Die Ehemänner der Mrs. Skaggs
Bret Harte
Die Sonne ging im Hügelland am Fuß des Gebirges auf. Erst vor einer Stunde hatte sich die schwarze Masse der Sierra östlich von Angels mit Feuer besäumt, und der Morgen, wie man ihn gewöhnlich versteht, war zwei Stunden eher mit der Postkutsche oben von Placerville gekommen. Die trockne, kalte, thaulose californische Nacht hielt zögernd sich noch in den langen Engpässen und faltenreichen Säumen des Tafelbergs auf. Selbst auf der Bergstraße war die Luft noch scharf, und jenes dringende Bedürfniß nach einem Schutzmittel gegen das Frösteln, welches den Schenken auf der Station schläfrig unter seine Flaschen und Weingläser sandte, bemächtigte sich Aller auf der Straße entlang.
Man konnte vielleicht sagen, daß das erste Leben sich in den Schenkstuben regte. Einige Vögel zwitscherten in den Platanen neben der Straße, aber lange vor dem klirrten Gläser und gluckten Flaschen im Salon des Mansion House. Dieser war immer noch erleuchtet von einer verschwelgt aussehenden Hängelampe, die sich augenscheinlich übel befand, weil sie die ganze Nacht aufgeblieben war, und die eine eigenthümliche Aehnlichkeit mit einem verlebten Nachtschwärmer hatte, der selbst jetzt noch in seiner Tülle auf einem Armstuhl unter ihr knisterte und flackerte – eine Ähnlichkeit so deutlich, daß, als der erste Sonnenstrahl durch das Fenster drang, der Schenke, von einem Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Mitleids bewogen, beide miteinander ausputzte.
Dann stieg in stolzer Pracht die Sonne auf. Als sie den östlichen Bergrücken passirt hatte, begann sie nach ihrer Gewohnheit ihre Herrschaft über Angels zu erstrecken, indem sie in zwanzig Minuten das Thermometer um ebenso viele Grade steigen ließ, die Maulthiere in den kargen Schatten von Hürden und Zäunen trieb, den rothen Staub weißlich schimmernd machte und ihre alten gewaltthätigen Angriffe auf die zugespitzten Buckel des convexen Schildes von Fichten erneuerte, welcher den Tafelberg vertheidigte. Dahin hatte sich gegen neun Uhr alle Kühle zurückgezogen, und die auf dem Dache der Postkutsche sitzenden Passagiere stürzten ihre heißen Gesichter in seine würzduftigen Schatten wie in Wasser.
Es war die Gewohnheit des Kutschers der Wingdamer Postkutsche, seine Pferde beim Herauffahren zu peitschen und nach Angels mit jener merkwürdigen Schnelligkeit hineinzujagen, welche die Holzschnitte im Schenkzimmer des Gasthofs der leichtgläubigen Menschheit als das gewöhnliche Schnelligkeitsmaß dieser Fahrgelegenheit darstellten. Zu solchen Zeiten steigerte sich der übliche Ausdruck verachtungsvoller Schweigsamkeit und träger amtsmäßiger Strenge, den er auf dem Bocke trug, wenn die Herumlungerer sich um das Fuhrwerk sammelten, und nur die Kühnsten wagten ihn anzureden. Es war der ehrenwerthe Richter Beeswinger, Mitglied der Volksvertretung, der sich das heute, vielleicht vorschnell, auf Grund seiner politischen Stellung herausnahm.
»Irgendwelche politische Neuigkeiten von unten, Bill?« fragte er, als der Letztere langsam von seinem erhabnen Sitze herabstieg, aber ohne daß er sich in Miene und Manier merkbar herabgelassen hätte.
»Nicht viel,« sagte Bill mit überlegter Ernsthaftigkeit. »Der Präsident der Vereinigten Staaten ist ganz außer sich gewesen, daß Sie jenen Sitz im Cabinet ausgeschlagen haben. In politischen Kreisen herrscht nur Ein Gefühl, das des Bedauerns.«
Ironie, selbst von dieser maßlosen Qualität, war in Angels etwas zu Gewöhnliches, als daß sie ein Lächeln oder ein Stirnrunzeln hervorgerufen hätte. Bill ging langsam in die Schenkstube während eines trocknen, todten Schweigens, in welchem nur ein schwacher Trieb, es ihm gleichzuthun, noch lebte.
»Das Mal hast Du jenen Agenten von Rothschilds wohl nicht mit ‘raufgebracht?« fragte der Schenke, der seinen bescheidnen Beitrag zu dem vorherrschenden Tone liefern wollte.
»Nein,« antwortete Bill mit nachdenklicher Genauigkeit. »Er sagte, er könnte sich jenen Landanspruch Johnsons nicht eher ansehen, bis er die Bank von England um Rath gefragt hätte.«
Der Mr. Johnson, auf den hier angespielt wurde, war zugegen. Er war der verlebte Nachtschwärmer, den der Schenke soeben ausgeputzt hatte, und da der gedachte Landanspruch notorisch keinerlei Anziehungskraft auf die Capitalisten ausübte, so erwartete man natürlich von ihm eine Erwiderung auf diese offenkundige Herausforderung. Er erfüllte denn auch diese Erwartung, indem er einfach bemerkte, daß er »in seins Zucker nehmen wollte«, und indem er unsichern Schrittes nach dem Schenktische ging, wie wenn er eine festliche Einladung annähme. Zur Ehre Bills sei berichtet, daß er den Irrthum nicht zu berichtigen versuchte, sondern mit ernster Miene mit ihm anstieß, und nachdem er gesagt: »Noch einen Nagel zu Deinem Sarge!« – ein heiterer Trinkspruch, dem von Andern scherzend hinzugefügt wurde: »Und daß Dir alle Haare vom Kopfe fliegen!« – stürzte er seinen Schnaps mit einer einzigen gewandten Bewegung von Kopf und Ellbogen hinunter und stand wieder angefrischt da.
»Hallo, alter Major!« sagte Bill, indem er plötzlich sein Glas niedersetzte, »bist Du auch da?«
Es war ein Knabe, welcher, indem er sich schüchtern bewußt wurde, daß dies Epitheton an ihn gerichtet war, sich seitwärts nach der Thür zurückzog, wo er stehen blieb und mit seinem Hut gegen die Thürpfoste schlug, wozu er eine gleichmüthige Miene annahm, zu welcher seine niedergeschlagnen, aber vergnügt blickenden schwarzen Augen und seine rothwerdenden Wangen kaum stimmten. Vielleicht war es seine Größe, vielleicht ein gewisser cherubartiger Schnitt seines Gesichts und seiner Gestalt, vielleicht ein eigenthümlich treuherziger Ausdruck in seinem Wesen, wenn er nicht halb so alt aussah, als er war; er war nämlich in Wirklichkeit vierzehn Jahre alt.
Jedermann in Angels kannte den Knaben. Entweder unter dem verehrungswürdigen Titel, den ihm Bill ertheilt hatte, oder als »Tom Islington«, nach seinem Adoptivvater, war er eine wohlbekannte Erscheinung in der Niederlassung und das Thema von viel localer Kritik und Deutung. Sein wunderliches Wesen, seine Trägheit und seine unbegreifliche Liebenswürdigkeit – eine ebenso Verdacht erweckende als dankbar anerkannte Eigenschaft in einer in den Anfängen begriffnen Ansiedelung wie Angels – war oft der Gegenstand heftiger Streitigkeiten gewesen. Eine große und achtbare Mehrheit hielt ihn für bestimmt, einmal an den Galgen zu kommen; eine Minderheit, die nicht so achtbar war, freute sich seiner Gegenwart, ohne sich sehr um seine Zukunft bange sein zu lassen; für Einen oder Zwei besaßen die üblen Voraussagungen der Mehrheit weder etwas Neues noch etwas Schreckliches.
»Was für mich, Bill?« fragte der Knabe halb mechanisch, mit der Miene, als wiederhole er ein scherzhaftes Formular, welches Bill vollkommen verstünde.
»Was für Dich!« erwiderte Bill wie ein Echo, aber mit übertriebner Strenge, die von Tommy gleichfalls gut verstanden wurde. »Was für Dich? Nein. Und ich meine, für Dich wird’s niemals nichts geben, so lange Du Dich in Schenkstuben herumtreibst und Deine kostbare Zeit mit Strolchen und Bummlern verlotterst. Marsch, fort!«
Die Strafpredigt war von einer passenden Uebertreibung in der Geberde begleitet, (Bill hatte nämlich eine Karaffe ergriffen) vor welcher der Knabe, immer noch vergnügt, retirirte. Bill folgte ihm nach der Thür. »Hol mich der Schinder, wenn er nicht wieder mit dem Bummler, dem Johnson, fort ist!« setzte er hinzu, indem er die Straße hinunterblickte.
»Was erwartet er denn, Bill?« fragte der Schenke.
»Ach ‘nen Brief von seiner Tante. Rechne, der kann lange warten, bis er einen kriegen thut. Sind vermuthlich froh, daß sie ihn los sind.«
»Er führt hier ein zweckloses, träges Leben,« warf das Mitglied der Volksvertretung dazwischen.
»Na ja,« sagte Bill, der niemandem als sich selbst seinem Protégé Uebles nachzureden gestattete, »wenn man sieht, daß er kein Amt nicht von der Hand einer erleuchteten Volksvertretung erwarten thut, da ist’s freilich ein zweckloses Leben.« Nachdem er diesen parthischen Pfeil mit einem besonders starken Anziehen des Bogens abgeschossen, um seine Absicht, persönlich zu beleidigen, merken zu lassen, blinzelte Bill dem Schenken zu, zog langsam ein Paar ungeheure, wulstige Buckskinhandschuhe wieder heraus, welche seinen Fingern das Aussehen gaben, als ob sie schmerzhaft geschwollen und umwickelt wären, schritt, ohne jemand anzusehen, nach der Thür, rief laut: »Alles ‘rein!« wobei er die sorglose Miene der alleräußersten Gleichgültigkeit, ob die Einladung beachtet werde, zur Schau trug, stieg wieder auf seinen Bock und fuhr dumm und stumpf von dannen.
Das war vielleicht gut von ihm; denn das Gespräch nahm mit einem Male eine mißachtende Haltung gegen Tom und seine Familie an. Es wurde mehr als blos angedeutet, daß Toms angebliche Tante niemand anders als seine leibliche Mutter sei, während ferner behauptet wurde, daß Toms angeblicher Oheim seinerseits an dieser nahen Verwandtschaft mit dem Knaben nicht in dem Maße Theil hatte, als der hochfliegende Geschmack von Angels für moralisch und nothwendig erachtete. Die öffentliche Meinung glaubte auch, daß Islington, der Adoptivvater, der zum Unterhalt des Knaben einen gewissen Zuschuß bekam, denselben als Belohnung für sein Schweigen in Betreff dieser Thatsachen für sich behalte.
»Er wird sich nicht zu Grunde richten, indem er’s für den Jungen wegschmeißt,« sagte der Schenke, der möglicherweise positive Kenntniß von vielen Ausgaben Islingtons besaß. Aber hierbei angelangt, gab die erschöpfte Natur bei mehreren der Debattirenden gänzlich nach, und er wendete sich von dieser frivolen Unterhaltung den ernsteren Pflichten seines Geschäftes zu.
Es war ferner gut, daß Bills momentan angenommene Haltung lehrhaften Schicklichkeitsgefühls nicht weiter noch durch die folgende Aufführung seines Protégés gereizt wurde. Denn jetzt erreichte Tom, indem er den unsicher wandelnden Johnson halb stützte, welcher die Neigung verrieth, gelegentlich über die im Sonnenbrand leuchtende Straße hinüberzuschießen, sich aber jedesmal in der Mitte stemmte, die Umzäunung, welche an das Mansion House grenzte. An deren fernerem Endpunkte war eine Pumpe und ein Trog für die Pferde. Hierhin führte Tom seinen Gefährten ohne ein Wort zu sprechen, aber augenscheinlich gehorsam irgend einem gewohnten Gebrauche. Unter dem Beistande des Knaben zog Johnson hier seinen Rock aus, band sein Halstuch ab, streifte seinen Hemdkragen zurück und hielt mit ernsthafter Miene seinen Kopf unter die Speiröhre. Mit gleicher Ernsthaftigkeit und Ueberlegsamkeit nahm Tom seinen Platz am Pumpenschwengel ein. Ein paar Augenblicke lang unterbrachen nur das Plätschern des Wassers und die regelmäßigen Schläge der Pumpe das feierlich lächerliche Schweigen. Dann gab es eine Pause, in welcher Johnson seine Hände an seinen Kopf legte, ihn kritisch befühlte, als ob er jemand anders gehörte, und seine Augen zu seinem Gefährten erhob.
»Das sollte es thun,« sagte Tom als Antwort auf den Blick.
»Wo nicht,« entgegnete Johnson mürrisch mit einer Miene, als wollte er sich von aller weiteren Verantwortlichkeit in der Angelegenheit lossagen, »so hat’s sein Theil gekriecht, damit Punctum.«
Wenn das »es« sich auf eine Veränderung in der Physiognomie Johnsons bezog, so war »es« wahrscheinlich durch den eben geschilderten Proceß »gethan« worden. Der Kopf, der unter die Pumpe fuhr, war groß und mit buschigem Haar von ungewisser Farbe bekleidet, das Gesicht geröthet, aufgeschwollen und ausdruckslos, die Augen mit Blut gefüllt. Der Kopf aber, der unter der Pumpe hervorkam, war von geringerer Größe und verschiedner Gestalt, das Haar glatt, dunkel und weich, das Gesicht bleich und hohlwangig, die Augen hell und unstet. In dem hagern, nervösen Ascetiker, der sich von dem Pferdetrog erhob, gab es sehr wenig Spuren von dem Bacchus, der sich einen Augenblick dorthinab gebeugt. So wohl bekannt Tom mit dem Schauspiele gewesen sein mußte, konnte er doch nicht umhin, einen fragenden Blick auf den Trog zu werfen, als ob er irgendwelche Spuren von dem früheren Johnson in seinen seichten Tiefen zu sehen erwartete.
Ein schmaler Streifen von Weiden, Erlen und Roßkastanien – eine bloße bestäubte und aufgedröselte Franse an dem grünen Mantel, der um die hohen Schultern des Tafelbergs hing, besäumte den Rand der Einzäunung. Das schweigende Paar beeilte sich, sich diesen Schirm vor der überwältigenden Sonne, so dürftig er war, zu Nutze zu machen. Sie waren noch nicht weit gekommen, als Johnson, der ganz hastig vorausschritt, plötzlich Halt machte und sich mit einem fragenden »He?« an seinen Gefährten wendete.
»Ich habe nichts gesagt,« erwiderte Tommy ruhig.
»Wer hat denn gesagt, daß Du gesprochen hättest?« sagte Johnson mit einem schnellen pfiffigen Blicke. »Natürlich hast Du nichts gesagt, und ich habe auch nichts gesagt. Niemand sprach. Wie kamst Du darauf, zu glauben, daß Du gesprochen hättest?« fuhr er fort, indem er Tommy neugierig in die Augen guckte.
Das Lächeln, welches dort gewöhnlich leuchtete, verschwand rasch, als der Knabe ruhig an die Seite seines Gefährten ging und, ohne ein Wort zu sagen, seinen Arm nahm.
»Natürlich sprachst Du nicht, Tommy,« sagte Johnson im Tone der Abbitte. »Du bist kein Junge, der einen alten Saufaus wie mich für ‘n Narren zu halten vorhat. Das ist’s, warum ich Dich leiden kann. Das ist’s, was ich gleich von Anfang an bei Dir wegkriegte. Ich sagte da: dieser Junge will Dich nicht für ‘n Narren halten, Johnson. Auf den kannst Du Häuser bauen, während Du Dich sonst nicht einmal auf einen lumpigen Schenkburschen verlassen kannst. Das war’s, was ich zu mir sagte. He?«
Dieses Mal nahm Tommy wohlweislich keine Notiz von der Frage, und Johnson fuhr fort: »Wenn ich Dir nun eine andere Frage vorlegen thäte, so würdest Du mich auch nicht für ‘n Narren halten – nicht wahr, nicht, Tommy?«
»Nein,« sagte der Knabe.
»Wenn ich Dich nu fragen thäte,« fuhr Johnson fort, ohne auf die Antwort zu achten, aber mit wachsender Hast im Auge und einem nervösen Zucken seiner Lippen, »wenn ich Dich nu zum Exempel fragen thäte, ob das ein Karnickelhacksch war, was just vorbeilief – he? Würdest Du da sagen, daß es einer war oder nicht, wie die Sache läge? Du würdest mich alten Mann deswegen nicht für ‘n Narren halten?«
»Nein,« sagte Tommy gelassen, »es war wirklich ein Karnickelhacksch.«
»Wenn ich Dich nun fragen thäte,« fuhr Johnson fort, »ob er zum Beispiel – na sagen wir, einen grünen Hut mit gelben Bändern aufgehabt hätte, so würdest Du mich nicht für ‘n Narren halten und sagen, er hätte einen aufgehabt, es wäre denn« – fügte er mit gesteigerter Pfiffigkeit im Blick hinzu, »daß er einen aufgehabt hätte.«
»Nein,« sagte Tommy, »natürlich würde ich nicht. Aber dann, sehen Sie, er hatte einen auf.«
»Wirklich?«
»Ja wohl,« wiederholte Tommy stramm, »er hatte einen auf, einen grünen Hut mit gelben Bändern und – und – einer rothen Rosette.«
»Die Rosette, die hab’ ich nicht gesehen,« sagte Johnson mit langsamem und gewissenhaftem Nachsinnen, aber offenbar mit dem Gefühl der Erleichterung. »Aber damit will ich nicht gesagt haben, er hätte keine draufgehabt, weißt Du. He?«
Tommy blickte seinen Gefährten ruhig an. Große Schweißperlen standen ihm auf der aschgrauen Stirn und hingen an den Spitzen seiner glatt herabhängenden Haare; die Hand, welche krampfhaft in der seinigen zuckte, war kalt und feucht, die andere, welche frei war, focht zwecklos und ziellos schlenkernd in der Luft, wie wenn sie an einen in Unordnung gerathenen Mechanismus geheftet wäre. Scheinbar ohne sich um diese Erscheinungen zu bekümmern, blieb Tommy stehen, und indem er sich auf einen Baumklotz setzte, winkte er seinem Gefährten, neben ihm Platz zu nehmen. Johnson gehorchte, ohne ein Wort zu sagen. So unbedeutend der Act war, so zeigte doch vielleicht kein andrer Vorfall auf ihrer seltsamen gemeinschaftlichen Wanderung so vollständig die Herrschaft dieses sorglosen, halb weibischen, aber sich selbst beherrschenden Knaben über diesen verstockt eigensinnigen, abnorm aufgeregten Mann.
»Ist das nicht recht närrisch,« sagte Johnson nach einer Pause nach einem Gelächter, das weder vergnügt noch musikalisch war und eine Eidechse hinwegschreckte, welche die Beiden mit athemlosem Staunen betrachtet hatte – »ist das nicht recht närrisches Zeug von Karnickelhäckschen, daß sie Hüte aufhaben, Tommy – nicht, he?«
»Na,« sagte Tommy mit unentwegter Gelassenheit, »manchmal thun sie’s und manchmal nicht. Die Thiere sind höllisch wunderliche Dinger.« Und nun legte Tommy mit einem lebendigen, aber, wie ich mit Bedauern sagen muß, äußerst unwahren und unglaubwürdigen Bericht über die Gewohnheiten der kalifornischen Fauna los, bis er von Johnson unterbrochen wurde.
»Und Schlangen, he, Tommy?« sagte der Mann mit zerstreutem Blick, indem er starr vor sich auf den Erdboden sah.
»Und Schlangen,« sagte Tommy, »aber die beißen nicht, wenigstens die Art nicht, welche Sie sehen. Da! halten Sie still, Onkel Ben, halten Sie still, sie sind jetzt weg. Und es ist jetzt wohl Zeit, daß Sie Ihre Dosis einnehmen.«
Johnson war hastig aufgestanden, als ob er auf den Baumklotz springen wollte, aber Tommy hatte ihn ebenso rasch mit der einen Hand beim Arme erfaßt, während er mit der andern eine Flasche aus seiner Tasche gezogen hatte. Johnson hielt inne und warf die Augen auf die Flasche. »Wenn Du meinst, mein Junge,« stotterte er, als seine Finger mit nervösem Zittern die Flasche umschlossen. »Sag dann: Halt!« Er erhob die Flasche und that einen langen Zug, während der Knabe ihn mit kritischem Blick beobachtete. »Halt!« sagte Tommy plötzlich. Johnson fuhr zusammen, erröthete und gab die Flasche rasch zurück. Aber die Farbe, die ihm auf die Wange gestiegen, blieb da, sein Auge wurde weniger unstet, und als sie weiter gingen, zitterte die Hand, die auf Tommys Schulter ruhte, weniger.
Ihr Weg ging an der Flanke des Tafelbergs hin – ein Fußpfad, der sich durch eine verwachsene Einöde schlängelte, welche jungfräulich und ungestört ausgesehen haben würde, wenn nicht ein paar Austerfäßchen, Zinnbüchsen mit Backpulver und leere Flaschen da herumgelegen hätten, die augenscheinlich von dem »ersten niedrigen Schwall« der Einwandererwelle hier an den Strand gespült worden waren. An dem aufgesprungenen Stamm einer riesigen Fichte hingen ein paar graue Haarbüschel, die von einem vorbeilaufenden Bären hängen geblieben waren, aber in seltsamer Nebeneinandergesellung lag an ihrem Fuße eine leere Flasche, in der sich ein unvergleichlich bitterer Schnaps befunden hatte, das Meisterstück einer hygienischen Civilisation und geziert mit dem Wappen einer Alles heilenden Republik. Der Kopf einer Klapperschlange guckte aus einem Kasten, welcher Tabak enthalten hatte, und der noch immer mit dem buntbemalten Conterfei einer beliebten Tänzerin prächtig beklebt war. Und ein wenig weiter hin war der Boden aufgebrochen und durchfurcht, man sah eine wirre Masse aus dem Gröbsten zugehauenes Bauholz, die unregelmäßig sich hinziehende Linie eines Wassergrabens, einen Haufen Kies und Schmutz, eine plumpe Hütte und den Landanspruch Johnsons.
Die Hütte besaß, von den allereinfachsten Zwecken des Schutzes gegen Regen und Kälte abgesehen, nur wenige Vorzüge vor der Wildheit der sie umgebenden Natur. Sie zeigte durchaus die praktische Richtung der Wohnstätte irgend eines Thieres, ohne deren Behaglichkeit und deren malerische Eigenschaften. Selbst die Vögel, die sie der Nahrung wegen besuchten, müssen ihre eigne Ueberlegenheit als Baumeister gefühlt haben. Sie war unbegreiflich und unsagbar schmutzig, selbst mit ihrer dürftigen Befähigung zu einem Zuwachs, sie war trotz der Neuheit und Frische ihres Materials von eigenthümlich altbackenem Aussehen. Unaussprechlich trübselig im Schatten, wurde sie vom Sonnenschein in einer blinden, schmerzhaften, zwecklosen Weise besucht, wie wenn er verzweifelte, ihre Umrisse sanfter zu machen oder ihr eine Farbe anzugerben.
Der Landanspruch, den Johnson in seinen nüchternen Zwischenstunden bearbeitete, bestand in einem halben Dutzend aus dem Gröbsten in den Berghang gehöhlten Löchern. Vor der Mündung eines jeden lag der aufgehäufte Schutt von Felsbrocken und Kies. Sie legten sehr wenig Zeugniß von Ingenieurkunst oder Bauzwecken ab; in der That, sie zeigten nichts, als oberflächliche, von Zeit zu Zeit liegen gelassene Versuche Dessen, der sie ins Auge gefaßt. Heute dienten sie einem andern Zwecke; denn da die Sonne die kleine Hütte fast bis zu dem Punkte des Anbrennens erhitzt, die langen dürren Schindeln aufgerollt und aromatische Thränen aus den Balken von noch grünem Fichtenholz hervorgelockt hatte, führte Tommy Johnson in eine der größeren Oeffnungen und warf sich mit einem Gefühl der Befriedigung keuchend auf ihren felsigen Fußboden. Hier und da hatte sich die dankbar empfundene Feuchtigkeit zu stillen Wasserpfützen verdichtet, oder zu einem monotonen und einschläfernden Tröpfeln von den Felsen droben. Draußen lag das blendende Sonnenlicht – farblos, abgeklärt von allem Dunst, intensiv.
Einige Augenblicke lagen sie so auf ihre Ellbogen gestützt da und betrachteten behaglich die Hitze, der sie entgangen waren.
»Was sagst Du,« sagte dann Johnson langsam, ohne seinen Gefährten anzublicken, sondern indem er zerstreut die Landschaft draußen anredete, »was sagst Du zu zwei flotten Spielchen um tausend Dollars?«
»Machen Sie fünftausend draus,« erwiderte Tommy nachdenklich, indem er gleichfalls zur Landschaft sprach, »und ich bin dabei.«
»Was bin ich Dir jetzt schuldig?« fragte Johnson nach einem längeren Schweigen.
»Einmalhundert und fünfundsiebzigtausend zweihundert und fünfzig Dollars,« erwiderte Tommy mit dem ernsten Ton eines Geschäftsmannes.
»Gut,« sagte Johnson, nach einer Ueberlegung, die der Größe des Geschäfts angemessen war, »wenn Du gewinnst, so laß es rund hundert und achtzigtausend sein. Wo sind die Karten?«
Sie befanden sich in einer alten Blechbüchse in einer Felsenspalte über seinem Kopfe. Sie waren fettig und vom Gebrauch abgegriffen. Johnson theilte aus, obwohl seine rechte Hand immer noch unsicher war. Er neigte sich dabei schwankend und absichtslos, nachdem er die Karten fallen gelassen, nach Tommy hin und kam erst durch eine starke nervöse Anstrengung wieder ins Gleichgewicht. Aber obwohl er selbst zu ehrlicher Handhabung der Karten unfähig war, drehte Mr. Johnson doch heimlich einen Buben ganz unten in dem Pack Karten um, und zwar mit einer so unverschämten Kraftlosigkeit und Ungeschicklichkeit, daß sogar Tommy husten und wo andershin sehen mußte, um seine Verlegenheit zu verbergen. Wahrscheinlich aus diesem Grunde war der junge Herr selber gezwungen, um sein Glück zu verbessern, der rechtmäßigen Zahl von Karten, die er in der Hand hielt, ein werthvolles Blatt hinzuzufügen.
Trotzdem war das Spiel ohne Reiz und schleppte sich langsam hin, ohne viel Aufmerksamkeit zu finden. Johnson gewann. Er verzeichnete diese Thatsache und den Betrag mit einem Bleistiftstummel und zitternden Fingern in Hieroglyphen, die über ein ganzes Taschenbuch hier und da hin sich verliefen. Dann gab es eine lange Pause, nach welcher Johnson langsam etwas aus der Tasche zog und es seinem Gefährten hinhielt. Es war dem Anschein nach ein taubes rothes Stück Gestein.
»Wenn nu,« sagte Johnson langsam mit seiner alten dummpfiffigen Miene – »wenn Du nu zufällig ein solches Stück Stein auflesen thätest, Tommy, was würdest Du sagen, daß es wäre?«
»Weiß nicht,« sagte Tommy.
»Würdest Du nicht vielleicht sagen,« fuhr Johnson vorsichtig fort, »daß es Gold oder Silber wäre?«
»Keins von beiden,« sagte Tommy ohne Verzug.
»Würdest Du nicht vielleicht sagen, es wäre Quecksilber? Würdest Du nicht sagen, daß, wenn es einen guten Freund von Dir gäbe, der wissen thäte, wo er hingehen und täglich zehn Tonnen davon herausholen könnte, jede Tonne zweitausend Dollars werth, daß er da was Feines, was sehr Feines hätte – das heißt, Tommy, wenn Du in der Weise reden thätest, was nicht der Fall ist.«
»Aber,« sagte der Knabe, indem er geradewegs auf den Punkt, um den sich’s handelte, losging, »wissen Sie aber auch, wo sich’s findet? Sind Sie darauf gestoßen, Onkel Ben?«
Johnson sah sich sorgfältig um. »Ja wohl, Tommy. Ich weiß, wo es Karrenladungen davon giebt. Aber über der Erde giebt’s nur noch ein anderes Exemplar – das Seitenstück zu diesem hier – und das ist in Frisco. In ein paar Tagen kommt ein Agent her, um sich’s anzusehen. Ich schickte nach ihm. He?«
Seine leuchtenden unsteten Augen richteten sich jetzt ganz auf Tommys Gesicht. Aber der Knabe zeigte weder Ueberraschung noch Interesse. Am wenigsten verrieth er vor Allem irgend eine Erinnerung an Bills ironische und von freien Stücken geäußerte Bestätigung dieses Theils der Geschichte.
»Niemand weiß es,« fuhr Johnson mit einem nervösen Geflüster fort, »niemand weiß es als Du und der Agent in Frisco. Die Kerls, die um Einen herumarbeiten, gehen vorbei und sehen den alten Mann drauflos graben und kein Zeichen von Farbe, nicht einmal verwittertes Quarz; die Kerls, die ums Mansion House herumbummeln, sehen den alten Mann in den Schenkstuben liegen und liegen, und sie lachen und sagen: »Hat ausgespielt,« und erwarten nichts. Mag sein, daß Du nu denkst, jetzt sollten sie was erwarten, he?« fragte Johnson plötzlich mit einem scharfen mißtrauischen Blick.
Tommy blickte auf, schüttelte den Kopf, warf mit einem Stein nach einem vorüberlaufenden Kaninchen, antwortete aber nicht.
»Als ich zuerst die Augen auf Dich warf, Tommy,« fuhr Johnson, augenscheinlich wieder beruhigt, fort, »den ersten Tag, wo Du kamst und für mich pumptest, ein vollkommen Fremder, der gar keine Verpflichtung dazu hatte, da sagte ich zu mir: Johnson, Johnson, sagte ich, hier ist ein Junge, dem Du trauen kannst. Hier ist ein Junge, der Dich nicht für’n Narren halten wird, hier ist ein Bürschchen schlecht und recht – schlecht und recht, Tommy, das sind genau die Worte, die ich brauchte?«
Er hielt einen Augenblick inne, dann fuhr er in vertraulichem Flüstern fort: »Du brauchst Capital, Johnson, sagt’ ich, um Deine Hülfsquellen zu entwickeln, und Du brauchst einen Geschäftstheilhaber. Nach Capital kannst Du schicken, aber Dein Geschäftstheilhaber, Johnson – Dein Geschäftstheilhaber, der ist hier zur Stelle. Und sein Name ist Tommy Islington. Das sind genau die Worte, die ich brauchte.«
Er hielt inne und rieb sich seine feuchtkalten Hände auf seinen Knien warm. »Es ist sechs Monate her, daß ich Dich zu meinem Geschäftstheilhaber machte. Nicht einen Spatenstich habe ich seitdem gethan, Tommy, nicht eine Hand voll Erde ist, die ich ausgewaschen, nicht eine Schaufel voll Erde, die ich umgewendet habe, wo ich nicht an Dich dachte. Antheil und Antheil gleich, sagte ich. Als ich an meinen Agenten schrieb, da schrieb ich ebenso für meinen Geschäftstheilhaber Tommy Islington; denn er brauchte nicht zu wissen, ob es ein Mann oder Junge war.«
Er war näher an den Knaben hingerückt und würde vielleicht seine Hand auf ihn gelegt und ihn gestreichelt haben. Aber selbst in seiner offen hervortretenden Liebe war ein eignes Element von scheuer Zurückhaltung und selbst Furcht – eine Ahnung von einem etwas hielt selbst sein vollstes Vertrauen zurück, ein hoffnungsloses Gefühl von einer unbestimmten Schranke, die nie überstiegen werden konnte. Er mag zu Zeiten ein dunkles Bewußtsein davon gehabt haben, daß in den Augen, die Tommy zu den seinen erhob, eine vollständige intellectuelle Würdigung seiner, eine kritische Gutgelauntheit, selbst weibliche Sanftmuth, aber weiter nichts war. Indem sein nervöses Wesen durch seine Verlegenheit einigermaßen gesteigert wurde, fuhr er mit einem Versuch zu ruhiger Haltung fort, welchen seine zuckenden weißen Lippen und seine umherfahrenden Finger pathetisch-komisch erscheinen ließen.
»In meinem Schlafkasten, da liegt ein gesetzmäßig aufgesetzter Verkaufscontract über eine gleiche ungetheilte Hälfte meines Landanspruchs, und der wesentliche Inhalt des Schriftstücks ist zweihundert und fünfzigtausend Dollars – Spielschulden – Schulden, die Du von mir zu fordern hast, Tommy, verstehst Du?« – nichts ging über die intensive Pfiffigkeit seines Auges in diesem Augenblicke – »und dann ist da auch ein letzter Wille.«
»Ein letzter Wille?« fragte Tommy in vergnügtem Erstaunen.
Johnson sah erschrocken aus.
»He?« sagte er hastig. »Was für ein Wille? Wer sagte was von einem Willen, Tommy?«
»Niemand sagte was!« erwiderte Tommy mit der Ruhe, die nicht erröthet.
Johnson fuhr sich mit der Hand über seine kalte Stirn, rang die feuchten Enden seines Haares mit seinen Fingern aus und fuhr fort: »Manchmal, wenn es mir schlecht wurde, wie heute, da sagten die Kerls hierherum – da sagtest vielleicht auch Du, Tommy – ‘s ist Whiskey, ‘s ist aber keiner, Tommy, ‘s ist Gift – Quecksilbergift. Das ist’s, was mir fehlt. Ich bin imprimirt (er meinte imprägnirt). Imprimirt mit Merkur.
»Ich habe davon früher schon gehört,« fuhr Johnson, sich an den Knaben wendend, fort, »und als ein Junge, der Allerhand gelesen hat, wirst Du gewiß auch davon erfahren haben. Die Leute, die in Zinnobergruben arbeiten, werden früher oder später imprimirt. Es muß sie einmal dran kriegen. Imprimirt von Merkur.«
»Was wollen Sie dagegen brauchen?« fragte Tommy.
»Wenn der Agent heraufkommt, und ich aus dieser Grube hier Geld mache,« sagte Johnson nachdenklich, »so gehe ich nach Neuyork. Ich sage zu dem Schenken im Hotel: Zeig mir mal den größten Doctor hier. Er zeigt mir ihn. Sag’ ich zu ihm: Imprimirt von Merkur – ein Jahr Curgeld, wie viel? Sagt er: Fünftausend Dollars, und nehmen Sie zwei von diesen Pillen beim Zubettgehen und eine gleiche Zahl von Pulvern bei jeder Mahlzeit, und kommen Sie in einer Woche wieder. Und nach einer Woche geh’ ich wieder hin, curirt, und unterschreibe ein Certificat, welches das besagt.«
Ermuthigt durch einen Blick der Theilnahme in Tommys Augen fuhr er fort:
»So bin ich denn curirt. Ich gehe zu dem Schenken, und ich sage: Zeig mir das größte und eleganteste Haus, das hier zum Verkauf steht. Und er sagt: Das größte gehört natürlich dem Johann Jakob Astor. Und ich sage: Zeig mir ihn, und er zeigt mir ihn. Und ich sage: Was würden Sie wohl für das Haus hier nehmen? Und er sieht mich spöttisch an und sagt: Machen Sie, daß Sie fortkommen, alter Mann, Sie müssen krank sein. Und ich haue ihm eine über das linke Auge, und er bittet mich um Verzeihung, und ich gebe ihm, was er verlangt, für sein Haus. Ich versehe dieses Haus dann mit Mahagonymöbeln und Proviant, und dann wohnen wir drinnen, Du und ich, Tommy, – Du und ich!«
Die Sonne schien nicht mehr auf den Berghang. Die Schatten der Fichten begannen über Johnsons Landanspruch hinzukriechen, und die Luft in der Höhle fing an kühl zu werden. In der dichter werdenden Finsterniß erglänzten seine Augen hell, indem er fortfuhr:
»Dann kommt ein Tag, wo wir ein großes Fest geben. Wir laden Gouverneurs, Congreßmitglieder, Leute, die Mode sind, und dergleichen ein. Und unter ihnen lade ich einen Mann ein, der den Kopf sehr hoch trägt, einen Mann, den ich früher kannte; aber er weiß nicht, daß ich ihn kenne, und er erinnert sich meiner nicht. Und er kommt und sitzt mir gegenüber, und ich beobachte ihn. Und er thut sehr wichtig, dieser Mann, und sehr zimperlich und wischt sich’s Maul mit ‘nem weißen Taschentuch, und er lächelt und faßt mich ins Auge. Und er sagt: Ein Glas Wein mit Ihnen, Mr. Johnson, und er gießt sich sein Glas voll, und ich fülle das meinige, und wir stehen auf. Und ich schmeiße ihm den Wein, Glas und Alles mit einander mitten hinein in sein verdammtes feixendes Gesichte. Und er springt auf mich los – denn er ist sehr grob, dieser Mann, sehr grob – aber Etliche von ihnen packen ihn, und er sagt: Wer sind Sie? Und ich sage: Skaggs, Gott verdamm Dich, Skaggs! Sieh mir ins Gesichte! Gieb mir meine Frau und mein Kind wieder, gieb mir das Geld wieder, das Du mir gestohlen hast, gieb mir den guten Namen wieder, den Du mir genommen hast, gieb mir die Gesundheit wieder, die Du zu Grunde gerichtet hast, gieb mir die letzten zwölf Jahre wieder! Gieb sie mir wieder, verdammter Schurke, rasch, bevor ich Dir das Herz herausschneide! Und natürlich, Tommy, kann er das nicht. Und so schneide ich ihm das Herze ‘raus, mein Junge, ich schneide ihm das Herze ‘raus.«
Die rein thierische Wuth seines Auges verwandelte sich plötzlich in Schlauheit.
»Du denkst, sie hängen mich dafür, Tommy, aber das thun sie nicht. Nicht viel nöthig, Tommy. Ich gehe zu dem größten Advocaten da, und ich sage zu ihm: Imprimirt mit Merkur – hören Sie’s – mit Merkur imprimirt. Und er blinzelt mir zu, und er geht zum Richter, und er sagt: Dieser unglückliche Mann hier ist nicht zurechnungsfähig – er ist mit Merkur imprimirt worden. Und er bringt Zeugen; Du kommst, Tommy, und Du sagst, daß Du gesehen hast, wie mir früher schlecht wurde, und der Doctor, der kommt und sagt, wie er mich in greulichem Zustande gesehen hat, und die Geschwornen geben, ohne ihre Sitze zu verlassen, einen Wahrspruch auf entschuldbare Geistesstörung ab – imprimirt von Merkur.«
In der Aufregung seiner Gedankensteigerung hatte er sich auf seine Füße erhoben, würde aber gefallen sein, wenn Tommy ihn nicht aufgefangen und ihn an die freie Luft geführt hätte. In diesem schärfern Lichte wurde eine seltsame Veränderung in seinem gelblich weißen Gesichte sichtbar – eine Veränderung, welche Tommy veranlaßte, ihm hastig unter die Arme zu greifen und ihn nach der kleinen Hütte halb zu führen, halb zu schleppen.
Als sie dieselbe erreicht hatten, setzte ihn Tommy auf eine rohe Bank oder einen Sims und stellte sich dann einen Augenblick ängstlich beobachtend vor den vom Zitterwahnsinn ergriffenen Mann hin. Dann sagte er rasch:
»Horchen Sie mal, Onkel Ben. Ich werde nach der Stadt gehen – verstehen Sie, nach der Stadt zum Doctor. Sie dürfen auf keinen Fall aufstehen oder sich bewegen, bis ich zurückkehre. Hören Sie wohl?«
Johnson nickte heftig.
»In zwei Stunden werde ich zurück sein.«
Im nächsten Augenblick war er fort.
Eine Stunde lang hielt Johnson sein Wort. Dann setzte er sich plötzlich auf und begann starr auf eine Ecke der Hütte zu blicken. Vom Hinblicken ging er zum Lächeln über, vom Lächeln über die Ecke zum Sprechen, vom Sprechen zu der Ecke zum Aufkreischen, und vom Aufkreischen zum Fluchen und zu tollem Schluchzen. Dann lag er wieder ruhig da.
Er war so still, daß er rein menschlichen Augen als eingeschlafen oder todt erschienen wäre. Aber ein Eichhörnchen, welches, kühn gemacht durch die Stille, vom Dache hereingekommen war, hielt auf einem Balken über der Schlafbank an; denn es sah, wie der Fuß des Mannes sich langsam und vorsichtig nach der Diele herunterbewegte, und daß die Augen des Mannes so scharf blickten und so wach waren wie seine eigenen. Bald darauf, immer noch ohne Geräusch, befanden sich beide Füße auf dem Boden. Und jetzt quiekte die Bank, und das Eichhörnchen huschte in die Dachtraufe hinauf. Als es wieder herabguckte, war Alles still, und der Mann war fort.
Eine Stunde später kamen zwei Maulthiertreiber auf der Straße nach Placerville an einem Mann mit zerzaustem Haar, stieren, blutunterlaufnen Augen und Kleidern, die von den Dornen zerrissen und mit dem rothen Staube des Gebirgs befleckt waren, vorüber. Sie verfolgten ihn. Da drehte er sich grimmig nach dem Vordersten um, rang ihm ein Pistol aus der Faust und lief davon. Noch später, als die Sonne hinter Paines Ridge untergegangen war, knisterte das Unterholz auf Deadwood Slope unter einem vorsichtig hinschleichenden, aber fortdauernden Tritte. Es muß ein Thier gewesen sein, dessen unklare Umrisse sich in der dichter werdenden Finsterniß hier und da in unsicherer, aber unablässiger Bewegung zeigten. Es konnte nichts als ein Thier sein, so unzusammenhängend und zugleich so monoton waren die Töne, die es unaufhörlich ausstieß. Indeß, als der Schall näher kam, und das Gestrüpp sich theilte, schien es ein Mensch zu sein, und dieser Mensch war Johnson.
Durch das Gekläff der phantastischen Jagdhunde, die ihm hart auf den Fersen waren und ihn ohne Ruhe unbarmherzig weiter trieben, durch das Knallen der gespenstischen Peitsche, die sich um seine Glieder ringelte, ihm in die Ohren pfiff und ihn unaufhörlich weiter stachelte, durch die Aufschreie der unsaubern Gestalten hindurch, die ihn umdrängten, konnte er immer noch einen wirklichen Ton unterscheiden – das Rauschen und Dahinschießen hastiger Gewässer. Der Stanislaus-Fluß! Tausend Fuß unter ihm trieb seine gelbliche Strömung hin. Durch alle Schwankungen seiner unsteten Seele hindurch hatte er sich an eine Idee angeklammert, – den Fluß zu erreichen, sich in ihm zu baden, ihn nötigenfalls zu durchschwimmen, nur um ihn für immer zwischen sich und die gräßlichen Gestalten zu setzen, für immer in seinen strudelnden Tiefen die ihn umdrängenden Gespenster zu ertränken, in seiner gelben Fluth alle Flecken, alle Farben der Vergangenheit abzuspülen. Und jetzt sprang er von Felsblock zu Felsblock, von einem geschwärzten Baumstumpf, von einem knotigen Busch auf den andern. Bald faßten und hielten ihn mit ihren Haken wilde Rebenranken einen Augenblick fest, bald stürzte er abwärts in staubige Höhlungen, bis er endlich kollernd, stürzend, ausrutschend und stolpernd das Flußufer erreichte. Dort fiel er hin, erhob sich, tappte vorwärts und fiel abermals mit ausgestreckten Armen auf einen Felsblock, der dem eiligen Wasserlauf seine Brust zukehrte. Und dort blieb er wie todt liegen.
Ein paar Sterne kamen zögernd über Deadwood Slope heraus. Ein kalter Wind, der sich mit dem Untergang der Sonne erhoben hatte, fächerte sie zu vorübergehender Helle an, fegte über die erhitzten Hänge des Berges und ließ den Fluß kleine Wellen schlagen. Wo der hingefallene Mann lag, war eine starke Krümmung im Strome, so daß, als die Schatten sich verdichteten, das dahinschießende Wasser aus der Dunkelheit herauszuspringen und dann wieder zu verschwinden schien. Vermodertes Treibholz, Baumstämme, Bruchstücke zerbrochner Schleußenbauten – der Spülicht und Kehricht vieler Meilen – fegte auf einen Augenblick in die Sichtbarkeit heraus und war dann wieder weg. Alles was sich von Moder, Bruch und Fäulniß in dem langen Umkreis der Lager und Ansiedelungen des Bergwerksdistricts gesammelt hatte, aller Bodensatz und Abschaum einer rohen und liederlichen Civilisation erschien noch einmal für einen Augenblick und wurde dann in die Finsterniß fortgerissen, um zu verschwinden. Kein Wunder, daß, als der Wind die gelben Wasser kräuselte, die Wellen ihre unsaubern Hände nach dem Felsen zu erheben schienen, wo der gefallene Mann lag, wie wenn sie begierig wären, ihn davon herunterzureißen und nach der See hinzuschwemmen.
Es war sehr still. In der klaren Luft hörte man ein Horn, das eine Viertelmeile weit von da geblasen wurde, deutlich. Das Klirren eines Sporns und ein Gelächter auf der Landstraße über Paynes Ridge schallte klar über den Fluß herüber. Das Klappern von Geschirr und Hufen kündigte viele Minuten die Annäherung der Postkutsche von Wingdam an, die zuletzt mit hellstrahlenden Laternen wenige Fuß von dem Felsen vorbeifuhr. Dann war eine Stunde lang Alles still.
Bald darauf erhob sich, rund und voll, der Mond über die dicht aneinander gereihten Gipfel des Bergzugs und sah auf den Fluß herab. Zuerst erglänzte die kahle Kuppe des Deadwood Hill wie ein weißer Todtenschädel. Dann sanken die Schatten, welche Paynes Ridge auf den Abhang geworfen, langsam hinweg und ließen die plumpen Baumstümpfe, die staubigen Spalten und die aus dem Erdreich herausgewachsenen Felsbrocken von Deadwood Slope in Schwarz und Silber hervortreten. Indem das Mondlicht sich leise immer weiter abwärts schlich, berührte es das Ufer und den Felsen und glänzte dann hell auf dem Flusse. Der Fels war leer und der Mann war weg, aber noch immer schoß der Fluß hastig der See zu.
»Giebt es etwas für mich?« fragte Tommy Islington, als eine Woche später die Post wieder vor dem Mansion House vorfuhr und Bill langsam in die Schenkstube hereinkam. Bill antwortete nicht, sondern zeigte, indem er sich zu einem Fremden wendete, der mit ihm eingetreten war, mit einem Stoß seines Fingers auf den Knaben. Der Fremde drehte sich mit einer Miene, die halb geschäftsmäßig, halb neugierig war, um und blickte Tommy kritisch an.
»Giebt es etwas für mich?« wiederholte Tommy, ein wenig verwirrt von dem Schweigen und der prüfenden Besichtigung.
Bill schritt bedächtig nach dem Schenktisch und kehrte, indem er sich mit dem Rücken dagegen lehnte, Tommy mit einer Miene feierlichen Wohlgefallens das Gesicht zu.
»Wenn,« so bemerkte er langsam – »wenn hunderttausend Dollars baar und eine halbe Million in Aussicht etwas sind, Major, so giebt es was für Dich!«
*
Zweiter Theil.
Im Osten.
Es war bezeichnend für Angels, daß das Verschwinden Johnsons und die Thatsache, daß er sein gesammtes Vermögen Tommy hinterlassen, die Gemeinde im Vergleich mit der höchst überraschenden Entdeckung, daß er überhaupt etwas zu hinterlassen gehabt, nur wenig aufregte. Die Auffindung eines Zinnoberlagers in Angels absorbirte alle daneben vorgekommenen Ereignisse oder folgenden Details. Gründer von benachbarten Lagern drängten sich in der Ansiedelung, der Berghang auf eine Viertelmeile auf jeder Seite von Johnsons Landanspruch wurde vermessen und durch Vorkauf erworben, der Handel empfing einen plötzlichen Antrieb, und in der erregten Rhetorik des »Wöchentlichen Berichts« war »eine neue Aera über Angels hereingebrochen«. »Am letzten Donnerstag«, fügte das Blatt hinzu, »wurden am Schenktisch des Mansion House über fünfhundert Thaler eingenommen.«
Ueber das Schicksal Johnsons herrschte kaum ein Zweifel. Dachpassagiere der Wingdamer Postkutsche hatten ihn zuletzt auf einem Steinblock am Flußufer liegen sehen, und als Finn von Robinsons Fähre zugab, daß er aus einem Revolver drei Schüsse auf einen dunklen Gegenstand, der sich durch das Wasser nahe bei der Fähre hindurchgearbeitet, abgefeuert habe, weil er ihn »im Verdacht gehabt, ein Bär zu sein«, schien die Frage abgemacht. Wie sehr er sich auch in seinem Urtheil getäuscht haben mochte, über die Genauigkeit seines Zielens konnte kein Zweifel obwalten. Der allgemeine Glaube, daß Johnson, nachdem er sich des Pistols des Maulthiertreibers bemächtigt, wie ein Malaie Amok gelaufen sein könnte Amoklaufen heißt die unter den Malayen vorkommende Form des Wahnsinns, wo der Betreffende auf die Straße läuft und jeden ihm Begegnenden mit seinem Dolche niederzustoßen sucht., verlieh dieser Geschichte eine gewisse Folie vergeltender Gerechtigkeit, die sie dem Lager annehmbar machte.
Es war ferner charakteristisch für Angels, daß kein Gefühl des Neides oder Widerstrebens in Betreff des Glücks Tommy Islingtons dort herrschte. Daß er indeß von Johnsons Entdeckung von Anfang an vollständig unterrichtet, daß seine Aufmerksamkeiten gegen ihn vom Interesse eingegeben, berechnet und überlegt gewesen, war der allgemeine Glaube der Mehrheit – ein Glaube, der, sonderbar genug, die ersten Empfindungen echter Achtung vor Tommy erweckte, die jemals im Lager sich kundgaben.
»Er ist kein Narr nicht. Yuba Bill sah das vom ersten Augenblick an,« sagte der Schenke.
Es war Yuba Bill, der sich um die Vormundschaft über Tommy bewarb, nachdem er in den Besitz von Johnsons Landanspruch gelangt, und auf dessen Anweisungen die reichsten Leute von Calaveras vertreten waren. Es war ferner Yuba Bill, welcher Tommy, als er zur Vollendung seiner Erziehung nach Osten geschickt wurde, nach San Francisco begleitete und, bevor er von dem ihm Anbefohlnen auf dem Deck des Dampfers Abschied nahm, ihn bei Seite zog und sagte: »Wenn Du irgend mal Geld brauchen thust, Tommy, über das hinaus, was Du an Taschengeld haben sollst, so kannst Du schreiben. Aber wenn Du Dir von mir rathen lassen willst,« fügte er mit einer plötzlichen Heiserkeit hinzu, welche den strengen Ton seiner Stimme milderte, »so wirst Du alle die alten verdammten spatigen, im Hahnentritt gehenden Bummler vergessen, die Du jemals in Angels getroffen und kennen gelernt hast – alle, Tommy, alle miteinander! Und so – mein Junge – halt ordentlich auf Dich – und – und Gott segne Dich, und vor Allem, Gott verdamm’ mich als Narren erster Klasse Nummer Eins A.« Es war ebenfalls Yuba Bill, der nach dieser Rede grimmig um sich blickte, den menschenerfüllten Aufstieg nach dem Schiffe mit nicht ausweichender und zum Anstoßen bereiter Schulter hinunter schritt, einen Zank mit seinem Droschkenführer vom Zaune brach und, nachdem er diesen Funktionär wie ein Bündel in sein eignes Fuhrwerk geworfen, die Zügel selbst ergriff und wie wüthend nach seinem Hotel fuhr.
»Es kostete mich,« sagte Bill, als er den Vorfall etwas später zu Angels wiedererzählte, »es kostete mich den nächsten Morgen vor dem Richter so was wie zwanzig Dollars, aber Ihr könnt hoch drauf wetten, daß ich den Kerls in Frisco was Neues im Fahren gezeigt habe. Da gab’s gar kein Leben in Montgomery Street für zehn Minuten – o nein, nicht im geringsten!«
Und so verschwanden die beiden ursprünglichen Inhaber des großen Zinnoberlagers allmählig aus dem Gedächtniß von Angels, und Calaveras kannte sie nicht mehr. Nach fünf Jahren waren sogar ihre Namen vergessen, nach sieben bekam die Stadt einen andern Namen, nach zehnen wurde die Stadt selbst körperlich nach dem Berghange verlegt, und der Schornstein der Union-Schmelzwerke flackerte des Nachts wie ein Leichenlicht über der Stelle, wo Johnsons Hütte gestanden, und vergiftete bei Tage die reinen Würzdüfte der Fichten. Selbst das Mansion House wurde abgebrochen, und die Wingdamer Post verließ die Landstraße, um einen kürzern Weg über Quecksilberstadt einzuschlagen. Nur der waldentblößte Kamm von Deadwood Hill schnitt, wie ehedem, scharf in den klaren blauen Himmel hinein, und an seinem Fuße murmelte, flüsterte und schoß, nimmer müde und nimmer ruhend, wie ehedem der Stanislaus-Fluß hinab zur See.
Ein Mitsommertag brach träge am Atlantischen Meere an. Es war nicht Wind genug, um die Dünste in der nebeligen Seeferne in Bewegung zu setzen, aber wo diese verschwimmende Ferne sich gegen einen veilchenblauen Himmel hob, waren dunkelrothe Streifen, welche, als sie heller wurden, bald die Sterne vor ihrer Malerei verschwinden ließen. Bald erschienen die braunen Felsen von Greyport leicht angestrahlt, und dann begann die ganze aschfarbne Linie der Küste zu leuchten, und die Feuer der Leuchtthürme erloschen einer nach dem andern. Und nun fuhren hundert Segel, bis dahin unsichtbar, aus dem dunstigen Horizont heraus und eilten auf das Gestade zu. Es war in der That Morgen, und ein Theil der besten Gesellschaft von Greyport dachte, indem sie die ganze Nacht auf gewesen, daß es Zeit sei, zu Bett zu gehen.
Denn als der Himmel heller aufleuchtete, setzte er die zusammengedrängten rothen Dächer eines malerischen Hauses an den Sanddünen, welches aus offnen Gittern und von erleuchtetem Balkon diese ganze Nacht dem Ufer Licht und Musik gespendet, in helles Feuer. Es glitzerte auf den breiten Krystallscheiben eines großen Conservatoriums, welches auf einen reizenden Rasenplatz herabsah, wo die ganze Nacht hindurch die mit einander vermischten Düfte von See und Ufer unter dem sommerlichen Monde niedergesunken waren. Aber es rief Verwirrung unter den farbigen Lampen an der langen Verandah hervor und erschreckte eine Gruppe von Damen und Herren, welche aus der Flügelthür des Salons getreten waren, um es zu betrachten. Es war so eindringlich und aufrichtig in seiner Art, daß, als die Kutsche der schönen Miß Gillyflower fortrollte, dieses unvergleichliche junge Frauenzimmer, ihr Gesicht in dem ovalen Spiegel gewahr werdend, sofort die Jalousien herunterließ und, indem sie die weißesten Schultern Greyports in die karmoisinrothen Kissen schmiegte, einschlief.
»Wie hohläugig alle Welt ist! Liebe Rosa, Du siehst wie ganz zu Geist geworden aus,« sagte Blanche Masterman.
»Hoffentlich nicht,« erwiderte Rosa einfach. »Sonnenaufgänge sind sehr gefährlich. Sieh mal, wie diese helle Röthe regelmäßig die Mrs. Brown-Robinson da aussticht, Haar und alles miteinander.«
»Die Engel,« sagte der Graf de Nugat mit einer artigen Handbewegung nach dem Himmel, »müssen solche himmlische Farbenbildungen sehr unvortheilhaft für ihre Toilette finden.«
»Sie sind sicher in weißen Gewändern – ausgenommen, wenn sie in Venedig zu ihren Bildern sitzen,« sagte Blanche. »Wie frisch Mr. Islington aussieht! Es ist wirklich kein Compliment für uns.«
»Ich glaube, die Sonne erkennt in mir keinen Nebenbuhler,« sagte der junge Mann bescheiden. »Aber,« fügte er hinzu, »ich habe viel in der freien Luft gelebt und bedarf sehr wenig Schlaf.«
»Wie köstlich!« sagte Mrs. Brown-Robinson mit tiefer enthusiastischer Stimme und mit einer Geberde, welche das glühende Gefühl von sechzehn und die praktischen Erfahrungen von zweiunddreißig Jahren in gefährlicher Verschmelzung zeigte, »wie ganz und gar köstlich! Was für Sonnenaufgänge Sie gesehen haben müssen und in solchen wildromantischen Gegenden! Wie ich Sie beneide! Mein Neffe war Ihr Klassenkamerad und hat mir häufig die reizenden Geschichten wiederholt, die Sie von Ihren Abenteuern erzählen. Wollen Sie mir jetzt nicht einige erzählen? Ach bitte! Wie Sie unsrer und dieses erkünstelten Lebens, dieses so schrecklich erkünstelten Lebens hier überdrüssig sein müssen, Sie verstehen mich.« (Dies sagte sie mit vertraulichem Flüstern.) »Und dann, wenn man an die Tage denkt, wo Sie mit den Indianern durch den großen Westen streiften, und mit den Büffeln und den grauen Bären! Natürlich haben Sie Büffel und graue Bären gesehen?«
»Natürlich, meine Theure,« sagte Blanche ein wenig schnippisch, indem sie einen Mantel über ihre Schultern warf und ihren Chaperon mit dem Arm ergriff, »seine früheste Jugend wurde von Büffeln eingeschläfert, und mit Stolz zeigt er auf den grauen Bären als auf den Gespielen seiner Kinderjahre. Kommen Sie mit mir, und ich will Ihnen alles davon erzählen. Wie gut das von Ihnen ist,« fügte sie sotto voce zu Islington, als er an den Wagen trat, hinzu, »wie ganz vortrefflich das von Ihnen ist, daß Sie wie die Thiere sind, von denen Sie uns erzählen, und Ihre volle Kraft nicht kennen! Denken Sie mal, was für Geschichten Sie mit Ihren Erfahrungen und bei unsrer Leichtgläubigkeit erzählen könnten. Und Sie wollen gehen? Gute Nacht denn.«
Eine schmale behandschuhte Hand streckte sich ihm aus dem Wagenfenster entgegen, und im nächsten Augenblicke rollte die Kutsche fort.
»Stößt Islington da nicht eine gute Aussicht von sich?« sagte Kapitän Merwin in der Verandah.
»Vielleicht konnte er die noch hinzugetretene Gegenwart meiner liebenswürdigen Tante nicht vertragen. Aber dann ist er der Gast von Blanche’s Vater, und ich möchte behaupten, daß sie sich einander so schon genug sehen.«
»Aber ist das nicht eine ziemlich gefährliche Situation?«
»Für ihn vielleicht, obschon er erschrecklich alt und sehr wunderlich ist. Was sie betrifft, die alle irgend brauchbaren Männer auf beiden Hemisphären, zuletzt auch den Nugat da drüben, zum Narren hat, so möchte ich sagen, einer mehr oder weniger macht bei ihr nicht viel aus. Natürlich,« setzte er lachend hinzu, »sind das die Aeußerungen der Verbitterung. Aber das war letztes Jahr.«
Vielleicht hörte Islington den Sprecher nicht, und wenn er ihn hörte, war die Kritik vielleicht nicht neu. Er wendete sich sorglos ab und schlenderte auf der Straße nach der See hinaus. Von dort wanderte er an den Sanddünen hin nach den Klippen, wo er einem Hemmniß in Gestalt einer Gartenmauer begegnete. Er übersprang es mit einer gewissen gewandten knabenhaften Leichtigkeit und Geübtheit und schlug über einen Rasenplatz wieder den Weg nach den Felsen ein. Die beste Gesellschaft von Greyport liebte das frühe Aufstehen nicht, und der Anblick eines Einbrechers im Gesellschaftsanzuge rief nur die Kritik von Stallknechten, die an den Ställen herumlungerten, oder reinlicher Hausmägde in den breiten Verandahs hervor, welche in der Architektur von Greyport pflichtschuldigst auf die See hinausgingen.
Nur einmal, als er in die Grenzen von Cliffwood Lodge, dem berühmten Wohnsitz Renwyk Mastermans, eintrat, bemerkte er, daß man ihn mit Verdacht schöpfenden Blicken betrachtete; aber eine schlotterige Gestalt, die rasch im Hause verschwand, leistete seinem Weitergehen keinen Widerstand. Indem er den Fußpfad nach dem Gebäude vermied, hielt sich Islington längs der Felsen, bis er ein kleines Vorgebirge und einen ländlichen Pavillon erreichte, wo er sich hinsetzte und auf die See blickte.
Und bald beschlich ihn ein unendlicher Friede. Ausgenommen die Stellen, wo die Wellen träge an den Klippen drunten leckten, schien die unermeßliche Wasserweite jenseits von keinem Kräuseln unterbrochen und hob sich nur in breiten schweren Schichten, rhythmisch, wie wenn sie noch schliefe. Die Luft war von einem lichten Dunste erfüllt, welcher die directen Sonnenstrahlen auffing und festhielt. In der tiefen Ruhe, die auf der See lag, schien es Islington, als ob alle Zartheit der Cultur, alle Magie des Reichthums und aller Zauber verfeinerten Lebens, die seit Jahren auf dieses begünstigte Gestade gewirkt hatten, ihren anmuthigen Einfluß auch hierher ausgedehnt hätten. Was für ein wohlgepflegter und gehätschelter Ocean es war, geliebkost, umschmeichelt, gefeiert, wo er lag! Eine wunderliche Erinnerung an den wildstrudelnden Stanislaus, wie er an den ascetischen Fichten vorüberschoß, an die grimmen Umrisse von Deadwood Hill schwamm ihm vor den Augen und ließ ihm das lichte Grün des sammtenen Rasens und des anmuthigen Baumschlags durch den Kontrast beinahe tropisch erscheinen. Und indem er aufblickte, wurde er in der Entfernung weniger Schritte von sich ein langes schlankes Mädchen gewahr, das nach der See hinaussah – Blanche Masterman. Sie hatte irgendwo ein großes fächerförmiges Blatt gepflückt, welches sie wie einen Sonnenschirm hielt, und das die blonde Fülle ihres Haares beschattete und ihre grauen Augen verbarg. Sie hatte ihr Festkleid mit seinen vielen Falbeln und seiner langen Schleppe abgelegt und ein eng anliegendes halb antikes Habit angezogen, dessen knapper Zuschnitt für weniger wohlgebildete Glieder gefährlich gewesen wäre, welches aber die anmuthigen Rundungen und schön geschweiften Linien dieser Göttin von Greyport allerliebst hervorhob. Als Islington aufstand, kam sie ihm mit treuherzig ausgestreckter Hand und ungezwungener Haltung entgegen. Hatte sie ihn zuerst bemerkt? Ich weiß es nicht.
Sie setzten sich auf eine ländliche Bank, wobei Miß Blanche das Gesicht der See zukehrte und ihre Augen mit dem Blatte beschattete.
»Ich weiß wirklich nicht, wie lange ich hier gesessen,« sagte Islington, »und ob ich nicht am Ende geschlafen und geträumt habe. Mir schien der Morgen zu lieblich, um zu Bett zu gehen. Und Sie?«
Hinter dem Blatte hervor schien es, als ob Miß Blanche, als sie sich zurückgezogen, von einer greulichen geflügelten Wanze verfolgt worden war, die aller Versuche, welche sie und die Magd zu ihrer Verjagung gemacht, gespottet hatte. Odin, der Spitz, hätte beharrlich an der Thür gekratzt. Und sie bekäme rothe Augen, wenn sie in den Morgen hinein schliefe. Und sie hätte einen Morgenbesuch zu machen. Und die See sähe so herrlich aus.
»Ich freue mich, Sie hier zu finden, was auch die Ursache sei,« sagte Islington mit seiner gewohnten Geradheit. »Wie Sie wissen, ist heute mein letzter Tag in Greyport, und es ist weit angenehmer, Abschied zu nehmen unter diesem blauen Himmel, als selbst unter den wundervollen Fresken Ihres Vaters da drüben. Ich möchte mich Ihrer lieber als eines Theils dieses angenehmen Landschaftsbildes erinnern, welches uns Allen gehört, als mir Sie in irgend jemandes besonderer Einfassung zurückrufen.«
»Ich weiß,« sagte Blanche mit gleicher Aufrichtigkeit, »daß Häuser einer von den Mängeln unserer Civilisation sind, aber ich glaube nicht, daß ich diesen Gedanken jemals vorher eleganter ausdrücken gehört hätte. Wo gehen Sie hin?«
»Ich weiß es noch nicht. Ich habe verschiedene Pläne. Ich gehe vielleicht nach Südamerika und werde Präsident einer der Republiken – welcher, ist mir gleichgültig. Ich bin reich, aber in dem Theile Amerikas, der außerhalb Greyports liegt, ist es für jedermann nothwendig, daß er eine Arbeit hat. Meine Freunde denken, ich sollte mir ein großes Lebensziel setzen. Aber ich wurde als Herumstreicher geboren, und als Herumstreicher werde ich wahrscheinlich sterben.«
»Ich kenne niemand in Südamerika,« sagte Blanche matt. »In der letzten Saison waren zwei Mädchen hier, aber sie trugen im Hause keine Schnürleibchen, und ihre weißen Röcke waren niemals ordentlich aufgeputzt. Wenn Sie nach Südamerika gehen, so müssen Sie mir schreiben.«
»Das will ich. Können Sie mir den Namen dieser Blume sagen, welche ich in Ihrem Gewächshause fand? Sie sieht sehr wie eine californische Blüthe aus.«
»Vielleicht ist es eine. Vater kaufte sie von einem halb närrischen alten Manne, der eines Tages hierher kam. Kennen Sie ihn?«
Islington lachte. »Ich fürchte, nein. Aber lassen sie mich Ihnen dies in einer weniger geschäftsmäßigen Art und Weise zum Geschenk machen.«
»Danke Ihnen. Erinnern Sie mich, daß ich Ihnen eine dafür gebe, bevor Sie gehen – oder wollen Sie sich selbst eine wählen?«
Sie waren Beide wie auf gemeinschaftlichen Antrieb aufgestanden.
»Leben Sie wohl.«
Die kühle blumenartige Hand lag für einen Augenblick in der seinen.
»Wollen Sie mir den Gefallen thun, jenes Blatt, ehe ich gehe, auf einen Moment bei Seite zu stecken?«
»Aber meine Augen sind roth, und ich sehe wie ein vollständiges Gespenst aus.«
Indeß flatterte nach einer langen Pause das Blatt zu Boden, und ein Paar sehr schöner, aber bei alledem sehr klarer und kritischer Augen begegnete den seinigen. Islington war genöthigt, wegzublicken. Als er sich wieder umwendete, war sie fort.
»Mr. Hislington, mein Herr!«
Es war Chalker, der englische Reitknecht, vom Laufen außer Athem.
»Da ich Sie allein sehe, Herr – bitt’ um Verzeihung, Herr – aber da ist Einer –«
»Einer! Was der Teufel meinen Sie? Reden Sie englisch – nein, verdammt, ich meine, reden Sie nicht englisch,« sagte Islington auffahrend.
»Ich sagte: Einer, Herr. Bitt’ um Verzeihung – keine Beleidigung nicht – aber ‘s ist kein Mann von Stande, Herr. In der Bibliothek.«
Ein wenig ergötzt, trotz aller äußersten Unzufriedenheit mit sich selbst und trotz des dunkeln Gefühls der Vereinsamung, das plötzlich über ihn gekommen, fragte Islington, indem er auf das Portierhaus zuschritt: »Warum ist er kein Mann von Stande?«
»Kein Mann von Stande – bitt’ um Verzeihung, Herr – sah mehr wie ein Bedienter aus. Nimmt da meine Hände so, Herr, wie ich in der Karrete am Thor sitze, und drückt sie mir ‘nunter, Herr, und sagt: »Steck sie in die Tasche, junger Mann – oder erwarten Sie etwa einen Straßenagenten zu sehen, daß Sie Ihre Hände so oben halten? Dann legt er sie mir so über einander und sagt: Halt stramm bei den kurzen Wendungen der Straße, sagt er, sonst wirst Du Deine kostbare Haut beschinden, sagt er. Dann fragt er nach Sie, Herr. Hier hin geht der Weg, Herr.«
Sie traten in das Portierhaus. Islington eilte von da durch den langen gothischen Vorsaal und öffnete die Thür zur Bibliothek.
In einem Armstuhl in der Mitte des Zimmers saß ein Mann, der anscheinend einen großen, steifen, gelben Hut mit einem ungeheuren Rande betrachtete, welcher vor ihm auf den Boden hingelegt war. Seine Hände ruhten leicht zwischen seinen Knien, aber den einen Fuß hatte er in einer eigenthümlichen Weise an die Seite seines Stuhles hinaufgezogen. Auf den ersten Blick, den Islington auf ihn warf, ließ ihn die Haltung des Fremden in wunderlicher, mit den Umständen unvereinbarer Weise an einen Hemmschuh denken. Im nächsten Augenblicke stürzte er quer über die Stube hin und rief, indem er ihm beide Hände entgegenhielt: »Yuba Bill!«
Der Mann erhob sich, kriegte Islington bei den Schultern zu fassen, drehte ihn um, drückte ihn an sich, befühlte seine Rippen wie ein gutmüthiger Menschenfresser, schüttelte ihm heftig die Hände, lachte und sagte dann etwas kläglich: »Und wie in aller Welt hast Du mich denn erkannt?«
Indem Islington sah, daß Yuba Bill sich augenscheinlich als in einer wohlgelungnen Verkleidung erschienen betrachtete, lachte er und meinte, es möchte wohl Instinkt gewesen sein.
»Na und Du?« sagte Bill, indem er ihn auf Armslänge vor sich hinhielt und ihn kritisch betrachtete – »Du! Wenn man denkt – wenn man denkt – ein kleines Ding nicht höher als bis an den Wagenstrang, ein Junge, den ich öfters mit der Peitsche von der Straße weggetrieben, ein Junge, bei dem niemals viel von Kleidern die Rede war, in einen Stutzer verwandelt!«
Islington erinnerte sich, indem ihn ein Gefühl von Lustigkeit und Schreck durchfuhr, daß er noch immer im Gesellschaftsanzuge war.
»Verwandelt,« fuhr Yuba Bill ernst fort, »in einen Restaurationskellner, einen Garsonk. He, Alfons, bring mir ‘ne Gansleberpastete und ‘nen Eierkuchen, verdamm mich!«
»Lieber alter Kerl!« sagte Islington, indem er lachend versuchte, seine Hand Bill über den bärtigen Mund zu schieben, »aber Sie – auch Sie sehen nicht genau so wie gewöhnlich aus. Sie sind nicht wohl, Bill?« Und in der That, als er sich dem Lichte zuwendete, sah man, daß Bills Augen tief in den Höhlen lagen, und daß sein Haar und Bart reichlich mit grauen Fäden gemischt waren.
»Mag sein, daß es dieses Geschirr hier ist,« sagte Bill ein wenig ängstlich. »Wenn ich mir diese Kinnkette umlege« (er meinte damit eine massive goldne Uhrkette mit ungeheuren Gliedern) »und diesen Morgenstern ‘rausstecke« (er zeigte auf eine Brustnadel mit einem sehr großen Solitär, welcher aussah, als wollte er ihm über das ganze Vordertheil des Hemdes Blasen ziehen), »da liegt mir was schwer auf dem Herzen. Sonst bin ich ganz munter, mein Junge, ganz munter!« Aber er vermied Islingtons scharfes Auge und wendete sich vom Lichte ab.
»Sie haben mir etwas zu sagen, Bill,« sagte Islington plötzlich und mit einem fast barschen Gerade-Drauflosgehen, »heraus damit.«
Aber Bill sprach nicht, sondern bewegte sich unbehaglich nach seinem Hute hin.
»Sie sind nicht dreitausend Meilen weit hergekommen ohne ein Wort vorheriger Anzeige, blos um mit mir von alten Zeiten zu plaudern,« sagte Islington freundlicher, »so sehr ich mich auch gefreut hätte, Sie zu sehen. Das ist nicht Ihre Art, Bill, und Sie wissen das. Wir werden hier nicht gestört werden,« fügte er als Antwort auf einen fragenden Blick hinzu, den Bill auf die Thür warf, »und ich bin bereit, Sie zu hören.«
»Na dann erstens,« sagte Bill, indem er seinen Stuhl näher an Islington zog, »beantworte mir eine Frage, Tommy, ehrlich und rundheraus, klar und deutlich.«
»Weiter,« sagte Islington mit einem leichten Lächeln.
»Wenn ich zu Dir sagte, Tommy, – heute, hier zur Stelle sagte, Du mußt mit mir kommen – Du mußt diesen Ort verlassen, auf einen Monat, ein Jahr, vielleicht zwei Jahr – kann sein für immer – giebt’s da irgendwas, das Dich halten würde – irgendwas, mein Junge, was Du nicht verlassen könntest?«
»Nein,« erwiderte Tommy ruhig. »Ich bin hier blos auf Besuch. Ich dachte, heute Greyport zu verlassen.«
»Aber wenn ich nun zu Dir sagte, Tommy, komm mit mir auf eine Tour nach China, nach Japan, nach Südamerika vielleicht, könntest Du da gehen?«
»Ja,« sagte Islington nach einer kleinen Pause.
»Es giebt also nichts,« sagte Bill, indem er etwas näher rückte und seine Stimme in vertraulicher Weise dämpfte, »nicht etwa so was wie zum Beispiel ein junges Frauenzimmer – Du verstehst mich, Tommy – was Dich halten würde? Sie sind höllisch verliebt hier, und ob Einer jung oder alt ist, Tommy, immer ist irgend ein Weibsbild Sporn und Peitsche für ihn.«
In einer gewissen aufgeregten Bitterkeit, welche den Vortrag dieser abstracten Wahrheit charakterisirte, sah Bill nicht, daß das Gesicht des jungen Mannes leicht erröthete, als er »Nein« antwortete.
»Na dann horch. Es ist sieben Jahre her, Tommy, daß ich eine von den ersten Postkutschen fuhr, die von Gold Hill kamen. Als ich vor dem Posthause stand, kommt der Sheriff der Grafschaft zu mir und sagt: Bill, sagt er, da hab’ ich ‘nen verrückten Kerl, den ich nach dem Irrenhause in Stockton zu bringen beauftragt bin. Er ist ruhig und friedfertig, aber die drinnen in der Kutsche wollen nicht mit ihm fahren. Hast Du was dawider, ihn zu Dir auf den Bock zu nehmen? Ich sage: Nein, setz’ ihn nur ‘rauf. Als ich fort wollte und mich neben ihn auf den Bock setzte, so war dieser Mann, Tommy – so war der Mann, der ruhig und friedfertig neben mir saß – Johnson!
»Er kannte mich nicht, mein Junge,« fuhr Yuba Bill fort, indem er aufstand und seine Hände auf Tommys Schultern legte, »er kannte mich nicht. Er wußte nichts von Dir, von Angels, von dem Quecksilberlager, nicht einmal seinen Namen. Er sagte, sein Name wäre Skaggs, aber ich wußte, es war Johnson. Es gab da Zeiten, Tommy, wo Du mich mit einer Feder hättest von jenem Bock herunterhauen können, es gab Zeiten wo ich es niemals genügend der Gesellschaft hätte erklären können, wenn die siebenundzwanzig Passagiere dieser Postkutsche sich plötzlich im American River schwimmen gesehen hätten, fünfhundert Fuß unter der Straße.
»Der Sheriff sagte,« so fuhr Bill hastig fort, als wollte er jede Unterbrechung von Seiten des jungen Mannes im Voraus abschneiden, »der Sheriff sagte, er wäre vor drei Jahren in Murphys Lager gebracht worden, von Wasser triefend und an einer Gehirnerschütterung leidend, und die Jungens hätten für gewöhnlich ihn der Reihe nach verpflegt. Als ich dem Sheriff sagte, ich kennte ihn, so brachte ich ihn dahin, daß er ihn meiner Sorge überließ, und ich schaffte ihn nach Frisco, Tommy, nach Frisco und übergab ihn der Obhut des besten Doctors da und bezahlte seinen Unterhalt selber. Es gab nichts, was er nicht gehabt hätte, wenn er es wollte. Blicke nicht dorthin, mein lieber Junge, um Gottes willen, sieh nicht weg!«
»O Bill,« sagte Islington, indem er aufstand und nach dem Fenster taumelte, »warum haben Sie mir das verborgen?«
»Warum?« sagte Bill, indem er sich grimmig zu ihm wandte. »Warum? Weil ich kein Narr war. Da warst Du, der sich seinen Weg auf der hohen Schule bahnte, da warst Du, der in der Welt emporstieg und etwas für sie bedeutete; hier aber war ein alter Bummler, der so gut wie todt für sie war, ein Mann, der schon früher hätte sterben sollen, ein Mann, der das nie läugnete. Du aber konntest ihn stets besser leiden als mich,« sagte Bill bitter.
»Vergieb mir, Bill,« sagte der junge Mann, indem er ihn bei beiden Händen ergriff. »Ich weiß, Du thatest es in der besten Absicht, aber erzähle weiter.«
»Es giebt nicht viel mehr zu erzählen, auch nutzt das Erzählen nicht viel, wie ich sehen kann,« sagte Bill düster. »Er konnte niemals curirt werden, sagten die Doctors; denn er hatte, was sie Monomanie nannten – redete in einem weg von seiner Frau und Tochter, die ihm jemand vor Jahren gestohlen hätte, und sann auf Rache an diesem Jemand. Und vor sechs Monaten wurde er vermißt. Ich folgte seiner Spur nach Carson, nach der Salzsee-Stadt, nach Omaha, nach Chicago, nach Neuyork – und hierher!«
»Hierher!« wiederholte Islington wie ein Echo.
»Hierher. Und das ist’s, was mich heute herführt. Ob er verrückt oder gesund ist, ob er auf Dich Jagd macht oder sich nach dem Andern umsieht, Du mußt von hier weg. Du darfst ihn nicht sehen. Du und ich, Tommy, wir wollen fort auf eine Kreuzfahrt. In drei oder vier Jahren wird er todt oder verschwunden sein, und dann wollen wir zurückkommen. Komm.« Und er erhob sich auf seine Füße.
»Bill,« sagte Islington, indem er auch aufstand und die Hand seines Freundes ergriff, mit derselben ruhigen Hartnäckigkeit, die ihn in frühern Tagen Bill werth gemacht hatte, »wo er auch ist, hier oder anderswo, bei Verstande oder gestörten Geistes, ich werde ihn suchen und finden. Jeder Dollar, den ich habe, soll ihm gehören, jeder Dollar, den ich verthan habe, soll ihm wieder erstattet werden. Ich bin, Gott sei Dank! noch jung und kann arbeiten, und wenn es einen Weg aus dieser elenden Angelegenheit giebt, so werde ich ihn finden.«
»Das wußte ich,« sagte Bill mit einer mürrischen Miene, die seine augenscheinliche Bewunderung der ruhigen Gestalt vor ihm übel verbarg – »ich kannte die besondere Art des verdammten Narren, der Du bist, und erwartete nichts Besseres. So leb denn wohl – allmächtiger Gott! wer ist das?«
Er war auf dem Wege zu der offnen Glasthür gewesen, aber mit ganz weißem und blutlosem Gesicht und stieren Augen zurückgefahren. Islington lief nach der Thür und sah hinaus. Ein weißer Kleidersaum verschwand eben um die Ecke der Verandah. Als er zurückkam, war Bill in einen Stuhl gesunken.
»Es muß, denk’ ich, Miß Masterman gewesen sein, aber was giebt’s denn?«
»Nichts,« sagte Bill matt, »hast Du ‘nen Tropfen Whiskey zur Hand?«
Islington brachte eine Karaffe herbei, goß etwas Branntwein aus und händigte das Glas Bill ein. Bill trank es aus und sagte dann: »Wer ist Miß Masterman?«
»Mr. Mastermans Tochter, das heißt, eine Adoptivtochter, glaub’ ich.«
»Wie heißt sie?«
»Das weiß ich wirklich nicht,« sagte Islington verdrießlich, indem ihn dieses Ausfragen mehr ärgerte, als er merken lassen wollte.
Yuba Bill erhob sich und schritt nach der Glasthür, schloß sie, schritt nach der andern Thür zurück, warf Islington einen Blick zu, blieb stehen und kehrte dann zu seinem Stuhle zurück.
»Ich habe Dir nicht gesagt, daß ich verheirathet war – nicht wahr?« sagte er plötzlich, indem er Islington mit einem erfolglosen Versuche zu einem dreisten Lachen ins Gesicht sah.
»Nein,« sagte Islington, den seine Manier schmerzlicher berührte als seine Worte.
»Thatsache,« sagte Yuba Bill. »Vor drei Jahren war’s, Tommy – vor drei Jahren!«
Er sah Islington so scharf an, daß dieser in dem Gefühl, man erwarte, daß er etwas sage, zerstreut fragte: »Wen heiratheten Sie denn?«
»Ja das ist’s eben,« erwiderte Yuba Bill. »Das kann ich so recht nicht sagen. Doch, eigentlich war’s eine Teufelin! und sonst die Frau von einem halben Dutzend andern Männern noch.«
Offenbar gewöhnt, sein eheliches Unglück unter Männern zum Gegenstand von Späßen gemacht zu sehen, und indem er auf Islingtons ernstem Antlitz keine Spur von Vergnügtheit sah, besänftigte sich sein trotziges und ungenirtes Wesen, und er zog seinen Stuhl näher zu Islington hin und fuhr fort:
»Es fing so an. Wir kamen eines Abends ziemlich munter Watsons Abstieg herab, da dreht sich der Eilbote nach mir um und sagt: Da giebt’s einen Zank drinne und Du thätest besser, anzuhalten. Ich halte an, und heraus hupft zuerst ein Frauenzimmer, dann zwei oder drei Kerls. Die schwören und fluchen und versuchen Einen herauszuzerren. Dann kam’s ‘raus, Tommy, daß es der besoffne Mann dieses Frauenzimmers war, den sie ‘rausschmeißen wollten, weil er sie geschimpft und sie in der Kutsche gekeilt hatte, und wär’ ich nicht dagewesen, mein Junge, so hätten sie ihn auf der Straße liegen lassen. Aber ich brachte die Geschichte in Ordnung, indem ich sie zu mir auf den Bock setzte, und wir fuhren weiter. Sie war sehr blaß, Tommy – aber was das angeht, so war sie immer eine von den sehr blassen Weibern, die niemals roth im Gesichte werden – aber weinen that sie nicht einen Tropfen. Die meisten Weiber hätten geweint. Es war komisch, aber sie weinte gar nicht. So dacht’ ich damals bei mir.
Sie war sehr lang, mit einer Menge lichter Haare, die sich über ihren Hinterkopf herabringelten, so lang wie eine Peitschenschnur von Rehhaut und ungefähr von der Farbe. Sie hatte Augen, die Einen auf fünfzig Schritt durch und durch blickten, und hübsche Hände und Füße. Und als sie sich aus dem steifen, nervenschwachen Zustande, in dem sie war, einigermaßen herausfand und ein bischen warm wurde und wieder aufthaute, bei Gott, Tommy, was sie da schön aussah – wahrhaftig das war sie!«
Ein wenig roth und verlegen geworden über seinen eignen Enthusiasmus, hielt er inne und sagte dann gleichgültig: »Sie stiegen bei Murphy aus.«
»Nun?« sagte Islington.
»Na, ich habe sie dann nachher öfters gesehen, und wenn sie allein war, setzte sie sich immer auf den Bock. Sie vertraute mir ihr Leiden in etwas an, daß ihr Mann sich besaufen und sie schlecht behandeln thäte, und ich sah nicht viel von ihm; denn er war nachher weg, in Frisco. Aber es war Alles richtig, Tommy, – Alles richtig zwischen mir und ihr.
»Es kam,« so fuhr er fort, »dahin, daß ich viel zu ihr ging, und dann, da sagt’ ich eines Tages zu mir: Bill, das geht nicht, und ich ließ mich auf eine andere Route versetzen. Hast Du wohl jemals Jackson Filltree gekannt, Tommy?« sagte Bill plötzlich abbrechend.
»Nein.«
»Könntest wohl vielleicht mal von ihm gehört haben?«
»Nein,« sagte Islington ungeduldig.
»Jackson Filltree fuhr die Eilpost von Whites Farm nach Summit, über den Nordarm des Yuba. Eines Tages sagt der zu mir: Bill, das ist doch ‘ne höllisch schlimme Furt da in dem Nordarm. Sag’ ich: Das glaube ich Dir, Jackson. Die wird mich ein Mal das Leben kosten, Bill – sicherlich, sagt er. Sag’ ich: Na warum fährst Du denn nicht durch die untere Furt? Ich weiß nicht, sagt er, aber ich kann nicht. So sagte er hinterher immer, wenn ich ihn traf: Dieser Nordarm hat mich noch nicht erwischt. Da war ich eines Tages in Sacramento, und da kommt Filltree auf mich zu. Er sagt: Ich habe das Eilpostgeschäft verkauft von wegen dieses Nordarmes; aber er ist bestimmt, mich doch noch zu kriegen, ganz gewiß, Bill, und dazu lachte er. Zwei Wochen drauf finden sie seine Leiche unterhalb der Furt, wo er hatte durchfahren wollen, als er vom Summit-Wege herunterkam. Die Leute sagten: Es war Thorheit, Tommy; ich aber sage: ‘s war Bestimmung. Den zweiten Tag, nachdem ich auf die Placerville-Route versetzt worden war, kommt dieses Frauenzimmer aus dem Gasthofe über der Post. Sie sagte, ihr Mann läge krank in Placerville, das ist’s, was sie sagte, aber es war Bestimmung, Tommy, Bestimmung. Drei Monate nachher nimmt ihr Mann eine zu starke Dosis Morphin gegen das Delirium Tremens und stirbt. Es giebt Leute, die sagen, sie hätt’ es ihm gegeben, aber ‘s ist Bestimmung. Ein Jahr nachher, da heirathete ich sie – Bestimmung, Tommy, Bestimmung.
»Ich lebte mit ihr just drei Monate,« so fuhr er nach einem tiefen Athemzuge fort – »drei Monate. Es ist nicht viel Zeit für einen glücklichen Mann. Ich habe ein gut Theil harte Tage in meinem Leben gesehen, aber es gab in diesen drei Monaten Tage, länger als irgend ein Tag in meinem Leben – Tage, Tommy, wo es an einem Haar hing, ob ich sie oder sie mich umbringen sollte. Aber damit genug. Du bist ein junger Mensch, Tommy, und ich will Dir nicht Sachen erzählen, die ich, so alt ich bin, vor drei Jahren nicht für glaublich gehalten hätte.«
Als er zuletzt, mit seinem grimmigen Gesichte dem Fenster zugekehrt, seine geballten Hände auf den Knien vor sich, schweigend dasaß, fragte Islington, wo seine Frau jetzt sei.
»Frage mich nicht mehr, mein Junge – nicht mehr. Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte.« Mit einer Geberde, als ob er ein Paar Zügel vor sich hinwürfe, erhob er sich und schritt nach der Glasthür.
»Du kannst begreifen, Tommy, warum ein kleiner Ausflug um die Welt mir gut thun würde. Wenn Du nicht mit mir gehen kannst, wohlan denn, gut. Aber gehen muß ich.«
»Hoffentlich nicht vor dem Frühstück,« sagte eine sehr holde Stimme, als Blanche Masterman plötzlich vor ihnen stand. »Vater würde mir’s nie vergeben, wenn ich in seiner Abwesenheit einem von Mr. Islingtons Freunden gestattet hätte, in dieser Weise zu gehen. Sie werden bleiben, nicht wahr? Bitte. Und Sie werden mir jetzt Ihren Arm geben, und wenn Mr. Islington mit seinem Starren ins Blaue hinein fertig ist, wird er uns ins Speisezimmer folgen und Sie vorstellen.
»Ich habe mich förmlich in Ihren Freund verliebt,« sagte Miß Blanche, als sie im Salon standen und nach der Gestalt Bills hinaussahen, der, seine kurze Pfeife im Munde, durch das Gesträuch schlenderte. »Er thut freilich sehr wunderliche Fragen. So wollte er zum Beispiel den Mädchennamen meiner Mutter wissen.«
»Er ist ein ehrlicher Bursche,« sagte Islington ernst.
»Sie sind sehr niedergeschlagen. Ich glaube, Sie wissen mir’s nicht einmal Dank, daß ich Sie und Ihren Freund hier behalte, aber wissen Sie, Sie konnten nicht gehen, ehe Vater zurückkam.«
Islington lächelte, aber nicht sehr heiter.
»Und dann denke ich, ‘s ist viel besser für uns, hier unter diesen Fresken Abschied zu nehmen, nicht wahr? Leben Sie wohl.«
Sie hielt ihm ihre lange schmale Hand hin.
»Da draußen im Sonnenlicht, als meine Augen roth waren, hatten Sie’s sehr eilig, mich anzusehen,« setzte sie mit gefährlicher Stimme hinzu.
Islington erhob seine traurigen Augen nach den ihren. Etwas Glitzerndes zitterte auf ihren holden Augenwimpern und fiel.
»Blanche!«
Sie war rosig genug jetzt und würde ihre Hand zurückgezogen haben, aber Islington hielt sie fest. Sie war nicht ganz sicher, daß ihre Taille nicht auch in Gefahr schwebte. Doch konnte sie nicht umhin zu sagen: »Sind Sie sicher, daß es nicht etwa so was wie ein junges Frauenzimmer giebt, was Sie halten könnte?«
»Blanche!« rief Islington in vorwurfsvollem Schrecken aus.
»Wenn Herren ihre Geheimnisse bei offnem Fenster ausschreien, während ein junges Frauenzimmer auf einem Sofa in der Verandah liegt und einen dummen französischen Roman liest, so dürfen sie sich nicht wundern, falls sie ihnen mehr Aufmerksamkeit zuwendet als dem Buche.«
»Dann wissen Sie Alles, Blanche?«
»Ich weiß,« sagte Blanche, »lassen Sie mich ‘mal sehen – ich weiß die besondere Art des – hm! – Narren, der Sie wären, und erwartete nichts Besseres. Leben Sie wohl.« Damit entwand sie sich wie eine niedliche und unschuldige Milchschlange seinem Griff und schlüpfte davon.
*
Zu dem anmuthigen Wellengekräusel, dem Schall von Musik und leichten Stimmen ging der gelbe Mittsommer-Mond über Greyport auf. Er blickte auf formlose Massen von Felsen und Gesträuch, weite Flächen von Rasen und Strand und einen schimmernden weitgedehnten Wasserspiegel. Er ließ einzelne Gegenstände besonders hervortreten – ein weißes Segel am Ufer, eine Krystallkugel auf dem Rasenplatz, und blitzte auf etwas, welches eine geduckte Gestalt in den Zähnen hielt, die über die niedrige Mauer von Clifford Lodge stieg. Dann, als ein Mann und ein Weib aus dem Schatten des Laubes in das offne Mondlicht des Gartenpfads herausschritten, sprang die Gestalt von der Mauer, richtete sich auf und wartete im Schatten.
Es war die Gestalt eines alten Mannes mit rollenden Augen. Seine zitternde Hand umklammerte ein langes, scharfes Messer, sah aber damit weniger unbarmherzig als erbarmenswerth aus, mehr pathetisch als furchtbar. Aber im nächsten Augenblicke wurde ihm das Messer aus der Hand geschlagen, und er wand sich in der festen Umfassung einer andern Gestalt, die augenscheinlich von der Mauer neben ihm gesprungen war.
»Gott verdamm Dich, Masterman!« schrie der alte Mann heiser. »Laß mich los, und ich werde Dich noch todtstechen.«
»Mein Name ist Yuba Bill,« sagte Bill gelassen, »und es ist Zeit, daß dieser verdammten Narrethei Einhalt gethan wird.«
Der alte Mann stierte Bill wüthend ins Gesicht. »Ich kenne Dich. Du bist einer von Mastermans Freunden, verdammter Kerl – laß mich los, bis ich hingehe und ihm’s Herz herausschneide – laß mich los! Wo ist meine Mary? – wo ist meine Frau? – Da ist sie! Da! Da! Da! Mary!« Er würde laut aufgekreischt haben, aber Bill legte ihm seine gewaltige Hand auf den Mund, während er sich nach der Richtung hinwendete, nach welcher der alte Mann hinblickte. Deutlich traten die Gestalten Islingtons und Blanche’s Arm in Arm im Mondlicht auf dem Gartenpfade hervor.
»Gieb mir meine Frau!« murmelte der alte Mann heiser zwischen Bills Fingern. »Wo ist sie?«
Ein Ausdruck plötzlicher Wuth ging über Yuba Bills Gesicht. »Wo Deine Frau ist?« sagte er, indem er den alten Mann mit dem Rücken gegen die Gartenmauer drückte und ihn dort wie in einem Schraubstock festhielt. »Wo Deine Frau ist?« wiederholte er, indem er seinen grimmig lachenden Mund und seine wilden Augen dem alten Manne in das entsetzte Gesicht bohrte. »Wo ist Jack Adams Frau? Wo ist meine Frau? Wo ist die Teufelin, welche den einen Mann zum Verrückten machte, welche den andern durch seine eigne Hand zur Hölle sandte, welche mich auf ewig brach und zu Grunde richtete? Wo? Wo? Fragst Du, wo? Im Gefängniß zu Sacramento – im Gefängniß, hörst Du wohl? – im Gefängniß wegen Mord, Johnson – wegen Mord!«
Der alte Mann schnappte nach Luft, wurde starr und sank dann, indem die Spannung der Nerven nachließ, plötzlich als bloße unbeseelte Masse Yuba Bill zu Füßen. Mit einem plötzlichen Umschwung der Gefühle stürzte Yuba Bill neben ihm nieder und flüsterte, indem er ihn zärtlich in seinen Armen emporhob: »Schau auf, alter Mann, Johnson. Schau auf um Gottes willen! – ich bin’s ja – Yuba Bill! und da drüben ist Deine Tochter und – Tommy! – kennst Du ihn nicht – Tommy, der kleine Tommy Islington?«
Johnsons Augen öffneten sich langsam. Er flüsterte: »Tommy! Ja Tommy! Setze Dich neben mich. Aber setze Dich nicht so nahe ans Ufer. Siehst Du nicht, wie der Fluß sich hebt und mir winkt – hörst Du, wie er über die Felsen zischt und kocht? Er schwillt höher! – halte mich, Tommy – halte mich und laß mich noch nicht los. Wir wollen leben bleiben, um ihm das Herz auszuschneiden, Tommy – wir wollen leben bleiben – wir wollen –«
Da sank sein Haupt zurück, und der rauschend dahinschießende Fluß, allen Augen außer den seinen unsichtbar, sprang aus der Finsterniß auf ihn zu und trug ihn hinweg, nicht mehr in die Dunkelheit, sondern durch sie in die ferne friedliche leuchtende See.