EIN SOMMER
Von Anna Schieber
Ob die Himmelreichsgasse ihren Namen mit Recht oder mit Unrecht trage, darüber gingen die Ansichten auseinander.
Die da meinten, er soll besagen, es sei ein himmlisches Leben und Aufenthalt daselbst, die schüttelten ärgerlich und enttäuscht den Kopf, wenn sie die niedrigen, rauchigen Häuser sahen, die rechts und links von dem ausgetretenen Pflaster standen und die Last ihrer spitzen Giebel trugen.
Wer aber die steil ansteigende Gasse als einen Weg ins Himmelreich betrachten wollte, räumlich angesehen, der gab wenigstens zu, daß das obere Ende demselben ein gut Stück näher sei als das untere. Und das ist in dieser unhimmlischen Welt auch nicht nichts.
Die letzten, obersten Häuser, zu denen noch eine Flucht von Staffeln emporführte, stießen dicht an den Wald an.
Von dessen Rand aus konnte man einen weiten Blick, ein ordentliches Auge voll tun über Erd’ und Himmel hin. Unten lag der alte Marktflecken, von einem kleinen Fluß durchzogen, von steil ansteigenden Höhen sorglich umschirmt. Hier oben war es still, friedlich und weit.
Es war doch nicht ganz ohne mit der Himmelreichsgasse.
Die stieg an einem schönen Junitage ein junges Fräulein empor. Es trug in der einen Hand einen zusammengeklappten Feldsessel, zwischen dessen Tragbändern ein hellgrauer Schirm stak, in der anderen einen schwarzen Kasten mit blitzendem Metallgriff, über dessen Zweck und Inhalt sich die Bewohner der Himmelreichsgasse vergeblich den Kopf zerbrachen. Mit aufmerksamen Augen studierte das Fräulein im Hinansteigen die Inschriften der Hausschilder, die Auslagen der Metzger- und Bäckerläden, die Blumenbretter vor den Fenstern und die Schwalbennester an den Balkenvorsprüngen.
Die Hausnummern sah sie auch prüfend an. Aber da sie dabei rüstig weiterschritt, so wagte sie niemand anzureden mit der Frage, die auf jedem Gesicht stand, wohin sie wolle, und etwa noch, warum?
Es war gegen Abend. Auf dem Pflaster spielte die Jugend, vor den Häusern standen Mütter mit den kleinsten Kindern auf dem Arme, vor der Schmiede stand ein Fuhrmann mit seinem Gaul, und der Schmied trat mit dem glühenden Eisen an der Zange unter die Tür. Es war ein belebtes Bild, das Fräulein sah mit lebendigen Augen um sich.
Vor der Tür des letzten Hauses ganz oben links, blieb sie stehen, besah sich die Nummer, nickte zustimmend, klinkte an dem schwarzen eisernen Griff der Haustüre, sah, als diese verschlossen war, zu den niederliegenden Fenstern des Erdgeschosses hinein und schüttelte den Kopf, als auch da kein lebendes Wesen zu entdecken war. Da sah sie hinter dem Bänklein unter dem Ahorn, der das niedrige Haus beschattete, ein Kindergesicht hervorlugen und blitzschnell wieder verschwinden. Nur ein blonder, borstiger Haarschopf guckte noch hervor. Dem ging sie nach. Mit einem leichten, geschickten Griff zog sie den widerstrebenden, kleinen Buben aus seinem Schlupfwinkel, stellte ihn vor sich hin und sagte: »Nun sag mir einmal, du Bürschchen, gehörst du in das Haus da?« Der Kleine nickte nur und steckte alsdann den Daumen in den Mund. Nur die Augen sprachen weiter; sie sagten: »Ich weiß gut, wer du bist. Du bist das Fräulein, das die obere Stube gemietet hat und unser Sommergast werden will.« Aber diese Augensprache war dem Fräulein nicht genug. »Warum ist das Haus geschlossen? Wo sind deine Eltern?« fragte sie. »Du gehörst doch dem Schuhmacher Notacker?« Das war ein bißchen viel auf einmal gefragt. Es brauchte schon eine Weile, bis die ganze Antwort herauskam. »Das Haus schließt man, wenn man aufs Feld geht. Aber der Schlüssel liegt hinter dem Schuhabkratzer. Der Vater trägt geflickte Stiefel fort, und die Mutter ist auf dem Rübenacker. Die drei Kleinen hat sie mit.« »Die drei Kleinen? Ja, wie alt bist du denn?« Das wußte der Bub nicht so genau anzugeben, wohl aber, daß er Gottfried heiße und in zwei Jahren in die Schule komme. Ferner, daß er ein Sonntagsgewand im Schrank hängen habe und auf den Winter eine Pelzkappe mit Ohrlappen besitze. Als Gottfried mit diesen Berichten fertig war, kam von unten her ein Mann, der zum Zeichen, daß er etwas sehr Merkwürdiges sehe, fortwährend mit der linken Hand seine Mütze hin und her rückte und nun auch anfing, seine Schritte zu beschleunigen. »Da ist das Fräulein,« sagte er, als er da war. »Da ist sie nun, und das Haus geschlossen, und kein Mensch zum Empfang da. Das ist eine schöne Geschichte, das hätte nicht sein sollen.« Man brauchte es einem nicht zu sagen, daß der Mann ein Schuhmacher sei. Er trug eine grüne Schürze mit einer gelben Metallkette als Schloß, trug die Hemdärmel aufgekrempelt und hatte an Händen und Armen deutliche Pechüberreste. Er roch auch stark nach Leder. Er habe ein gutes, ernsthaftes, etwas gedrücktes Gesicht, dachte das Fräulein. »Das tut ja nichts,« sagte sie. »Wenn man nicht genau angibt, wenn man kommt, so kann man auch nicht erwarten, daß man empfangen wird. Zudem hat mich der Gottfried schon ganz gut unterhalten.« Der Bub lachte so ein wenig bei diesem Bericht und der Vater sagte: »Da muß es das Fräulein gut mit den Kindern können, wenn er das getan hat. Denn er ist sonst scheu und ganz stumm vor Fremden, so gut sein Mundwerk läuft, wenn er daheim und unter uns Eigenen ist.« Er schloß die Haustür auf und geleitete das Fräulein die steile, halbdunkle und ausgetretene Treppe hinauf in den Oberstock, wo unter dem spitzen Dachgiebel ein einziges Stüblein eingeklemmt lag. Das Fremdenzimmer. Es war mit Liebe und Stolz eingerichtet, das sah man sofort. Mit allem guten Willen, das Möglichste an Eleganz aufzubringen. Das sagte sich das Fräulein, als ihm jeglicher Mangel an gutem Geschmack empfindlich auf die Nerven ging. Sie beschloß, das Angenehme daran herauszufinden. Das fiel ihr auch nicht schwer, als sie zum offenen Fenster hinaus die Aussicht sah. »Wie schön,« sagte sie, »o wie schön!« Der Schuhmacher nahm das Lob auch gleich für die Stube. »Man tut halt sein Möglichstes,« sagte er. »Wenn’s dem Fräulein nur bei uns gefallen wird. Es wär uns eine Freude.« »Das wird es, das wird es schon.« Das Fräulein streckte dem Mann plötzlich die Hand hin. »Auf gute Hausgenossenschaft.« Er nahm sie, behutsam, sie war so weiß und fein gegen seine schwielige Schustershand. Es ging ein warmer Strahl über sein bärtiges, ernsthaftes Gesicht. »Jetzt kommt die Mutter,« rief Gottfried, der bisher stumm zugesehen hatte. Drunten knarrte ein Wägelchen, Kinderstimmen wurden laut. Gottfried polterte eilfertig die Treppe hinunter. »Mutter, das Fräulein ist da,« rief er schon von weitem. »Sie hat gesagt, es sei schön bei uns. Sie ist schon droben in ihrer Stube.« »Ich will Ihnen meine Frau schicken,« sagte der Mann, »und wenn Sie einen Wunsch haben, und es ist zu machen, so tut man’s.« Dann ging er auch.
Sie sah sich in ihrer neuen Klause um, als sie allein war. Grelle, blaue Tapeten, buntfarbige Öldrucke darauf, weiße gehäkelte Deckchen auf Tisch und Kommode, ein Stückchen geblumten Teppichs auf dem Fußboden. »Es ist schrecklich, aber es ist gut gemeint; es ist gewiß ihr Stolz. Ich will mir’s nach und nach ein wenig menschlich machen. Was ist das für ein rührend ernsthafter, sorgenvoller Mann. Ich bin begierig, wie die Frau ist.« Das Fräulein fing an, seinen Koffer auszupacken, der schon vorher angekommen war. Und dazwischen hinein ging sie ans Fenster, immer wieder, und sog den Anblick in sich hinein. In langen Zügen tranken ihre Augen die friedliche, liebliche Schönheit des Sommerabends. Das Fenster bot so recht eine Mischung von dem, was sie liebte. Nach rechts hinunter den Blick in die Himmelreichsgasse, wo die Kinder spielten und die Alten vors Haus kamen am Feierabend. Das war ein Stück Menschenleben, einfach, eng begrenzt, aber anheimelnd. Es zog sie an, es war ihr, als müsse sie hier etwas erleben. Gerade mit den Menschen da vor ihren Augen, etwas Gemeinsames, Verbindendes. Aber was? Das würde sich ja zeigen. Das brauchte man gar nicht zu suchen. Gegenüber war kein Haus mehr, da ging der Blick ohne Hindernisse ins Weite. Wie abendstill nun das Tal dalag. Wie dunkel und schweigend die grüne Wand des Tannenwaldes in den dämmerigen, nachtenden Himmel hineinragte! »Kaum zwei Minuten ist’s dahin, wo der Wald anfängt. Da muß ich noch hin, das muß ich alles grüßen und in Besitz nehmen,« sagte das Fräulein zu sich selbst. »Das Auspacken mag warten.« Es ging ein so heimatliches Grüßen aus ihr heraus und um ihre Umgebung herum. Sie war einer von den Menschen, die überall daheim sein können, weil sie es in sich selber sind.
An der Tür wurde geklopft. Die Schustersfrau kam herein. Sie blieb hart an der Tür stehen. »Ich will nicht stören,« sagte sie, »ich hab’ nur dem Fräulein Grüß Gott sagen wollen.« Sie war eine kleine, schmächtige Frau mit zerarbeiteten Zügen und geraden, stillen Augen. »Ja, aber das ist ja natürlich, daß wir uns begrüßen müssen,« sagte das Fräulein lebhaft und trat zu ihr. »Wenn man einen Sommer lang Hausgenossenschaft halten will. Wir wissen ja noch gar nichts von einander, persönliches, mein’ ich. Da war Ihre Anzeige in der Zeitung und meine Anfrage, und Ihre Zusage. Sonst nichts. Sie werden kaum noch meinen Namen wissen? Doch? Solger, Adelheid Solger. Ich will hier kein müßiger Kurgast sein. Ich will zeichnen und malen, und hoffentlich nütze ich meine Zeit gut aus. Es ist gefährlich, wenn es so schön ist um einen herum. Da sitzt man so leicht und macht beide Augen auf, daß alle die Schönheit hinein kann, und vergißt, daß man daran lernen wollte. So wiedergeben Strich um Strich, das ist dann ernsthafte Arbeit. Aber ich hoffe, daß ich den Sommer ausnütze.« Sie unterbrach sich. »Das rede ich Ihnen nun alles vor. Es hat mir oben gesessen, seit ich da zum Fenster hinaussehe: Wenn du nur auch ans Zeug gehst, so in der Freiheit, nun dir niemand den Stundenplan macht.«
»Davon weiß unsereins freilich nichts,« sagte die Frau. »Es ist immer etwas da, das zuerst getan sein muß. Man weiß oft nicht, wo anfangen. Da braucht man sich nicht extra zu besinnen, ob man jetzt will oder nicht.«
Ihr Gesicht blieb ganz ruhig, während sie sprach; ihre Stimme hatte einen tiefen, etwas bedeckten Ton.
»Soll ich jetzt eine Lampe bringen?« fragte sie noch, schon die Türklinke in der Hand. »Das Nachtessen ist auch bald fertig, soll ich das dem Fräulein dann heraufbringen?« »Ja,« sagte das Fräulein, »bis es fertig ist, bin ich wieder hier. Ich gehe noch die paar Schritte bis an den Wald hin, eh’ es ganz dunkel wird. Damit kann ich nicht warten bis morgen.«
Unter der Haustür auf der Schwelle saßen zwei Kinder, verkleinerte Abbilder des Gottfried. Sie waren barfüßig, trotzdem sie Schusterskinder waren, hatten vielfach geflickte Röckchen von Druckkattun an und guckten mit runden, blauen Augen vor sich hin. Aus der offenen Stubentür kam kräftiges Geschrei eines noch kleineren Notackerleins, das von Gottfried im Wagen hin und hergeschoben wurde, und dazwischen hörte man das klopf klopf des Schusterhammers. Das Küchenfeuer warf einen flackernden Schein auf den kleinen Vorplatz. Das Fräulein trat jetzt, von der Treppe herkommend, in seinen Lichtkreis. »Ah,« sagte sie fröhlich, und sog den kräftigen Duft ein, der einer Bratpfanne entstieg, »da gibt’s etwas Gutes. Da freu’ ich mich aufs Wiederkommen.« Die beiden kleinen Buben auf der Schwelle zogen auch die Näschen hoch. Das war ein Duft, den sie kaum kannten. Es war für sie mit dem Fräulein verwoben, nicht mit Unrecht. Was da protzelte, war nicht für die Schelme. Sie sahen sich verlegen an, als der Sommergast an ihnen vorbeischlüpfte. »Bleibet nur sitzen, ihr zwei,« hatte das Fräulein gesagt, »an zwei so kleinen Mäusen komme ich schon noch vorbei.« Da ging sie hin den Waldweg hinauf. Sie kam ihnen sehr groß und sehr schön und sehr vornehm vor. Sie war etwas Neues, etwas Niedagewesenes für das ganze Haus. Und sie gehörte ihnen, aber nur zum Anstaunen. Sie war »unser Fräulein«.
»Also das gibt’s noch,« sagte Adelheid Solger und streckte sich wohlig. »Das gibt’s noch. Das hab’ ich gar nicht mehr gewußt. Seit ich ein Kind war, bin ich nicht mehr im Heu gelegen. Das ist schon lang her. Und nun so. Sehen Sie, Meister Notacker, wie schön es ringsum ist? Sehen Sie’s recht?«
Sie lag lang ausgestreckt auf der abgemähten Wiese, die sich ziemlich steil talwärts zog. Die Hände hatte sie als Kopfkissen in den Nacken geschoben, die Augen gingen mit einem sonnigen Behagen hin und her, blieben in der Weite hängen, kamen wieder in die Nähe zurück und fragten dann eindringlich in den Mann hinein, der auf seinen Rechen gestützt dastand und an einer Antwort arbeitete. Es liege ein Leuchten darin, dachte der. Sie war erst vorhin aus dem Wald gekommen, angeregt von ihrer Arbeit frisch und vergnügt.
»Nun hab’ ich ein Recht, eine Weile zu feiern,« hatte sie gesagt. »Ich war ausbündig fleißig diesen Morgen. Ich muß mich selber ein wenig loben, es ist sonst niemand, der es tut. Und es ist mir nötig, ich brauch’s. Was ist das für eine Welt! Im Wald war’s so dämmerig und hier ist alles voll Sonne.«
Und dann hatte sie die Frage an ihn gestellt. »Sehen Sie, wie schön es um und um ist?« Was sollte er nur darauf sagen?
Sie konnte ja nicht wissen, wie es in ihm aussah, und das war ihr wohl auch nicht wichtig. Aber in ihm lebte ein starker Drang nach allem Schönen hin, der regte sich neu, seit sie da war. Er war weder im Aussprechen noch im Sehen geübt. Und sie war das beides.
Die Sonne lag mit vollem Glanz auf der Landschaft, der Fluß blitzte darin in tausendfältigem Geflimmer, die nachbarlichen Höhen hatten einen dunkelblauen Ton. In der Nähe lagen hellgrüne Kornbreiten, blaue Kornblumen und roter Mohn leuchteten in starken, sicheren Farben daraus hervor. »Ja,« sagte er langsam, »es ist schön – aber,« er stockte. Er hatte noch sagen wollen: »Aber so, wie Sie, seh’ ich’s nicht.« Er sah an ihren Augen, daß es so sei. Aber er verschwieg es. Vielleicht fürchtete er, zu viel zu sagen. Denn das, was sich mit Macht in ihm regte, durfte sie nicht erfahren. Das war ein Neid gegen sie und alle, die so ungehindert, so selbstverständlich in einer Welt lebten, die ihm verschlossen war. Er war ein Schuster gegen seinen Willen. Er wäre gern etwas anderes geworden in seiner Jugend. Irgend etwas, bei dem der Geist die Flügel regen konnte, er wußte es selbst nicht so genau. Lernen hatte er wollen, viel und vielerlei, Bücher lesen, Musik machen, alles, was es nur gab. Aber da war nichts zu machen gewesen.
Er war kein Genie, das sich einen Weg erzwingt, er hatte nur eine durstige Seele, die sich in einem engen Käfig duckte und draußen eine weite Welt ahnte, an der sie nicht teilhaben durfte. So lernte er sein Handwerk, aber verdrossen und unfroh, wie einer, der nicht an seinem Platz ist. Er brachte es nicht weit darin. Das wunderte ihn auch gar nicht. »Warum hab’ ich nichts anderes werden dürfen?« sagte er sich vertrutzt, wenn er sah, wie andere seines Handwerks weiter vorwärts kamen als er. »Ich passe einmal nicht dazu.«
Er hatte es ein wenig vergessen gehabt, daß er so verkürzt sei. Aber nun kam es stärker herauf als je zuvor.
Davon wußte ja das Fräulein nichts. Die war so frisch und lebensfreudig, erzählte so harmlos drauf los von ihrer Welt, die nicht die seine war und nahm die Schönheit der Welt und des Lebens in Besitz, als ob das gar nicht anders sein könne.
»Jetzt habe ich aber lange und geduldig gewartet,« sagte Fräulein Solger und richtete sich auf. »Es kommt wohl keine Fortsetzung mehr auf das Aber. Da erscheint nun der Gottfried und ruft uns zum Essen. Ich hätte so gern wissen wollen, ob’s nur mir allein so schön vorkommt, mir mit meinen Stadtaugen, denen es so golden wohl ist in der Freiheit nach der Enge des Zeichensaales?«
Da gab der Mann dem Rechen und sich selbst einen Ruck. Den Rechen rammte er fest in die Erde, da stand er aufrecht und frei. Aus sich selber heraus sagte er, langsam, als müsse er jedes Wort von unten heraufholen: »Es wird wohl so sein, wie Sie meinen, so schön. Es gibt Leut’, die sehen’s immer. Denen liegt’s in den Augen, die sind dazu gemacht. Die anderen sehen das andere, es ist viel auch nicht schön in der Welt. – Aber heut’ seh’ ich’s auch.« Es war eine Anstrengung gewesen, das alles zu sagen. Der Mann atmete tief auf. Fräulein Solger sah ihn von der Seite an, aufmerksam und nachdenklich. Was mochte hinter dieser Stirn mit den tiefen Querfurchen vorgehen? Gottfried war vollends herangekommen. »Die Mutter wartet schon lang,« sagte er. »Sie sagt, du habest gewiß wieder nicht Zwölfe läuten hören. Und das Fräulein hätt’ ich auch suchen sollen.« »So,« sagte das Fräulein heiter, »im Wald hättest du mich aber lang suchen können. Ich bin im dicksten Dickicht gesessen und habe Baumwurzeln gezeichnet.« Sie klappte ihr Skizzenbuch auf und hielt es dem kleinen Buben vors Gesicht. »Da sieh her. Gefällt dir’s, du?« Gottfried sah ernsthaft auf das Blatt und machte ein kurioses Gesicht. So ein knorriges Zeug? So ein Gewirre? »Nein,« sagt er, ganz kurz und bestimmt. »O du Staatskerl du. Versprichst du mir, daß du deiner Lebtag’ so deutlich sagen willst, was dir gefällt und was nicht?« Fräulein Solger hatte nicht übel Lust, dem Kritiker einen Kuß in sein ernsthaftes Kennergesicht hinein zu geben; aber er sah aus, als ob er ihn wieder wegwischen könnte; sie ließ es. »Wenn ich nach Haus komme, muß ich’s meinem Professor zeigen. Vielleicht gefällt’s dem besser als dir. Aber du darfst zur Belohnung meinen Feldsessel tragen, und heut’ nachmittag darfst du in meine Stube kommen, dann zeig’ ich dir, was dir besser gefällt. Ich habe schon noch Schöneres. Und jetzt marsch marsch. Auf meiner Magenuhr ist’s schon lang Zwölfe vorbei.« Gottfried trabte stolz mit dem Feldsessel voraus. Die zwei anderen folgten. Der Mann hatte auch mit in das Skizzenbuch gesehen, gesagt hatte er nichts. »Wenn Sie dem Buben Bilder zeigen,« hob er nach einer Weile, als sie so nebeneinander hergingen, zögernd an, »am End’ dürft’ ich’s auch sehen. Man sieht auch gern einmal etwas anderes. Und ich, – ich hab’ immer eine Freud’ an so etwas gehabt.« Es kam fast entschuldigend heraus. Die Lust war größer gewesen als der Vorsatz, zu schweigen. Das Fräulein sah aus, als ob ihr eine große Freude widerfahren wäre. Das war auch so. Sie hatte eine so ehrliche, gesunde Freude an ihrem Studium, die wollte sie so gern mit den Menschen, die um sie her waren, teilen. Und wenn sie einen Sinn dafür fand, wo sie ihn nicht vermutet hätte, da begrüßte sie ihn mit der ganzen geraden Herzlichkeit ihres Wesens. »Das ist ja fein,« sagte sie, »das freut mich ja von Herzen, Meister. Wollen wir das heute abend tun? Gleich heut?« Sie nannte ihn immer Meister. Das Wort gefiel ihr so für den einfachen, biederen Mann. Sie hatte bis jetzt immer geglaubt, er gehe in seinem Handwerk auf, und er war so gar kein Herr. Am Ende kannte sie ihn aber doch noch nicht.
Die Frau stand unter der Tür und wartete. Sie schützte die Augen mit der vorgehaltenen Hand vor der Sonne. Ihr Gesicht war so eben und unbeweglich wie immer und mit dem gewohnten ruhigen Ton grüßte sie die Ankommenden. »Das Essen steht schon droben, Fräulein,« sagte sie. »Es ist hoffentlich noch gut. Ich hab’s auf zwölf Uhr gerichtet.«
»Geschieht mir ganz recht, wann ich’s kalt bekomme; ich bin so gar kein pünktlicher Mensch. Erziehen Sie mich nur ein bißchen.« Adelheid Solger hatte immer das Gefühl, als wenn sie diese Frau ein wenig aufheitern, ein wenig froh machen sollte. Aber wie? Sie war wohl auch gar nicht traurig, nur so tonlos, so gleichmäßig still ging sie ihres Weges. Und man wußte nie, was in ihr vorging. »Aber das ist ja vielleicht das allerbeste,« dachte das Fräulein, als es die Treppe hinanstieg und sein Zimmer betrat. »Es ist gar nicht immer gut, wenn man einen so durch und durch sehen kann, wie zum Beispiel mich, die ich keinen Gedanken verbergen kann. Ich will sie nur ruhig ihres Weges gehen lassen. Wenn ich’s nur könnte. Ich kann es ja doch nicht. Einen Tag lang, ja, aber dann muß ich wieder in ihrem Gesicht herumstudieren, und in seinem. Warum bin ich nur so, so menschenhungrig? Warum muß ich an allem teil haben, was um mich herum vorgeht?«
Ihr Tisch war sauber gedeckt. Mit billigem Geschirr und dünnem Tischzeug, wie man es in Warenhäusern um ein Geringes bekommt. Aber alles neu und ganz. »Das ist für mich angeschafft,« dachte sie. »Da sitz’ ich nun allein dabei und ess’ das Beste, was im Haus ist. Es ist mir zuwider. Ich bezahl’s ja, sie verdienen noch ein bißchen dabei. Aber es ist mir doch zuwider. Soll ich ausgehen und im Wirtshaus essen? Dann kränkt’s die Frau, sie tut, was sie kann. Jetzt würde ich wieder ausgelacht, wenn mich meine Freunde sähen. ›Immer rücksichtsvoll,‹ würde Heinz sagen, und spöttisch den Hut ziehen. Ich weiß, was ich möchte. Ich möchte unten mit am Tisch sitzen und mitessen. Ich habe ganz gewöhnlichen Menschenhunger.« Damit beendete sie ihr Selbstgespräch und fing an zu essen. Sie war jung und gesund, es schmeckte ihr trotz allem.
Ein gutes Stückchen hob sie für Gottfried auf, der eilig daherstolperte, kaum daß er den Löffel weggelegt hatte. Er blieb staunend stehen. Das Zimmer war anders, als da das Fräulein einzog. Auf der Kommode stand in einer breiten tiefen Schale ein Waldstrauß, ein duftiges Gewirre von grünen und rötlichen Ranken, langstieligen Glocken und Waldlilien. Die Öldrucke waren von den Wänden verschwunden; ein paar Kreide- und Kohlezeichnungen waren mit Reißnägeln da und dort lose angeheftet, über dem Bett hing an einer roten Schnur ein farbenfreudiges Aquarell. Ein hohes, graues Steinhaus mit einem mächtigen Portal, vergitterten Fenstern im Erdgeschoß und einer heiteren Fensterreihe oben, zwei der Fenster mit Brettern voll brennendroter Geranien davor.
Vor diesem Bild pflanzte sich der kleine Bub auf und guckte es mit großen Augen an. »Siehst du, da bin ich daheim,« sagte das Fräulein und wies auf die Blumenfenster. »Da geh’ ich wieder hin, wenn ich im Herbst fortgehe. Es war einmal ein Schloß und hat einem Grafen gehört. Der ist aber schon lang tot.« »Gehört’s jetzt dir?« fragte Gottfried. »Nein, Bub, so reich bin ich nicht.« Sie lachte. »Da wohn’ ich nur, und außer mir noch viele Leute; fast in jeder Stube jemand anderes. Und in der Mitte ist ein ganz mächtig großer Hausflur, so groß, daß man euer Haus hineinstellen könnte. Da tanzen bei der Nacht die Mäuse.« Gottfried sah unbefriedigt aus. Es paßte ihm nicht, daß dem Fräulein das Haus nicht gehöre und daß bei Nacht die Mäuse darin tanzten. Er hatte mit den Kindern der Himmelreichsgasse schon viel von »unserem Fräulein« gesprochen. Kein Mensch außer ihnen hatte einen Sommergast. Er hätte den anderen gern das Haus gezeigt; die hätten Augen gemacht. Aber wenn’s ihr gar nicht gehörte. Dann konnte man nur gleich still sein. »Ist dein Vater und deine Mutter auch drin?« fragte er. Da machte sie ein sehr ernsthaftes Gesicht. »Ich habe keinen Vater und keine Mutter mehr,« sagte sie. »Schon als ich so groß war wie du, nicht mehr.« Gottfried war immer enttäuschter. »Ja, hast du denn gar niemand?« fragte er. Da überkam das Fräulein wieder »dieser ganz gewöhnliche Menschenhunger«. Sie konnte doch dem kleinen Buben nicht sagen, daß sie zu niemand gehöre, zu gar niemanden. Sie hatte doch so viele Freunde, so einen frohen, belebten, anregenden Kreis. Aber jemand eigenes? »Doch,« sagte sie nach einer kleinen Weile. »Ich habe schon jemand. Es ist fast, wie wenn ich eine Mutter hätte. Oben, ganz da oben, man sieht das Fenster nicht auf dem Bild, es ist auf der anderen Seite, da wohnt sie. Sie kann nicht gehen, sie ist krank. Aber sie ist immer da, wenn ich zu ihr komme. Die hat mich lieb, sie gehört mir.«
Gottfried verstand den Bericht nicht so ganz. Das konnte er ja auch nicht. Das Fräulein hatte ja gar nicht gesagt, wer da oben wohne und fast wie ihre Mutter sei. Sie kam ihm ein klein bißchen weniger erstaunenswert vor, als er wieder die Treppe hinunterging. Sein Vater saß am Schustertisch und flickte einen klaffenden Riß in einen Bauernschuh. Dem konnte er alles erzählen. Er horchte auch hoch auf. »Daß sie am End’ gar nicht zu beneiden wär?« dachte er. »Daß sie auch ihren Schatten hat in ihrem Leben?« Er zog den Pechdraht eifriger durch die Löcher, die die Ahle machte. »Aber sie hat’s doch schön; Herr! wenn man selber so ist, so gescheit und geschickt, und tun kann, wie man will!«
Derweil saß das Fräulein oben und schrieb einen langen Brief an die, die »fast wie ihre Mutter« war. Mit dem Herzen und Gedanken kehrte sie ein in der stillen Stube der alten Freundin, die fast nichts mehr tun konnte und doch so viel war. So ein aufgeschlossener, warmer, lebendiger Zufluchtsort für die, die sich draußen herum müde und unruhig gemacht hatten. Sie wurde wieder froh während des Schreibens, ihres Reichtums bewußt. Es ging ein starkes Grüßen dem Brief voraus, direkt durch die Luftlinie. »Wenn ihr jetzt nur die Ohren klingen möchten,« dachte das Fräulein, als es die Himmelreichsgasse hinunter wandelte und den Brief in den gelben Schalter steckte, ganz unten an der Ecke.
Denn sie wußte wohl, daß die Freundin manchmal saß und nicht wußte, wozu ihr tatenloses Leben noch tauge. Wie das einem Gemüt gehen kann, das nichts von seinem segnenden Reichtum weiß. Das nicht weiß, daß es eine stille Heimat ist für die, die es lieb hat. – – – –
Das war ein Sommerleben, ein rechtes, echtes! Früh heraus, fast mit der Sonne, und den ganzen Tag sich des Daseins gefreut. »Ich werde braun, wie eine Bäuerin,« dachte Adelheid Solger vergnügt und studierte ihr sonnverbranntes Spiegelbild. Die Himmelreichsgasse hatte das schon von ihr gemerkt. Sie war so ein bißchen Gemeingut geworden, da mußten die Leute schon darauf achten. Wenn sie die Gasse hinabging, hatte sie viele Händedrücke von sauberen und schmutzigen Händlein in Empfang zu nehmen und viele Grüße zu erwidern. Sie tat es gern, es war ihr so selig patronatsmäßig und landpomeranzig zugleich zumute. Der Schmied war ihr guter Freund und die dicke Bäckersfrau ihre Freundin. Und der Sternenwirt unten an der Ecke zog, wenn er sie kommen sah, seine Spieluhr auf. »Freut euch des Lebens,« konnte sie spielen und den Hohenfriedberger Marsch. Denn das Fräulein blieb dann regelmäßig stehen und horchte; sie wippte so einverstanden mit dem Kopf zu der Musik. Das freute den Sternenwirt.
Sie ging aber viel öfter gleich vom Haus aus in den Wald. Nicht nur so in die nächste Nähe. Sie machte große Streifereien und brachte reiche Beute im Skizzenbuch heim. Wie die Bienen sammelte sie ein in der schönen Welt. »Das war ein Prachtsgedanke von Heinz,« dachte sie. Dieser Heinz war ein Freund und Studiengenosse von ihr, der sich gern zu ihrem väterlichen Berater aufwarf und er hatte sie hierhergeschickt. »Sie müssen so recht in die Natur kommen,« hatte er gesagt, »das ist für Ihr Studium und für Ihren Menschen nötig. Sie werden neuerdings so zivilisiert.« – »Ich wollte, er könnte mich jetzt sehen.« Sie lachte, als ihr der Wunsch kam. Denn jetzt lebte sie so natürlich, als nur möglich. Es war eine Lust, zu leben. Sie hätte so gern ihre ganze Umgebung mit ihrer inneren Frohheit angesteckt. Das gelang teilweise, teilweise auch nicht. Meister Notacker, der lebte auf; er sang sogar manchmal. Er hatte eine schöne, tiefe Stimme und er kannte alte, wunderbare Volkslieder. Es war lang her, seit er sie gesungen hatte, die Kinder horchten hoch auf, und die Frau warf einen langen, merkwürdigen Blick auf ihn, als er’s das erste Mal tat. Er sah den Blick nicht, nur Adelheid Solger sah ihn. »Ist’s ihr am End’ nicht recht, daß er singt?« dachte diese. »Sie sollte doch froh sein, wenn er ein wenig Leben zeigt. Wenn ich einen Mann hätte mit solch einer Stimme, er müßte mir alle Tage singen.« Aber die Frau hatte schon wieder den Kopf über die Näharbeit gebeugt und zog mit unbewegtem Gesicht den Faden aus und ein. »Ich habe mich wohl getäuscht,« dachte die Beobachterin. Sie hieß jetzt nicht mehr Fräulein schlechtweg, sie war zum Fräulein Adelheid geworden. Sie hatte sich’s nicht ausgebeten, das war nach und nach so gekommen, ganz von selbst. So war’s ihr recht. Sie saß auf einem dreibeinigen Schemel am offenen Fenster. Draußen war’s Nacht, eine warme, düftereiche Sommernacht. Um die aufgehängte Ampel über dem Schustertisch surrten aufgeregte Schnaken mit langen Füßen und glasigen Flügeln. Der Meister saß mit einem halbgeflickten Rohrstiefel auf dem Schoß, ließ die Hände ruhen und sang aus gehobener Brust. »Es waren einmal drei Reiter gefangen, gefangen waren sie.« Und dann noch viele andere. Die Kinder spitzten die Ohren und horchten wie die Mäuse, und die Frau wendete das zerrissene Röcklein hin und her, bis alle Löcher zu waren. Dann stand sie auf: »So jetzt ins Bett, Kinder, ’s ist schon viel zu spät für euch.« Adelheid konnte es schon lang wieder nicht lassen, an ihrem undurchdringlichen Gesicht und Wesen herumzustudieren. »Warum sie nur so ist? So stumm und ernst. So sorglich und fleißig, und brav und still. Aber gar nichts Warmes. Ich möchte sie wohl fragen, ob sie nicht glücklich ist. Aber das wag’ ich ja gar nicht. Sonst bin ich so keck und vor ihr scheu’ ich mich. Wie das nur ist? Am End’ hat sie schwere Nahrungssorgen. Der Mann ist nicht so übereifrig. Aber sie haben doch auch die Wiese und eine Kuh. Da bin ich nun schon wieder beim Grübeln.« Adelheid gab sich einen innerlichen Rippenstoß und kehrte in die Gegenwart zurück.
Der Meister hatte aufgehört zu singen. »Sie haben gar nicht mehr gehorcht,« sagte er. »Meine Gedanken sind mir durchgegangen,« gab sie reumütig zu. »Ich hab’ aber danebenher doch noch zugehört. Sie haben eine gute Stimme, warum singen Sie nie? Das sollten Sie viel öfter tun.« – »Ich will’s tun, wenn Sie’s freut. Es ist mir selten singerig zumute. Das muß einem von innen heraus kommen, sonst ist’s nichts.«
Adelheid mußte wieder einmal sein Gesicht betrachten. Es hatte in letzter Zeit so etwas Lebendiges, Aufgehelltes bekommen. Sie wußte nicht, daß er in diesem Augenblick in seinen Gedanken zu ihr sagte: »Ja, wenn du immer da wärest, dann sänge ich wohl. Wie hast du mir das Leben aufgetan, du Sommergast.«
Es war gut, daß sie es nicht wußte. Sie holte ihr Skizzenbuch herbei und zeigte ihm Altes und Neues daraus. Er tat so verständige, tüchtige Bemerkungen dazu, sie waren beide so plaudersam angeregt, als die Frau zurückkam und wieder ein Paar Strümpfe zum Stopfen vornahm. »Ich habe fast ein böses Gewissen,« sagte Adelheid, »Sie sind noch so fleißig und ich habe so frühen Feierabend gemacht. Lassen Sie mich ein bißchen mithelfen, ich kann auch Strümpfe stopfen, Sie werden’s schon sehen.« Die Frau warf einen Blick in ihr bittendes Gesicht. »Ich glaube, Sie meinen’s gut,« sagte sie. »Aber helfen können Sie mir nicht. Ich habe auch nur noch das eine Paar vor.«
»Wie sie das nun wieder so tief und schwer sagt,« dachte Adelheid. »Das ist doch so eine harmlose Sache. Ich glaube, Heinz hat recht. Es gibt Leichtblüter und Schwerblüter. Die Frau gehört zu den Schwerblütern. Die müssen alles schwer nehmen.« – »Ich glaube, daß Sie’s gut meinen.« »Will’s glauben, daß ich’s gut meine. Oder eigentlich, ich meine es weiter gar nicht. Ich bin nur so ein vergnügter Mensch und hätte die andern gern auch so. Das ist eigentlich lauter Egoismus.«
Damit erstieg sie ihre Treppe und begab sich zur Ruhe. »Ihre Lieder müssen Sie mich noch lehren, Meister,« rief sie noch von der Treppe her. »Die nehm’ ich im Herbst mit nach Hause und sing’ sie meinen Freunden vor. Da krieg’ ich einen Preis; so schöne können die nicht. Aber wir müssen bald daran, die Zeit vergeht so schnell.«
Das Letztere war so wahr. Die Zeit verging so schnell: es war fast nicht zu glauben. Die Ernte war vorbei, der Wind ging übers Stoppelfeld. Heute hatte Adelheid den ersten silbernen Altweibersommerfaden an einer Hecke gefunden. Den besah sie sinnend. Sie freute sich auch wieder auf ihren alten Kreis in der Stadt. Aber es war ein so schöner, reicher Sommer gewesen, es tat ihr leid, daß er scheiden wollte. Die Menschen hier waren ihr auch wert geworden, so, wie einem die wert werden, an deren Sein und Tun man teilgenommen hat; wie das ein rechter, echter Mensch an denen tut, die um ihn her sind. Gottfried hatte ihr schon lang verziehen, daß das große Haus in der Stadt nicht ihr gehöre. Sie hatte so viele andere Vorzüge, er war ihr guter Freund geworden. Auch die anderen Notackerlein krabbelten die dunkle Treppe herauf und pumperten mit den Fäustlein an die Tür, und nach und nach taten das noch andere Kinder aus der Himmelreichsgasse. Auf einem Eckbrett stand eine glänzende Büchse, darin waren Himbeeren, wie man sie nicht im Wald findet, groß und glänzend, von süßem Zucker. Die banden die kleinen Herzlein an das große. Es waren nicht nur die Himbeeren, es war sonst noch viel Liebes und Schönes. Adelheid malte einen Zweig fliegender Herzen und in jedes rote Herzchen hinein einen der Kinderköpfe. »Lauter Originale,« sagte sie mit Stolz und trug das Bildchen im Haus herum, um es bewundern zu lassen. Sie traf die Schuhmachersfrau am Waschzuber. »Da sehen Sie her,« sagte sie, »das nehme ich mit nach Haus. Ich muß doch meinen Freunden zeigen können, was ich diesen Sommer gewonnen habe. So viele Herzen, und lauter frohe, harmlose, und keins betrübt und zerbrochen.« Wie froh sah sie aus, als sie das sagte, und so frisch und herzenswarm. Sie mußte wahrlich die Herzen gewinnen. Die ernsten Augen der Frau lagen auf ihrem Gesicht, und plötzlich brach ein warmer Strahl, der sich nicht zurückhalten ließ, aus ihnen. »Das ist ein herziges Bildchen,« sagte die Frau. Und dann, ganz unvermittelt: »Sie meinen es gut, es muß Ihnen gut gehen auf der Welt. Wenn Sie nur auch so froh bleiben, wie Sie jetzt sind, es tut einem so gut, auch noch frohe Menschen zu sehen, die sind selten.« Adelheid war seltsam befangen. Es kam plötzlich solch eine Wärme aus dieser verschlossenen Frau heraus und sie wollte sich dessen freuen, aber sie konnte nicht recht.
»Ach,« sagte Adelheid, »ich habe auch schon mein Teil Trauer gehabt im Leben. Wenn man ohne Eltern heranwächst und niemand ganz Eigenes hat. Es ist aber wahr, ich weiß nicht, wie’s kommt, ich muß mich an vielem freuen. Das Leben ist doch so schön, ich wollte, alle Menschen freuten sich dessen. Und,« sagte sie auf einmal mit hervorquellendem Mut: »ich wollte, ich hätte Ihnen etwas zu geben, das Sie froh machte. Sie sind’s nicht. Oder mein ich das nur?« Die Frau wusch eifrig weiter. Sie hatte das Gesicht über ihre Arbeit gebeugt und nichts mehr regte sich. »Es geht mir nicht schlecht,« sagte sie nach einer kurzen Weile. »Es kommt jedem etwas, das er tragen muß. Mancher ladet sich’s selber auf und muß es dann schleppen. Was man sich selber aufladet, ist auf die Dauer schwerer als das, was Gott schickt. Aber es muß dann auch gehen.« Sie stand so unscheinbar an ihrem Waschzuber. Sie war weder jung noch schön, noch lieblichen Wesens, auch nicht besonders klug und hatte keinerlei Interessen, die über ihren täglichen Kreis hinausgingen. Und doch hatte sie etwas ganz Besonderes an sich. War es, daß sie im stillen eine Last trug, die sie niemanden klagte? Was mochte sie sich aufgeladen haben? Denn sie hatte doch vorhin von sich selbst gesprochen.
Adelheid stand noch in stillen Gedanken ihr gegenüber, da sagte die Frau, wie aus einem langen Gedankengang heraus: »Ich bin gar nicht in die Welt hinausgekommen. Ich war immer hier, in diesem Haus. Es ist meines Vaters Haus. Man kann aber daheim auch genug erleben, das ist überall eins.« Dann brach sie wieder ab. Sie hatte noch viel auf dem Herzen. Aber sie drückte es wieder hinunter, sie hatte die Macht dazu, es für sich zu behalten, und Adelheid wollte nicht fragen. Sie ging in die Stube, um dem Meister ihr Blatt zu zeigen. Der sah es an, er wollte es nicht loben. Er atmete aus tiefer Brust und zog die Augenbrauen zusammen. »Was ist, wo fehlt’s?« fragte Adelheid. Da nahm er einen Anlauf zum Reden. »Es ist gut gelungen,« sagte er. Sonst nichts. Es lag ihm etwas anderes obendrauf, etwas, das er nicht sagte, das konnte man gut merken. »Wenn’s Ihnen nicht gefällt, so sagen Sie’s nur ganz ehrlich.« Adelheid war ein wenig ärgerlich. »Sonst muß ich mir den Gottfried holen, der sagt seine Meinung frei heraus.« »Ja,« brach er nun los, »ich wollte, ich dürfte das auch. Aber das habe ich mein Lebenlang noch nicht gedurft. Als ich so ein Bub’ war, wie der Gottfried jetzt, starb meine Mutter. Meinen Vater hab’ ich nie gekannt. Da kam ich hierher ins Haus meines Pflegers. Der war ein Schuhmacher. Ein geschickterer, als ich geworden bin. Ich mußte auch einer werden, als ich aus der Schule kam. Das war so natürlich, daß man mich gar nicht fragte. O ich hab’ auch einmal aufgemuckt. Ich hab’ auch einmal gesagt, was ich wollte. Ich wollte Musik machen lernen, es nahm mir fast den Atem, wenn ich ein Instrument hörte. Ich hätt’ auch etwas anderes gelernt, ich hätte die Musik dran gegeben, wenn ich hätte in Büchern lernen dürfen. Aber da kam ich schön an. Wissen Sie, wie man mir die Gelüste ausgetrieben hat? Hinausgehauen hat man sie! Ausgeprügelt.« Der Mann war in einer Erregung, Adelheid hatte ihn noch nie so gesehen. Als sei an einem vollen Dampfkessel das Ventil geöffnet, und lasse die zusammengepreßte Gewalt ausströmen, so flutete es aus ihm heraus.
Er nahm sich gewaltsam zusammen. »Aber das ist nichts für Sie,« sagte er. »Was wissen Sie von so etwas?«
»Doch, das ist etwas für mich.« Adelheid saß ihm gegenüber auf dem niedrigen Fenstersims. Sie lehnte den Kopf an den Rahmen und sah ihn herzlich an. Ihr kleiner Ärger war längst verflogen.
»Erzählen Sie mir das alles, warum soll ich von so etwas nichts wissen? Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und weiß, daß man im Leben kämpfen muß.« Sie füllte die Fensteröffnung fast ganz mit ihrer hellen Gestalt; er sah an ihr hinauf und sprach weiter, gesänftigter, als ob es ihm eine Wohltat sei, sein Leben vor ihre Augen zu legen.
Von den Lehrlingsjahren sprach er und von seinem Ungeschick zum Handwerk. Von seiner Unlust dazu, die ihn drückte und würgte, und von der Furcht vor den Schlägen des Lehrmeisters. Von der ganzen zusammengepreßten Jugendlust am Streben und Leben.
Dann von der Gesellenzeit und den Militärjahren, wo er von ferne die bunten Bilder des Lebens hatte an sich vorbeiziehen sehen. »Da hab’ ich meine Lieder singen gelernt,« sagte er. »Das war schön, wenn wir sie sangen zum Marschieren am frühen Morgen beim Ausrücken. Und wenn dann die Regimentsmusik spielte. Die Brust wollt’s einem zersprengen vor Hochgefühl.
Da hab’ ich mich auch manchmal vor die Schaufenster gestellt, wo Bücher und Bilder ausstanden, und hab’ alles um mich herum vergessen vor Staunen. Daß man so viel Bücher schreiben kann. Was da alles darin stehen mag? Und die Bilder; wie man so etwas machen kann? Das ist ja ein Wunder. Grad so viel hab’ ich gesehen, daß ich’s weiß, das gibt’s alles; mehr nicht.«
Er hämmerte eine Weile drauf los, schweigend, und wie von einem inneren Drang beseelt, sich frei zu schaffen. Dann sagte er: »Grad an dem Tag, als ich vom Militär frei kam, schrieb mir Regine – das ist meine Frau. Das wissen Sie noch nicht, daß sie meines Pflegers Tochter ist? Wir sind immer zusammen gewesen. Sie ist aber älter als ich. Jaso. Ja, sie schrieb mir, daß ihr Vater krank sei, vom Schlag gelähmt. Ich solle kommen, das Geschäft fortführen. Was sollte ich anders? Ich konnte mich nicht besinnen, ob ich wollte oder nicht. Das hab’ ich nie gekonnt in meinem Leben, es stand immer alles vor mir, ein Zaun hüben und drüben am Weg. Und das, was ich gern gewollt hätte, war hinter dem Zaun.«
Adelheid sah so teilnehmend in ihn hinein. Sie konnte hier nichts geben, als ihr lebendiges, stilles Zuhören. Was für ein Strom verborgenen, zurückgedämmten Lebens ging da an ihrer Seele vorüber. Sie sagte auch in den Pausen nichts; sie war ganz still. »Dann ging vollends alles seinen Weg,« fuhr der Mann fort. »Nach einem Jahr starb der Meister. Er konnte nicht mehr sprechen, aber zeigte mir mit Gebärden, daß ich das Geschäft fortführen solle. Und dann – dann tat ich’s. Die Tochter hat dazu gehört. Ich hab’s nicht gleich begriffen, ich hatte nicht daran gedacht. Sie war mir lieb und wert. Aber ich hatte mir das anders vorgestellt, das mit dem Liebhaben und Zusammengehören. Ganz anders. Man machte mir das deutlich. Es sei ein Glück für mich, hieß es. Ein Haus und ein Geschäft zu haben, und eine rechte Frau dazu. Solch ein armer Mensch wie ich. Sie wollte mich gern, das konnte ich deutlich sehen. Am Ende hatte ich mir das andere nur eingebildet, das mit dem Glück und dem Zusammenstimmen. Da hab’ ich sie gefragt. Und seither hausen wir zusammen.«
Der Sommergast hatte sich langsam von seinem erhöhten Sitz herabgelassen. Das war so etwas Wehtuendes. Das schnitt so scharf in ihre liebewarme Seele hinein. Sie waren alle beide nicht glücklich, der Mann und die Frau. Und dabei war wohl nichts zu helfen.
Adelheid wendete das Gesicht den Fenstern zu. Draußen kam vom Tal herauf ein Herbstnebel und hüllte nach und nach die ganze Gegend ein. Sie sah dem Gewoge zu.
Da sprach er weiter, hinter ihr. Sie sah nicht, wie seine Augen an ihrer Gestalt hingen, wie er aufstand und die Hände auf dem Rücken verschränkte in ohnmächtigem Verlangen. Sie hörte nur, daß seine Stimme zitterte.
»Es geht mir immer so,« sagte er. »Jetzt, heut’, mit Ihnen. Ich sehe und höre von allem, was das Leben reich macht, so viel, daß ich weiß: das gibt’s. Daß ich sehe: das könnte ein Leben sein, wenn du das hättest. Und dann muß ich’s wieder lassen. Nur grad soviel, daß ich Hunger darnach bekomme. Nur grad vor mir sehen und nicht fassen dürfen.«
Sie wagte nicht umzusehen, es wurde ihr so unbegreiflich schwül zumute. Das war ein Ausbruch! Daran hatte sie nicht gedacht.
»Und da soll ich noch Ihr Bildchen loben und mich dran freuen? Das sind die Herzen, die Sie diesen Sommer gewonnen haben? Und Sie nehmen sie mit nach Hause und zeigen sie Ihren Freunden und sagen: ›Seht her, was ich mitgebracht habe!‹ Bin ich nicht auch ein Mensch? Und ich bleibe hier zurück, und wie? Sie aber gehen, denn der Sommer ist dahin.«
Sie war ein rechtes, tüchtiges Menschenkind. Es war eine junge, starke Kraft des aufrichtigen Empfindens und Wollens in ihr. Darum wandte sie sich nun nicht in heiligem Unwillen von ihm, flüchtete nicht erschrocken vor den Wellen seiner armen, heißen Lebensleidenschaft. Sie fing auch nicht an, mit grüblerischem Forschen in sich herumzuquälen: »Hätte ich etwas anders machen sollen? War es am Ende Sünde, daß ich ihn an allem teilnehmen ließ, was ich lebte und genoß?«
Die Schwüle war vergangen. Das, was sie sah, war klar, und sie verstand sich selbst und ihn.
Der Schuster hatte damals auf der Heuwiese zu ihr gesagt: »Es gibt scheint’s Augen, die immer sehen, was schön ist, die sind dazu gemacht.« Da hatte er noch nicht gewußt, daß solche Augen auch Innerliches sehen können, und daß sie das Schöne herausfinden, mit dem tiefen, sicheren Blick des Quellenfinders, auch da, wo es sich nicht klar und lauter zeigt, wo es getrübt und vermischt mit Unreinem ist.
Sie hatte ihm etwas, das ihn freute, in sein Leben hereingebracht. Und nun sie es wieder mitnahm, litt er darunter. Das war so natürlich. Dafür konnten sie beide nichts. Das mußte getragen sein. Er war ein armer Mensch, er hatte keinen Trost in sich selbst. Es verlangte sie, ihm einen zu geben. Aber welchen? Daß sie in Freundschaft seiner gedenken werde? Das war nichts. Das konnte ihm nichts helfen.
Sie hatte auch eigentlich nur eine offene, herzliche Teilnahme für ihn. Die war echt. Aber sie konnte dem Mann nichts helfen. Die konnte sie ihm nicht geben. Wenn er doch nur gesehen hätte, wie viel Gutes er habe, Eigenes, bei sich im Haus, das ihm blieb. Und wenn’s nur die Kinder waren. Aber das konnte sie ihm alles nicht sagen. Ratlos wandte sie sich um. Sie wollte ihm die Hand geben und nach einem Wort suchen, das vom Herzen komme.
Da sah sie unter der offenen Tür auf der Schwelle die Frau stehen. Und als sie ihr ins Gesicht sah, wußte sie, daß hier eine verborgene Kraft der Seele ins tätige Leben getreten sei, und daß die Kraft Gutes bedeute, irgend etwas Gutes, für den Mann, der so arm war in seiner innerlichen Unkraft. Daß sie nicht zu helfen brauche mit ihrer armseligen Teilnahme, sondern daß da Liebe sei, echte, rechte, die sich ans Tageslicht dränge wie ein Quell. Zu dieser Stunde und nicht früher, obgleich sie früher wohl dagewesen sein mochte. Adelheid ging zur Tür. Sie wußte nichts zu sagen. Es war ihr auch nicht mehr not.
Aber im Hinausgehen gab sie der Frau die Hand.
Die tat einen Schritt vorwärts. Sie trocknete sich die Hände und streifte die Ärmel herunter. In ihrem tieferblaßten Gesicht sprachen nur die Augen, und sie holte Atem, tief und schwer von unten herauf. Der Mann konnte noch nicht lesen, was in ihren Augen stand. Er ließ die geballte Faust schwer auf den Schustertisch fallen und streifte mit den Augen die Frau; scheu und trotzig und unsäglich elend sah er aus. »Sag nichts,« sagte er mit tonloser Stimme, »sag nichts! Du hast alles gehört, ich seh’s. Na ja. Ich bin auch ein Mensch. Das will einmal heraus. Jetzt weißt du’s. Laß mich mit Fried’, jetzt.« Es kam stoß- und ruckweise heraus. »Oder, ’s ist mir auch einerlei, kannst auch schelten. Aber nichts über das Fräulein. Kein Wort. Die ist gut, die kann nichts dafür, daß ich –, das ist alles aus mir heraus.«
Seine Stimme verging. Es schüttelte ihn von innen heraus. Er legte die Hand auf die Augen.
Da trat sein Weib zu ihm. Wie eine Mutter und auch wie ein liebendes Weib trat sie zu ihm. So voll des Rechtes, zu trösten. Er war unglücklich, und sie hatte ihn lieb. Er war nie recht glücklich gewesen und sie hatte ihn immer lieb gehabt. Aber sie hatte es ihm nicht zeigen dürfen. Sie hatte eine Schuld auf sich gehabt, all die Jahre her, die hatte sie stumm gemacht und scheu. Und ihre Schuld war gewesen, daß sie sein Leben an das ihre gekettet hatte, trotzdem sie wußte, daß er sie nicht liebte mit einer großen, starken Männerliebe. Sie hatte auf das Kommen dieser Liebe gehofft und gewartet, und als die Hoffnung abnehmen mußte, als sie ihn hungrig sah, gedrückt und flügellahm an ihrer Seite, da wollte sie wenigstens eins tun, ein Großes, ihm zu Lieb. Sie wollte ihre Liebe in sich hineinschließen. Er sollte sie nicht sehen, sie mußte ihn ja quälen. Sie sorgte für ihn und für die Kinder. Mehr durfte sie nicht. Aber jetzt, heute.
»Andres,« sagte sie, »Andres, mußt nicht so verzagt sein.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, leicht, leise.
Es war ein Glücksgefühl in ihr, ein ganz eigenes. Eines, das nur die Menschen kennen, die schon ganz arm gewesen sind. Teil haben an seiner Last, die man so gut kennt, so gut. In seiner Armut zu ihm stehen, nun das andere geht, das Sonnige, Helle, das sein Leben gestreift hat. Ihm zeigen: Du bist nicht allein, die Treue bleibt dir, du Armer.
Das ist auch schon ein Glück für solch ein Herz. Aus dem vollen Reichtum heraus wäre das ein Elend. Aus der Armut heraus, aus dem stummen, zugeschlossenen Nebenhergehen – ihr war es ein Reichtum. Sie hatte diese Stunde kommen sehen, all die Zeit daher.
An seinem aufgehellten Wesen, an seinem Gesang, an tausend kleinen Zügen. Und sie hatte gewußt, daß ihm die andere nichts zu geben habe. Daß sie gehe und sein aufgewachtes, hungriges Herz zurücklasse. Das hatte so kommen müssen. Daran war gar nichts aufzuhalten und zu ändern gewesen. Das hatte der Sommer zur Reife gebracht. Und nun war er dahin.
– Er zuckte zusammen unter ihrer linden Berührung. Als ihn ihre Stimme traf, mit so einem eigenen, zitternden, warmen Klang, sah er auf. Er hatte etwas anderes erwartet. Er hätte auffahren, lospoltern mögen, sich verteidigen, ihr ins Gesicht schleudern: Laß mich, du! Was verstehst du vom Leben, vom Liebhaben, vom Feuer, das in mir brennt?
Das konnte er nun nicht. Das konnte er ihr nicht sagen.
Diese Frau, deren Augen so voll und tief und fest auf ihm lagen, verstand wohl etwas von dem allen. Das sprach aus ihr heraus. Und ihn streifte eine Ahnung von dem, was in ihr war. Er ließ den Kopf wieder sinken.
Da wagte sie es, sein Haar zu streicheln. Der kleine Bub’ hatte sich am Morgen gestoßen, er hatte eine Beule an die Stirn bekommen; den hatte sie auch so gestreichelt und dazu liebe Worte gesagt: »So, so, nun wein’ nicht mehr. Das geht vorüber. Das tut nur eine Weile weh.«
Das gleiche konnt sie zu ihm nicht sagen, der da saß und wund vom Leben war. Aber ihre Liebe redete doch.
»Ich versteh’ dich so gut. Ich weiß, wie das ist. Sehen, vor Augen haben und doch nicht besitzen. Lieb haben und sich hungrig sehnen. Und vorbei lassen müssen. Wenn man’s nicht wüßte, wär’s leichter. Aber glaube, meine Last war schwerer als die deine. Denn ich trug sie lang und still, und ich mußte dich leiden sehen. Durch mich.«
Das sagte sie ihm nicht alles so nacheinander. Aber er verstand sie doch. Er saß und rührte sich nicht. Er war so wunderlich aufgerührt in seinem Innern. Da war noch ein Leid neben dem seinigen. Da war ein Mensch, ein lebendiger, dessen ganzes Herz ihm gehörte. Der begehrte nichts, als zu ihm zu stehen, ihn zu trösten, etwas Gutes zu sein in sein Leben herein.
Wie ein Riß im schwülen, dunklen Gewölk war das, durch den der klare, blaue Himmel hereinsieht.
Wie ein Acker, der vom Hagel verwüstet und ganz zertreten schien, und auf dem sich doch noch Halme mit Ähren aufrichten, still und stark, und eine Ernte verheißen, wenn auch keine üppige, lachende. Sie begehrte jetzt kein Wort von ihm. Er ließ sie ja bei sich. Er wies sie nicht ab mit ihrer stillen Tröstung. Das war jetzt genug.
Das Kleine in seinem Wagen erwachte und ließ seine Stimme hören. Da ging sie hin zu ihm und hob es heraus. Und ein Lebens- und Freuden- und Kraftgefühl war in ihr, daß sie das Kind hoch in die Höh’ hob. »Du Schatz,« sagte sie, »du Schatz.«
Sie war ja jetzt reicher als vor sechs Jahren als Braut. Damals hatte sie nach Liebe gehungert und ihrer begehrt. Jetzt liebte sie. Sieghaft brach die Liebe aus ihr heraus. Hier in diesem Haus war Liebe nötig, echte starke. Und niemand sollte fürderhin daran Mangel leiden.
Das wuchs, das drängte. Sie hatte selbst nicht gewußt, wie lebensreif das alles in ihr gelegen hatte.
»Mann,« sagte sie zu dem zusammengesunken Dasitzenden, »du, Mann, da guck den Kleinen an. Ist er nicht ein Schatz?«
Sie hätte jetzt noch viel sagen können. Liebes, Warmes, Aufmunterndes. Aber er war so wund, da durfte man nicht derb zugreifen. Da konnte sie nicht sagen: »Ich bin nun einmal dein Weib, und die Kinder sind deine Kinder. Und wir wollen suchen, einander mehr zu sein, als seither.« Das nicht und sonst viel Schönes nicht. Das sagte nur ihr Wesen, ihr stilles, liebes Tun, das auf einmal so anders, so selbstverständlich um ihn her war.
Er hatte seine Mutter kaum gekannt. Nun schien ihm sein Weib beides zu sein, Weib und Mutter. So hatte er sie noch nie angesehen, so warm hatte es ihn nie zu ihr gezogen, wie jetzt, da sie das, was ihn als Schuld drücken wollte, nur als Lebensleid ansah, und sich zu ihm stellte, es tragen zu helfen.
Es war am Abend. Die Mutter saß in der dunklen Kammer an den Kinderbetten und sang leise ein Lied. Das tat sie selten. Heute mußte sie es tun, es war so viel Aufgewühltes, Unruhiges, Frohes und Schweres durcheinander in ihr. Das mußte zur Ruhe kommen. Die Kinder schliefen drüber ein. Draußen in der Stube saß der Mann, allein, die Ellbogen schwer auf den Tisch gelegt, den Kopf auf der Brust. Sie hätte ihn so gern auch in den Schlaf gesungen, mit Liebe zugedeckt. Aber sie wagte sich doch nicht so nah an ihn heran. Die aufflackernde Freudigkeit des Nachmittags war nicht mehr in ihr. Er liebte sie ja doch nicht. Er trauerte ja, daß die andere ging. Und er sehnte sich nach einem Leben, das sie ihm nicht geben konnte.
»Sei du Schloß und Riegel,
Unter deine Flügel
Nimm dein Küchlein ein,«
sang sie leise. Mit einem Herzen, das gern stark sein wollte und doch unruhig und zitternd schlug, sang sie es.
Da kamen schwere, unsichere Tritte von der Stube her durch die dunkle Kammer. Wie einer, der eine schwere Last auf den Schultern hat, kam der Mann gegangen. Er tastete sich zwischen den Kinderbetten durch. Und dann sank er vor ihr nieder und legte den Kopf in ihren Schoß. »Kathrin,« sagte er, und seine Stimme brach mitten in dem Aufschrei: »Kathrin, ich weiß mir nicht zu helfen. Hilf mir!« – – – –
Die Freunde in der Stadt waren nicht so recht zufrieden mit der heimgekehrten Adelheid. Zwar sie war braun, frisch und gesund, hatte reiche Beute im Skizzenbuch und in den Mappen mitgebracht und zeigte auch ihr Kinderbildchen mit Freude und Stolz. Aber sie war nicht so mitteilsam, als Heinz und die andern gewünscht hätten. Sie waren begierig auf Adelheids Erlebnisse gewesen, denn sie waren samt und sonders stolz auf sie, und überzeugt, daß sie überall die Menschen, und nicht nur die Kinder gewinnen müsse. Das hätten sie nun gern mitgenossen. Aber Adelheid sagte nur: »Sie waren alle gut gegen mich. Viel zu gut. Erzählen? Ja, das kommt schon noch, nach und nach. So Besonderes war nicht dabei.« Und dann fing sie an, sich auf die Arbeit zu werfen, als stünde der Hunger hinter ihr.
Nein, da mußte etwas nicht in Ordnung sein.
Die alte Freundin, oben unterm Dach, die mit dick verbundenen Füßen im Lehnstuhl saß und ihre Gichtschmerzen aushielt, die wußte nun wieder einmal, wozu sie auf der Welt sei.
Draußen riß der Wind die Pappelkronen hin und her, daß sie ächzten. Drinnen saß Adelheid im Dämmer auf einem Schemel und sah in die Ofenglut. So liebte sie’s. Zu dieser Zeit pflegte sie zu kommen und, wie sie’s nannte, »ihren Tag hier auszubreiten.«
Heute war sie lange still geblieben.
Es geht etwas in ihr um, dachte das alte Fräulein.
Das braucht seine Zeit, bis es spruchreif ist. Sie konnte warten. Sie wußte schon, daß es komme.
Adelheid nahm die Feuerzange und stieß in die Ofenglut. Mit einer so heftigen Bewegung tat sie es, als ob sie damit irgend einem unsichtbaren Feind einen Treff versetzen wollte. »O, ich wollte, ich brauchte gar nicht mehr von hier hinaus,« sagte sie plötzlich, unvermittelt: »Wenn man nie weiß, was man den Leuten antut mit sich selbst. Wenn man einfach in den Tag hineingeht und sich des Lebens freut und der Menschen. Und dann ist’s doch nicht gut getan. Und ich kann nicht anders sein, als ich bin.«
Da kam nun die Sommergeschichte an den Tag.
Sie hatte sich doch mehr damit gequält, als sie am Anfang gedacht hatte. Nicht mit Selbstvorwürfen. Aber mit Fragen: warum ist das so? Warum haben nicht alle Menschen die Macht, sich aneinander und am Leben zu freuen? Warum müssen sie durcheinander leiden und sind doch ohne Schuld daran? Da war die Mutige, Frohe eine Furcht vor dem Leben angekommen.
Es ist nicht leicht in Worten wiederzugeben, was aus dem abgeklärten Gemüt der Alten in das junge, aufgestörte Wesen hinüberfloß. Daß die Menschen einander brauchen, zum Aufwachen, zum Werden, durch Freuden und Schmerzen hindurch. Daß ein heiliger Wille auch über dem lebe und walte, was uns unklar und verworren scheine. Und daß nur Einer sehe, was der Sommer des Lebens für Frucht zeitigen solle. Und daß die Menschen nur reines Herzens vor ihm leben sollen, und das andere ihm anheimstellen.
Man kann das nicht so sagen. Man muß solche Dämmerstunden kennen, um zu wissen, welch still- und frohmachenden Schatz man von ihnen hinaustragen kann ins laute Leben des Tages.
Es war ein heller, heißer, staubiger Sommertag im nächsten Jahr. Kurz vor den großen Ferien.
Niemand hatte mehr rechte Lust, Vorträge anzuhören oder Studien im Zeichensaal zu machen.
In der viertelstündigen Pause zwischen den Vormittags-Übungsstunden der Kunstschule war es. Sie standen so in zwanglosen Gruppen herum, die jungen Träger der Kunst der Zukunft. Auf der Steintreppe, unter den Arkaden, in der kühlen Eingangshalle. Wohin man ausfliegen wolle, beriet man, und ob man den Semesterschluß ganz abwarte – bei dieser geisttötenden Hitze.
»Eine Schande ist’s, jetzt in den Stuben zu hocken,« sagte Heinz, den wir bereits kennen und dessen anderer Name hier nichts zur Sache tut. »Fenster auf und hinaus. Einmal ich. – Hallo, was gibt’s da?« unterbrach er sich. Er trat aus seiner Gruppe und sah zu, wie Adelheid Solger, aus der Halle kommend, die breite Treppenflucht hinunterflog, auf einen Mann von bäuerlichem Ansehen und einen kleinen Buben zu, sah, wie sie den Beiden die Hände schüttelte, und wie das bärtige Männergesicht aufleuchtete in frohem Grüßen.
Und dann ging er, als der Nächste dazu, ein paar Schritte entgegen, als sie die Gäste heraufführte.
»Das sind meine Freunde aus Steinkirchen,« sagte Adelheid, sobald sie bei ihm angelangt waren. »Dies hier ist Gottfried, wissen Sie, mein Kritiker. Und das ist sein Vater.«
Der Schuhmacher sah froh und verlegen zugleich drein. Er hatte etwas auf dem Herzen. Aber er brachte es nicht so leicht vor, hier, in dieser Umgebung, wo ihm das Fräulein fremder, ferngerückter schien, als da sie bei ihm in der Himmelreichsgasse wohnte. Es war nur gut, daß er den Gottfried mit hatte. Der tat nicht lang fremd.
»Jetzt mußt du wieder kommen,« sagte er mit seiner hellen Bubenstimme. »Wir haben ein Kleines, und die Mutter hat gesagt, das müsse so heißen, wie du. Damit man wieder eine Adelheid habe, und du mußt zu Gevatter stehen, hat sie auch noch gesagt.«
Heinz lachte laut auf.
»Du bringst deine Sache gut vor, Junge,« sagte er. »So ist’s gut, nur nicht lang gefackelt.«
Diesmal besann sich Adelheid nicht lange, ob sie nicht abgewiesen werde. Sie beugte sich zu dem kleinen Buben herunter und küßte ihn in sein rundes, ernsthaftes Gesicht hinein. »So, muß ich?« sagte sie und lachte. Es war ein so fröhliches, befreites Lachen. Und sie streifte dabei mit fragenden Augen den Mann. »Ist das wahr? Könnt ihr mich brauchen?«
»Der Bub’ sagt’s ungeschickt,« sagte der Mann entschuldigend. »Aber Sie nehmen’s ja nicht für ungut, das weiß ich wohl. Das nicht und nichts sonst. Von ›müssen‹ kann ja keine Rede sein. Aber wenn wir halt recht schön bitten dürfen. Weil alles so gut steht bei uns; und weil wir halt immer sagen, das Weib und ich: daß das Fräulein gekommen ist, damals, das ist ein Gottessegen.«
Er streifte mit einem verlegenen Blick den fremden Herrn, der dabei stand und der gar nicht gesonnen schien, sich von der Gruppe zu trennen. Er hätte gern noch mehr gesagt. Aber das ging nun nicht an. Das mußte er noch aufsparen.
»Ja, Meister, das ist mir ja eine Freude, eine große, rechte,« sagte Adelheid in überquellendem Empfinden. Ihr war so froh zumute, so reich. Da war etwas Gutes gewachsen, das konnte man ja sehen. Das bedurfte gar nicht vieler Worte. Und sie sollte daran teil haben. Wie schön das Leben war. Wie schön. Ihre Augen leuchteten.
»Ist das nicht herrlich?« fragte sie zu Heinz hinüber. »Aber nun kommen Sie, nun wird heut’ Feiertag gemacht. Sie gehen mit, ganz freundschaftlich. Wir müssen den Beiden alles Schöne zeigen, das sie nur in sich hineinkriegen. Ist es nicht ein Fest?«
»Daß irgend etwas wunderschön ist, seh’ ich an Ihren Augen. Und ich seh auch, daß Sie uns heuchlerisch verschwiegen haben, was unter Freunden geteilt gehört. Aber ich räche mich,« sagte Heinz.
»Komm, mein Junge, du gehst mit mir.« Und darauf rächte er sich, indem er seiner Freundin den Freund und Verehrer Gottfried gänzlich abspannte, und bald voraus, bald hintendrein, des kleinen Burschen Herz im Sturm eroberte. Es nahm’s ihm niemand übel.
Die beiden gingen allein, Adelheid und Meister Notacker. »Jetzt hab’ ich die Stadt nicht mehr gesehen, seit ich vom Militär wegkam,« sagte der Meister. »Mich dünkt, sie ist seither noch viel schöner geworden.«
Er sah so aufgehellt aus. In seinen Augen und auf seinem Gesicht lag so einfache, biedere Kraft. Wie einer, der das Leben erkannt und aufgenommen hat, sah er aus.
»Ich hab’ nicht hierher gewollt,« sagte er. »Ich hab’ schreiben wollen. Aber ich hab’ keinen rechten Brief zustand’ gebracht. Es ist mir so viel im Kopf herumgegangen. Da hat meine Kathrin’ gesagt: »Geh doch selber. Männer müssen auch hier und da etwas sehen, wie’s draußen zugeht.« Da bin ich gegangen.« Er wurde ganz warm. »Sie versteht’s, was man braucht.«
»Ich weiß nicht, wo ich meine Augen gehabt habe,« hob er nach einer Weile wieder an. »So ein Weib, wie mein’s. Was einem das sein kann. Und geht neben einem her, und man merkt’s nicht. Und wartet, bis man’s braucht. Dann ist es da, und hilft einem, und hat keine unschöne Rede, nicht eine. Das hat uns zusammengebracht. Das wär’ sonst nie so weit gekommen. Und jetzt ist’s gut, gottlob!«
Es war in der Gemäldegalerie. Sie standen vor einem goldenen Kornfeld, dessen reife Ähren sich schwer niedersenkten in der Last ihrer Körner. Voll warmen Sonnenglanzes war die Luft; und im Hintergrund führte ein schmaler Weg zu einer Menschenhütte. Sie sahen lang darauf hin. Ihre Gedanken waren beim vorigen Sommer. Und dann gaben sie sich die Hand darauf, daß das Leben doch reich sei, fruchtbar und schön. Ohne Worte, nur aus einem inneren Verstehen heraus, das den Sommer des Lebens ansah, wie den Sommer des Feldes.