vielleicht« – er stockte – »Sehen Sie, – ich habe seit gestern abend nichts gegessen – wär’s Ihnen möglich –«

Sie nickte bereitwillig. »Ich werde Ihnen etwas bringen.«

»Und hätten Sie wohl« – fuhr er noch zögernder fort und blickte dabei an seinem zerrissenen abgetragenen Anzug herab – so was wie einen Rock, oder irgend ein anderes Kleidungsstück? Das würde mich unkenntlich machen, sehen Sie, und die Verfolger von meiner Spur abbringen.«

Sie nickte wieder, auch das war ihr schon eingefallen; es gab da ein Paar Lederhosen und ein Sammet-Jackett, Sachen, die ein mexikanischer Vaquero zurückgelassen, der vor zwei Jahren von ihnen Hornvieh gekaufte hatte. Als echtes Weib hatte sie gleich daran gedacht, daß der Fremde in dem Sammet-Jackett noch viel schöner aussehen würde.

»Haben die Leute« – fragte er zögernd und scheu – »haben sie von mir gesprochen?«

»Ja,« antwortete sie zerstreut, während sie ihn anblickte.

»Sehen Sie, ich will Ihnen erzählen, wie es zuging –«

»Nein, lassen Sie das!« wehrte sie rasch ab. Und es war ihr Ernst. Sie wünschte nichts von einer Schuld zu hören, die sich zwischen sie und diesen einzigen Roman ihres Lebens stellte. »Ich muß fort und die Sachen holen, bevor er heimkehrt.« Damit wandte sie sich zum Gehen.

»Er! Wer ist er

Sie war im Begriff ›Mein Mann‹ zu antworten, doch ohne selber zu wissen warum, stockte sie und sagte: »Herr Beasley.« Dann lief sie eilig nach dem Hause.

Sie suchte den Anzug des Vaquero hervor, nahm Eßwaren, füllte eine Flasche mit Branntwein und lief glückselig damit in die Scheune. Das Herz klopfte ihr wie einem Schulmädchen; sie unterdrückte sogar nur mühsam das jubelnde ›Da!‹ als sie ihm ihre Schätze einhändigte. Er dankte ihr, aber seine Blicke waren dabei auf die Lebensmittel gerichtet. Mit einem ihr bisher unbekannten Zartgefühl verstand sie ihn. »Ich werde wiederkommen, wenn Herr Beasley zurück ist,« sagte sie, lief fort, und überließ ihn seiner Mahlzeit.

Inzwischen hatte ihr Mann, als er langsam auf der Straße dahin schlenderte, die Katastrophe, die er zu vermeiden wünschte, beschleunigt. Seine gebeugte Gestalt, welche sich auf dieser öden Ebene scharf gegen den Horizont abhob, war nämlich die einzige gewesen, welche der Sheriff und der ihn begleitende Polizist entdeckt hatten, und erst, als sie bis auf etwa fünfzig Meter heran gestürmt waren, erkannten sie ihren Irrtum. Sie benutzten diesen Umstand gern als Vorwand, den Ritt bis Lowville aufzugeben, zumal es ihnen nicht mehr recht glaublich erscheinen wollte, daß der Flüchtling so weit gekommen sein könnte. Er lag vielleicht in diesem Augenblick verborgen hinter dichten Büscheln des struppigen Grases, beobachtete sie und wartete nur auf die Nacht, um sich aus dem Staube zu machen. Das Haus Beasleys schien der geeignetste Platz, die weit übersehbare Fläche im Auge zu behalten und als der Sheriff dies Ira mitteilte und derselbe ein sehr wenig erbautes Gesicht dazu machte, schrie er ihn halb ernst, halb scherzhaft an: »Wissen Sie, als bewaffnete Macht habe ich das Recht zu verlangen, daß Sie mir bei der Ausführung des Gesetzes Beistand leisten; aber ich bin nicht der Mann, mit meinen Freunden so rauh zu verfahren und denke, ich werde es dabei bewenden lassen, vorläufig nur Ihr Haus für die Zwecke des Gerichtes zu requirieren.« Das schreckliche Bewußtsein, daß der Sheriff die Macht hatte ihn und den Polizisten fortzuschicken, um die Ebene zu durchstreifen, während derselbe in Susis Gesellschaft zurückblieb, brachte jeden weiteren Einwand zum Schweigen. Wenn er sie doch nur hätte entfernen können, so lange der Beamte im Hause war – aber sein nächster Nachbar wohnte fünf Meilen weit! Es blieb ihm nichts übrig, als mit den Leuten umzukehren und seine Frau scharf zu bewachen. Wunderbarerweise lag darin ein gewisser Sporn, der seine trägen Pulsschläge anfeuerte und der nicht ohne einen gewissen Reiz war. Es giebt Naturen, für die eine neu erwachte Eifersucht eine Wiedergeburt der Liebe ist.

Als sie in das Haus traten, schien ein geringfügiger Umstand, der vor einer Stunde seiner langsamen Wahrnehmung kaum bemerkbar gewesen wäre, seine Befürchtungen zu bestätigen. Susi hatte Kragen und Manschetten gewechselt, ihre grobe Schürze abgebunden und sich das Haar frisch gemacht. In Verbindung mit dem erhöhten Glanz ihrer Augen, der ihm schon vorhin aufgefallen war, bestärkte ihn dies in dem Verdacht, daß sie das alles in Erwartung der Rückkehr des Sheriffs gethan hätte. Daß dieser von ihrer Anmut gefesselt und bezaubert war, sprang in die Augen, und obgleich sie ihn jetzt, als er schon so früh wiederkam, durchaus nicht freundlich begrüßte, lag doch eine Art Gezwungenheit und Zurückhaltung in ihrem Benehmen, die wohl Koketterie sein konnte. Ira hatte solches Wesen flüchtig bei andern jungen Frauen beobachtet, es aber während seines kurzen Bräutigamstandes niemals selbst erlebt. Er hatte keinen Nebenbuhler gehabt und keine Kunst oder besondere Umgarnung war nötig gewesen das mutterlose Mädchen zu fangen. Es war ihm, sozusagen, aus dem väterlichen Wagen in die Arme gesprungen und niemals war seitdem ein Mann zwischen sie getreten. Der Gedanke, Susi könnte sich um irgend einen andern Mann außer ihm kümmern, war seiner redlichen, gelassenen und nüchternen Natur einfach unverständlich. Er hätte nicht mehr erstaunt sein können, wenn die Blesse und die Schecke, die er mit seinem eigenen Gelde gekauft oder selber aufgezogen hatte, plötzlich eine Neigung entwickelt hätten, ihre Milch einem Nachbar zu geben, nur daß er die Kühe mit einem Strick ohne Herzeleid hätte zurück bringen können!

In höheren Kreisen beschränkt sich der Ausdruck des Schmerzes über eine Verirrung solcher Art, wie Ira sie bei seinem Weibe zu erkennen glaubte, meist auf spitze Anspielungen und kalte Höflichkeit; die Eifersucht des bäurischen Ira äußerte sich aber in dumpfer Betäubung und stummem Brüten. Ruhelos schlich er im Zimmer bald hierhin, bald dorthin, wobei seine Lahmheit mehr als gewöhnlich auffiel; wie gebrochen ließ er sich auf einen Stuhl sinken, gequält von der Anwesenheit eines Menschen, dessen Art mit seiner Frau zu verkehren ihm ein Dorn im Auge war. Träumend saß er da und wartete – ja, auf was eigentlich? – Das wußte er selbst nicht. Die Atmosphäre des kleinen Hauses schien ihm mit einer ungesunden Elektrizität überladen. Sie blitzte in den Augen seines Weibes, und stachelte den Sheriff und seinen Begleiter zu plumpen Scherzen an, während er selbst sich wie gelähmt fühlte und seine Finger sich krampfhaft in den Stuhl krallten. Er war nur noch imstande, den einen Gedanken fest zu halten, daß er seine Frau beschäftigen müsse, um sie den dreisten Blicken und der leichtfertigen Unterhaltung der beiden zu entziehen. Deshalb sagte er: »Suse, unsere Gäste werden Hunger und Durst haben, bringe doch was;« gleichzeitig humpelte er nach dem Eckschrank. Dort kramte er herum und brummte: »Wo ist denn der Branntwein hin?«

Susi zeigte keine Verlegenheit. Sie warf nur trotzig den Kopf etwas auf. »Ich will den Männern Kaffee kochen und Eierkuchen backen; wenn sie damit nicht zufrieden sind, müssen sie eben nach der nächsten Schenke gehen.«

Diese ganz ungewohnt dreiste Sprache seiner Frau und ihre Absicht sich in der Küche zu schaffen zu machen, gewährten Ira eine kleine Erleichterung; die Gäste aber hielten ihr beinahe grobes Wesen für Koketterie und schienen bezaubert davon. Einen Augenblick darauf stand Susi in der Küche, streifte ihre Manschetten ab und ging an die Arbeit. Bald darauf trug sie auf einem Theebrett den dampfenden Kaffee und die Eierkuchen ins Zimmer. Da weder sie noch ihr Mann etwas genossen und sich still verhielten (vielleicht, weil beide mit ihren Gedanken beschäftigt waren) so wandten die Gäste ihre ganze Aufmerksamkeit dem Mahle zu. Die Sonne näherte sich schon dem Horizont und obwohl ihre flachen Strahlen dem Absuchen der weiten Fläche noch günstig waren, die Dämmerung aber dem bald ein Ende machen mußte, so schienen die Polizisten doch immer noch nicht an den Aufbruch zu denken. Dadurch entstand eine neue Schwierigkeit für Ira: die Kühe mußten gefüttert und dazu das Futter aus der Scheune geholt werden; entfernte er sich, um diese Arbeit zu besorgen, dann blieben die beiden mit seiner Frau allein. Vielleicht erriet Susi die Gedanken ihres Mannes; jedenfalls erbot sie sich unbefangen, die Kühe zu füttern. Ira frohlockte; aber nicht lange, denn der Sheriff bot ihr galant seine Hilfe an. Dieser Aufdringlichkeit zeigte sich jedoch Susis bäurische Einfalt gewachsen. »Wenn ich mich erbiete, Iras Arbeit zu besorgen,« sagte sie mit herausfordernder Schelmerei, »so thue ich das nur deshalb, weil ich denke, er wird sich nützlicher machen, wenn er Ihnen hilft, Ihren Verbrecher zu fangen, als Sie es thäten, wollte ich Ihre Hilfe bei den Kühen annehmen! Also macht alle drei daß Ihr fortkommt, ich werde schon allein fertig.« Diese Derbheit brachte den Sheriff zur Besinnung und ließ ihm keine Wahl, als Iras Hilfe anzunehmen. Ob die Frau Gewissensbisse fühlte, als ihr Mann den Beamten nachhinkte, und ihr noch einen dankbaren Blick zuwarf, weiß ich nicht; sie stand an der Hausthür und sah ihnen frohlockend nach.

Dann ergriff sie rasch die reinen Manschetten, zog dieselben an, während sie aus der Hinterthür schlüpfte und eilte nach der Scheune. Der Flüchtling erwartete sie mit Bangigkeit und empfing sie in seiner Ungeduld ziemlich barsch: »Dachte, Sie würden sich gar nicht mehr sehen lassen!«

Hastig erklärte sie ihm, was sie zurückgehalten hatte und zeigte ihm durch die halb geöffnete Pforte die drei Männer, die getrennt, der untergehenden Sonne entgegen, über die Ebene schritten. Die Sonnenstrahlen trafen auch ihren schwer atmenden Busen, das rötliche Haar, den frischen Mund und die kurze sommersprossige Oberlippe. Der Verbrecher wandte sich beruhigt von den drei sich immer weiter entfernenden Gestalten zu der neben ihm Stehenden und bemerkte jetzt zum erstenmal, daß sie hübsch war. Er sah sie freundlich an, sie errötete und strahlte. Darauf begann er ihr zu danken und sprach dann in ruhmrediger Weise von sich; er wurde immer prahlerischer, je mehr die Männer seinem Blick entschwanden. Sie hörte ihm zu, aber mit ihrem mädchenhaften Gesicht folgte sie leuchtenden Blickes mehr seinen lebhaften Bewegungen als seinen Worten. Wessen er sich rühmte und was er ihr alles über seine Erfolge als Künstler und sein unruhiges bewegtes Leben erzählte brauchen wir nicht zu wissen; auch sie verlor nichts, wenn sie es nicht verstand. Ihr war es genug, daß sie fühlte, sie hatte den herrlichsten unter allen Männern der Welt gefunden, und durfte ihn in diesem Augenblick gegen die ganze Welt beschützen! Sein Erscheinen war ein Lichtblick in ihrem einförmigen Dasein; sie sah in ihm den Gefährten, den ihre Kindheit stets entbehrt, den Geliebten, von dem sie nie geträumt hatte. Wenn sie seine wunderbaren Erlebnisse nicht begreifen konnte, so lag das nur an ihr; wenn sie seinen, sich widersprechenden Darstellungen nicht zu folgen vermochte, so trug ihre Unwissenheit die Schuld; wenn ihr seine rohe Redeweise nicht verständlich war, so kam das, weil dies wohl die Sprache jener großen, schönen Welt sein mochte, die ihr bisher verschlossen geblieben war. Dieser Welt gehörten auch die herrlichen Glieder an, welche sie bewunderte; da gab es keine rheumatische Verzerrung, keine abscheuliche Verkrüppelung wie bei ihrem Ehemann, keinen stutzerhaften Anzug wie ihn der Sheriff trug.

Auf dem Heuboden beisammen sitzend, auf den sie zur größeren Sicherheit gestiegen waren, vergaßen beide alles um sich her, er, im Eifer seiner unverschämten Aufschneiderei, und sie, während sie ihm mit bewunderndem Lächeln und Aeußerungen des Staunens lauschte. Der harzige Geruch der erhitzten Dachschindeln dicht über ihren Köpfen mischte sich mit dem Kleeduft in dem eingeschlossenen Raum. Die Sonne ging unter, der Wind legte sich, aber sie beachteten es nicht. Endlich fielen der Frau ihre Kühe ein, sie sagte: »ich muß jetzt gehen,« und stand auf. Da aber ergriff er ihre Hand, umfaßte ihre Taille, und versuchte ihr ins Gesicht zu sehen, welches sie niederbeugte als wollte sie es im Heu verbergen. Es war ein kurzer Kampf, der jedoch in einer ebenso schnellen Ergebung endigte; ihre Lippen fanden sich in einem langen Kuß. –

»Suse! wo steckst du denn?«

Es war ihr Mann. Sein Ruf klang aus der Dunkelheit herauf, von deren Eintreten sie nichts bemerkt hatten. Der Flüchtling schleuderte die Frau zur Seite mit einer Roheit, die sie für den Augenblick mehr bestürzt machte als die Stimme ihres Mannes. (Sie würde demselben in den Armen des Geliebten entgegen getreten sein, – verwandelt und verherrlicht – wenn er sie darin behalten hätte.) Trotzdem antwortete sie im ruhigsten Ton, so daß ihr Liebhaber sie erstaunt ansah: »Hier bin ich, ich komme gerade herunter!« und ging an die Leiter. Als sie nach dem Hause blickte, sah sie ihren Mann mit dem Sheriff auf dem Hof stehen; schnell kehrte sie zurück, legte den Finger auf die Lippen und deutete durch ein Zeichen ihrem Schützling an, wieder unter das Heu zu kriechen. Dann wandte sie sich zum Gehen; er aber, vielleicht durch ihre Ruhe beschämt, ergriff fest ihre Hand und flüsterte: »Komm wieder, Schätzchen, wirst du?« Sie zögerte, hob plötzlich ihre Hand an die Lippen, und sich schnell freimachend, schlüpfte sie die Leiter hinab.

»Na, viel Arbeit hast du nicht gethan, wie mir scheint,« sagte Ira müde. »Die Kühe warten, daß sie schon die Köpfe über die Hürde hängen.«

»Die gelbe Henne, die wir gesucht haben, sitzt oben auf dem Heuboden und brütet,« entgegnete Susi, »sie darf nicht gestört werden, wir müssen das Heu heute abend vom Schober nehmen. Und,« fügte sie schelmisch zu den Polizisten gewandt hinzu, »da ich merke, daß Sie beide auch nicht viel gethan haben, können Sie meinem Mann helfen, wie er Ihnen geholfen hat.«

Da sie die drei Männer alle mit der gleichen dreisten Heiterkeit bei der Arbeit anstellte, war dieselbe bald gethan, besonders da der Sheriff keine Gelegenheit fand, abgesondert mit der jungen Frau zu schäkern. Sie verschloß im Vorbeigehen die Thür der Scheune und alle schritten nach dem Hause, wobei sie nebenher erfuhr, daß der Sheriff die Verfolgung vorläufig aufgegeben habe, und mit seinem Begleiter die Nacht in der Küche auf der Erde zubringen würde; erst am nächsten Morgen wolle er weiter. Diese Mitteilung schien, wie Ira zu bemerken glaubte, die Heiterkeit seiner Frau noch zu erhöhen; sein düsteres Gesicht nahm einen noch grimmigeren Ausdruck an. Er fand erst wieder einige Erleichterung, als Susi zur Bereitung des Abendbrods in die Küche gegangen war. Als sie es aufgetragen hatte, suchte er Betäubung im Whisky, den sie brachte und in Erinnerung ihrer früheren Ungastlichkeit dem Sheriff mit drolliger Zerknirschung sogar aufnötigte, indem sie sagte: »Nun ich weiß, daß es nicht der Whisky allein war, weswegen Sie hier vorsprachen, will ich Ihnen auch zeigen, daß ich einen ganz guten Kellner abgeben kann.« Sie streifte sich eifrig die Aermel so weit herauf, daß die rundlichen Arme sichtbar wurden, begann einen Grog zu mischen und ahmte hierbei die Gewandtheit eines feinen Kellners in so reizender Weise nach, daß ihre Gäste vor Vergnügen und Lachen sich schüttelten. Selbst Ira war betroffen über diesen jugendlichen Uebermut, der unter den fünfjährigen Haushaltssorgen wohl geschlummert hatte, aber nicht ertötet worden war. Er vergaß, daß er ein Kind geheiratet hatte.

Indessen das war nicht das Einzige, womit sie an diesem Abend seine Verwunderung erregte. In grellstem Widerspruch mit dem Ausbruch ihrer mädchenhaften Ausgelassenheit, fiel ihm die plötzliche Veränderung ihrer Züge auf, als er einen Blick erhaschte, den sie nach der auf dem Kaminsims stehenden alten Uhr warf. Da sah er plötzlich ein völlig verändertes Gesicht, ein älteres, finster vor sich hinstierendes, dessen Ausdruck ihm das Herz erkältete. Das da war nicht seine Suse, sondern eine andere, die, wie es seiner krankhaften Reizbarkeit erschien, sich qualvoll vor einer fremden Gewalt wehrte.

Doch wieder fand er eine augenblickliche Beruhigung als Susi erklärte, sie wäre müde und wolle schlafen gehen, wobei sie scherzend behauptete, daran wäre der Branntwein schuld, den sie getrunken zu haben vorgab. Als sie sich zurückgezogen hatte, wickelte sich auch der Sheriff, der seinen sauertöpfischen Wirt wenig nach seinem Geschmack fand, in die Decken, für welche die junge Frau gesorgt hatte, und streckte sich vor das Küchenfeuer auf die Erde. Der Polizist folgte seinem Beispiel. Bald lag das Haus in tiefem Schlaf, mit Ausnahme von Ira, der allein vor den verlöschenden Kohlen seines Herdes saß, den Kopf auf die Brust gesunken und mit den Händen die Armlehnen des Stuhles umklammernd.

Mit gesteigerter, krankhaft erregter Einbildung und mit jener Schärfe, die in einem ungeübten Denkvermögen mit Schlaffheit abwechselt, suchte er seine Lage zu erfassen. Der gesunde Verstand, der ihn bisher im Leben geleitet hatte, sagte ihm, daß der Sheriff morgen sein Haus wieder verlassen müsse, und daß in der Koketterie seiner Frau eigentlich nichts lag, was nicht mit der Veranlassung dazu schwinden würde. Aber es fiel ihm immer wieder ein, daß sie diese Koketterie während ihres kurzen Brautstandes ihm gegenüber niemals entfaltet hatte, daß sie noch niemals so ausgesehen oder sich so gezeigt hatte wie jetzt. Wenn das Liebe war, so hatte sie solche bisher noch nicht gekannt; war es aber nur die so anziehend wirkende Weiberart, von welcher er andere Männer hatte reden hören, warum hatte sie dann die nicht auch bei ihm angewendet? Er dachte an seine nüchterne Hochzeit, die Braut ohne Schüchternheit, ohne Erröten, ohne irgend welche Erwartung, außer der, ihr Vaterhaus mit dem seinen zu vertauschen. Würde es mit einem andern Bräutigam anders gewesen sein? – mit dem Sheriff z. B., der auf ihr Gesicht so viel Farbe und Leben gezaubert hatte? Was bedeutete das alles? Waren alle verheirateten Leute so? – Da waren die Westons, ihre Nachbarn – war Frau Weston so wie Suse? Aber da fiel ihm ein, Frau Weston hatte sich von ihrem Mann entführen lassen. Das war eben eine Liebesheirat gewesen, wie die Leute es nannten. Würde Suse sich von ihm haben entführen lassen? Würde sie sich jetzt von – –?

Die Gläser klirrten, als er plötzlich von Zorn erfaßt aufsprang. Er goß hastig noch ein Glas Whisky herunter; er schmeckte wie Wasser. Sein Feuer erlosch in der größeren Hitze seines Blutes. Da befiel ihn eine ganz neue, unerklärliche Schüchternheit; er dachte an das sonderbare, ungewöhnliche Wesen und Aussehen seiner Frau. Es schien ihm auf einmal, als wenn der Einfluß des nebenan schlafenden Fremden ihn nicht allein von ihr getrennt hätte, sondern daß er auch infolge dieses Einflusses nicht mehr ihr Schlafzimmer betreten könne, ohne sich damit einer Anmaßung und eines unbefugten Eindringens in ihre Geheimnisse schuldig zu machen. Er mußte bei der offenen Küchenthür vorüber. Der Kopf des ahnungslosen Sheriffs lag dicht vor Iras schwerem Stiefel. Er brauchte nur den Absatz zu heben, um das von Jugendkraft strotzende, verhaßte, hübsche Gesicht zu zermalmen. An ihm vorüber eilte er die knarrende Treppe hinauf. Seine Frau, das Gesicht halb in dem aufgelösten, weichen Haar verborgen, lag still auf einer Seite. Es war gut so, denn bei der ihn beherrschenden unerklärlichen Befangenheit, war ihm, als würde er doch nicht haben mit ihr sprechen können, ohne all den schrecklichen gestaltlosen Dingen Ausdruck zu geben, an denen er glaubte, ersticken zu müssen. Leise schlich er nach der andern Seite des Bettes und begann sich auszukleiden. Als er die Stiefel und Strümpfe auszog, fiel sein Blick auf seine nackten, mißgestalteten Füße. Dies veranlaßte ihn, seine verstümmelte Hand zu betrachten, aufzustehen, sich nach dem Spiegel zu schleichen und sein zerrissenes Ohr anzusehen. Sie, jene zierlich geformte Frau, die dort lag, mußte dies oft gesehen und dabei gedacht haben, daß er nicht war wie andre Männer – nicht wie der Sheriff mit seinen knappen Reitstiefeln, seiner weichen Hand und dem Diamantring, der recht gewöhnlich an seinem dicken, kleinen Finger funkelte! Der kalte Schweiß brach ihm aus. Er zog seine Strümpfe wieder an, hob die äußere Steppdecke und kroch halb angekleidet darunter, die Ecke um seine verstümmelte Hand hüllend, als wollte er sie dem Licht entziehen. Doch er bemerkte, daß er alles undeutlich sah; auf seinen Wangen und an seinen Augenlidern war eine Feuchtigkeit, für die er keine Erklärung fand; es mußte wohl der Whisky sein, der heraus wollte.

Seine Frau lag ganz still; sie schien kaum zu atmen. Wie, wenn sie nun niemals wieder atmete, sondern starb als seine alte Suse, als das lange, hagere Mädchen, das er geheiratet hatte, unverändert und unbefleckt? Es würde besser sein für sie und ihn! Doch im selben Augenblick stand ihr Bild vor ihm, wie sie so schelmisch, mit lachenden Augen den feinen Kellner spielte, – alles so neu, so wunderbar für ihn! – Er versuchte auf das träge Ticken der Uhr zu hören, auf den Zugwind, der manchmal durch das Haus fuhr und auf die, tiefen Seufzern ähnliche Luftbewegung, welche die unartikulierte Sprache der einsamen Ebene war, und die sich deutlich von der Abendbrise unterschied. Er hatte sie oft vernommen, aber gleich so vielen Dingen, die er an diesem Tage erfahren, schien er ihre Bedeutung nie erfaßt zu haben. Dann – es kam vielleicht von seiner Lage auf dem Rücken, oder von der Menge des Whiskys, die er allmählich genossen – schien sich alles um ihn zu drehen. Aus dem kreisenden Durcheinander versuchte er etwas festzuhalten; es waren Stimmen, welche ihm zuzurufen schienen: »Erwache!« darüber aber sank er in tiefen Schlaf.

Die Uhr tickte, der Wind seufzte, die Frau an seiner Seite schien fest zu schlafen.

Der Sheriff lag, schrecklich schnarchend, auf der Küchendiele. Endlich erwachte er, reckte und streckte sich. Die Branntweindünste waren verflogen, doch die Zunge klebte ihm am Gaumen, er hatte Durst und empfand das Verlangen nach Wasser und frischer Luft. Er richtete sich auf, rieb sich die Augen und blickte umher. Wasser war nicht vorhanden. Nun, er wußte ja die Quelle; an ihr zu trinken, aus der heißen Küche in die frische Luft zu treten, mußte ein Labsal sein. Er gähnte, zog leise die Stiefel an, öffnete die Hinterthür und trat hinaus. Es war noch dunkel, nur oben und ringsum am ganzen Himmelsgewölbe glitzerten die Sterne. Rechts war undeutlich die Scheune zu erkennen, links lag die Quelle. Er erreichte sie, kniete nieder, trank, wusch sich Gesicht und Hände, und stand erfrischt wieder auf. Der trockene, gesunde Hauch, der über die Ebene blies, that das Uebrige. Langsam ging er zurück. Die einzige Erinnerung an das abendliche Zechgelage bildete seine hübsche Wirtin. Ein vergnügtes Lächeln spielte um seinen Mund. Wie sie ihn angeblickt, und ihm schalkhaft den Trank kredenzt hatte, die kleine Hexe! – Pah, kein Wunder! Was konnte ihr auch der sauertöpfische, jämmerliche, plumpe Kerl sein? Er, der Sheriff dagegen hatte sich stets eines gewissen Erfolges bei dem schönen Geschlecht zu erfreuen gehabt.

Am Hause wieder angelangt, stutzte er plötzlich. Durch die trockenen, staubigen Kräuterdünste der Ebene, durch den Duft des frischen Heues in der Scheune, drang deutlich noch ein andrer Geruch hindurch – er kam von einer Pfeife. Aber woher? War es sein Wirt, der aufgestanden war, um Luft zu schöpfen, wie er? Dann aber fiel ihm ein, daß Beasley gar nicht rauchte und ebensowenig der Polizist. Der Geruch schien aus der Scheune zu kommen. Wäre er seinem ersten Antrieb gefolgt, so würde vielleicht alles gut gewesen sein, aber in diesem Augenblick bemerkte er etwas, was sein Interesse noch viel mehr in Anspruch nahm; Frau Beasley, angethan mit Tuch und Kapotte, trat soeben aus dem Hause. Er drückte sich sogleich in den Schatten und hielt den Atem an, als sie rasch nach der Scheune hinüber schlüpfte und in der halb geöffneten Thür derselben verschwand. Glaubte sie ihn dort zu finden? Es durchschauerte ihn und sein blonder Schnurrbart verzog sich zu einem Lächeln gespanntester Erwartung. Es war sein letztes Lächeln, denn als er nach der Thüre schritt, zerriß plötzlich der flimmernde Himmel um ihn her in tausend glitzernde Fetzen, die Erde wich unter seinen Füßen, jählings schlug er zu Boden. Ein Schuß hatte ihm die Hälfte seiner Hirnschale weggerissen.

Ohne einen Aufschrei war er zusammengesunken, nur die Finger der rechten Hand suchten noch einen Augenblick konvulsivisch nach der Waffe an seiner Seite. Dann lag er still, das Gesicht auf der Erde; kein Zucken verriet mehr Leben. Nur sein Blut floß langsam, eine helle, rote Lache um ihn bildend, bis es sich allmählich verdickte und verdunkelte, und endlich erstarrend nichts als einen braunen Fleck auf der Erde zurückließ.

Dem echolosen Knall des Schusses folgte einen Augenblick Totenstille, dann – ein eiliges Rascheln in der Scheune – das Öffnen einer Luke auf dem Heuboden – der Ton hastiger Fußtritte. Hierauf blieb wieder eine Zeitlang alles still, bis plötzlich durch die Dunkelheit, gedämpft vom Staub der Straße schnell sich entfernende Hufschläge hörbar wurden. In dem schlafenden Haus aber nicht ein Laut, nicht eine Bewegung.

Langsam verblaßten endlich die Sterne, der Horizont wurde wieder sichtbar – ein dünner Streifen schimmernden Glanzes. – Ein einsamer Vogel zwitscherte in dem Gebüsch neben der Quelle. Da wurde die Hinterthür des Hauses geöffnet; der Polizist trat verschlafen, aber mit der Eile eines Verspäteten hinaus und schritt über den Hof. Seine Augen schweiften dabei nach seinem Vorgesetzten suchend umher, bis er stolperte und über die kalte, starre Leiche fiel. Als er wieder auf den Füßen stand, warf er einen schnellen Blick um sich, trat an die halboffene Thür der Scheune und sah auf die mit zertretenem Heu bestreute Tenne. In einer Ecke lag die zerlumpte Bluse und die Hose des Flüchtlings, welche er augenblicklich erkannte. Er ging wieder in das Haus und kehrte mit Ira zurück, der bleich, betäubt und völlig verwirrt zu sein schien; klar war allein nur seine Aussage, daß seine Frau soeben bei der Nachricht des Unglücks ohnmächtig geworden wäre und noch bewußtlos im Schlafzimmer läge. Der Beamte, ein beschränkter, aber thätiger Mann, verstand alles. Das Geheimnis war ihm sonnenklar ohne alle weiteren Zeugenaussagen. Der Sheriff war erwacht, als der Flüchtling, um ein Pferd zu stehlen, beim Hause herumstrich. Er war hinausgegangen und ihm begegnet. Iras Gewehr, welches in der Küche gestanden und welches der Sheriff ergriffen hatte, war ihm entrungen und gegen ihn selbst gebraucht worden und der zwiefache Mörder auf dem Pferde des Sheriffs entkommen, denn dasselbe war verschwunden. Das war ganz sicher der wahre Sachverhalt. Wie hätte es anders sein sollen! Und durchdrungen davon übergab der Polizist dem zitternden Ira die Leiche und galoppierte nach Lowville um Beistand zu holen.

Diese Thatsachen wurden bei der noch am selben Tag stattfindenden Totenschau zu Protokoll genommen. Der Bericht des Beamten erschien so einleuchtend, daß es einer weiteren Untersuchung nicht bedurfte. Da der Berichterstatter, zugleich der einzige Gefährte des Ermordeten, zu ebener Erde geschlafen und weder den Schuß noch das Geräusch eines Kampfes vernommen hatte, war es erklärlich, daß das Paar oben im Zimmer nichts gehört hatte. Der kaum mehr zurechnungsfähige Ira wurde nach einigen Fragen geringschätzig aufgegeben, und von der Vernehmung einer hysterischen Frau, welche der Schreck aufs Krankenlager geworfen hatte, nahm die ritterliche kalifornische Jury Abstand. Um Mittag war die Totenschau beendet und die Leiche entfernt. Die langen Nachmittagsschatten legten sich über die weite, öde Fläche und das stille Haus. Als die Nacht einbrach, erschien Ira kurze Zeit an der Hausthür und blickte sinnend die staubige Straße entlang. Später wurde er noch von zwei Arbeitern bemerkt, die sich neugierig die Mordstätte betrachteten und ihn wie einen Schatten in der Dunkelheit vor seinem Thorweg sitzen sahen. Eine berittene Patrouille erblickte in der Nacht Licht im Fenster des Zimmers, wo die kranke Frau Beasley lag. Fortan aber sah sie niemand mehr. Später erklärte Ira, sie wäre bei einer Verwandten, wo sie bleiben würde, bis sie wieder ganz gesund wäre. Da das Ehepaar wenig Freunde und noch weniger Nachbarn hatte, wurde Susi nicht vermißt; und sogar bei dem Polizisten, der sich an jenem verhängnisvollen Abend an dem kurzen Glanz ihrer Schönheit und Munterkeit so sehr erfreut hatte, war sie über dem Suchen nach dem Mörder ganz und gar in Vergessenheit geraten. So gewöhnten sich allmählich die Leute daran, zu sehen, wie der einsame Mann bei Tage im Felde arbeitete und am späten Abend unabänderlich vor seinem Thorweg saß und in die Ferne starrte. Nach Ablauf eines Vierteljahres hatte er den Beinamen: ›Der Einsiedler der Bolinasebene‹, und schließlich erinnerte sich niemand mehr, daß er jemals etwas anderes gewesen war.

Aber die Justiz, welche zu jener Zeit geneigt war, bei den Angelegenheiten gewöhnlicher Sterblicher ein Auge zuzudrücken, zeigte sich durchaus wach, wenn es sich um Vergehen gegen ihre eigenen Offizianten handelte. Als daher eines Tages der damalige Begleiter des ermordeten Sheriffs den Mörder in einer Straße von Marysville erkannte, nahm er ihn sogleich fest und brachte ihn nach Lowville. Hier aber beschlich den braven Beamten der bescheidene Zweifel, ob das Bezirksgericht, das er am Orte repräsentierte, auch imstande sein würde, einen Fall, der sich nur auf Indizienbeweise stützte, richtig zu behandeln. Er überwand seinen Amtsstolz und ließ dem Sicherheitsausschuß des Ortes einen Wink zukommen. Dieser bemächtigte sich darauf des Gefangenen, trotz der Weigerung des Beamten, denselben herauszugeben. Es war die Regenzeit und die Geschäfte gingen flau. Die Bürger von Lowville hatten daher vollauf Zeit, dem Fall, der soviel Redens von sich gemacht hatte, ihre vollste Aufmerksamkeit zu schenken und auf das Vergnügen zu warten, zum Schluß den Delinquenten hängen zu sehen: denn keiner zweifelte, daß dies das Ende sein würde.

Aber sie irrten sich. Denn, als der Polizeibeamte seine Zeugenaussage abgegeben hatte, welche aller Welt schon bekannt war, entstand eine Störung unter der Zuhörerschaft. Der Einsiedler der Bolinasebene hinkte mühsam in den Sitzungssaal. Augenscheinlich hatte er den Weg zu Fuß gemacht, denn er war schmutzbedeckt, vom Regen durchweicht, völlig erschöpft und beinahe sprachlos. Die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich ihm in erhöhtem Maße zu, als er nach der Zeugenbank humpelte und dort den Polizisten zur Seite drängte. Einige lachten, wurden aber rasch vom Gerichtshof zur Ruhe gewiesen.

»Ist Ihnen der Gefangene bekannt?« fragte der Richter.

Ira Beasley betrachtete das blasse Gesicht des Akrobaten und schüttelte den Kopf.

»Hab’ ihn mein Lebtag nicht gesehen,« antwortete er schwach.

»Was wollen Sie dann hier?« zürnte der Richter. Ira stand mit ersichtlicher Anstrengung schwerfällig auf. Zuerst netzte er seine trockenen Lippen, dann sprach er langsam und deutlich: »Weil ich es bin, der den Stellvertreter des Sheriffs von Bolinas erschoß.«

Die Bewegung, welche durch den überfüllten Saal lief und die Erleichterung, welche ihm sein Geständnis gewährte, verliehen ihm Kraft und eine gewisse Würde.

»Ich tötete ihn,« fuhr er ruhig fort, indem er mit der Starrheit einer Wachsfigur in den Kreis der gespannt lauschenden Zuhörer hineinblickte, »ich tötete ihn, weil er mit meiner Frau liebelte. Ich tötete ihn, weil er mit ihr durchgehen wollte. Ich tötete ihn, weil ich sah, wie er in der Stille der Nacht, als sie aus dem Bett aufgestanden war, um mit ihm zusammen zu treffen, an der Scheunenthür auf sie wartete. Er hatte kein Gewehr. Es fand kein Kampf statt. Ich tötete ihn von hinten. Dieser Mann,« dabei deutete er auf den Gefangenen »hatte gar nichts damit zu schaffen.« Er hielt inne, öffnete seinen Rock, entblößte seinen Hals und sagte: »Nun führt mich raus und hängt mich!«

»Welchen Beweis haben wir für die Wahrheit Ihrer Aussage? Wo ist Ihre Frau? Wird sie bestätigen, was Sie sagen?«

Ein leichtes Beben durchflog seine Gestalt. »Sie lief in jener Nacht fort und kehrte nie wieder zurück. Vielleicht,« fügte er langsam hinzu, »weil sie ihn liebte und mich nicht mehr ausstehen konnte, vielleicht, wie ich mir manchmal gern einrede, that sie es, weil sie nicht gegen mich zeugen wollte.«

Durch die Stille, welche Iras Worten folgte, drang das Flüstern des gefangenen Akrobaten mit einem neben ihm sitzenden Mann der Jury. Sodann stand er auf. Ganz im Gegensatz zu der Bescheidenheit Iras klangen Dreistigkeit und Frechheit aus seiner Stimme, und sich in eine theatralische Positur werfend, sagte der Schurke mit Pathos:

»Es ist wahr! – Nachdem ich das Pferd genommen hatte, da ich es zu meiner Flucht bedurfte, traf ich die weinende Frau, welche schreiend wie eine Wahnsinnige die Straße entlang lief. Zuerst glaubte ich, sie hätte den Schuß gethan. Es war für mich ein kitzliges Ding, Ihr Herren; aber ich hob sie auf das Pferd und brachte sie nach Lowville. In meiner Lage war das Wagnis groß, aber ich kümmerte mich nicht darum. Es war ein Weib – – und – na, man ist doch nicht von Stein!«

Er spielte so vortrefflich den edelmütigen selbstlosen Mann, als er diese unverschämte Lüge erzählte, daß die Jury zum ersten Mal einen günstigen Eindruck von ihm gewann. Und als Ira Beasley über den Saal hinkte, ihm seine verstümmelte Hand entgegen streckte und sagte: »Gieb mir die Hand,« entstand abermals Totenstille.

Dieselbe wurde durch den Richter unterbrochen, welcher sich an den Polizisten wandte.

»Was wissen Sie von den Aufmerksamkeiten des Sheriffs gegen Frau Beasley? Waren sie derart, daß sie die Eifersucht des Mannes rechtfertigten?«

Der Polizist überlegte; er war ein einfacher Mann, der wohl wußte, was seines Amtes war, darüber hinaus aber ging sein Horizont nicht. Er erinnerte sich der Bewunderung des Sheriffs für die Frau, und wie ihm dieselbe besonders aufgefallen war, als am Abend die niedliche Wirtin sie beide durch ihr drolliges und schalkhaftes Wesen ergötzte. Er war seinem toten Vorgesetzten treu; aber er blickte in die Höhe und blickte wieder herunter und sagte langsam und fast wie trotzig: »Nun, Herr Richter, er war eben doch ein Mann!« –

Alle lachten.

Daß die wunderbarste, gewaltigste aller menschlichen Leidenschaften stets Heiterkeit erregt, wenn öffentlich auf sie angespielt wird, ist eine der Widersinnigkeiten der menschlichen Natur, welcher sogar ein Lynchrichter Rechnung tragen muß. Er machte keinen Versuch das Lachen des Gerichtshofes zu hindern, denn er fühlte, daß die tragische Stimmung desselben unwiderruflich verloren war. Als wieder Stille eingetreten war, stand der Obmann der Jury auf und flüsterte mit dem Richter. Darauf sprach dieser:

»Der Gefangene und sein Entlastungszeuge sind beide freigesprochen. Der Gefangene hat die Stadt binnen 24 Stunden zu verlassen. Der Zeuge wird auf Kosten und mit dem Dank der Jury nach Hause gebracht.«

Man sagt, eines Nachmittags, als der nebelartige, gleichförmig über die durchweichte Bolinasebene hernieder rieselnde Regen einmal ausgesetzt hatte, wäre eine hagere, verblühte Frau, deren Kleidung die Spuren langen Wanderns zeigte, aus einem Frachtwagen gestiegen, der vor dem Thorweg anhielt, in welchem Ira saß. Man sagt, dieser wäre hinausgetreten, hätte die Frau in seine Arme geschlossen und »Suse!« gerufen, und sie hätten seitdem stets glücklich zusammen gelebt. Dieses Glück aber, sagt man – und das ist es, was der Bestätigung bedarf – ist hauptsächlich dadurch begründet, daß Susi ihrem Mann immer von neuem das heroische Opfer vorhält, welches sie brachte, als sie verschwand, um nicht gegen ihn zeugen zu müssen, ihm immer wieder ihre edelmütige Vergebung seines zwecklosen Verbrechens ins Gedächtnis zurückruft und ihn an die Dankbarkeit erinnert, die er dem Flüchtling schuldet.