DER MITSÜNDER

Von Anne Schieber

Er ging, als es am Dunkelwerden war, aus dem Hause, das er hinter sich abschloß. Es gab einen sonderbar hallenden Ton, als er die schwere alte Eichentür zufallen ließ. »Nun ist das Haus leer,« schien er zu sagen. »Du kannst ruhig ausgehen, es ist niemand, der dich vermißt und allerdings auch niemand, der auf dich wartet, wenn du nachher heimkommst.« Er hatte den Ton schon oft gehört, aber heute fiel er ihm ganz besonders auf. Das machte die Stimmung, in der er sich schon den ganzen Tag befand. Heute vormittag hatte er noch seine Amtsgeschäfte erledigt. Er war stellvertretender Amtmann an dem Oberamt der kleinen Stadt und noch nicht lange hier. Es war ein schönes, altes Städtchen mit Giebelhäusern und allerlei merkwürdigen Höfen, Treppenaufgängen und Erkern. Das war so recht etwas für ihn, das wollte er alles ausstöbern; es war ihm gar nicht angst, daß er sich nicht einleben würde. Aber heute, am vierundzwanzigsten Dezember, ging doch allerlei in ihm um, das über die Berge hinüber verlangte, mit denen Beerbach eingeschlossen war. Um es geradeheraus zu sagen, er spürte etwas wie Heimweh, obgleich er selbst das gefühlvolle Wort nie gebraucht hätte. Er hatte kein Elternhaus mehr, aber er hatte eine mütterliche Freundin, die ihm bis jetzt jedes Jahr einen Christbaum angezündet hatte und die eigentlich auch heute auf ihn wartete. Das heißt, jetzt mußte sie den Brief haben, in dem er ihr für diesmal abgeschrieben hatte. Er hatte es für besser gehalten, heuer nicht hinzufahren. Da war noch ein anderes Haus, dicht daneben, das durfte er jetzt nicht sehen, weil – kurzum weil er mit sich ausgemacht hatte, daß es noch nicht an der Zeit sei, zu reden, und weil er sich nicht traute, ob er schweigen könne. Aber darum zog es ihn nun doch dorthin, mächtig zog es ihn. Darum, als die Haustür so sonderbar zufiel, zog er noch einmal die Uhr aus der Tasche, um nachzusehen, ob es im Notfall doch noch auf den letzten Zug reiche. Es reichte aber nicht, er war schon abgefahren, das hatte er ja eigentlich auch gewußt. Da schlug er den Weg nach der alten Burg ein, die auf einer Anhöhe über dem Städtlein lag. Alle Beerbacher wußten, daß in der alten Burg, das heißt im Erdgeschoß, in der Weinwirtschaft der Frau Stängelin, der Stammtisch der jüngeren ledigen Herren war. Es lag da, neben dem großen Saal, in dem die vielen Tische und Bänke waren und in dem die Wahlversammlungen und andere große Gelegenheiten abgehalten wurden, ein hübsches, achteckiges Stüblein, mit dunklem Holz getäfelt, mit Butzenscheiben und Schiebfensterchen, mit alten Holzschnitten an den Wänden und mit hochlehnigen Stühlen um einen schweren Eichentisch her. Der Eichentisch hatte eine Fußleiste unten herum, und seine Platte war vielfach zerschnitten durch Namen und Daten längst vergangener und gegenwärtiger Geschlechter. Ein Kachelofen stand darin, der wie sein Bruder im Cleversulzbacher Pfarrhaus »halt so hinwärmelte«. Alles in allem war das »Nebenzimmer« in der alten Burg ein heimliches Eckchen und die Frau Stängelin war auch dazu angetan, es ihren Herren gemütlich zu machen. Ihr Markolsheimer und Kaiserstühler und Klingelberger war gut, und was sie kochte und briet, war auch gut. Also fühlten sich die jungen Männer, die noch kein eigenes Hauswesen hatten und denen am Abend die Einsamkeit aus den Ecken ihrer möblierten Zimmer entgegenkroch wie ein böses Tier, wohl in ihrer Atmosphäre. Sie hatte auch das Herz, daß sie hie und da dem einen oder andern eine mütterliche Wahrheit sagte, ohne Angst, ihr Klingelberger könnte es büßen müssen, und außerdem hatte sie eine wohlgefüllte Nähschachtel mit Knöpfen und Fäden, schwarzen und weißen, mit denen sie nicht geizig war und mit denen sie hie und da einen betreute, dem in seiner Stube niemand nach seinen Kleidern sah.

Heute abend hatte sie ein Bäumlein geschmückt mit weißen Lichtern und silbernen Fäden und ein Körblein mit Lebkuchen darunter gestellt. »Daß sie auch wissen, daß Christtag ist,« sagte sie vor sich hin, als sie den Berg hinunter schaute nach den Ersten, und dabei ihrer eigenen fernen Söhne gedachte, deren einer in einem Kurhotel an der Riviera die feinere Restaurationskunst erlernte und ein anderer in Amerika einen Jugendstreich verheilen ließ. Als der Abend dunkler wurde, kam zuerst der Ingenieur von der Gießerei, bei dem sich das Heimgehen nicht verlohnte, weil der Betrieb nur zwei Tage stillstand und sein Elternhaus im hohen Norden war, dann der Assistenzarzt vom Krankenhaus, dann der Buchhalter von der Falzziegelei, der eine Braut hatte und auf Silvester zu ihr fahren konnte, früher nicht.

Er kam lachend an. »Der Amtmann kommt auch,« sagte er. »Er hat noch eine Unterhaltung mit seiner Liebsten, der Rosel am schwarzen Eck. Wenn er sich dann trennen kann, dann kommt er.« Alle lachten, aber die Frau Stängelin sagte unters Lachen hinein: »Der Amtmann ist ein guter Herr, er ist ein Gemütsmensch. Was ich weiß, das weiß ich. Er hat vor acht Tagen die Buben, die das Rathausfenster mit den farbigen Scheiben eingeschmissen haben, laufen lassen, weil sie gar so erbärmlich gebettelt haben. Sie habens nicht mit Fleiß getan, es ist ihnen unversehens ein Stein zu niedrig geflogen. Einem hat er eine Ohrfeige heruntergehauen. ›Gib sie weiter,‹ hat er gesagt und hat die Bande hinausgejagt. ›Das Bild war ohnehin ein Greuel,‹ hat er nachher zu mir gesagt. ›Ich wüßte noch mehr Fenster in hiesiger Stadt, die eingeworfen gehören.‹«

»Ja, aber was hat er mit der Rosel am schwarzen Eck?« fragte der Ingenieur, dem ein verhutzeltes Weiblein mit tiefen Runzeln im Gesicht vor Augen stand. Es wohnte in einem Häuslein, das aussah, als ob man es umblasen könnte, drunten in der Leimgrubengasse gegen Zunzelbach zu. Ein mächtig großer, dunkler Steinblock war gegen das freistehende Eck des Häusleins gewälzt und lag so klotzig da, als ob es sein Amt wäre, das alte Gebäu vor dem Umfallen zu schützen. Er lag wohl schon seit unvordenklichen Zeiten da, so was die Beerbacher unvordenkliche Zeiten hießen. Aber daß er unter der Rauch- und Schmutzschicht, die die enge Gasse auf ihn gelegt hatte, ein großes eingehauenes Auge in einem Dreieck, von dem ringsherum Strahlen ausgingen, auf der wenigst rauhen Seite seiner Flächen trug, das hatte erst der junge Amtmann entdeckt, dem der Stein gleich aufgefallen war und der auf seinen Wegen, die ihn ins Freie oder auf die alte Burg führten, schon manchmal suchend vor ihm stillgestanden war.

Er hatte sich seine Gedanken darüber gemacht, woher der Stein komme und was das eingehauene Zeichen darauf bedeute und hatte auch mit dem Messer daran herumgekratzt, ob nirgends eine Inschrift, die Aufschluß gebe, zu finden sei. Aber er hatte nicht gesehen, daß dann hinter den grünlich angelaufenen Fensterscheiben des Häusleins ein altes Gesicht nach ihm sah und ein grauer Kopf verwundert wackelte, was wohl der Herr mit dem Stein wolle.

Der Buchhalter, der ein Spaßmacher war und gern uzte, hatte es aber gesehen und am Stammtisch erzählt, der Amtmann gehe fensterln bei der Rosel, und es hatte des ruhigen Respekts bedurft, den der Amtmann, ohne es zu wissen, seiner Umgebung einflößte, daß man ihn selber seither damit verschont hatte.

Aber heute wurde es ihm nicht so gut. Der Buchhalter war schon mehr als eine Viertelstunde da und nach ihm war noch der Ehrengast des Stammtischs, der alte asthmatische Revisor Lautenschlag angeschnauft gekommen, und noch immer mußte allem nach der Amtmann da unten stehen am schwarzen Eck, wo die Rosel ihren dürren Hals zu dem Schiebfensterchen herausstreckte. Das wurde ihm diesmal nicht geschenkt, das mußte er zu hören kriegen. Der Buchhalter war ganz in der Stimmung, irgend jemand »steigen zu lassen«, das war ihm jetzt ganz einerlei, wer es war.

»Jetzt kommt er,« sagte er profitlich, als er endlich draußen Schritte hörte und gleich darauf der Erwartete eintrat. Er hob sein Glas und brachte ihm einen Willkommensschluck, und dann fiel er an zu trällern: »Von allen den Mädchen so blink und so blank, gefällt mir am besten die – he, he, he –« er hustete ein wenig, dann fuhr er fort, »die Rosel. Prost, Herr Amtmann.« Frau Stängelin kam an den Tisch her, denn sie wollte jetzt nichts mißliebiges aufkommen lassen und sagte etwas über das Wetter, das sich heute nacht noch zum Schneien zu schicken scheine und über die Karpfen, die bald vollends fertig seien. »Sie sind der Letzte, Herr Amtmann,« fügte sie dann aber doch hinzu, denn sie war auch ein bißchen neugierig, was der junge Mann mit der alten Jungfer zu verhandeln gehabt habe.

»Das kann ich Ihnen sagen, warum er so spät kommt,« sagte ein bißchen geziert der Buchhalter. »Er hat nämlich, ich hab’s nämlich gesehen, daß er ein Rendezvous hatte mit einem schönen Fräulein. Ich bin nämlich vorbei gegangen, aber er ist zu vertieft gewesen, er hat mich nicht gesehen.« Jetzt lachten alle, nur der Letztangekommene nicht. Sein Gesicht trug einen ruhig-heiteren Ausdruck, mit dem war er aber schon hereingekommen. Er hängte seinen Hut und Mantel auf und sagte: »Schneien wird’s kaum, es ist zu kalt dazu. Der Himmel hat sich aufgehellt, man sieht schon da und dort einen Stern.« Dann rieb er sich die Hände, die ein wenig frostrot waren und setzte sich an seinen Platz.

Die Wirtin lachte in sich hinein und ging in die Küche.

»Der sagt bloß was er will, und was er nicht will, das sagt er nicht.«

Sie hatte Respekt davor, wenn es einer so machte.

Aber als das Essen vorüber war und das Bäumchen brannte und der Punsch seine duftende Dampfwolke aus der Schüssel steigen ließ, so oft man den Deckel abhob, und Frau Stängelin sich auf die Aufforderung ihrer Herren zu ihnen an den Tisch setzte, da konnte sie doch nicht anders, sie mußte den Herrn Amtmann fragen: »Jetzt Ihnen muß doch heute etwas Gutes passiert sein, das sieht man ja auf hundert Schritt. Dem Herrn Lerchenreuter seinen Spaß (der Buchhalter hieß nämlich Lerchenreuter), den muß man ja nehmen, wie den ganzen Mann, auf die leichte Achsel, aber alles was recht ist, etwas steckt doch dahinter, das könnten Sie einem doch erzählen. Also nämlich die Rosel –.«

»Also nämlich die Rosel,« tat zu aller Erstaunen der Herr Amtmann den Mund auf, »ist heute morgen bei mir vor Amt gewesen. Der Köbele« – der Polizeidiener des Städtleins, ein junger und scharfer und diensteifriger Mann, hieß Köbele – »der Köbele hat herausgebracht, daß sie heiße Holzasche in einem Weidenkorb auf ihre Bühne gestellt hat und daß der Korb angefangen hat, zu glosten. Wie es der Köbele herausgebracht hat, weiß ich nicht, er hat eine Spürnase für alles, was gegen die polizeilichen Vorschriften ist. Genug, er hat es gemeldet und die Rosel, wie Sie sie heißen, oder die Marie Rosine Lederer, hat eine Vorladung vor das Oberamt bekommen wegen Fahrlässigkeit mit brennbaren Stoffen.

Heute Vormittag haben wir nun aufgeräumt mit den Bagatellsachen. Da war zuerst der Bretzelbäck da mit seinem Lehrling, der in der letzten Samstagnacht seinen Kameraden heiße Laugenbretzeln an einer Schnur zum Fenster hinuntergelassen hat. Die Kameraden standen auf dem Staffelaufgang, der vom Schwörbach zu der Hollengasse heraufführt und fingen die Bretzeln auf. Der Bretzelbäck hätte selber nichts gemerkt, denn er war am Backofen beschäftigt, aber die Frau hörte im Bett das Gewisper der Buben, und sah, als sie aufstand um nachzusehen, wie ihr Strick von Lehrling eben eine neue Tracht an die Schnur gebunden hatte und wie sich die Hände der Buben darnach streckten.«

»Ja, sie hat überall Augen und Ohren,« sagte Frau Stängelin, »sie ist eine Neunmalgescheite.«

»Ja, also mit diesem Lehrling war der Bretzelbäck heute früh vor Amt,« fuhr der Amtmann fort. »Dann war der Fuhrmann Ringöhrle da, der sich wegen Tierquälerei zu verantworten hatte.«

»Das stimmt, er haut seinen armen klapperdürren Gaul so, daß man ihm die Peitsche aus der Hand nehmen und selber hinten überziehen möchte.« Frau Stängelin hatte die vollen Arme auf den Tisch gelegt und nahm im Eifer des Zuhörens dem Amtmann das Wort vom Mund weg.

»Es waren dann sonst noch ein paar Leute da, ein Hausierer aus dem Bayrischen, der keinen Hausierschein hatte. Den haben wir über die Feiertage eingesponnen, das hatte er ja wohl gewollt, als er den Hausierschein in den linken Stiefel steckte und tat, als ob er ihn verloren habe. Der Köbele sah das Papier oben herausgucken, aber nun mußte ich ihn strafen, weil er die Obrigkeit hintergangen hatte.«

Der Amtmann lächelte vor sich hin.

»Ja, ja, man kennt die Schliche,« sagte der Assistenzarzt. »Wir haben auch solche Feiertagskunden im Krankenhaus. Was will man machen? Irgendwo müssen sie doch sein über solche Tage.«

»Er hat heute abend eine warme Stube und Bier und eine Pfeife Tabak,« fuhr der Amtmann fort, »und es hat ihm jemand ein paar warme Schlappschuhe geschenkt. Er sagt, so ließe er sich den ganzen Winter einsperren.« »Ich sag’s ja, er ist ein Gemütsmensch,« sagte Frau Stängelin befriedigt, weil ihr Argument wieder stimmte, und sah sich Zustimmung suchend im Kreise um.

»Ja, also,« erzählte der Amtmann weiter, »und die ganze Zeit her, solang die andern abgehandelt wurden, saß die Marie Rosine Lederer wie ein Häuflein Unglück auf der Bank beim Ofen. Sie hatte ein rotes Kopftuch auf und hatte es tief ins Gesicht gezogen, daß man kaum noch die Nase darunter hervorgucken sah. Die Hände hatte sie im Schoß gefaltet und sah darauf hinunter und wackelte beständig mit dem Kopf.«

»Das tut sie immer, das ist vom Alter,« schob der Buchhalter ein, der seine Uzerei von vorhin ganz vergessen hatte.

»Als ich dann sagte: ›Köbele, führen Sie die Marie Rosine Lederer vor,‹ da zog sie ein karriertes Taschentuch heraus und wimmerte hinein: ›Ach du lieber Heiland, ach du lieber Heiland,‹ und kam mit schlürfenden, zitternden Schritten zu mir heran. Sie sah aus, wie das leibhaftige Elend, so daß es mich halb lächerte, und halb erbarmte, und der Köbele stand in militärischer Haltung neben ihr und machte ein grimmiges Gesicht. ›Es ist gut, Köbele, Sie können abtreten,‹ sagte ich, denn es war mir, sie fürchte sich vor ihm noch mehr, als vor mir, aber vorher mußte er noch einen Stuhl holen, denn sie konnte nicht stehen vor Angst.«

Jetzt sah der Amtmann auf einmal, daß der ganze Tisch ihm gespannt zuhörte und sah auch, daß sich seine Zuhörer einen Hauptspaß von dem Verlauf der Verhandlung versprachen.

Und vor ihm stand noch einmal das verstörte, flehende Gesicht der Greisin, wie es am Vormittag vor ihm gestanden war, und er hörte ihre Stimme, die aus einem faltigen Kröpflein heraus gurgelte: »O send se doch barmherzig ond strofet se me net, Herr Amtmann. Älles no dees net, no daß e ehrlich stirb ond net ens Buach komm.«

»In was für ein Buch?« hatte er gefragt.

»O en dees Buach, wo de vorbestrofte Leut neikommet. Sie häbet a groß’ schwarz’ Buach, do standet älle dren, wo gstroft worde seiet, hot mei Vatter ällamol gsait. Ond gucket se, von ons is no kois en dem Buach gstanda, bloß i alloi komm jetzt nei. Jetzt ben e sechsasiebezg ond emmer ehrlich ond redlich gwä, wenn e au no ledich ben. Wie ka-n-i en d’ Ewigkeit nüber zu meine Leut, wenn e jetzt vorbestroft werd? O send se doch barmherzich, Herr Amtmann, ond strofet se me net.«

Es waren große und schwere Tränen in den tiefen Furchen der Wangen und an der spitzen Nase entlang gelaufen und immer wieder mit dem karrierten Tüchlein abgetrocknet worden und dem jungen Mann war es eingefallen, daß er auch einmal in ohnmächtiger Furcht vor einem Mächtigen gestanden war und um Abwendung der Strafe gefleht hatte. Das war der Metzger Eitel in seinem Heimatstädtlein gewesen, der dem Siebenjährigen gedroht hatte, ihm »den Kopf zwischen die Ohren zu setzen«. Er mußte schier ein wenig lachen dem herzbrechenden Jammer des alten Weibleins gegenüber und sagte, sich zusammennehmend: »Sie kommen in kein Buch, Frau Lederer, seien Sie doch nicht so außer sich. Sondern Sie zahlen eine Mark Strafe und tun ein anderes Mal ihre Holzasche in ein Blechgefäß mit einem Deckel, dann ist alles vorbei und Sie sind unbescholten wie vorher.«

Aber es nützte nichts, auch nicht der Vorschlag des Herrn Amtmanns, in den sicher der vierundzwanzigste Dezember hereinredete, daß er selber die Mark für sie zahlen wolle.

»Sischt mer net om dui Mark, s’scht mer om d’ Schand’,« jammerte das Weiblein weiter. »O gibt dees en Christtag, gibt dees en Christtag! so han e no nia koin verlebt.«

Das alles zog in rascher Folge an dem Gemüt des jungen Mannes vorüber, als er in die gespannten, zum Lachen bereiten Gesichter seiner Zuhörer sah, und er konnte nicht fortfahren, sein Erlebnis des Vormittags ausführlich wiederzugeben, wenigstens erst von da an, wo die tröstliche Lösung einsetzte, die ihm im rechten Augenblick sein menschenfreundliches Herz eingegeben hatte.

Er sagte nur: »Es war ein rechtes Stück Arbeit, dem verstörten Weiblein klarzumachen, daß es sich nicht um eine Degradierung in der öffentlichen Meinung handle, es wollte mir lang nicht gelingen, bis mir auf einmal etwas einfiel.

»Sehen Sie,« sagte ich, »man kann einmal bestraft sein und es doch noch zu etwas Rechtem und einem guten Ansehen bringen. Ich, wie Sie mich hier sehen, ich bin auch vorbestraft und bin jetzt doch Amtmann hier, kein Mensch sieht mirs mehr an.« Da riß sie in ungläubigem Staunen ihre trüben und eingesunkenen Äuglein auf und schluchzte noch ein paarmal trocken auf. ›Wa – was, Sia send vorbestroft?‹ stotterte sie. ›Dees, dees kâ doch schier et sei, so a Herr, so a nobler ond rechter.‹ Aber ich blieb dabei, daß ich in Beziehung auf Polizeistrafen gleich stehe wie sie, ja, daß die meinige sogar seiner Zeit drei Mark gekostet habe, nicht bloß eine. Da fing ein sachtes Glänzen an, sich über ihre Runzeln zu verbreiten und sie hob ihre blaue Schürze, da das Tüchlein keine Feuchtigkeit mehr aufnehmen konnte, an ihr Gesicht, um es endgültig abzutrocknen und sagte aus der Schürze hervor: ›Jetzt wenn i nüber komm zu meine Leut ond mei Vatter will mer wüescht komme, weil i aufgschriebe be, no sag i oifach, der Herr Amtmann seiet der nemlich Sender wia i.‹

Und sie zog getröstet ab in solcher Gemeinschaft.«

Es hatte nun doch noch ein großes Gelächter gegeben am Stammtisch der ledigen Herren. Der Amtmann aber saß nach vollbrachter Erzählung still da und lächelte in sich hinein. Sie wollten wissen, auf was für eine Studentenübeltat, denn das sei es doch wohl gewesen, die besagte Strafe gefolgt sei, und er sagte, es sei wegen späten Singens durch die Tübinger Straßen in einer unerlaubt schönen Maiennacht gewesen. Da wollte ein jeder auch etwas erzählen, was er an seligen Jugendeseleien verübt habe und wie es ihm bekommen sei und der Amtmann saß still dabei und hatte noch etwas in sich, von dem er nichts gesagt hatte und auch nichts sagen wollte.

Als er nämlich bei seinem Weg auf die alte Burg an dem schwarzen Eck stillgestanden war, um an seinem Stein herumzuspüren, da hatte sich das Schiebfensterchen des windschiefen Häusleins aufgetan und eine dürre Hand, deren Besitzerin er erst seit heute kannte, hatte herausgelangt. »Denket Se no, i han no a Hefelaible bacha, so freut mi mei Leba wieder,« hatte die alte Stimme der Rosel am schwarzen Eck, wie man sie im Städtlein nannte, gesagt und ihm ein Stücklein ihres Gebäcks, in ein Zeitungspapier eingeschlagen, herausgeboten. »I wär jo net so keck, aber i han heut älls scho denkt, Sie häbet gwiß au koi Frau Mutter meh, sonst wäret Se doch hoimgfahre. Ond der Mensch mueß doch au ebbes Guats han en de Feiertäg.« Er hatte die Gabe eines dankbaren Herzens angenommen und den liebenden Blick gespürt, den ihm das alte Weiblein nachsandte. Nun lag das Stücklein Hefenbrot in seiner Brusttasche und wärmte etwas in ihm, das heute der Wärme bedürftig war. Als er aber still in dem lebhaften Kreise saß und bei sich erwog, wie er es mache, daß er den Heimweg unter dem Sternenhimmel allein gehen könne, ohne eine andere Gesellschaft als die seiner Gedanken, spürte er plötzlich, daß ihn jemand ansah. Und als er die Augen aufhob, begegneten sie denen der Frau Stängelin, die in überwallender Mütterlichkeit und alle ihre Gefühle darin zusammenfassend zu ihm sagte: »O Herr Amtmann, Sie sehen auf und nieder meinem Konrad gleich.«

Der Konrad war derjenige ihrer Söhne, der in Amerika auf einer Farm bei Verwandten arbeitete, weil er in der Heimat »etwas angestellt« hatte, und der Buchhalter schüttelte den Kopf über den Vergleich. Aber er war ihr Lieblingssohn und es war das Beste und Liebste, was sie zu sagen wußte.

Er aber nahm das Wort still und erfreut in sich hinein und bewegte es in erwärmtem Herzen, als er gleich darauf und zuerst von allen unter dem großen brennenden Christbaum des nächtlichen Himmels dem schlafenden Städtlein zuschritt.