Guy de Maupassant
I
Lieber Freund, sagte ich zu Labarbe, Du hast schon wieder die vier Worte ausgesprochen: »das Schwein der Morin«. Zum Donnerwetter noch einmal, warum habe ich denn von dem Morin noch nie anders reden hören, als in Verbindung mit ›das Schwein‹?
Labarbe, an dem heute die Reihe war, riß die Augen auf wie eine Eule:
– Was, Du kennst die Geschichte von Morin nicht und willst aus la Rochelle sein?
Ich gestand, daß ich die Geschichte von Morin nicht kennte. Da rieb sich Labarbe die Hände und begann zu erzählen:
– Nicht wahr, Du kanntest doch Morin und Du erinnerst Dich seines großen Kurzwarenladens am Quai von la Rochelle.
– Gewiß.
– Nun also: Morin war 1862 oder 63 einmal vierzehn Tage in Paris zu seinem Vergnügen oder vielmehr wegen seiner Vergnügungen, aber unter dem Vorwande, sein Warenlager zu ergänzen.
Du weißt, was vierzehn Tage in Paris für einen Kaufmann aus der Provinz bedeuten. Das macht einen ganz verrückt. Alle Abende ist was los, immer Weiber, kurz man kommt aus der Aufregung gar nicht heraus.
Man wird toll.
Man sieht weiter nichts mehr als Tänzerinnen in Tricot, dekolettierte Schauspielerinnen, runde Beine und üppige Schultern. Und alles das, beinahe mit der Hand zu fassen, nur daß man nicht ‘ran traut.
Kaum, daß man ein oder zwei Mal irgend ein untergeordnetes Frauenzimmer erwischt. Und man reist ab noch ganz erregt und in gehobener Stimmung, mit einer Art von Nachgeschmack nach Küssen, die einem die Lippen kitzeln.
In diesem Zustand befand sich Morin, als er sein Billet nach la Rochelle nahm für den Schnellzug acht Uhr vierzig abends. Er ging voller Bedauern und Erregung in der großen Wartehalle des Orleans-Bahnhofs auf und ab, als er plötzlich vor einer jungen Frau kurz Halt machte, die eine alte Dame umarmte. Sie hatte den Schleier hochgeschlagen und Morin brummte entzückt vor sich hin:
– Donnerwetter ist die hübsch!
Als sie der Alten lebewohl gesagt hatte, ging sie in den Wartesaal und Morin folgte ihr. Dann trat sie auf den Bahnsteig hinaus – Morin folgte wieder. Endlich stieg sie in ein leeres Wagenabteil – Morin folgte von neuem.
Es saßen wenig Reisende im Schnellzug. Die Lokomotive pfiff. Der Zug fuhr ab. Sie waren allein.
Morin verschlang sie mit den Augen. Sie schien etwa neunzehn bis zwanzig Jahre alt zu sein, war groß und blond und sah ziemlich unternehmend aus.
Sie wickelte sich die Reisedecke um die Beine und streckte sich auf dem Polster aus, um zu schlafen.
Morin fragte sich: wer mag das wohl sein? Und tausend Vermutungen, tausend Ideen schossen ihm durch den Kopf. Er sagte sich, man erzählt soviel Eisenbahnabenteuer, am Ende könnte ich hier ‘nen feinen Coup machen – wer weiß. Gut Glück kommt unverhofft und vielleicht genügt es, wenn ich nur etwas unternehmend wäre. Hat nicht Danton gesagt: Mut, Mut und zum dritten Mal Mut. Und wenns nicht Danton gewesen ist, so wars Mirabeau. Kurz, ich bin eben nicht unternehmend genug, daran liegts. O wenn man wüßte, was in so einer Seele vorgeht, wenn man darin lesen könnte! Ich möchte doch wetten, daß man täglich ohne es zu ahnen, die wundervollsten Gelegenheiten achtlos vorübergehen läßt. Sie brauchte ja nur eine Bewegung zu machen, um mir anzudeuten daß sie nicht abgeneigt ist.
Da machte er allerlei Pläne, die ihm zum Erfolge verhelfen sollten. Er dachte an eine ritterliche Einführung, an irgend einen Dienst den er ihr erweisen könnte; eine lebhafte Unterhaltung würde sich entspinnen, die galant wurde, mit einer Liebeserklärung endigte und mit allem, was hinterher kommt.
Aber ihm fehlte immer der Anfang, ein Vorwand. Und er wartete eine glückliche Gelegenheit ab, mit klopfendem Herzen und ganz erregten Sinnen.
Doch die Nacht strich hin und die schöne junge Dame schlief immerfort, während Morin sich den Kopf zerbrach wie er sie zu Fall bringen könnte. Endlich ward es Tag und die Sonne warf ihren ersten Schein, einen langen, vom Horizont herüberschießenden Sonnenstrahl auf das süße Antlitz der Schläferin.
Sie erwachte, richtete sich auf, blickte durch das Fenster hinaus und sah dann Morin an und lächelte. Sie lächelte wie eine glückliche Frau, zuvorkommend und heiter. Morin zuckte zusammen. Kein Zweifel, das Lächeln galt ihm. Es war eine geheime Einladung, die Ermutigung, von der er träumte. Dieses Lächeln sollte sagen:
– Sind Sie denn dumm! Sind Sie denn thöricht! Sind Sie denn ein Einfaltspinsel, da wie eine Salzsäule auf einem Fleck sitzen zu bleiben seit gestern abend.
Sehen Sie mich doch nur mal an. Bin ich denn nicht reizend und Sie blieben die ganze Nacht einer hübschen Frau gleichgiltig gegenüber sitzen, ohne sich ihr zu nähern. Sie großer Einfaltspinsel!
Sie lächelte noch immer und blickte ihn an. Jetzt fing sie sogar an zu lachen. Da verlor er den Kopf, suchte irgend ein Wort der Einleitung, ein Kompliment, genug, irgend etwas, was er ihr sagen könnte. Aber er fand nichts, aber auch gar nichts. Da packte ihn plötzlich der Mut der Feigheit und er dachte: ach was, ich werds mal riskieren. Und plötzlich näherte er sich ihr, ohne auch nur ein Wort der Einleitung oder Vorbereitung zu sagen, mit ausgestreckten Händen, lüsternen Lippen, umarmte und küßte sie.
Mit einem Satz sprang sie auf und brüllte:
– Hilfe! – heulend vor Entsetzen. Sie öffnete das Fenster, winkte mit den Armen hinaus, ganz rasend vor Angst, und versuchte beinahe sich hinauszustürzen, während Morin erschrocken und davon überzeugt, daß sie sich auf die Schienen werfen würde, sie am Kleide zurückhielt, indem er stotterte:
– Aber gnädige Frau, gnädige Frau!
Der Zug fuhr langsamer und blieb halten. Zwei Beamte kamen auf die verzweifelten Rufe der jungen Frau herbei, die ihnen in die Arme fiel und stammelte:
– Dieser Mann hat mich – hat mich –
Und sie verlor die Besinnung.
Es war auf dem Bahnhof von Mauzé und der dort stationierte Gendarm nahm Morin fest.
Als das Opfer seiner Rohheit die Besinnung wiedergewonnen hatte, erklärte sie was geschehen. Die Polizei nahm ihre Aussage zu Protokoll und der arme Kurzwarenhändler konnte erst abends nach Hause zurückkehren, während ihm eine gerichtliche Verfolgung wegen Verletzung der Sittlichkeit am öffentlichen Orte drohte.
II
Ich war damals Chefredakteur der »Laterne von Charentes« und traf Morin jeden Abend im Café.
Am Tage nach seinem Abenteuer suchte er mich auf, da er nicht wußte, wie er sich verhalten sollte. Ich hielt nicht hinter dem Berge und sagte:
– Du bist einfach ein Schwein. So benimmt man sich doch nicht.
Er heulte. Seine Frau hatte ihn verdroschen. Er sah schon alles kommen: sein Geschäft war ruiniert, sein ehrlicher Name in den Schmutz gezogen, er war entehrt, seine Freunde grüßten ihn nicht mehr. Da that er mir wirklich leid und ich rief meinen Mitarbeiter Rivet, einen kleinen, gerissenen Kerl, der immer guten Rat wußte, um seine Meinung zu hören.
Er redete mir zu, den Staatsanwalt, den ich gut kannte, aufzusuchen. Ich schickte Morin nach Hause und ging zu dem Beamten.
Und ich hörte, daß die beleidigte Dame ein junges Mädchen sei: Fräulein Henriette Bonnel, die eben in Paris ihr Lehrerinnenexamen gemacht hatte und die, da sie weder Vater noch Mutter besaß, ihre Ferien bei Onkel und Tante, braven kleinen Rentnern in Mauzé, zu verleben gedachte.
Ein Umstand machte die Lage für Morin gefährlich. Der Onkel war nämlich als Nebenkläger aufgetreten. Die Staatsanwaltschaft war bereit, die Sache fallen zu lassen, wenn die Klage zurückgezogen wurde. Und das mußten wir infolgedessen erreichen.
Ich kehrte zu Morin zurück. Er lag im Bett. Er war ganz krank vor Erregung und Kummer. Seine Frau, ein großes, dürres, bärtiges Frauenzimmer, mißhandelte ihn unausgesetzt. Sie ließ mich eintreten und brüllte mich sofort an:
– Sie wollen wohl das Schwein den Morin sehen. Da ist er, das Rindvieh.
Und sie pflanzte sich vor dem Bett auf, die Hände in die Seite gestemmt. Ich setzte die Lage auseinander und er flehte mich an, die Familie aufzusuchen. Die Sendung war sehr heikel, aber ich übernahm sie. Der arme Kerl wiederholte fortwährend:
– Ich kann Dir die Versicherung geben, ich habe sie nicht mal geküßt, ich schwöre Dir’s.
Und ich antwortete:
– Das ist ganz wurscht, Du bist und bleibst doch ‘n Schwein.
Ich nahm tausend Franken, die er mir übergab, um sie zu verwenden, wie ich’s für richtig hielte.
Aber da mirs nicht gerade angenehm war, ganz allein in das Haus der Verwandten einzudringen, bat ich Rivet, mich zu begleiten. Er ging darauf ein unter der Bedingung, daß wir sofort abreisen sollten, denn er hatte am nächsten Nachmittage notwendig in la Rochelle zu thun.
Zwei Stunden später klingelten wir an der Thüre eines hübschen Landhauses. Ein schönes, junges Mädchen machte uns auf. Das war sie sicher. Ich sagte leise zu Rivet:
– Gott verdamm mich, ich kann’s Morin nicht verdenken.
Es traf sich zufällig, daß der Onkel, Herr Tonnelet, Abonnent unserer Zeitung war, ein eifriger, politischer Parteigänger, der uns mit offenen Armen empfing, uns herzlich die Hand drückte und ganz glückselig war, die beiden Redakteure seiner Zeitung bei sich zu sehen. Rivet flüsterte mir ins Ohr:
– Ich glaube, wir werden die Sache für das Schwein den Morin schon deichseln!
Die Nichte hatte sich entfernt und ich fing an von der Angelegenheit zu sprechen. Ich meinte, ein Skandal drohe und ich rückte ins rechte Licht, daß der Lärm, den so eine Geschichte mache, für das junge Mädchen zweifellos sehr peinlich sein würde, denn kein Mensch würde glauben, es sei bei einem Kuß geblieben.
Der gute Mann schien unschlüssig zu sein. Aber ohne seine Frau konnte er keine Entscheidung treffen und seine Frau kam erst abends zurück. Plötzlich stieß er ein Triumphgeschrei aus:
– Hören Sie mal, ich habe eine ausgezeichnete Idee. Ich behalte Sie einfach hier. Sie werden bei uns essen und bei uns übernachten, alle beide, und wenn meine Frau zurückgekommen ist, werden wir, denke ich, schon einig werden.
Rivet zögerte zuerst, aber der Wunsch dem Schwein dem Morin aus der Patsche zu helfen, gab schließlich den Ausschlag, und wir nahmen die Einladung an.
Der Onkel stand glückstrahlend auf, rief seine Nichte und schlug uns einen Spaziergang durch seine Besitzung vor, indem er sagte:
– Die ernsten Dinge erledigen wir heute abend.
Rivet und er sprachen von Politik, ich aber ging bald ein paar Schritte hinter ihnen, neben dem jungen Mädchen. Sie war wirklich reizend, ganz reizend.
Mit unendlicher Vorsicht fing ich an, von ihrem Abenteuer zu sprechen, um den Versuch zu machen, sie für uns zu gewinnen.
Aber sie schien nicht im Mindesten verlegen zu sein. Sie hörte mir zu wie jemand, der sich köstlich amüsiert.
Ich sagte ihr:
– Gnädiges Fräulein, bitte bedenken Sie all die Unannehmlichkeiten, die Sie haben werden. Sie werden vor Gericht zu erscheinen haben, werden boshaft angeguckt werden, werden vor der ganzen Menschenmenge reden und öffentlich das böse Abenteuer in der Eisenbahn erzählen müssen. Hören Sie mal, ganz unter uns, wäre es denn nicht besser gewesen, Sie hätten nichts gesagt und wären nur dem Kerl ordentlich grob geworden, ohne die Beamten erst zu rufen. Dann wären Sie einfach ausgestiegen, in ein anderes Coupé –
Sie fing an zu lachen:
– Ach, Sie haben ja ganz recht, aber wissen Sie ich hatte eben Angst und wenn man Angst hat, überlegt man nicht weiter. Nachdem ich verstanden hatte, was ich eigentlich angerichtet, war mirs ja unangenehm, daß ich gerufen hatte, aber da wars eben schon zu spät. Und dann denken Sie nur, daß der alberne Mensch sich wie ein Verrückter auf mich stürzte, ohne auch nur ein Wort zu sagen und mit einem Ausdruck weiß Gott wie ein Wahnsinniger. Ich wußte ja gar nicht, was er von mir wollte.
Sie blickte mir ohne jegliche Verlegenheit gerade ins Gesicht und ich sagte mir: na das Mädel hats aber hinter den Ohren und ich verstehe schon, worin das Schwein der Morin sich geirrt hat.
Ich antwortete scherzend:
– Hören Sie mal, gnädiges Fräulein, gestehen Sie mal ein, daß er wohl entschuldbar war, denn kurzum, einem so schönen Mädchen wie Sie es sind, gegenüber, muß man den absolut berechtigten Wunsch empfinden es zu küssen.
Sie lachte noch mehr, daß man ihre Zähne sah und antwortete:
– Aber, zwischen dem Wunsche und der That, verehrter Herr, liegt die Achtung.
Die Redensart war ziemlich komisch und nicht gerade sehr klar. Ich fragte schnell:
– Nun, was würden Sie denn thun, wenn ich Ihnen jetzt einen Kuß gäbe?
Sie blieb stehen, blickte mich von oben bis unten an und sagte ganz ruhig:
– Ach, Sie, ja das ist ganz was anderes!
O ich wußte schon, daß es nicht dasselbe war. Denn ich hieß in der ganzen Gegend »der schöne Labarbe« und war damals kaum dreißig Jahre alt. Aber ich fragte:
– Warum denn?
Sie zuckte die Achseln:
– Nun, weil Sie nicht so dumm sind wie der.
Dann fügte sie hinzu indem sie mich von unten herauf anblickte:
– Und auch nicht so häßlich.
Ehe sie eine Bewegung hätte machen können, um mir auszuweichen, hatte ich ihr schon einen saftigen Kuß auf die Backe gedrückt. Sie sprang zur Seite, aber zu spät. Dann sagte sie:
– Na, wissen Sie, Sie genieren sich nun auch gerade nicht. Aber ich rate Ihnen, fangen Sie nicht wieder an.
Ich nahm eine demütige Miene an und sagte mit halblauter Stimme:
– O gnädiges Fräulein, ich habe nur einen Wunsch: wegen desselben Verbrechens vor Gericht zu stehen wie Morin.
– Warum denn? fragte sie.
Ich blickte ihr ernst in die Augen:
– Weil Sie ein bildschönes Geschöpf sind! Weil es für mich geradezu eine Empfehlung, ein Ruhm, ein Verdienst wäre, wenigstens den Versuch gemacht zu haben, Ihnen Gewalt anzuthun. Weil jeder, der Sie blos einmal sieht, sagen würde: »Na wenn Labarbe auch nicht gerade erreicht hat, was er wollte, Glück hat er doch gehabt.«
Sie fing herzlich an zu lachen:
– Sie sind ja zu komisch.
Sie hatte kaum das Wort ›komisch‹ gesagt, als ich sie schon umarmt und ihr ein paar wütende Küsse beigebracht hatte, wo es traf, auf das Haar, auf die Stirn, auf die Augen, sogar auf den Mund, auf die Wangen, auf den ganzen Kopf, von dem sie immer unwillkürlich eine Stelle freiließ, wenn sie eine andere decken wollte.
Endlich machte sie sich hochrot im Gesicht und mit beleidigter Miene los:
– Sie sind ein Grobian mein Herr und ich bedauere, daß ich Ihnen zugehört habe.
Ich nahm sie bei der Hand und stammelte ein wenig verlegen:
– Verzeihen Sie, verzeihen Sie, gnädiges Fräulein. Ich habe Sie verletzt, ich bin roh gewesen, bitte seien Sie mir nicht böse. Wenn Sie wüßten –
Ich suchte vergebens mich zu entschuldigen.
Sie sagte nach einem Augenblick:
– Ich will nichts wissen.
Aber nun hatte ich das erlösende Wort gefunden und ich rief:
– Gnädiges Fräulein, ich liebe Sie schon seit einem Jahr.
Sie war wirklich sehr erstaunt und blickte auf. Ich fing wieder an:
– Ja, gnädiges Fräulein, hören Sie mich an. Ich kenne Morin gar nicht, er ist mir auch ganz wurst, meinetwegen mag er vor Gericht stehen und sitzen! Ich habe Sie hier voriges Jahr gesehen. Sie standen da am Gitter und als ich Sie sah, hat es mich plötzlich durchzuckt und ich habe Ihr Bild nie vergessen, ob Sie mirs glauben oder nicht, ist ganz gleich! Ich finde Sie so schön, so schön! Die Erinnerung an Sie ließ mich nie wieder los. Ich wollte Sie wiedersehen und da habe ich das dumme Tier den Morin als Vorwand benutzt, und da bin ich! Die Gelegenheit war da und da habe ich wohl ein bißl über die Stränge gehaun! Verzeihen Sie mir, bitte; verzeihen Sie mir.
Sie suchte die Wahrheit in meinem Blick zu lesen und war nahe daran, wieder zu lächeln. Und sie murmelte:
– Lügner!
Ich hob die Hand und sagte in ganz aufrichtigem Ton, ich glaube, ich war wirklich aufrichtig:
– Ich schwöre Ihnen, daß ich nicht lüge.
Sie brummte einfach:
– Ach was.
Wir waren allein, ganz allein. Rivet und der Onkel waren in den sich schlängelnden Wegen verschwunden und da machte ich ihr eine richtige, lange, süße Erklärung, drückte ihr die Hand und küßte ihr die Finger und sie hörte dem zu wie etwas ganz Neuem, das ihr schmeichelte und angenehm war, ohne recht zu wissen, was sie davon glauben sollte.
Endlich war ich doch verlegen und dachte an das, was ich eigentlich sagte. Ich war bleich geworden, bebte, und zärtlich faßte ich sie um die Taille.
Ich sprach leise in die kleinen, gelockten Härchen an ihrem Ohr. Sie war so in Gedanken, daß sie starr und steif blieb wie tot.
Dann berührte ihre Hand die meine und drückte sie. Ich drückte langsam ihre Taille mit zitternder Hand und immer stärker. Sie regte sich gar nicht mehr. Ich streifte ihre Wange mit den Lippen und plötzlich fand mein Mund ohne ihn zu suchen, den ihren in einem langen, langen Kuß. Er würde noch viel länger gedauert haben, hätte ich nicht plötzlich ein paar Schritte hinter mir ein:
– Hm, hm! – gehört.
Sie floh durch die Büsche. Ich drehte mich um und sah Rivet, der mir nachgegangen.
Er stellte sich mitten auf den Weg und sagte ganz ernst:
– Nanu, so besorgst Du die Geschäfte von dem Schwein dem Morin?
Ich antwortete etwas thöricht:
– Ach lieber Freund, man thut, was man kann. Die Nichte übernehme ich schon. Und der Onkel? Was hast Du denn bei ihm erreicht?
Rivet erklärte:
– Ich habe mit dem Onkel weniger Glück gehabt.
Und ich nahm seinen Arm um ins Haus zurück zu gehen.
III
Das Diner ließ mich schließlich ganz den Kopf verlieren. Ich saß neben ihr, und unter dem Tisch suchte meine Hand fortwährend die ihre, mein Fuß preßte ihren Fuß, unsere Blicke ruhten ineinander.
Nach Tisch wurde bei Mondschein ein Spaziergang gemacht und ich flüsterte ihr alle Zärtlichkeiten zu, die mir mein Herz eingab. Ich hielt sie an mich gepreßt, küßte sie alle Augenblicke und netzte meine Lippen an den ihren. Vor uns disputierte Rivet mit dem Onkel. Ihre Schatten fielen tief auf den Kies der Wege.
Wir gingen wieder ins Haus und bald brachte der Telegraphenbote ein Telegramm der Tante mit der Meldung, daß sie erst am andern Morgen um sieben Uhr mit dem ersten Zug zurückkehren würde. Der Onkel sagte:
– Na, da muß Henriette den Herren die Zimmer zeigen.
Wir drückten dem guten Mann die Hand und gingen hinauf. Sie führte uns zuerst an Rivet’s Zimmer und er flüsterte mir ins Ohr:
– Natürlich hat sie uns zuerst zu mir gebracht.
Dann geleitete sie mich zu meiner Lagerstatt. Sobald ich mich mit ihr allein sah, umarmte ich sie wieder und versuchte ihre Vernunft zu betäuben und ihren Widerstand zu besiegen. Aber als sie sich schwach werden fühlte, entfloh sie.
Ich legte mich zu Bett, ärgerlich, erregt und etwas beschämt. Ich wußte sehr wohl, daß sie nicht schlafen würde, und ich fragte mich inwiefern ichs wohl nur dumm angefangen haben könnte. Da klopfte es ganz leise an meine Thür.
Ich fragte:
– Wer ist da?
Eine leise Stimme antwortete:
– Ich.
Ich warf schnell meine Kleider über, öffnete und sie trat ein mit den Worten:
– Ich habe ja ganz vergessen, Sie zu fragen, was Sie morgen früh trinken wollen: Chokolade, Thee oder Kaffee?
Ich hatte sie stürmisch umarmt und bedeckte sie mit Küssen, indem ich stammelte:
– Ich will – – ich will – –
Aber sie glitt aus meinen Armen, blies mein Licht aus und verschwand.
Ich blieb allein voller Wut im Dunkeln, suchte Streichhölzer und fand keine. Endlich entdeckte ich welche und trat auf den Korridor hinaus, halb wahnsinnig vor Aufregung, den Leuchter in der Hand.
Was wollte ich thun? Ich überlegte nicht mehr, ich wollte sie suchen. Ich begehrte sie. Und ich that einige Schritte, ohne an irgend etwas zu denken. Dann fiel mir plötzlich ein: aber wenn ich nun in das Zimmer des Onkels gerate, was soll ich denn dann sagen. Und ich blieb unbeweglich stehen, unfähig einen Gedanken zu fassen, mit klopfendem Herzen. Nach ein paar Sekunden fand ich die Antwort:
Donnerwetter, ich sage einfach, daß ich Rivet’s Zimmer gesucht habe, um mit ihm über eine dringende Angelegenheit zu sprechen.
Und ich betrachtete nun alle Thüren und suchte zu entdecken, welche wohl ihre sei. Aber nichts konnte mich auf die Spur bringen. Und ich überließ mich dem Zufall und nahm irgend eine Klinke in die Hand. Ich öffnete und trat ein. Henriette saß aufrecht im Bett und blickte mich verstört an.
Da schob ich leise von innen den Riegel vor, näherte mich auf den Fußspitzen und sagte:
– Gnädiges Fräulein, ich habe ganz vergessen, Sie um etwas zu lesen zu bitten.
Sie wehrte sich, aber ich öffnete das Buch, das ich suchte. Den Titel will ich nicht nennen. Es war wirklich der schönste Roman und das göttlichste Gedicht.
Als ich erst einmal die erste Seite umgewendet hatte, ließ sie mich nach Belieben darin blättern. Und ich las soviel Kapitel, daß unsere Lichter ganz herunter brannten.
Dann dankte ich ihr und schlich auf den Fußspitzen in mein Zimmer zurück. Da packte mich eine feste Hand und eine Stimme – Rivet’s Stimme – flüsterte mir zu:
– Du hast also die Geschichte immer noch nicht in Ordnung gebracht – von dem Schwein dem Morin.
Um sieben Uhr morgens brachte sie mir selbst eine Tasse Chokolade. Ich habe nie so gute getrunken. Eine Chokolade zum Sterben schön, weich wie Sammet, lieblich und stark, duftend, berauschend. Ich konnte den Mund von dem süßen Rand der Tasse nicht wieder absetzen.
Das junge Mädchen war kaum gegangen, als Rivet eintrat. Er schien ein wenig nervös zu sein, ärgerlich wie jemand, der nicht gut geschlafen hat, und sagte zu mir in nicht gerade freundlichem Ton:
– Weißt Du, wenn Du so fortfährst, wirst Du noch die ganze Geschichte von dem Schwein dem Morin verderben.
Um acht Uhr kam die Tante. Die Unterredung war nur kurz. Die guten Leute zogen ihre Klage zurück und ich versprach dafür fünfhundert Franken den Armen der Gegend zu stiften.
Da wollten sie uns noch den Tag über dabehalten. Es wurde sogar eine Partie verabredet, um eine Ruine in der Nähe zu besichtigen. Henriette machte mir hinter dem Rücken ihrer Verwandten Zeichen mit dem Kopfe:
– Bleiben Sie doch.
Ich nahm an, aber Rivet versteifte sich darauf, abzureisen.
Ich nahm ihn beiseite, bat ihn, flehte ihn an, ich sagte zu ihm:
– Mein guter, alter Rivet, das kannst Du doch für mich thun.
Aber er schien ganz außer sich zu sein und sagte mir ins Gesicht:
– Weißt Du, ich habe jetzt genug von der Geschichte mit diesem Schwein dem Morin.
Ich war also genötigt, gleichfalls abzureisen. Das war einer der schwersten Augenblicke meines Lebens. Ich hätte gern diese Geschichte mein ganzes Leben lang geordnet.
Als wir nach ein paar kräftigen, stummen Abschieds-Händedrücken in der Eisenbahn saßen, sagte ich zu Rivet:
– Hör mal. Du bist ein Ekel.
Er antwortete:
– Weißt Du mein Alter, die Geschichte fing an, bockig zu werden.
Als wir auf die Redaktion der Laterne kamen, sah ich eine Menge Menschen, die uns erwarteten. Sobald man uns sah, rief man uns entgegen:
– Nun, haben Sie die Geschichte geordnet für das Schwein den Morin.
Ganz la Rochelle war in Aufregung. Rivet, dessen schlechte Laune sich unterwegs allmählich gelegt hatte, mußte sich das Lachen verkneifen, als er ihnen antwortete:
– Ja, dank Labarbe’s Bemühungen ist die Geschichte in Ordnung.
Und wir gingen zu Morin.
Er lag in einem Lehnstuhl mit Senfpflastern auf den Beinen und kalten Umschlägen auf dem Kopfe und war fast ohnmächtig vor Angst. Er hüstelte ununterbrochen in kurzen Stößen wie ein Sterbender, obgleich kein Mensch wußte, wo er sich eigentlich die Erkältung geholt hatte. Seine Frau betrachtete ihn mit Augen wie ein wildes Tier, als wollte sie ihn sofort verschlingen.
Sobald er uns sah, zitterte er von Kopf bis zu Fuß und ich sagte:
– Du alter Mistfink, die Sache ist jetzt wieder eingerenkt. Aber daß Du mir nicht wieder anfängst.
Er stand nach Atem ringend auf, nahm meine Hände und küßte sie wie die eines Fürsten, weinte, ward beinahe ohnmächtig, umarmte Rivet, dann sogar seine Frau, die ihm einen Schubs gab, daß er in seinen Stuhl zurückflog.
Aber von der Geschichte erholte er sich nie wieder. Sein Schreck war zu heftig gewesen.
In unserer ganzen Gegend hieß er nur noch ›das Schwein der Morin‹ und dieser Spitzname traf ihn jedesmal wie ein Dolchstich, sobald er ihn hörte.
Wenn irgend ein Straßenjunge auf der Gasse rief:
Schwein! – dann wandte er unwillkürlich den Kopf um. Seine Freunde hänselten ihn fortwährend und fragten jedesmal, wenn er Schinken aß:
– Ist das Dein eigener?
Zwei Jahre spater starb er.
Ich aber kandidierte 1875 zur Kammer und machte dabei dem neuen Notar von Tousserre, Herrn Belloncle, meine Aufwartung. Eine große, stattliche, schöne Frau empfing mich.
– Erkennen Sie mich nicht? fragte sie.
Ich stammelte:
– Nein, gnädige Frau.
– Henriette Bonnel.
– Ah!
Und ich fühlte, wie ich blaß wurde.
Sie schien sehr glücklich geworden zu sein und blickte mich lächelnd an.
Sobald sie mich mit ihrem Manne allein gelassen hatte, nahm er mich bei der Hand und drückte sie, daß mir die Knochen knackten:
– Verehrter Herr, seit langer Zeit habe ich gewünscht, Ihre Bekanntschaft zu machen. Meine Frau hat mir soviel von Ihnen erzählt – ja, ja, ich weiß, in welch’ peinlicher Angelegenheit Sie sie kennen gelernt haben. Ich weiß auch, wie vorzüglich, voll Zartgefühl, Takt, Hingebung Sie die Sache geordnet haben . . .
Er zögerte, und dann sagte er etwas leiser, als müßte er etwas Unanständiges aussprechen:
– Nämlich die Geschichte von dem Schwein dem Morin.