WIE FRAU HEILEMANN AUF IHRE KOSTEN KAM
Von Anna Schieber
Es war eine schöne Stube, schöner als Laura in ihrem Leben noch eine gesehen hatte. Lauras Leben war noch nicht sehr lang, fünf Jahre dauerte es nun, dies hier war das sechste, das hatte aber kaum begonnen. Indessen hatte sie doch schon verschiedene Stuben gesehen. Sie saß auf einem hölzernen Kinderstühlchen und war eben daran, sich zu verwundern, wie das alles zugehe. Zuerst war etwas gewesen, schon lange – schon sehr lange, dachte Laura, etwas Helles, grüne Bäume waren dabei gewesen und ein Bach, über den Bach ging ein Brücklein, und Laura meinte, es sei etwas mit Enten vor sich gegangen, mit Enten, die unter der Brücke durchschwammen und schnatterten. Aber genau wußte sie das nicht mehr. Dann kam etwas, das war deutlicher, aber nicht so hübsch. Eine Giebelstunde mit einer schrägen Wand, und an dem einen Fenster die rasselnde Nähmaschine. Allerdings, an der Nähmaschine war immer die Mutter gesessen. Doch, es war auch schön gewesen, wenn man es recht bedachte. Von dem zweiten Fenster aus hatte man ein großes Stück von der Welt gesehen, bis hinten hin, wo sie mit dem Himmel zusammenstößt, und dann die Wolken. Nein, wie die dahinflogen! Die Mutter hatte einem das immer so schön erzählen können. Später hatten sie dann irgendwo hinten hinaus gewohnt, mit Aussicht auf einen Hof und eine Brauerei. Nun saß sie hier in Frau Heilemanns schöner Stube, in der alles glänzte und summte vor Behaglichkeit. Was nun wohl käme? Die Mutter war verreist, sie hatte einen bösen Husten und war im Schwarzwald, irgendwo, wo man wieder gesund wurde. Sie hatte ganz bestimmt versprochen, wiederzukommen, und Laura hatte dagegen versprechen müssen, »ein liebes Kind und nicht weinerlich« zu sein. Das hatte sie bis jetzt auch gehalten, es war aber auch erst drei Tage her. Hier in Frau Heilemanns Stube gab es viel zu sehen. Das war geschickt, denn umhergehen und gar spielen konnte man nicht so gut darin. Der Boden war ganz glatt und glänzend, und Frau Heilemann hatte sofort Filzschuhe für die kleinen Füße gekauft. Sie selbst trug auch solche, nur natürlich viel größer. Frau Heilemann war groß, breit und dick, so dick, daß Laura sich immer aufs neue wundern mußte, wie es solche Leute geben könnte. Sie selbst war so winzig dagegen, – wie ein Grashälmchen gegen einen Fliederbusch (obgleich sie natürlich den Vergleich nicht machte). Aber auch die Mutter war so dünn und schmal, daneben gesehen, Frau Heilemann hatte selbst gesagt, als sie abreiste: »Aus mir könnte man drei solche Mütter machen wie deine, Laura, obgleich es nicht nach meinem Wunsche geht, daß es so ist.«
Aber Laura hatte doch ihre Zweifel, ob es dann wirklich solche Mütter gäbe wie die ihrige, wenn man Frau Heilemann dritteilte. Sie dachte im stillen, sie wollte doch lieber, daß ihre eigene, einzige wieder käme. Im Vertrauen, und nur sich selber gestanden, Laura mochte eigentlich Herrn Heilemann lieber. Der hing in einem breiten Goldrahmen an der Wand, und war nur gemalt, aber das tat nicht soviel. Er blickte immer gleich freundlich auf das kleine Mädchen herunter, ja wenn man genau hinsah, so schien er mit den Augen zu zwinkern, als wollte er sagen: »Sei du nur ganz fröhlich, Kleines. Denn das ist ebensogut meine Stube wie ihre, ja, ich habe hier auch ein Wort mitzureden.« Laura verstand sich sehr gut mit ihm. Er hatte ein rundes, rötliches Gesicht und sehr blaue Augen und hatte eine geblümte Samtweste an, über die sich eine dicke Goldkette spannte. Aber er sah nicht aus, als ob er es schwer nähme, daß nun Laura für einige Zeit hier im Hause sei und Essen, Filzschuhe und schöne neue Schürzchen brauche. Frau Heilemann nahm es schwerer. Sie war eine entfernte Base von der Mutter und hatte sich bereit erklärt, das Kind aufzunehmen, solang diese fern sei. »Hoffentlich ist es nicht für ganz, denn das könnte ich natürlich nicht, ich bin nicht auf Kinder eingerichtet,« sagte sie, und Lauras Mutter versprach auch ihr das Wiederkommen, »soviel an mir liegt.« Natürlich, mehr konnte sie nicht versprechen. Aber Frau Heilemann baute fest darauf. Sie hatte nie selbst Kinder gehabt, und nun war sie alternd und kränklich (so dick sie auch war, ja, gerade darum). Nun konnte sie nicht noch anfangen. Auch war sie gerührt über sich selbst, daß sie »es ganz umsonst tue«. Das Geld war ja alles schwer erworben, leichter ausgegeben als verdient, und niemand fiel es ein, etwas umsonst zu geben. Aber so war sie nun, sie tat es ganz umsonst. Da mußte sie es doch hier und da wenigstens sagen dürfen. Laura wußte es nun allmählich gut, sie hatte es öfters gehört. Die Filzschuhe, das neue Schürzchen, und dann, heute abend, am Heiligen Abend, da kam das Christkindchen, Frau Heilemann hatte es gesagt. Es brachte etwas, das hatte sie auch gesagt, so war sie nicht, daß sie ein Kind im Hause hatte, ohne ihm etwas zu bescheren. Aber es kostete Geld, und wer gab es her? Wer? Es war sonderbar, Laura wußte es noch gut, sie hatte immer ein Bäumchen gehabt und Lebkuchen und eine Puppe, die jedes Jahr ein neues Kleid bekam. Aber gewiß hatte das Christkindchen dies alles umsonst gebracht, direkt vom Himmel her, von Frau Heilemann ließ es sich aber bezahlen. Eigentlich tat sie ihr ein bißchen leid, es mußte hier alles schrecklich viel Geld kosten. Frau Heilemann hatte denn auch immer ein etwas sorgenvolles Gesicht und eine etwas klagende Stimme, Herr Heilemann sah viel fröhlicher aus, so, als ob er nicht wüßte, daß das Leben eine so teure Sache sei.
Links und rechts von ihm hingen die Bilder von zwei alten Frauen. Sie hatten hohe, weiße Hauben auf und schöngemalte Spitzentücher über der Brust und machten gleichfalls freundliche Gesichter. Und unter ihnen kniete ein schwarzer Negerknabe in weißem Hemdchen auf der Kommode, der hütete eine Sparbüchse mit einem breiten Schlitz und bedankte sich jedesmal kopfnickend, wenn ein Geldstück in den Schlitz fiel; er sah unsäglich freundlich aus. Laura hatte eine große Sehnsucht danach, daß einmal jemand etwas in den Schlitz stecke, denn bis jetzt wußte sie das mit dem Kopfnicken nur vom Hörensagen. Sie war bisher ruhig auf dem hölzernen Stühlchen gesessen, – das hatte Frau Heilemann auch eigens ihretwegen angeschafft – nun stand sie auf und wagte sich auf ihren weichen Filzsohlen bis an die Kommode hin. Draußen fiel Schnee herunter in dichten, weißen Flocken, hier drinnen war es warm, still und fast feierlich, es war so unaussprechlich sauber. Ob sie es wagte? Frau Heilemann war in der Küche, da tippte Laura mit spitzen Fingerchen an den Kopf des Negers. Sogleich neigte der sich vor und – schwapp, wieder zurück. Nun hatte er sich bedankt und doch nichts bekommen. Das war wohl nicht ganz recht, und in eben diesem Augenblick kam Frau Heilemann herein und sah forschend herüber: ob Laura etwas verderbte? Kinder verderbten ja immer etwas. Ja, nun mußte es heraus; die Mutter hatte immer alles erfahren, was Laura tat, auch wenn es einmal etwas Ungeschicktes war. Hier ging es aber nicht so leicht wie bei der Mutter. »Ich habe ihm nichts geschenkt, ich habe ihn nur einmal nicken lassen.« Es war scheints nichts Böses gewesen, Frau Heilemann setzte sich in ihren mächtigen Armlehnstuhl und sagte nur etwas grämlich: »Das will ich glauben, daß du ihm nichts geschenkt hast. Mir schenkt auch niemand etwas, fällt keinem ein, und wenn zehnmal Heiliger Abend ist.«
Laura mußte sie aufmerksam betrachten. Sie war so blaß, obgleich ihr Gesicht so rund und voll war, und sie sah so aus, als ob sie gar nicht vergnügt wäre. Die Mutter hatte eigentlich viel fröhlicher ausgesehen, so um die Augen und den Mund herum, aber allerdings, das war auch die Mutter. Vielleicht war sie betrübt, daß ihr niemand etwas schenkte? Wenn Laura doch nur etwas gehabt hätte!
Frau Heilemann lehnte ein wenig im Stuhl zurück und atmete laut und stark. Und Laura fühlte, daß sie ihr noch ein wenig leider tat als vorher schon, – gleich hatte sie sie auch ein wenig lieber. »Bist du krank?« sagte sie. Eigentlich schüchtern war sie nicht, aber bei Frau Heilemann hatte sie bisher nicht soviel gewagt. »Krank?« sagte diese. »Das will ich meinen. Es glaubt’s nur niemand. Es fehlt mir überall, aber das verstehst du nicht.« Sie sagte es ein wenig patzig, aber als sie das aufmerksame Gesichtchen sah, das einen mitleidigen Ausdruck trug, wurde sie weicher. »Ich habe zu wenig Blut, viel zu wenig, fast gar keins!« fügte sie hinzu. »Aber was weißt du davon?« Doch, von Blut wußte Laura etwas. Sie hatte sich einmal mit einem Glasstückchen geschnitten, da war rotes, warmes Blut aus dem Fingerchen gelaufen. Und die Mutter hatte sich dann mit ihr darüber unterhalten, daß noch viel davon in dem festen, kleinen Körper sei. »Ich habe viel,« sagte Laura. Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ja, du, mit deinen runden, roten Backen, das will ich glauben. Aber das kann mir nichts helfen, du gibst mir doch nichts davon.« Frau Heilemann machte wieder ein strenges Gesicht und sah so still vor sich hin. Nein, fröhlich war sie nicht, das konnte ihr aber auch niemand zumuten. Sie hatte ihr ganzes Leben lang viel zu sorgen und zu schaffen gehabt und nicht sehr viel Freude dabei. Es war aber auch jedermann einerlei, ob sie sich freute oder nicht; Ansprüche machen, das konnte jedermann, mehr nicht. Nun mußte sie ja wohl hinausgehen und das Bäumchen richten; es war am Dunkelwerden. Es läutete eine Glocke von der nahen Kirche, und, merkwürdig, sofort regte sich etwas in ihr, das wie eine Sehnsucht oder Rührung sich anfühlte. Aber sie verstand es nur so, daß sie aufs neue dachte: ›Mir schenkt niemand etwas – nun, ich kann mir ja kaufen, was ich brauche.‹ Es war aber ein Verlangen nach Liebe und Freude, das wußte sie nur nicht. Laura war leise ans Fenster gegangen. Sie sah aufmerksam hinaus, wenigstens sah es so aus. ›Da kann ich auch die Lichter hier drinnen aufstecken,‹ dachte Frau Heilemann und ging hinaus, um das leere Bäumchen hereinzubringen. Aber dann brachte sie es doch übers Herz, die Überraschung war dann weg, und die Kinder waren nun einmal so. Also blieb sie eine Zeitlang draußen und schmückte es dort. Nun war Laura allein. Sie sah sehr ernsthaft darein. Wenn Frau Heilemann mehr Blut hatte, dann war sie sicher froher, und Laura hätte sie gern froh gemacht. So froh wie die Leute an den Wänden ringsumher und wie sie selbst und die Mutter. Sie hätte gern etwas von ihrem eignen hergegeben, aber das war da innen, das konnte man nicht nur so herausholen. Oder? damals mit den Glasscherben? Aber das hatte weh getan. Auch war kein Glasscherben da. Draußen schneite es nicht mehr, am Himmel tauchten Sternlein auf. Wenn jetzt die Mutter gekommen wäre! Es gingen allerlei Leute vorüber, sie trugen Pakete, und manche trugen Christbäume. Nachher kam wohl das Christkindchen und brachte Laura auch einen. Vielleicht noch mehreres, ach ja, vielleicht. Sie freute sich nun doch ein bißchen. Allerdings die Mutter! Aber Laura sollte nicht weinen, und das wollte sie auch nicht. Wenn nur Frau Heilemann – ja, das Blut. Da ging sie entschlossen an das große Nähkissen, das auf dem Tischchen stand, und nahm eine Stecknadel heraus. Zuerst sah sie sie zaghaft an. Dann streifte sie den weiten Ärmel ihres Kleidchens hinauf. Da hinein? aber es mußte doch sein. Sie war ein tapferes, kleines Ding. Au, es hatte doch gestochen, als sie die Nadel in das Ärmchen bohrte. Aber dafür quoll auch ein schönes, helles Tröpfchen Blut heraus, es sickerte noch ein wenig nach. Nun stand es groß und voll auf dem Ärmchen. Wenn es nur nicht hinunterfiel! Da, in diesem Augenblick ging die Tür auf. Hell brannten die Lichter an dem Bäumchen, das Frau Heilemann trug, und silbern und golden schimmerten die Kugeln daran. Und was trug sie im Arm? Etwas Blaues, es war sicher eine Jacke oder so etwas. Laura konnte sich aber nicht regen, sie mußte stillstehen, sonst fiel das kostbare Tröpfchen hinunter. »Nun?« Frau Heilemann hatte das Bäumchen auf den Tisch gestellt und das Blaue – es war ein Kinderkleid – daneben gelegt, jetzt wunderte sie sich, daß das Kind nicht herankam. Kinder pflegten doch sonst zu jubeln oder so etwas, wenn der Baum brannte. »Was ist?« Da machte Laura ein paar vorsichtige Schrittlein näher und bot ihr – und ihr Gesichtlein leuchtete von einer großen Schenkfreude – das Ärmchen. Das Blutströpflein glänzte im hellen Licht wie ein Rubin. »Da, kann man das brauchen?« fragte das Kind.
Ach ja, wohl konnte man das brauchen. Als sie es begriffen hatte, den ganzen Hergang und die ganze Herzensregung, da tat Frau Heilemann etwas, das sie nie zuvor getan hatte. Sie kniete neben dem Kind auf den Boden, nahm das ganze Gestältlein in ihre Arme und küßte vorsichtig, fast andächtig das rote Tröpflein hinweg und dann das Kind in seine beiden blauen, leuchtenden Augen hinein.
Es hatte geholfen, das konnte Laura deutlich sehen. Denn Frau Heilemann machte ein ebenso freundliches und frohes Gesicht wie die Leute an der Wand, nun, da sie mehr Blut hatte als zuvor. Die Lichter des Christbaums beschienen das junge und das alte Gesicht und die ganze Stube, und plötzlich schimmerten sie auch in ein paar großen, dicken Tropfen, die über das runde Gesicht der Frau Heilemann rollten. Daß da Liebe war. Daß da auch für sie Liebe war. Etwas, das sie nicht zu bezahlen brauchte, das sie geschenkt bekam! Irgendwo läutete es. Es läutete aus der Kirche. Und sie fühlte eine neue Regung im Herzen; es war – ja, es war die Kosten wert, es ging doch über alles andere, zu erfahren, was Liebe sei.
Etwas von sich selber geben, ja, sich selber! Und in den Christbaumlichtern lag ein anderer Glanz als sonst: das war schon immer so, du hast es nur nicht gewußt. Darum brennen wir, daran verbrennen wir: es war einmal Liebe, die gab sich selbst; es ist Liebe, die gibt sich selbst. Ja, und nun hatte Frau Heilemann etwas geschenkt bekommen.