HEIMAT
Erzählungen
Von Anna Schieber
Das Glöcklein an der Ladentür der Schmidbergerin bimmelte heut den ganzen Tag. Es hatte ein helles, hohes Stimmlein, und wenn es angestoßen wurde, konnte es lange nicht zur Ruhe kommen. Es war so geschwätzig, wie die We-iber, die sich in dem niedrigen Lädchen trafen und einander die Stadtneuigkei-ten erzählten. Es war das Gegenteil von der Schmidbergerin selber, die nicht viel redete um einen Kreuzer, wie die Leute sagten. Sie sagte auch heute nicht viel, wo es doch wahrhaftig wichtige Dinge zu bereden gab. Der Büttel war durchs Städtlein gegangen und hatte es ausgeschellt, daß Krieg sei. Krieg, und die Männer und die Buben mußten fort, ein ganzer Trupp schon heute, die an-deren morgen und übermorgen, je nach dem Alter und der Dienstzeit. Krieg gegen die halbe Welt, wenn man alles glauben durfte, was von Mund zu Mund ging. Der Hutmacher Haas kaufte ein halbes Pfund Tabak und sagte, so lang die Schmidbergerin ihn auswog (denn er nahm immer vom offenen): »Wer da wieder heimkommt, das weiß kein Mensch. Man kann froh sein, wenn man Mädle hat und keine Buben, einmal ich bin froh.« Der Hutmacher Haas hatte ein Gallenleiden und darum fast immer einen üblen Humor und seine drei Töchter hatten es nicht am besten bei ihm.
Aber als er das sagte, da nickte die Kreuzbäurin, die zwei Söhne und einen Schwiegersohn hinauslassen mußte, und neben ihr die Schreiner Hübnerin ließ einen tiefen Seufzer fahren, denn sie hatte nur einen einzigen Sohn, der in Ulm bei den Pionieren gedient hatte und der heute nacht noch fortmußte. Der alten Schullehrerin aber liefen ganz still zwei große Tränen herunter, als sie an ihre vier Enkel dachte, an denen ihr Herz hing.
Aber in die entstandene kleine und bedrückte Stille hinein fuhr die Stimme des jungen Polizeidieners Ruckhaber, der sich ein Paar Hosenträger holen wollte und grad noch die Rede vernommen hatte.
»Ihr Leut, jetzt ist keine Zeit zum Kopfhängen,« sagte er frisch, »und wer Buben hat, soll Gott danken, daß sie mitkönnen. Zum Vergnügen geht keiner, das ist gut wissen, aber doch möcht ich den sehen, der sich halten ließ’, wenn’s gegen den Feind geht und fürs Vaterland.«
»Jawohl,« fiel der Fuhrmannsknecht Schorsch Weidler ein, der ein Kistchen Wetzsteine auf der Achsel hatte und sich nach einem Platz umsah, wo er es abstellen könne. »Und im Gegenteil kann man froh sein, wenn man ein Mannsbild ist und muß nicht daheim hinsitzen, wie die Weiber, sondern kann vorne hinstehen und zu den Franzosen sagen: ›Aus dem Weg da, denn nach De-utschland hinein kommt ihr nicht, da muß alles im guten Alten bleiben.‹«
»Fest steht und treu die Wacht am Rhein,« sagte der Polizeidiener dazu, und nun konnte man sehen, wie über die ernsten und stillen Züge der Schmidberge-rin ein Lächeln und ein Aufglänzen ging und wie sie vor sich hinnickte, wie eine, die jetzt das gehört hat, was sie selber gern gesagt hätte.
Die Leute gingen nach und nach, und andere kamen herein und draußen vor dem Laden sagte die Schlosserin ein bißchen giftig: »Die Schmidbergerin hat gut lachen. Ihr Mann ist tot und ihr Lausbub, ihr verkommener, ist in Amerika in guter Sicherheit, die braucht niemand ins Feuer zu schicken.«
Aber die Weiber waren selber erbaut und gerührt von der guten Rede der zwei jungen Männer und sie spürten auch selber etwas von dem Großen, das da auf schweren Flügeln herangesaust kam, und sagten nur: »Ein Kreuz ist so und das andere anders, es hat ein jedes sein Päckle,« und strebten eilfertig ihren Häusern zu, denn da war die Arbeit zu Haufen, ungerechnet das, daß man noch jeden Augenblick da sein wollte, so lange die Ausziehenden daheim waren.
Die Schmidbergerin hatte aber nicht »gut lachen«, und lachte auch nicht. Sie tat den ganzen Tag ihre Schuldigkeit im Laden und schenkte denen, die zum b’hüet Gott sagen unter ihre Tür traten, ein paar Zigarren oder auch eine gute Münze auf unterwegs je nach ihrem Stand und Vermögen, und gab ihnen mit stillen Gesicht gute, feste Händedrücke mit auf den Weg. Aber als sie am Abend die Holzläden vor das Schaufenster und vor die Tür getan und die Riegel geschlossen hatte, da ging sie in ihr Gärtlein hinter dem Haus, beugte sich zu einem rotblühenden Nelkenstock herunter und sagte mit schwerer Stimme: »O Gottlieb!« Und in dem Wort lag so viel Kummer und so viel Liebe und so viel vergebliche Sehnsucht und Sorge, als ein volles, zugeschlossenes und gedul-diges Mutterherz nur fassen kann. Der Nelkenstock nahm ein paar große, war-me Tropfen in seine offenen Blüten auf, obgleich der Abendhimmel klar und licht war, und vielleicht duftete er darauf noch stärker als vorher. Der Nelkens-tock stammte noch von ihrem Gottlieb; er war aus einem Ableger von demjeni-gen gezogen, der das Mansardendach vor seiner Bubenkammer mit seinen pur-purnen Blüten überschüttet hatte. Darum war er der Mutter ans Herz gewach-sen. Aber Antwort konnte er doch nicht geben auf das dringliche Fragen ihres Herzens:
Bub, lieber Bub, wo bist du? und was schaffst du? und wenn du noch lebst, wie mag dir’s zu Mut sein, wenn du es hörst, daß das Land in Gefahr und Not ist? Gleich ist dir’s nicht, so wenig wie mir. Wenn ich dir’s nur sagen könnt’! Wenn ich dir nur einen Strauß von den Nelken an den Helm stecken könnte und einen in den Gewehrlauf, und hinter dir drein gucken, wie andere Mütter ihren Buben. Ich tät’ dich nicht halten, wenn ich auch dürfte, und ich könnt’ auch nicht. So einen Hitzkopf, wie dich.
Da mußte die Mutter in all ihre suchenden Gedanken hinein lächeln, wenn sie dachte, daß sie ihren Buben vom Kriege zurückhalten wollte, falls er da wäre; den und halten, wenn er etwas wollte!
Sie stand auf und ging das Gartenweglein hinunter, bis da, wo der kleine Garten an die Wand des Nachbarhauses anstieß. Dort setzte sie sich müde auf das Bänklein, das der Gottlieb noch gemacht hatte, eh’ er fortging von ihr. Das war jetzt sechs Jahre her. Damals war er sechzehn gewesen, klein und mager, ein leibarmes Bürschlein. Kein Mensch hätte vom bloßen Ansehen wissen kön-nen, wie wild und hitzig und ungefügig er war, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Höchstens an dem steil aufstehenden Haar sah es, wer es wußte, und an den Augen, die aus tiefen Höhlen heraus Funken schießen konnten. Wie er jetzt wohl aussah? Sie besann sich oft darüber. Im Traum und im Wachen sah sie ihn vor sich. Aber immer wie damals, und sie hätte doch so gerne sein jetziges Bild gehabt. Seine Schulkameraden hatten jetzt Schnurrbärte und waren ausgewachsene junge Männer.
Als die Mutter mit ihren Gedanken so weit war, sah sie ihre Tochter von weitem die Gasse heraufkommen. Sie hatte eine breite, gedrungene Gestalt, so jung sie war, und sie ging ein wenig schwerfällig, denn sie stand vor der Ge-burt ihres ersten Kindes. Unter einer Haustür blieb sie stehen und sprach zu jemanden, den man nicht von hier aus sehen konnte, ins Haus hinein. In dem Haus wohnte eine Freundin von ihr, deren Mann morgen fort mußte.
»Die Lene wird froh sein, daß der Jakob nicht in den Krieg muß,« dachte die Schmidbergerin. Denn der Tochtermann hatte einen stark verkürzten Fuß und war militärfrei.
»Ich weiß nicht, ich gönn’s ihr, zumal jetzt, wo das Kind um den Weg ist. Aber ich, wenn ich jung wär, ich glaub’ es wär mir ein Leid, wenn meiner nicht mitkönnte. Grad wenn ich ihn gern hätte und einen Stolz auf ihn haben möchte.«
Die Mutter fühlte sich oft nicht recht eines Blutes und einer Art mit der Tochter, die ihr doch nie Sorgen und Kummer gemacht hatte. Die Lene war wohl mehr ihres Vaters Tochter, brav, nüchtern und ein wenig phlegmatisch. Den Flaschner Bäuerle
hatte sie genommen, weil er ihr ähnlich war und weil er ein gutes Geschäft hatte. Von dem Bruder sprach sie nicht gern. Sie schämte sich seiner, denn er war als ein Tunichtgut in aller Leute Mund und hatte mehr Streiche verübt als sonst irgend ein Bub im Städtlein, noch eh’ er seiner dritten Meistersfrau bloß aus Zorn über ein paar empfangene Ohrfeigen einen Stein durchs Fenster und an den Kopf geworfen hatte.
Der Vater hatte damals den Gottlieb halb tot geprügelt und am andern Mor-gen war der Bub fortgewesen und hatte noch Geld mitgenommen. Seither prophezeiten alle Schluderbacher, daß er ein böses Ende nehmen werde, und nur seine Mutter hielt an ihm fest und meinte, es sei doch ein guter Kern in ihm, der eines Tages herauskommen werde. Wie eben die Mütter sind, beson-ders wenn sie, wie die Schmidbergerin, so ein Büblein schon mit in die Ehe gebracht haben und nun ihrer Lebtag meinen, sie haben etwas an ihm gutzu-machen.
Die Lene hielt aber zu ihrem Vater, der darüber verstorben war, daß der Bub, den er gehalten hatte wie seinen eigenen, seiner Meinung nach, ein Tunichtgut sei und bleibe. Auch wollte der Flaschner Bäuerle nicht viel von dem Schwager wissen und war froh, daß er fort sei.
So war die Mutter allein mit ihrem heimlichen Kummer und ihrer großen Li-ebe und auch allein mit ihrem warmen und raschen Herzen, das sie aus ihrer Jugend mit herübergebracht hatte und das immer noch feurig schlagen konnte, wo etwas Großes und Lebendiges geschah. Sie hätte gern einen Helden aus ih-rem Haus und Blut dem Vaterland gestellt, dem sie sich plötzlich mit allen Sin-nen verwachsen und verwandt fühlte, seit es angegriffen und in Not war.
»Wenn nur auch gewiß alle gehen und ihre Schuldigkeit tun,« dachte sie ein wenig sorgenvoll und ließ ihre Gedanken in allen Häusern, die sie kannte, he-rumgehen.
»Ach was, sie werden schon,« wies sie sich zurecht. »Wenn Not an Mann geht, weiß ein jeder, wo er hingehört.« Und wie zur Bestätigung dieses Gedan-kens klang von weitem ein Lied auf, von vielen Männerstimmen im Marschie-ren gesungen. »Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt.«
Da schossen dem einsamen Weib die Tränen in die Augen vor einer heiligen Freude und Liebe.
Wie die Stimmen vorüberzogen und verklangen, schlug eine einzelne Stimme an ihr Ohr. Sie kam aus dem offenen Fenster des Nachbarhauses, in dessen Nähe sie saß. Es war eine tiefe Männerstimme und sie gehörte dem Weber Boßhardt, der das Haupt der kleinen Pietistengemeinde des Städtleins und der Stundenhalter war. Die Schmidbergerin horchte auf. Boßhardt betete den Abendsegen mit seiner kleinen Hausgemeinde. Sein Sohn und der Knecht mußten heut in der Nacht noch fort, dann blieb der alte Mann, der ein Witwer war, allein mit der Hauserin.
Die Schmidbergerin tat unwillkürlich die Hände zusammen beim Zuhören. Es waren die großen, feierlichen Worte eines Psalms, die in die tiefe Dämme-rung herausfielen.
»Denn er hat seinen Engeln befohlen, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen, daß sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stößest. Auf den Löwen und Ottern wirst du gehen, und treten auf den jungen Löwen und Drachen. Er begehret meiner, so will ich ihm aushelfen, er kennet meinen Namen, darum will ich ihn schützen.«
Als der Vorleser so weit war, fiel wieder naher Soldatengesang in die Stille hinein, und das Fenster wurde von innen leise zugemacht.
»Jetzt segnet der Jedele seinen Sohn und seinen Knecht zum Auszug,« dachte die Schmidbergerin. »Er läßt einen jeden ein Blättchen aus dem Ziehkästlein mit den Bibelsprüchen herausgreifen als Wegzehrung. Und er sagt ihnen zum Abschied, daß er daheim tun wolle, wie Aaron bei der Amalekiterschlacht, der oben auf dem Berge die Arme zum Himmel streckte, so lang unten im Tal die Schlacht tobte. Da nehmen sie einen Rückgrat mit von daheim und im Kugelre-gen fällt ihnen auf einmal ein, daß der alte Mann in Schluderbach für sie zu Gott ruft und daß sie siegen müssen.«
Sie seufzte. »Mein Gottlieb ist bei Nacht und Nebel aus dem Fenster gestie-gen und hat den Rücken voll blutiger Striemen gehabt von seinem Stiefvater. Seinen rechten hat er nicht gekannt. Und seine Mutter hat ihn müssen laufen lassen ohne ein b’hüt Gott. Und was aus ihm geworden ist, weiß sie nicht.«
Sie zog ihren Geldbeutel aus der Tasche, und aus einem verschlossenen Fach desselben einen ganz zerlesenen Zettel. Sie konnte ihn auswendig, aber sie wollte die Schriftzüge ansehen. Sie waren alles, was sie seitdem von ihrem Bu-ben hatte.
»Liebe Mutter, ich bin in Amerika. Das Geld kann ich noch nicht schicken, aber sobald es mir möglich ist, schicke ich es. Ich schaffe in einer Ziegelei, es ist streng, aber schlagen tut mich niemand und auch niemand sagt, daß ich ein Lump werden müsse. Liebe Mutter, ein Lump werde ich nicht, und an Dich denke ich immer. Wenn ich etwas Rechtes geworden bin, schreibe ich wieder.
Dein Sohn Gottlieb.«
Es war dunkel geworden. Die Mutter tat den Zettel, den sie nicht gelesen, nur hergesagt hatte, wieder an seinen Platz.
Das Gartentürlein knarrte. Die Tochter kam den Weg herunter; sie hatte ihren Schwatz beendigt und wollte noch nach der Mutter sehen. Seit sie das Kind un-ter dem Herzen trug, zog sie es eher als vordem einmal zu ihr.
»Ich hab’ Dir bloß noch guten Abend sagen wollen, Mutter,« sagte sie.
»Lang aufhalten kann ich mich nicht mehr. Der Jakob will noch an den Bahnhof gehen und ich geh’ auch mit. Um zehn Uhr fährt der Zug ab mit den Unsern, unser Geselle ist auch dabei. Den Jakob kenn ich gar nicht mehr. Er schimpft den ganzen Abend über seinen kurzen Fuß. ›Wenn ich den nicht hätte, könnt’ ich mit hinaus,‹ sagte er. ›Wie an der Kette komm’ ich mir vor.‹« Sie gingen miteinander aufs Haus zu. Im Gehen bückte sich die Tochter hie und da zu den Blumen, die in schmalen Rabatten längs des Weges blühten. Ein vol-ler Strauß entstand unter ihren Händen.
»Den will ich dem Christoph geben, unserem Gesellen. Er ist fremd hier und hat keinen Schatz und keine Mutter. Man kann ihn doch nicht so hinauslassen.«
Die Mutter sah sie beifällig und freundlich an.
»Nimm auch von den Nelken,« sagte sie.
»Was, von deinem heiligen Nägelesbusch?« staunte die Tochter.
»Den hat sonst kein Mensch anrühren dürfen! Als der Jakob mein Bräutigam war, hab’ ich ihm einmal eine Nelke anstecken wollen, da hast du gleich ge-sagt: Laß den Stock in Ruh’, der ist mein allein. Der Jakob hat sich geärgert damals, wenn er auch nichts gesagt hat!«
»Das ist heut eine andere Sache. Hörst du, wie sie singen auf der Landstraße drüben? »O Deutschland, hoch in Ehren,« singen sie. Das sind die von Hol-derwies und vielleicht die von Ambach dabei. Die kommen vom Acker weg und vom Hof und Haus. Alles lassen sie hinter sich und singen noch, wie wenn sie zu einem Fest gingen. Das Herz möcht’ man sich aus der Brust nehmen und ihnen geben, nicht bloß ein paar Blumen.« Der Mutter Stimme zitterte vor Bewegung.
Die Tochter suchte durch die Dunkelheit ihr Gesicht.
»Dich kennt doch auch kein Mensch,« sagte sie. »Immer bist du anders, als man jetzt meint. Du lachst anders und heulst anders als andere Leut. Hast doch auch schon viel durchgemacht, und jetzt, wenn Krieg ist, und du könntest froh sein, daß du niemand fortschicken mußt, tust du, wie wenn dich alles am meis-ten anginge. Was ist? was hast denn?«
Es drang ein leise schluchzender Laut durch die Stille.
»Laß mich nur sein, wie ich bin,« sagte die Schmidbergerin, und schluckte ihre Bewegung hinunter.
»In dich geht alles langsamer hinein, als in mich. Du wirst’s schon auch noch spüren, wie das ist, was wir jetzt erleben, und daß wir alle aneinander hangen, alles was deutsch ist, wie einer Mutter Kinder, und daß wir der Mutter nichts geschehen lassen. Ich hab’ immer alles so stark spüren müssen, meiner Lebtag schon. Ich mach mich nicht mehr anders. Gut’ Nacht, Lene.«
»Gut’ Nacht, Mutter.«
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Wie die Tage nun kamen, einer nach dem andern, schwoll ihr Inhalt und das Geschehen, das sie brachten, zu einer unerhörten, ungeheuren Fülle an. Wer hat sie miterlebt und wird sie je vergessen? Da sei Gott vor, daß aus Deutschlands Herzen jemals schwinde, was da Offenbarung wurde aus den Tiefen der Volks-seele herauf: wir gehören zusammen; wir stehen, wie eine Mauer gegen die Feinde. Laßt sie zuhauf kommen, so viele ihrer sind, Deutschland geht nicht unter. Es ist ein innerstes Wissen geworden, daß wir siegen werden. Ein lei-denschaftliches Sich-Hingeben von allen, ein Sich-Opfern können, ein stilles, tiefes Gott-Gedenken: Du hilfst uns.
Der alte, engbrüstige Schneider Merz, der schon lang nach dem Tod gejam-mert hatte, machte sein Fenster auf, wenn die singenden Militärzüge an seinem Haus vorbeifuhren, und sagte zu dem Weber Boßhardt, der ihn besuchte: »Jetzt das muß ich sagen, das tät mich jetzt reuen, wenn ich schon gestorben wäre. Daß ich das noch erleben darf, das freut mich. Jetzt bloß noch so lang, wenn’s Gottes Will’ ist, bis man sieht, wie’s geht.«
»Gehen tut’s gut,« sagte der Weber Boßhardt. »Grad weil’s so viel Feind’ sind, denen wir nichts getan haben, und die sich alle ins Unrecht setzen gegen uns, darum muß es gut gehen. Daß das Wunder und die Hilf’ um so größer ist. So ist’s im Alten Bund auch gewesen. Gib einmal das Buch her.«
Der Schneider gab »das Buch« her und der Weber las:
»Wohl her, sprechen sie, laßt uns sie ausrotten, daß sie kein Volk seien, daß des Namens Israel nicht mehr gedacht werde. Denn sie haben sich miteinander vereinigt und einen Bund wider uns gemacht.
Die Hütten der Edomiter und Ismaeliter, der Moabiter und Hagariter, der Gebaliter, Ammoniter und Amalekiter, die Philister samt denen zu Tyrus.«
Da ging die Tür auf und die Schmidbergerin kam herein mit einer Suppe für den Schneider, der ihr nächster Nachbar war.
»Wißt ihr’s schon?« fragte sie, »die Japaner tun jetzt auch mit und der Lands-turm muß fort.«
»Assur hat sich auch zu ihnen geschlagen und helfen den Kindern Lots,« murmelte der Weber.
»Es ist, wie ich sag’! Für das deutsche Volk ist’s eine Heimsuchung, keine leichte. Aber wenn’s wettert, so machen die Kinder, daß sie unter Dach kom-men und heim, und so ist’s bei uns auch. Sie kommen alle, man sieht’s jetzt schon. Nicht bloß zum Militär, auch zu unserm Herrgott. Aber für die Feinde ist’s das Verderben.«
Als er das sagte, da glänzte sein trockenes, verknittertes Webergesicht über alle tausend Fältchen hin, wie von einem inwendigen, starken Licht und der Schneider sah ehrfürchtig zu ihm auf.
Die Schmidbergerin ging gleich wieder, denn sie mußte ihren Laden versor-gen, und hinter sich drein hörte sie noch den Weber sagen: »Gott, mache sie wie einen Wirbel, wie Stoppeln vor dem Winde.«
Aber sie hatte ein anderes Wort ins Herz gefaßt, das was der Weber von den verlaufenen Kindern gesagt hatte, die heimkommen, wenn’s wettert. Das kam zu einer heimlichen Hoffnung, die schon all die Tage daher in ihrem Herzen das Wort haben wollte, und die Hoffnung wurde stärker und froher daran, so still sie auch vor andern Leuten sein mußte.
Es kamen die Nachrichten von draußen herein, von Schlachten und Siegen und von vielen Verlusten. Die Verluste sah man nicht, man hatte nur ein bluti-ges und feuriges Bild von so einem Schlachtfeld vor den Sinnen, bis einmal ein Sanitäter auf einen Tag heimkam, der junge Provisor Mergentaler, der einen Lazarettzug begleitet hatte und der im Ochsen den aufhorchenden Männern erzählte, wie es da eigentlich herging. Die Wirtstochter, die ihn gern hatte, sah, daß sein Gesicht sich stark verändert hatte, es sah immer so gerade vor sich hin, wie in eine Ferne, und in der Ferne war Grausiges. Vom Ochsen kam es im Städtlein herum, was er erzählt hatte: ganze Bäche von Blut sah man rinnen, und am Abend, wenn man das Schlachtfeld absuchte, lagen viel stille Leute da unter den jammernden Verwundeten drin. Einer hatte ein Bild von seiner Frau in der Hand. Und neben einem andern lag ein Büchlein, das war rot gefärbt mit seinem Blut, und manche hatten sich in den Grasbüscheln festgekrallt. Aber das Ärgste war, daß der Sanitäter gesagt hatte: »Ihr Leut, es sind da Sachen, die kann kein Mensch wiedersagen, wer die sieht, der verlernt das Lachen für im-mer.«
Jetzt hätten die Weiber gern die Sachen gewußt, die man nicht sagen kann, denn wer konnte wissen, ob sie nicht gerade einen von den ihrigen angingen. Davon redeten sie hin und her und machten sich schwere Gedanken. Es war aber nicht nur eine, die, wenn sie die Schmidbergerin ansah, dachte, die habe es gut, und habe ihren Buben weit vom Schuß, und sie brauche ihre Lippen nicht so fest zusammenzupressen, sondern könne froh sein, obgleich es wahrhaftig nicht schad wäre um ihr Früchtchen.
Aber am selben Tag, als die Nachricht kam, daß von den vier Enkeln der al-ten Schulmeisterin zwei gefallen seien, bekam die Schmidbergerin auch ei-nen Brief, und als sie ihn gelesen hatte, ging sie merkwürdig aufrecht und hellsichtig herum, und das Pfarrersbüblein, das Essig holte, hörte sie hinten im Laden am Essigfaß vor sich hinsummen:
»Frankreich, o Frankreich, wie wird es dir ergehen,
wenn du die deutschen Soldaten wirst ersehen.«
Da wunderte sich das Büblein, weil die Schmidbergerin sonst nie so etwas tat, und weil sie aussah, als ob sie etwas von Herzen freue.
Am Abend aber, als sie den Laden geschlossen hatte, ging die Schmidberge-rin auf das Bänklein unter dem Fenster des Webers Boßhardt und wartete, bis er heraussah. Da reichte sie ihm fast verschämt den Brief, den sie hinter ihrem Schürzenlatz stecken hatte, und sagte: »Wenn Ihr ihn lesen wollet, Boßhardt; der Mensch braucht einen Menschen, nicht bloß im Leid, auch wenn er eine Freud’ erlebt.«
Der Weber sah sie mit seinen kleinen, hellblauen Augen freundlich an. Denn sein Herz ging über die kleine Gemeinde der Stundenleute hinaus und spürte, wo etwas Lebendiges um ihn her gleich ihm aus unsichtbaren Quellen trank oder sich nach ihnen hinsehnte.
»Kommt aber doch ins Haus, Nachbarin,« sagte er. »Die Lampe brennt schon und ich brauch’ meine Brille zum Lesen.«
Gleich darauf saß die Schmidbergerin auf der langen Bank, die drinnen in der Stube an der Wand hinter dem Tisch entlang lief, neben der Haushälterin, und der Weber saß oben am Tisch bei der Lampe, hatte die Brille auf und las mit der gleichen tiefen Stimme, wie er ein Kapitel aus der Bibel las:
»Lissabon, den …
Liebe Mutter!
Da wirst Du staunen müssen, daß ich hier bin im Königreich Portugal, das in Europa liegt. Ich bin aber bloß auf der Durchreise hier, denn Du kannst Dir denken, daß ich heimpressiere und zwar nicht nach Schluderbach, sondern sogleich zum Militär, wo man jetzt hingehört. Denn, liebe Mutter, wenn man im Ausland hört, daß alle zusammenstehen und wollen einem sein Vaterland verhauen, dann schießt einem das Blut in allen Adern herum und sucht einen Ausweg, so heiß wird es einem, und man merkt auf einmal, daß man ein De-utscher ist, an was man vorher oft nicht gedacht hat. Und man muß sich ke-inen Augenblick besinnen, daß man heim muß und mittun.
Liebe Mutter, als ich erfahren habe, daß Krieg ist, da bin ich mit meinem Herrn, der ein Ingenieur ist, hoch im Gebirge in Argentinien gewesen, wo mein Herr eine große Wasserleitung hat bauen sollen. Er ist auch ein Deutscher; ich bin außer ihm der einzige Deutsche an dem Werk gewesen. Als die Botschaft kam, da sind wir beide die Nacht durch gelaufen, manchmal in Sprüngen den Berg hinunter und weiter, immer weiter, und haben fast nichts geredet. Nur einmal hat mein Herr gesagt: »Jetzt kann ich’s wieder wett machen.« Aber was er wett machen wollte, daß weiß ich nicht, bloß das von mir selber.
Liebe Mutter, es hat mich schon oft umgetrieben, das muß ich jetzt sagen, daß Du hast um mich leiden müssen. Das reut mich, weil ich spüre, daß Du und ich zusammengehören und sonst zu niemand. Wenn man in der Fremde ist und hart durch muß, fallen einem viele Sachen ein. Ich hätte Dir auch oft gern geschrieben. In der Nacht hab’ ich’s mir oft ausgedacht, was ich Dir schreiben will. Aber bei Tag hab’ ich gedacht: wartest noch eine Weile, bis du sagen kannst: das und das bin ich geworden. Liebe Mutter, ich hätt’ es schon lang weiter gebracht, aber es ist mir immer wieder zur Unzeit der Zorn aufgefahren und habe ein paarmal meine Stellen verloren und einmal bin ich auch gesessen, weil ich einen halbtot geprügelt habe. Lügen will ich nicht, darum sage ich es Dir. Er ist aber ein Schuft gewesen, er hat es verdient.
Jetzt aber, liebe Mutter, wie wir nach ein paar Tagen an den Hafen gekom-men sind, mein Herr und ich, da haben wir erfahren, daß die Deutschen nir-gends durch können, weil die Engländer alle Schiffe absuchen und die Deutsc-hen gefangen nehmen. Es sei alles umsonst. Da ist mein Herr ganz still hinge-sessen und hat vor sich hingebrütet und übers Meer hinausgesehen. Aber ich habe gesagt: »Es muß zu machen sein, daß wir hinüber kommen, da soll uns kein Teufel und kein Engländer hindern.«
Liebe Mutter, es ist das einzigemal, daß ich gestohlen habe, nämlich zwei Pässe von Portugiesen, die mit mir in der Kammer geschlafen haben. Es reut mich aber nicht, denn die können wieder Pässe kriegen. Als ich damit zu meinem Herrn kam und ihm sagte, daß ich mir ausgedacht habe, wie wir reisen wollen, sah er mich traurig an und sagte: »Nein, nein, so kann ich nicht heim-fahren, es würde nicht gut ausfallen bei mir. Ich kann nicht Komödie spielen; es liegt nicht in mir. In Gibraltar gefangen sitzen möchte ich aber nicht.«
Dabei sah er aber aus, wie das Heimweh selber, und wenn ich an ihn denke, so sehe ich ihn immer so sitzen, den Kopf in der Hand, da brennt es mich im Herzen für ihn.
Aber ich bin anders. Wenn ich etwas muß, so muß ich. Den einen Paß warf ich ins Feuer, denn zurück konnte ich nicht mehr. Mit dem andern habe ich mich als Kohlenschaufler auf einem Schiff anwerben lassen, das nach Europa gefahren ist. Portugiesisch kann ich zur Not und auch ein bißchen Englisch. Die Haut und das Haar habe ich mir dunkel gemacht und habe einen alten Seemann-sanzug gekauft und dann ging es los. Als das Schiff heimzu schwamm, da hätte ich jauchzen mögen; denn das weiß kein Mensch, wie ich Heimweh gehabt ha-be in der Zeit vorher. Aber ich habe mich nicht mucksen dürfen und kein deutsches Wörtlein verlieren, sonst wäre ich verloren gewesen, denn überall waren Aufpasser von den Engländern.
Liebe Mutter, da habe ich mich aber zusammennehmen müssen, bei Tag und Nacht. Es ist mir oft angst gewesen, ich könnte im Traum deutsch reden. Oder wenn die Leute auf dem Schiff über Deutschland geschimpft haben, dann habe ich meine Fäuste im Sack ballen müssen, daß ich nicht losgefahren bin. Denn je näher heimzu, desto besser habe ich gespürt, daß ich eine Heimat habe und ein Vaterland.
Liebe Mutter, es ist das allerärgste, wenn man nirgends hingehört. Es ist schwer gegangen mit dem Verstellen, aber dennoch habe ich es fertig gebracht. In den Häfen, wo englische Offiziere aufs Schiff gekommen sind, da ist es am schwersten gewesen. Denn sie haben Verdacht auf mich gehabt und haben mich deutsch angeredet, ob ich mich vielleicht verrate. Aber ich habe getan, als ob ich sie nicht verstehe und habe den Kopf geschüttelt, da haben sie mich gelas-sen.
Es ist ein Heizer auf dem Schiff gewesen, der hat mir nicht getraut und hat mich immer den Engländern angezeigt. Ich habe ihn aber hier in Lissabon, als wir glücklich an Land waren, in eine stille Seitenstraße geführt und habe ihm vor Gott eine solche Ohrfeige hingehauen auf deutsch und ohne Worte, daß er an ein Haus hingetaumelt ist. Liebe Mutter, das reut mich auch nicht. Denn wenn ein Mensch heim will und seinem Vaterland beistehen, so soll man ihn lassen; das geht niemand etwas an.
Einen solchen langen Brief habe ich in meinem Leben noch nicht geschrieben und schreibe auch keinen solchen mehr. Morgen fahre ich mit der Eisenbahn heimzu. Sobald ich an der deutschen Grenze bin, stelle ich mich beim Militär. Eingelernt will ich bald sein, denn ich kann schießen und reiten wie ein Alter, und Strapazen bin ich auch gewöhnt.
Wenn ich im Feld bin, schreibe ich Dir eine Karte. Wenn der Krieg aus ist und ich lebe noch, dann komme ich zu Dir.
Dein Sohn Gottlieb.«
Der Weber hatte zu Ende gelesen. Er gab der Mutter den Brief zurück und sah sie freundlich an.
»Der Herr wolle ihn segnen und heimbringen,« sagte er.
Die Schmidbergerin war seine Sprache nicht recht gewohnt, denn sie ging nicht in die Stunde, aber es war ihr doch, als gebe ihr der Weber etwas Heiliges mit für ihren Gottlieb. Doch wußte sie nicht gewiß, ob mit dem Heimbringen das Wiederkommen nach dem Krieg gemeint sei und sie sagte fast schüchtern: »Man darf es schier nicht verlangen, daß man grad den seinigen gesund behält, wo so viele fallen; wenn er aber nur seine Schuldigkeit tut, das ist jetzt die Ha-uptsache. Ich bin ja froh genug, daß er überhaupt noch lebt, und daß er heim-kommt und weiß, wo er hinstehen muß, jetzt.«
Sie sah so froh aus, als sie ging, daß die Haushälterin, die ihr leuchtete, nicht das Herz hatte, ihr zu sagen, daß in dem ganzen Brief nichts von einer Bekeh-rung des Buben oder auch nur von einer bürgerlichen Tüchtigkeit stehe, und daß die Schmidbergerin scheint’s noch lange nicht wisse, was die Hauptsache sei. Die Haushälterin hatte ein etwas säuerliches Gemüt, aber seit sie dem mil-den Weber den Haushalt führte, schluckte sie hie und da eine Schärfe hinun-ter, die ihr sonst leicht über die Lippen trat.
So sagte sie nur: »Er hat’s schlau angestellt, dein Gottlieb, daß er die Engländer getäuscht hat, es hätt’ ihm können schlecht gehen unterwegs. Leut’ wird man brauchen können da draußen im Krieg. Auf dem Berg, sagt der Sai-ler, habe man heut wieder den ganzen Tag schießen hören vom Elsaß her.«
»Ich denk’s, daß man Leut’ brauchen kann,« sagte die Schmidbergerin so stolz und heiter, daß es der Haushälterin schier leid tat, ihren Stich nicht an-gebracht zu haben. Stolz brauchte sie nicht zu sein, die. Man wußte schon noch etwas von ihr, aus der leichtsinnigen Jugend her.
Aber da schritt sie schon die Gasse hinunter, dem Haus ihrer Tochter zu, die im Kindbett lag und einen Buben an der Brust hatte.
Und die Haushälterin schützte ihr Lämplein vor dem Nachtwind und ging ins Haus zurück, denkend, daß Reden Silber gewesen wäre, und daß es nicht alle-mal Gold sein müsse.
In Schluderbach ging gegen den Spätherbst hin die Rede, die Schmidbergerin tue seit neuerer Zeit, als ob der Krieg ihr gehöre. Geradewegs gesprächig war sie geworden. Zwar wo man im voraus jammerte um böse Dinge, die kommen könnten, und schlechte Aussichten eröffnete, da tat sie nicht mit. »Un-sere Männer werden’s schon schaffen,« sagte sie, »es ist mir gar nicht angst. Die stehen hin wie eine Mauer.«
»Unsere Männer,« sagte sie und niemand konnte ihr wehren, sozusagen. Denn sie hatte ja auch einen draußen im Feld, und man mochte sonst über ihn sagen, was man wollte, er hielt sich scheint’s nicht schlecht. Ja, die Meis-tersfrau, die dazumal den Stein an den Kopf bekommen und dem Gottlieb seit-her Galgen und Rad zugeschworen hatte, verzog ihr Gesicht zu einem halb är-gerlichen Lachen und sagte: »Da kann er seinen Jäst vertoben.« Denn er hatte bereits das Eiserne Kreuz bekommen, weil er ganz allein seinen Hauptmann aus lauter Farbigen herausgehauen und wie wütend mit dem Gewehrkolben um sich geschlagen hatte.
Der Hauptmann hatte an die Schmidbergerin geschrieben: »Ihr tapferer Sohn,« hat in dem Brief gestanden. »Ihr tapferer Sohn hat mir das Leben und meinen Kindern ihren Vater gerettet.«
Nicht, daß die Schmidbergerin damit groß getan hätte. Sie sagte zu keinem Menschen etwas darüber. Es stand aber in der Zeitung, dafür konnte sie nichts.
Aber sie ging umher, wie eine Junge, mit heiter-hellem Gesicht, besuchte die Soldaten in dem kleinen Lazarett, das in der Turnhalle eingerichtet war, und tat mit ihnen, wie eine Mutter: weil doch meiner auch draußen ist. Sie hielt zwei Zeitungen und las sie andächtig und mit Überlegung und wenn man vom Stand der Dinge sprach, so konnte sie Auskunft geben und hatte eine Meinung darü-ber, so gut wie der Stadtschultheiß, obgleich sie nicht mit ihm zusammen kam. In ihrem Lädlein ging es oft hitzig zu, denn die Ansichten gingen manchmal auseinander, besonders wenn die Blätter die feindlichen Tagesberichte brachten, die den deutschen zuwiderliefen, oder wenn sie gar Erzählungen von deutschen Greueln im Ausland abdruckten, die irgendwo in Paris oder London erfunden worden waren.
»Ist nur gut, daß es nicht wahr ist,« sagte dann die Schmidbergerin so ruhig als möglich, obgleich es in ihr kochte, daß man »Unseren« so etwas nachsagte. Dann war gewöhnlich einer da, der achselzuckend sagte: »Ha alles wird auch nicht erlogen sein. Unsere sind auch keine Engel. Überhaupt kommt man nicht mehr draus, wer lügt. Meine Frau hat einen Vetter, zu dem hat ein Unteroffizier gesagt, bei uns kommen auch Sachen vor –«
Aber da kam ihm die Schmidbergerin in die Rede.
»Das ist mir ganz eins, was eurer Frau ihr Vetter gesagt hat.« –
»Nein, ein Unteroffizier hat’s zu meiner Frau ihrem Vetter gesagt.«
»Was der Unteroffizier zu eurer Frau ihrem Vetter gesagt hat; wir tun so Sachen nicht, das brächten wir gar nicht übers Herz. Wenn einer einmal im Zorn zuschlägt, wo’s nicht sein müßte, das ist noch lang kein Greuel. Aber mit Fleiß und Bosheit tun wir’s nicht. Und Lügenmeldungen bringen wir auch nicht, das braucht’s nicht bei uns.«
Immer »wir« sagte sie, und darum redeten die Schluderbacher davon, daß die Schmidbergerin tue, als ob der Krieg ihr gehöre.
Aber sie rechnete sich nur ehrlich mit Leib und Leben dazu. Sie stand hinter ihrem Ladentisch mitten drin in den Schützengräben, in die das Wasser hineinlief, daß die Stiefel nicht mehr trocken wurden, und patrouillierte freiwillig auf gefährlichen Pfaden gegen die feindliche Stellung hin, und hörte das höllische Geknatter der Maschinengewehre und der großen Geschütze, bei dem man sein eigenes Wort nicht verstand, und stand nachts einsam auf vor-geschobenem Posten Wache, und litt tausend Schmerzen mit den Verwundeten, und suchte verborgene Gräben und Hecken ab, ob nicht einer drinnen liege, der sich verblute, wenn man ihn nicht bald finde. Das alles tat und erlitt sie durch die tausend Fäden, die von ihrem Herzen hinausgingen zu den Söhnen ihres Volkes, von denen einer ihr eigener war, wie das die Mütter so tun und erlei-den, denen in ihren wachen, hinaushorchenden Herzensgedanken allmählich alle, die draußen sind, so zu eigen werden, als wären sie alle ihres Blutes Kin-der, unter sich verbunden, und ihnen innig nah verwandt.
Es war an einem Abend am Ende des Oktobers, da kam grad als die Schmid-bergerin schließen wollte, noch ein kleines Dirnlein in den Laden und holte, was ihm die Mutter auf einen Zettel geschrieben hatte und gab das Geld dazu aus seinem zusammengepreßten Fäustlein her.
Die Schmidbergerin machte ihm die Tür auf zum Hinausgehen, denn es hatte Düten in beiden Armen, da flog ein lauer, starker Windstoß die Gasse herauf, der das Kind schier umgeblasen hätte. Es taumelte gegen die Schmidbergerin hin und diese sagte: »Ei, was für ein Wind auf einmal. Geh’ nur ganz nah an den Häusern hin, Dorle, sonst kommst du nicht heim.«
»Der Wind kommt von Belgien her,« sagte das Kind wichtig, und lachte, als ob es etwas Schönes wisse.
»Von Belgien? woher weißt du denn das?« fragte die Schmidbergerin erstaunt.
»Von meiner Mutter. Sie hat gesagt: Immer wenn der Wind über den Kälber-kopf herbläst, dann kommt er von Belgien. Da ist mein Vater. Vorhin hat sie gesagt: Laß dich nur durchblasen, das tut dir nichts, den Vater bläst er auch durch.«
Das Kind sprang unverzagt in den Wind hinaus und die Schmidbergerin fühlte eine seltsame Lust, sich auch von dem Wind aus Belgien her durch-blasen zu lassen. Sie tat ein Tuch um und schloß den Laden. Ihr Lämplein stellte sie brennend in den Hausflur, dann ging sie dem Wind entgegen die Gas-se entlang.
Am Haus ihrer Tochter stand sie still. Aus der Schlafstube kam das klägliche Weinen des Kleinen; die Lene war scheint’s bei ihm und trug ihn herum, man hörte sie hin und her gehen. Im Wohnzimmer saß der Tochtermann am Tisch und las die Zeitung. Man konnte von der Straße her die Stube übersehen. Einen Augenblick dachte sie daran, einzutreten. Aber sie ging weiter. Es war den ganzen Tag schon etwas in ihr, dem mußte sie jetzt ins Gesicht sehen, ganz al-lein für sich. Gleich hinter dem Städtlein ging eine stille Staffel in die Höhe, die stieg sie hinan. Als die Staffel aufhörte, breitete sich ein freier Platz aus, der war mit Gebüsch und Ruhebänken angelegt. In der Mitte stand eine junge Linde, die bog der Wind hin und her und sie ließ es sich schlank und ruhig gefallen, daß er mit ihrem Stamm und mit ihren weichen, fast nackten Ästen ein derbes Spiel trieb und ihr die letzten gelben Blätter entführte.
Die Schmidbergerin setzte sich auf die Bank unter der Linde und tat ein paar tiefe Atemzüge. Aber aus dem Haus, das den freien Platz auf einer Seite beg-renzte und das allein von allen im Städtlein so hoch gestiegen war, fielen Töne einer Ziehharmonika, die sie wieder vertrieben, denn sie mußte jetzt gerade etwas anderes hören. So stieg sie noch höher hinan, den schmalen Fußweg bis zu der Eiche, die oben an der Anhöhe mit weit ausladenden Ästen stand und über das Tal hinblickte. Hinter ihr ging ein Weglein an den Wald hinüber, der schwarz dastand, eine dunkle, lebendige Mauer. Der Vordergrund war ein brei-ter, großer Acker. Er war umgebrochen und die Schollen rochen herb und stark. Am Himmel flogen die Wolken hin, große, zerrissene, eilige Heerhaufen. Der Wind aus Belgien trieb sie vor sich her. Wie ein geschlagenes Heer. Oder war es anders? Mußten sie sich sammeln zu einem großen, gemeinsamen Ang-riff? Zwischen den flüchtigen Gebilden sahen die Sterne heraus, ruhig, groß und klar. »Die sehen über alles hin und lassen sich’s nicht anfechten,« dachte die Schmidbergerin. Sie zog ihr Tuch fester an sich, daß es der Wind nicht fortnehme. Also das war es, was sie umtrieb und was sie nicht zwischen Sch-mierseife und Heringen ausdenken konnte: seit sich ihr Gottlieb so wacker hielt im Feld draußen und auch anerkannt wurde von seinen Mitkämpfern und Vor-gesetzten, wuchs immer stärker der Wunsch und das Verlangen in der Mutter, daß er möchte am Leben bleiben und ein rechter, tüchtiger Mann werden in der Heimat. Jetzt war dann doch ein dicker Strich zwischen seinem früheren und seinem neuen Dasein. Die Mitbürger würden ihn achten lernen, und er würde es auch verdienen, gewiß, wenn er jetzt im Krieg so den Ernst und den Tod kennen gelernt hatte. Die Lene sprach schon jetzt in einem anderen Ton von ihm und ihr Mann auch. »Mein Bruder hat das und das geschrieben, das ist ei-ner, der.« »Mein Schwager ist Unteroffizier geworden, er meint, mit Belgien werde es vollends schnell gehen.«
Ihr, der Mutter, schrieb er fleißig Postkarten, wie andere Söhne ihren Müt-tern auch. Sie hatte sich noch nie so an ihm freuen dürfen, wie jetzt. Darum wallte eine Leidenschaft in ihr auf: sie wollte ihn behalten. Und neben der Leidenschaft eine zunehmende Angst: es trifft ihn. Du wirst sehen, es trifft ihn.
Das war vorher nicht gewesen. Da war alles lauter Freude und Stolz, daß er mittat, und daß sie nicht nebendraußen stehen mußte, wenn alle dem Vaterland ihre Söhne gaben.
Mit den Wolken flog schnell, in gleitenden Bildern und ohne Aufenthalt, ihr Leben an ihr vorbei. Ihre Mädchenjugend und der Dienst in der Stadt, und die hitzige Verliebtheit in den »besseren Bürgerssohn« und ihr Glaube an ihn. Und seine Heirat mit einer Kaufmannstochter, und das Büblein, das keinen Vater hatte, und das Abfindungsgeld, das sie dem Treubrecher gern an den Kopf geworfen hätte, und der junge Schmidberger, der das Geld und das tüchtige Mädchen gut in seinem Geschäft brauchen konnte und der nach langem Sträu-ben auch das Büblein dazu nahm und ihm sogar seinen Namen gab. Das hitzige Blut, das der Bub geerbt hatte, nur im höheren Grad, und der Vater, der »es ihm austreiben wollte«. Die tausend Streitigkeiten um ihn, die brave Lene, die schon mit fünf Jahren ein Tugendböldlein war und den Bruder beim Vater ver-petzte; sie selber, die Mutter, die sich nicht recht zu helfen wußte, weil man ihr tausendmal sagte, sie solle Gott danken, daß der Bub eine feste Hand über sich habe, er könne es brauchen, wahrhaftig.
Gott danken dafür, das tat sie nicht, denn sie meinte oft, die feste Hand mac-he ihr den Buben noch ganz zunichte. Aber sie wurde still und verschlossen, und bat nur ihren Gottlieb von Zeit zu Zeit: »Gelt, werd mir on verschieden ohne Kampf, denn er lag ganz freundlich da. Und haben wir ihn mit zwölf andern sogleich begraben und das sind lauter gute Kameraden gewesen und liegen gut beieinander im Feindesland.
Und umsonst sind sie nicht gefallen, denn die Stellung haben wir, und haben sie nötig gebraucht. Nun schreibe ich Ihnen bloß noch das, daß mein Kamerad Schmidberger für das Vaterland gestorben ist, einen schönen Tod.
Mit freundlichen Gruß Ihr
Paul Seidenschwanz, Musketier.«
Die Tochter Lene empfing die Leute, die kamen in die Ladenstube, hatte ein schwarzes Kleid an, und schluchzte hie und da ein bißchen.
»Erst vorige Woche hab’ ich ihm noch ein Feldpostpaket geschickt,« sagte sie, als einmal ein Häuflein beisammen war. »Das wird er wohl nicht mehr be-kommen haben.«
»Jetzt hätt’ er’s erst noch zu etwas bringen können,« sagten die Schluderbac-her, und das war das Höchste, was sie sagen konnten.
Der Weber Boßhardt war auch grad gekommen, um der Mutter die Hand zu geben, als sie das sagten. Die Schmidbergerin war aber nicht in der Stube, sie war ins Gärtlein gegangen, um einen Augenblick für sich zu sein, obgleich das Gärtlein kahl und abgeblüht dalag. Da ging er ihr nach, denn er wollte nicht vor vielen mit ihr reden.
Und er besann sich im Hinausgehen auf ein gutes Wort, das er ihr sagen wollte. Er hatte einen Zettel aus seinem Kästlein gezogen, suchenderweise. Da-rauf stand: wir aber, die wir stark sind, sollen der Schwachen Gebrechlichkeit tragen.
Aber der Weber kam sich nicht stark vor und wußte nicht, ob die Schmid-bergerin schwach sei. So legte er den Zettel wieder beiseite. Je länger sein Sohn draußen im Feuer stand, je sparsamer wurde der Vater mit allen großen und hohen Worten.
Als er das Gartentürlein aufklinkte, sah er, wie sie den Nelkenbusch mit der Hand streichelte und hörte sie mit schwerer Stimme sagen: »O Gottlieb! O mein Büble!«
Da wußte er, daß sie nun klagen mußte um ihr Kind, wie reiche und stolze und glückliche Mütter klagen müssen, wenn sie beraubt[ werden. Und er wußte, daß das ihr Reichtum werde, später dann, daß sie solchermaßen um ih-ren Sohn klagen konnte.
Sie sah ihn aber zögernd herkommen, richtete sich auf und sagte, wie wenn sie ihn erwartet hätte:
»Weber, ich muß Euch etwas zeigen von meinem Buben, das hat er mir zu-letzt geschrieben. Ich hab’s wollen für mich behalten. Aber er braucht’s nicht mehr, daß man’s ihm hütet.«
Sie zog ein Blatt aus ihrer Schürze, zeigte mit dem Finger auf eine Stelle, und der Weber las:
»Das eine muß ich Dir auch noch sagen, liebe Mutter, daß ich mir heut nacht auf der Wache, als ich habe eine Sternschnuppe fallen sehen, schnell gewünscht habe: einen ehrlichen Soldatentod. Denn ich passe nicht in den Frieden hinein, es wird mir oft alles zu eng und dann muß ich in etwas dreinschlagen. Jetzt weiß ich nicht, wie es wird. Denn aufs Wünschen kann man nicht gehen.
Wie aber der Morgen gekommen ist, hätt’ ich doch auch gern noch gelebt, denn ich bin doch auch noch jung. So ist es hin und her gegangen. Wie der Feldgeistliche am Sonntag gesagt hat: es hat ein jeder noch extra seinen Kri-eg in sich selber. Da hab’ ich’s mit dem Herrgott ausgemacht: meine Mutter soll noch eine Freud’ an mir haben. Sonst soll mir’s gleich sein.«
»Und jetzt?« fragte der Weber, als er gelesen hatte.
»Und jetzt muß ich halt eine Freud’ an ihm haben. Kann ich denn anders?« sagte die Schmidbergerin und lächelte in ihre Schmerzen hinein.
Da war der Weber froh, daß er seinen Zettel daheim gelassen hatte.
Er ging still wieder in die Stube zurück, um seine Kappe zu holen.
Dort waren sie immer noch an den Zukunftsaussichten, die der Gottlieb viel-leicht gehabt hätte.