Isolde Kurz

In jenen Tagen gingen auch die guten Holden noch leibhaft auf Erden. Ich meine jenes jetzt untergegangene Geschlecht freiwilliger Helferinnen, das, als man von organisierter sozialer Arbeit noch nichts wußte, mit seiner Fürsorge jeden kinderreichen Haushalt umschwebte. Es waren einsame, vom Glück vergessene Frauen, die ihr Muttergefühl antrieb, fremde Kinder zu betreuen und in der Anhänglichkeit an fremde Familien Ersatz für die versagte eigene zu suchen. In Obereßlingen saßen ihrer gleich mehrere beisammen. Sie kamen, wenn eine Krankheit im Hause war, und pflegten; sie stellten sich bei der großen Monatwäsche ein und machten, indem sie sich der Kinder annahmen, häusliche Kräfte frei, sie halfen in den Weihnachtstagen beim Backen und beim „Dockeln“ (Puppenkleidernähen). Die Welt wäre ein gut Teil unwohnlicher gewesen ohne ihre Nähe. Sie begehrten und erhielten auch wie die richtigen Feen keinen Dank, als daß sie das nächste Mal wiederkommen durften. Wir nannten sie Tanten und verehrten durch ihre häufig etwas fragwürdige Leiblichkeit hindurch die innere Feennatur.

Die edelste unter ihnen war die Besitzerin eines benachbarten Kramlädchens, unsere geliebte „Tante Berta“, der ich schon in der Lebensgeschichte meines Vaters ein kleines Gedächtnismal gesetzt habe. Sie ist aus meinen Jugenderinnerungen schlechterdings nicht wegzudenken. Wie oft kam sie und holte uns Kinder zu langen Spaziergängen ab, um unsere getreue Josephine zu entlasten und meinem von ihr still verehrten Vater ein paar Stunden völliger Ungestörtheit zu verschaffen. Sie strickte von früh bis spät, im Stehen und Gehen, denn jeden Abend mußte ein Paar Strümpfe fertig sein, womit sie ihren ganzen Bekanntenkreis beglückte. Sie sprach ein gebildetes, aber stark dialektisch gefärbtes Hochdeutsch, in dem sich viele altertümliche Wörter und Wendungen umtrieben, deren ich verschiedene später mit großem Vergnügen in Grimmelshausens Simplizissimus wiederfand. Für Stecknadeln gebrauchte sie stets das schöne, ausdrucksvolle Wort „Glufen“, das ich ihr zwar nicht nachsagte, weil es mir seltsam veraltet und zugleich erniedrigt klang, das ich aber ungemein gerne hörte. Ich dachte dabei immer an eine schöne altertümliche Fibula, obwohl das Wort jede Art von Stecknadeln bezeichnete.

Auf unseren Spaziergängen erzählte uns Tante Berta uralte Geschichten und Anekdoten, die von Geschlecht zu Geschlecht gingen und vielleicht niemals aufgezeichnet worden sind. So von der Bauersfrau, die im Sterben lag, aber gern noch abgewartet hätte, wie der „Gockeler“ (Turmhahn), der ausgebessert werden sollte, glücklich von dem hohen Kirchturm heruntergebracht würde. Als es gar zu lange dauerte, faßte sie sich in Ergebung und sagte nur noch: Deant mir’s au nom verbiada (laßt mich’s hinüber wissen), wenn wieder ebber (jemand) stirbt, wia’s vollends gangen ischt. Oder von dem Gastwirt, der seine in den letzten Zügen liegende Frau pflegte, und als er durch das Klingeln der Gäste abgerufen wurde, ihr gemütlich die Hand gab mit den Worten: So, jetzt komm halt vollends gut ’nüber! Ferner von der Witwe des Musikanten, die der Leiche ihres Gatten folgte und plötzlich unter dem Wirtshaus, das der Schauplatz seiner künstlerischen Leistungen gewesen, in den lauten Klagegesang ausbrach: O, wie oft hast du da drinnen: Dideldum, dideldum, dideldum! (Dabei ging der Gesang in die Gebärde des Fiedelstreichens und Hüpfens über.)

In jener älteren Zeit, aus der ihre Geschichten stammten, scheint im Schwabenvolk überhaupt noch ein Nachklang der alten Totenklage erhalten gewesen zu sein, denn sie erzählte auch von einer Mutter, die ihrem Sohne ins Grab die fast homerische Klage nachrief: O du mei liebs Knechtle (für Kind), du Zuckerstengel, du siebenhemmeticher (der sieben Hemden besitzt), drei hosch g’het und viere hätt i dir no mache lau. Mit Vorliebe spielten ihre Geschichten auf dem Gottesacker, und sie liebte es, ihnen, auch wenn sie noch so schnurrig waren, etwas Schauriges beizumischen. Außerdem wußte sie aber auch eine Reihe richtiger Schwabenstreiche, von denen ich hier einige möglichst mit ihren Worten dingfest machen will, weil sie mir nirgends noch gedruckt begegnet sind:

Wie’s gemacht wird.

Herzog Karl von Württemberg war ein großer Jagdfreund, wie auch in „Schillers Heimatjahren“ zu lesen ist, und das Landvolk litt unter seiner Regierung schwer vom Wildschaden, gegen den es sich nicht wehren durfte, denn es war streng verboten, Wild abzuschießen. Ein Bäuerlein aber, dem wiederholt seine Rüben- und Krautäcker abgefressen wurden, wußte sich zu helfen und legte in seinem Hof eine Hasenfalle an, die so kunstreich mit einer Glockenschnur verbunden war, daß, so oft einer vom Geschlecht Lampe sich fing, die Glocke von selbst das Zeichen gab. Dann ging das Bäuerlein hinaus und holte sich einen fetten Braten für die Küche. Der Mann aber hatte Feinde, und die verrieten dem Revierförster seine schöne Einrichtung.

Begibt sich der Revierförster zu dem Übeltäter: Hanspeter, ich habe gehört, daß du dir eine Hasenfalle angelegt hast. — Jawohl, Herr Revierförster, antwortet der Bauer treuherzig. — Ja, weißt du nicht, daß du einen Diebstahl an unserem Herrn Herzog begehst und daß du in Strafe verfallen bist? — Ha, sell wär’! sagt der Hanspeter und versichert, daß er von keiner einschlägigen Verordnung wisse. Das scheint dem Förster sehr unglaubhaft und er setzt dem Erstaunten auseinander, daß Unkenntnis des Gesetzes auch gar nicht vor Strafe schütze. Während sie noch reden, klingelt es vom Hofe her und beide schauen auf.

Hören Sie’s, Herr Revierförster? sagt der Hanspeter mit seinem dummschlausten Gesicht. Da sitzt schon wieder einer und zeigt sich an. Jetzt kommen Sie nur mit, dann sehen Sie gleich selber, wie’s gemacht wird. Der Förster lacht sich ins Fäustchen, daß er nun beide zugleich in der Falle hat, den Hasen und den Bauern. Er folgt dem Mann in den Hof, verwundert über ein solches Maß von Dummheit. Dort zieht der Bauer Herrn Lampe bei den Löffeln aus der Falle, hält ihn vor sich und überschüttet ihn mit Schimpfreden: Meinst du, ich pflanz’ meine Krautköpf’ und meine Rüben für dich, du elender S..hund! Wart, ich will dir Respekt einbläuen, daß du das Wiederkommen vergißt! Dies sagend, gerbt er dem Hasen das Fell, schüttelt ihn dann noch einmal an den Löffeln und sagt: So, jetzt lauf heim, sag’s dei’m Weib und deiner Freundschaft, was es da zu schmarotzen gibt. Damit läßt er ihn los, und mit einem Sprung ist der Hase verschwunden.

Sehen Sie, Herr Revierförster, sagt jetzt der Hanspeter profitlich, so wirds gemacht. Der kommt nimmer und er sagt’s auch den andern. Und der Herr Revierförster mußte mit langer Nase abziehen.

Herzog Ulrichs Löffel.

Ein andermal führte sie uns noch tiefer in Württembergs Vergangenheit zurück.

Als der vertriebene Herzog Ulrich flüchtig und unerkannt sein Land durchirrte, hielt er sich eine Zeitlang in der Nähe seiner guten Stadt Tübingen auf. Dort geriet er einmal um die Mittagszeit in einen Weinberg, wo eben ein Tübinger Wingerter (Weingärtner) mit seinen Leuten sich eine Schüssel voll Erbsenbrei schmecken ließ. Der Herr, der sehr hungrig war, trat bescheiden hinzu und grüßte den Mann in gutem Gôgendeutsch (Gôg, Spitzname der Tübinger Weingärtner). Der gab ihm den Gruß zurück und fragte leutselig: Witt mithalten?, was der Herzog dankend annahm. Na, so lang zu. — Aber der Herzog sah sich fragend um: die beiden hatten Löffel, er hatte keinen. Da lacht ihn der Weingärtner aus, daß er nicht weiß, wie man einen Löffel macht, und sagt: Wart, i mach d’r ein! Schneidet also das „Knäusle“ (Anschnitt) vom Brotlaib ab, höhlt es aus und gibt’s dem Herzog: So, dô hoscht en Löffel. Der Herzog taucht den Löffel, der gut ausgibt, in die gemeinsame Schüssel und sättigt sich, ißt danach auch den Löffel auf. Währenddessen fragt und erfährt er allerlei, unter anderem auch den Namen seines Gastgebers und daß er z’ Dibenga (Tübingen) in der Froschgass’ wohnt.

Als nun später Ulrich in seine Herrschaft wieder eingesetzt war, da geschah es eines Abends, als er sich zu Tische begab, daß ihm der Löffel fehlte. Was der Mundschenk für einen Rüffel bekam, weiß ich nicht. Aber dem Herzog fiel plötzlich jener lange vergessene Mittag in dem Weinberg bei Tübingen ein, wo ihm gleichfalls der Löffel gefehlt hatte, und zugleich auch wieder Name und Wohnung des braven Weingärtners. Und er schickte des andern Tags einen Boten nach Tübingen in die Froschgass’ mit dem Befehl, ihm den Mann herzubringen, wie er stehe und gehe. Als der fürstliche Wagen in der schmutzigen Froschgasse erschien, gab es dort einen mächtigen Schrecken, und die Frau des Weingärtners, als sie hörte, ihr Mann müsse zum Herzog, unverzüglich, wie er stehe und gehe, da rang sie die Hände und jammerte: O Ma’, was hoscht du don? Zum Herzich muescht — ’s gôht um dein Kopf.

Der Mann beteuerte, daß er von gar nichts wisse, und bat, man möchte ihm wenigstens Zeit lassen, daß er sein besseres Häs (Gewand) anziehe, aber er wurde ohne weiteres in den Wagen gesetzt und rollte in heißer Angst gen Stuttgart. Dort führte man ihn gleich vor den Herzog, der an der Tafel saß und der ihn auf dem leeren Stuhl an seiner Seite Platz nehmen und zugreifen hieß. Jener zauderte: alle waren mit Löffeln versehen, nur er nicht. Warum ißt du nicht? fragte der Herzog streng. Der Mann bekannte, was ihm fehlte.

Weißt du nicht, wie man einen Löffel macht? herrschte der Herzog den Erschrockenen an und machte dazu ganz besondere Augen. So will ich dir’s zeigen.

Bricht das Knäuschen vom Brot, höhlt es aus und reicht’s ihm: So, jetzt lang zu und iß.

Der Mann konnte nichts sagen als: Oh, Herr Herzich, send Ihr’s g’wä?

Er wurde fürstlich mit Speise und Trank bewirtet und dann in Gnaden zu seiner Frau entlassen, nachdem der Herzog zuvor noch ihm und seinen Nachkommen Steuerfreiheit zugesagt hatte für alle Zeiten.

Unerschöpflichen Stoff boten ihr die schwäbischen Landpfarrer, unter denen damals noch die Sonderlinge in Menge gediehen. Einem, der ein grundgelehrter Theologe und ein stiller Weiser, dabei aber sehr unpraktisch war, wurde jede Nacht von seinen selbstgezogenen Gurken und Rettichen im Pfarrgarten gestohlen. Er fragte einen Kollegen, was er an seiner Stelle tun würde. Entweder die Diebe verklagen oder eine Falle aufstellen, meinte dieser. Der Pfarrer antwortete nach einigem Besinnen: Ich will sie lieber mit geistigen Waffen schlagen. Und er legte ein Blättchen zu den Gurken ins Beet:

Wer Rettich stiehlt und Gurken,

Den rechn’ ich zu den Schurken.

Weil seine Frau ihn jedoch erinnerte, daß die Diebstähle des Nachts stattfänden und das Blättchen somit seinen Zweck verfehlen müßte, stellte der treffliche Mann im Vertrauen auf die Macht der Dichtkunst eine Laterne dazu, die hernach den Dieben das Geschäft erleichterte.

Auch manches Stücklein altschwäbischen Aberglaubens wurde uns durch Tante Berta überliefert, die zwar selber aufgeklärt war, aber die Liebe zum Volkskundlichen bewahrte. So die schöne Geschichte von dem Mann in Dußlingen, der mehr konnte als Brot essen. Wenn irgendwo in der Nähe ein schwerer Diebstahl vorgefallen war, so wandte man sich an ihn. Dann erschien er mit seinem Rädchen im Hause des Bestohlenen und setzte das Zauberrad — es war eines von der Art, wie es die Messerschleifer mit sich führen — in Bewegung. Und wie das Rädchen lief, so mußte der Dieb laufen, bald langsamer, bald schneller. Erst war die Geschwindigkeit beträchtlich, dann hieß es: Jetzt geht’s den Berg hinauf, da wollen wir sachte tun, daß er nicht so arg schnaufen muß. So, jetzt ist er oben — nun sauste das Rädchen wieder los, und der Dieb sauste bergab, bis er im Tälchen war. — Halt, jetzt muß er über den Bach, der keinen Steg hat — das Rädchen deutete vorsichtig die Steine an, auf die er zu treten hatte, und ließ ihn dann wieder Galopp laufen. — Jetzt ist er schon in der Stadt — eben kommt er die Straße heruntergerannt — da ist er am Haus! — Man hörte draußen ein Aufschlagen und das Rädchen stand still. Nach einer kleinen Pause ging der Zauberer hinaus und brachte den außen abgeworfenen Gegenstand.